Das Lied eines Mörders - Giosuè Calaciura - E-Book

Das Lied eines Mörders E-Book

Giosuè Calaciura

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Beschreibung

Die Mafia, wie sie noch niemand erzählt hat: die intime Beichte eines Mörders.

In seinem fulminanten Roman porträtiert der italienische Autor Giosuè Calaciura einen Auftragskiller, der sich aus den kriminellen Strukturen, denen er verhaftet ist, auch mental nicht befreien kann. Es ist das prophetische Bekenntnis eines Mörders, der seinem Richter Opfer um Opfer die grausame und ungeheuerliche Geschichte seines Lebens erzählt. In der namenlosen italienischen Stadt – vielleicht Palermo – bestimmt der internationale Drogenhandel alles. Zwischen Gassen und Märkten, Plätzen und Uferpromenaden jagen Killer ihre Opfer: ein Höllenkreis aus endloser Gewalt.

Im Nachwort erinnert sich Giosuè Calaciura an die Erfahrung, die dem Ursprung dieses Buches zugrunde liegt, das in Italien erstmals 1998 erschien und heute längst ein Klassiker ist.

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Über das Buch

In einer namenlosen italienischen Stadt – vielleicht Palermo – bestimmt der internationale Drogenhandel alles. In ihrem Reichtum haben sich die Verbrecher wie Feudalherren des 18. Jahrhunderts eingerichtet, die ihre Opfer in großen Säurefässern verschwinden lassen. In seinem so rasanten wie poetischen Roman porträtiert Giosuè Calaciura einen Auftragskiller, der sich aus den kriminellen Strukturen, denen er verhaftet ist, auch mental nicht befreien kann. Es ist die soghafte Beichte eines Mörders, der unaufhaltsam auf die letzte Explosion zusteuert, um dem erstaunten Schweigen des Gewissens Raum zu geben. Mit der Klarheit einer Röntgenaufnahme wird hier der vor Hass und Gier zerfressene kranke Körper unserer Gesellschaft enthüllt. 

Im Nachwort erinnert sich der Autor an die Erfahrung, die dem Ursprung dieses Buches zugrunde liegt, das in Italien erstmals 1998 erschien und heute, dreißig Jahre nach den Massakern der Cosa Nostra, längst ein Klassiker ist.

Über Giosuè Calaciura

Giosuè Calaciura, 1960 in Palermo geboren, ist Schriftsteller und Journalist. Seine Romane wurden in mehrere Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet. Er lebt mit seiner Familie in Rom. Für seinen Roman »Die Kinder des Borgo Vecchio« (Aufbau, 2019) erhielt er den Premio Volponi. 

Verena von Koskull, geboren 1970, hat Italienisch und Englisch in Berlin und Bologna studiert. Sie übertrug u. a. Goliarda Sapienza, Carlo Levi, Verna B. Carleton und Gianrico Carofiglio ins Deutsche. 2020 erhielt sie den Deutsch-Italienischen Übersetzerpreis, 2024 den Jane Scatcherd-Preis.

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Giosuè Calaciura

Das Lied eines Mörders

Roman

Aus dem Italienischen von Verena von Koskull

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Informationen zum Buch

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Widmung

Buch lesen

Nachwort

Impressum

Ein Dank an Mela und Matteo

Wir waren nichts mehr. Seit wir alle drei umlegen sollten, Signor giudice, Euer Ehren, obwohl nur einer das Ziel des Hasses war, den wir schlagartig von ihnen übernahmen, kaum dass sie das Blutbad anordneten. Die anderen beiden mussten wegen so banaler Merkmale wie Verwandtschaft und Zugehörigkeit sterben, Signor giudice, denn einer war der Erstgeborene, ein dreizehnjähriger Hurensohn, ein Kind noch, Signor giudice. Der andere war der Schwiegersohn, ein Pfeifenwichs von neunundzwanzig Jahren, aalglatt und umtriebig, Ehemann der Tochter unserer Zielperson, wegen einer zwischen den Familien vereinbarten Liebesflucht.

Um neun Uhr dreißig sollten wir sie alle drei umlegen, auf dem Quartiersmarkt, wo es per Vereinbarung zwischen den illegalen Straßenhändlern und der Stadt erlaubt oder vielmehr notwendig war, den Dienstagsmarkt für die fußlahmen Rentner und die tyrannischen Hausfrauen abzuhalten, Signor giudice, an diesem herrlichen Tag Ende Mai.

Unser Schützentrupp bestand aus zwölf ranghohen Mitgliedern, die vor allem wegen ihrer Fertigkeit im Umgang mit der Pistole ausgewählt worden waren – eine abgesägte Flinte, eine sogenannte Lupara, dagegen wäre bei der Durchführung dieses Hinterhalts unverhältnismäßig und sogar nutzlos gewesen –, man hatte sie aus den vierzig Familien, die die Welt mit dem passenden Kaliber im exakten Gewicht von Recht und Strafe regierten, sorgfältig herausgepickt.

Nur drei von uns, mich eingeschlossen, sollten diese Auftragsabmurkserei durchführen, mit dem üblichen Pomp des Todes, der unsere Handschrift trägt, damit abermals und unmissverständlich klar wäre, wer die Richter und Henker der althergebrachten Gerechtigkeit sind.

Jeder von uns dreien hatte einen Ersatzmann, der in zehn Metern Abstand unauffällig folgte, sollte unser erster Angriff wegen einer unglücklichen Fügung ins Leere laufen, das Gespür ist sensibler, sobald man zum Opfer wird, und um keine weitere Zeit verstreichen zu lassen bis auf die Bruchteile Ewigkeit, in denen der Tod eintritt und die Verblüffung zur unumkehrbaren Gewissheit wird.

Signor giudice, da waren die Fahrer der beiden nachts vor einer Woche geklauten Wagen, die in den Gelegenheitsgaragen versteckt und von unseren Mechanikern durchgeprüft worden waren, weil Kontrolle besser ist als Vertrauen, und im Kofferraum, Signor giudice, warteten schon die Benzinkanister, um die Autos abzufackeln und jedwede Spur unserer kurzen Fahrt bis zur verabredeten Stelle auszulöschen – zwei Blocks nach Westen, wo jeder wieder in sein eigenes Freiheitslabyrinth verschwände und aus dem Pakt des Hinterhalts entlassen wäre.

Signor giudice, zu guter Letzt waren da noch zwei schwere Motorräder, zwei Kawasaki, die am Markt auf und ab fuhren, um zuzuschlagen, kaum wären Bullen und Carabinieri abgetaucht, und uns mit dem Walkie-Talkie – unser bei vorsätzlichen Morden bevorzugter Kanal – grünes Licht zu geben.

Signor giudice, wie oft habe ich mich in diesen Momenten eiskalter, einzig dem Hinterhalt verschriebener Überlegungen gefragt, wo die Schwachstelle sein könnte im perfekten, mit jeder weiteren Abmurkserei automatisch und wie geschmiert laufenden Getriebe. Wie oft habe ich mich gefragt, an welchem Punkt unser Mordwille nachgeben und einen winzigen Ausweg, eine mögliche Rettung bieten würde. Und das nicht, um unsere tödlichen Hinterhalte dadurch noch raffinierter zu machen, sondern um dieses vergessene Komma in der Geheimkammer meines schlummernden Grauens zu verstecken, die verzichtbare Geste, die eine Bewegung mehr oder weniger, welche mir das Überleben ermöglichen würde, wenn zwangsläufig ich an der Reihe wäre, Signor giudice, und wenn es meine ob ihres Könnens und ihrer Fertigkeit ausgewählten Kameraden träfe.

Diesen unmöglichen Fehler, dem wir zuvorzukommen versuchten, indem wir einander im Blick behielten, während wir uns in mörderischer Geschmeidigkeit auf unsere ahnungslosen, von der Menge an Frauen auf dem Markt verdeckten Ziele zubewegten, behielten wir als nutzloses Ass im Ärmel, als hoffnungslose List, denn, Signor giudice, ein Fehler war ausgeschlossen.

Wäre die Reihe an uns gewesen, hätten wir unserer perfekten Mordmaschinerie unmöglich entgehen können.

Angesichts von Alter und Ansehen war es an mir, die fetteste Beute dieses Jagdmorgens zu töten.

In echolosem Gejaller hörte ich ihn die falschen Vorzüge seiner Garne und unmöglichen Wolle anpreisen, ich sah, wie er einer Alten in Pantoffeln das Geld abknöpfte, und warf einen Kontrollblick zu meinen beiden Kumpanen, die wie ich startklar darauf lauerten, dass die blitzartig synchronisierte Gleichzeitigkeit des Dreifachmordes begann. Ich gewährte meinem Ziel nur einen einzigen Augenblick, Signor giudice, zielte mit beiden Händen auf seine Schläfe, so nah, dass ich schaudernd auf das ekelerregende Spritzen seines platzenden Gehirns wartete, als er mich erblickte, erkannte und begriff, im zeitgleichen Knall dreier Mörder zu sterben, die ihn mitsamt seinen Angehörigen auslöschten. Er fiel, Signor giudice, das Leben hielt ihn nicht mehr auf den Beinen. Ohne Blut zu verspritzen, sackte er wie implodiert in sich zusammen; genau wie sein Sohn, der aussah wie ein schlafendes Kind, die Augen geschlossen, die Arme in jähem Schlummer hingestreckt, denn das Leben hatte noch keine tiefen Wurzeln geschlagen und verließ ihn augenblicklich.

Geschüttelt vom Todeskampf und dem letzten Aufflackern des Lebens, knirschte der Schwiegersohn mit den Zähnen, er hatte nicht begriffen, dass er starb, und die Alte in Pantoffeln sah mir ins Gesicht und sagte im Chaos der Schüsse, was machen Sie denn da, bringen Sie ihn um? Ihr Verstand hatte den Hinterhalt noch nicht erfasst, sie wartete auf das Wechselgeld für ihre gefälschten Wollknäuel, während ich mich entfernte und die Wirklichkeit die von unserem Kreuzfeuer in kurzzeitige Lähmung verfallene Welt in Zeitlupe versetzte. Die Zeit kam zum Stillstand, um uns die ungehinderte Flucht zu ermöglichen, genau wie vereinbart und in jahrhundertelanger Praxis des berufsmäßigen Mordens bewährt: wegen fehlgeschlagener Geschäfte, aus gnadenloser Vergeltung, als versteckte, in blutigen Lettern verfasste Botschaft.

Mich beeindruckte dieser Schwiegersohn, Signor giudice, röchelnd hing er am verflackernden Leben und keilte gegen den Tod, der ihn mit letzten Krallenhieben streichelte, in Rinnsalen von Blut, das unter den hölzernen Ständen voller Garn in einem ausufernden Strom mündete, Gehsteig und Straße überschwemmte, während wir versuchten, den eintönigen Sumpf nicht an unsere Schuhe zu lassen. Und mit eigenen Augen sah ich seine irrige Überlebenshoffnung, die Trugbilder des am Leben klammernden Instinkts, Signor giudice, doch er war bereits tot, und während ich mich davonmachte, lüpfte ich die Hosen, um die Pfützen des Blutbads zu meiden. Es war dasselbe sich Sträuben und dasselbe jugendliche Röcheln unserer besten Jahre, Signor giudice, lang bevor wir nichts mehr waren, als auch wir Überlebensfantasien hatten, uns mit der Gewandtheit der Findigen in die breiten Lücken drängten, um die Quecke des Verbrechens aus Eigeninteresse wuchern zu lassen, was keinen interessierte, Signor giudice. Die öffentliche Verwaltung hatte die Welt an ihre Kunst der Unregierbarkeit gewöhnt und gab das Wasser nur jeden zweiten Tag aus, zuerst an den geraden, dann an den ungeraden Wochentagen, im absurden Takt heidnischer Feste, und wartend standen wir nicht am Wassertag, sondern am amtlichen Dürretag vor den Wasserhähnen, verpassten vor fahriger Erschöpfung den richtigen Tag und lebten in der Qual der Durstigen, keine andere Wahl zu haben.

So war unsere prähistorische Welt im Herzen der Welt des Fortschritts, und jeder Kniff zahlte sich aus, um Erleichterung zu schaffen und ein bisschen Zaster zu machen, Signor giudice, wenn wir Rastplatzwüsten entlang der ausweglosen Autobahnen klarmachten, die wir in der Zeit der wildwuchernden, einträglichen Zementindustrie eigenhändig gebaut hatten, um sie der Leere von Zeit und Raum zu überlassen. Für die erhitzten, orientierungslosen Reisenden organisierten wir Vergnügungen, um ihre sinnlosen Reisen zu versüßen, füllten sie mit den regionalen Produkten unserer Magenkrämpfe ab, Signor giudice, und nachdem sie den angemessenen Preis für unsere Oase gezahlt hatten, gingen sie wieder an Bord und setzten ihre Mondfahrten fort.

Signor giudice, in dieser Angst vor dem Ertrinken auf dem Trockenen dachten wir uns den Beförderungsdienst aus, als der Zug unserer einzigen Gleisstrecke intergalaktischer Durchquerung mit kreischenden Bremsen zum Halten gezwungen war. Mitten auf der Gleisstrecke hatte sich der unerklärliche Bergsturz eines Felsbrockens ereignet, Signor giudice, und der einzige zu Bergstürzen fähige Hügel lag zehn Kilometer entfernt in offener Landschaft. Obendrein und jenseits aller wissenschaftlichen Theorien, mit denen sich die Bahntechniker herumschlugen, hatte die Hitze unserer Verdunstungssommer das empfindliche Eisen der Gleise verbogen und sie in rostigen Schrott verwandelt, also alle raus, Signor giudice, sofort aussteigen, unter der pestigen Sonne, in der die Kinder ihr ahnungsloses Unglück gestrandeter Reisender herausplärrten, im vielstimmigen Radau der verspäteten Studenten, der gesamten Menschheit in Bewegung, hingekauert im endlosen Warten auf Reparaturen. Doch es gab uns, Signor giudice, mit unseren Schrottmühlen von der Autovermietung und unseren Lieferwagen, die ihre Lebendfracht sämtlicher essbarer Tierarten kaum ausgeladen hatten.

Als öffentliches Beförderungsmittel zwischen einem Bahnhof und dem nächsten zum ruchlosen Preis des Zugfahrscheins wurden diese quietschenden, zerbeulten, für die schändlichsten Zwecke unserer Handelsgeschäfte und Fauligkeiten gebrauchten Fahrzeuge zur Marktsklavengaleere.

So hielten wir uns am Leben, Signor giudice, noch bevor das weißpulverige Gold der chemischen Entrücktheiten auftauchte, als Herren des Losspiels, der heimlichen Lottoziehungen auf den Märkten, bei denen uns die geheimnisvolle Kabbala der gezinkten Zahlen unterstand. Mit sämtlichen Schmuggeleien des Altertums besserten wir unseren hart verdienten Sold auf, Signor giudice, doch reichte es nie, um auf einen grünen Zweig zu kommen, also versuchten wir unser Glück auf jedem erdenklichen Markt und mit jeder erdenklichen Ware, um diesen verzweifelten Hunger zu stillen, der uns verschlang, vom Magen bis in die Augen stieg und unseren Blick mit Gaukelbildern von Hochzeitsvöllereien vernebelte.

Es waren abenteuerliche Zeiten, in denen wir unseren Lebenswillen jeden Tag neu erfanden, denn selbst der ging uns flöten, wenn wir, von unseren heldenhaften Geschäften erschöpft, in den Schlaf fielen. Wenn die jungen Herrschaften des verwesten Adels mit Schimmelflecken im Gesicht sich von der Peinlichkeit des Vergessenseins zu befreien vermochten und uns auftrugen, Finde mir den Strauß mit den Rieseneiern, denn ich will den prunkvollen Geburtstag meines Töchterleins feiern, und wir, Signor giudice, fanden den Strauß, und hatte er keine Rieseneier, dann bauten wir sie selbst, aus dem geklauten Stuckgips ihrer von bröckelnden Wappen bekrönten Haustore. Bring uns die Riesenschildkröte aus dem Indischen Ozean, denn wir müssen japanisch essen und in unseren englischen Schuhen französisch parlieren, und wir brachten ihnen die Riesenmeeresschildkröte, Signor giudice. Es gab nichts Lebendes oder Totes, das wir nicht auftrieben, unserer Hungerleiderfantasie abrangen und es wirklichkeitstauglich verpackten, voller Angst, es könnte in den Händen der Käufer zur stofflosen Materie der Lüge zerfallen.

Wir waren nichts mehr, Signor giudice, seit uns klar wurde, wie wahrhaftig der Schmerz der Enterbten ist, der unsere Väter vor Scham krepieren ließ, die uns so ähnlich waren mit ihren vom Dauerfasten bei Mittag und Abend ausgehöhlten Wangen, so ähnlich und doch so anders, denn beim Generationenwechsel war uns das Schamgefühl abhandengekommen. Während wir uns beim Wiederaufbau nach dem Weltkrieg mit mühseligen Zaubertricks abrackerten, bestiegen unsere Mütter jeden Morgen bei Sonnenaufgang den Bus und tauchten in den Zauberspiegel der anderen Stadt ein, der des Reichtums und des leichten Lebens, Signor giudice, mit asphaltierten Straßen und den Blumen unserer erträumten, duftenden Völlereien auf den Simsen der Balkone, um die fremden Blicke der Passanten zu ergötzen, Dinge für Reichenaugen, erzählten uns die bediensteten Mütter, Augen, die das Grauen des abgestochenen, ausgenommenen Lamms nie gesehen haben, das, vergeblich um Mitleid blökend, an den Haken baumelt. Auf der anderen Seite des Wunderspiegels kamen nur die parierten Koteletts an, würzig vom Schmachten nach heiliggesprochenem, ausgeblutetem, entbeintem und auf Wachspapier zurechtgelegtem Fleisch.

Es war die Stadt, die wir bei unseren Schändungstouren besuchten, wenn wir die Heckscheiben der Reichenautos mit den Musikradios, den nach Bergmoos duftenden Sitzen und den auf der Rückbank vergessenen, mit Paradiesvögeln bedruckten Regenschirmen zu Scherbensplittern schlugen, Signor giudice. Es war die Stadt des dreisten Überflusses, die sich Goldfische in den Becken der Pförtnerlogen leistete, und vor Hunger stürzten wir uns auf wundersamen nächtlichen Fischzügen mit unvergesslichen Rülpsern in Aquariumsvöllereien und bepissten uns vor Lachen, wenn wir uns in unseren jugendlichen Altersgenossen reichsahen, die der Saumseligkeit des Schulbesuchs frönten, und mit dem Finger auf sie zeigten, auf ihre zerstreuten Hosen, die vor Hast schlotternden Strickjacken und lernschweißtriefenden Rucksäcke. Aber wir konnten sie nicht berühren, Signor giudice, uns trennte die Spiegeldicke unseres Andersseins, und selbst in den heilsbringenden Lügen, die uns der gütige Pfarrer unserer lästerlichen Diebeshehlerei erzählte, war uns die schwelende Ungerechtigkeit bewusst. Selbst Gott hatte uns verlassen und verraten. Er bürgte für die Niedertracht dieser Ungerechtigkeit, die keinen Sinneswandel zuließ und ohne Wiederkehr war, weil Er, der arm geboren worden war, beschlossen hatte, reich zu werden. Wir durchschauten die Augenwischerei der Krippe, den Bluff, sich eine elende Hütte ausgesucht zu haben, um zur Welt zu kommen, die Verarschung von wegen Er steigt herab von den Sternen, von wegen Kälte und Eis.

In der Überzeugung, wir seien verderbt und fernab von Gottes Gerichtsbarkeit, vergnügten wir uns damit, knauserige, blasse, schlaksige, unverständliche Touristen auszurauben, die ganz benommen waren von der dösigen Schirokkoluft, die uns die Beine wegriss. Mit unserem schmeichlerischen Lächeln köderten wir sie im Bus des gekaperten Hotels, Steigt ein, wir bringen euch an wunderschöne Orte, die kein Reiseführer euch je verheißen kann, zu uralten Ruinen, zu den herrlichen Gaukelbildern all dessen, wonach ihr sucht.

Wir erzählten ihnen von den verbotenen Gärten, in denen sogar der Kaiser von China unsere jammervolle Hitze genoss, und beraubten sie mit freibeuterischer Gier, unter der Drohung unserer Küchenmesser, denn wir hatten nur die und nichts zum Schneiden.

Und wenn wir unter ihnen den Schatz französischer Studentinnen auf Bildungsreise entdeckten, ekelten wir sie mit der rohen Erotik unserer geilen Grunzer, Signorine, raunten wir, ich spiel mit meinem Schwanz Flaschendrehen, und was kommt, das kommt, Signor giudice, und überredeten sie zu einem freundschaftlich versöhnlichen Mittagessen in den Elendsspelunken, in denen es nur die Fantasie der Hungerleider zu essen gibt, Ihr seid eingeladen, und dann verhökerten wir sie mit den Lockungen europäischen Frischfleisches en bloc an die arabischen Rosstäuscher auf Durchreise, Wir verkaufen du kaufen, Schleuderpreis, Volltreffer. Und sie kauften, Signor giudice, beurteilten das Gebiss am Zahnfleisch, entblößten die blassen Schenkel, zählten die goldenen Haare. Die Fräuleins aus Frankreich lachten amüsiert, und wir lachten mit, und es lachte die ganze Spelunke über diese arabischen Witzfiguren mit Turban, die aussahen wie Agramante und die Ungläubigen aus dem Marionettentheater. Stattdessen, Signor giudice, war alles wahr, und als die Mademoiselles es bemerkten, segelten sie bereits davon, verschluckt vom geheimen Schiffsbauch der Frachter, die sich ihrer schmalen, an den Kiel geketteten Fohlenfesseln erfreuten.

Wir waren nichts mehr, Signor giudice, seit mir an jenem Morgen klar wurde, was von Geburt an im Rätsel meines Schicksals verborgen lag und sich nun in den unmissverständlichen Zeichen der Voraussicht zeigte. An jenem Maimorgen, dessen Licht wie eine Messerklinge durch die Fensterscheiben fiel, während ich dem unverständlichen Alphabet der Frauen in ihrer Fröhlichkeit lauschte, die noch nicht in die dumpfe Wut des Nachmittags umgeschlagen war, während mir die Düfte von Kurzgebratenem und die Gerüche ewig köchelnder Tomatensauce in die Nase stiegen, während, Signor giudice, der Tag mit den Begütigungen der Gewohnheit begann, mit sämtlichen Dingen an ihrem Platz, ehe das Leben und in zweiter Instanz der Tod sie für immer durcheinanderwarfen, das Kruzifix über dem Bett, das Wasserglas für die Linderungspillen meiner ruhelosen Nächte, die über meine Sterbensangst wachende Espressotasse neben meiner in Friedenszeiten flaniertauglichen Sieben-Fünfundsechziger und den im Wimmelbild des Ungebrauchs auf dem Nachttisch verstreuten Kugeln, während ich den Staub in der Luft betrachtete, der sich lebendig und leicht in der Durchlässigkeit des Lichtes bewegte, und die untauglich heisere Stimme des Salzverkäufers vernahm, der zwei Päckchen zu tausend Lire ausschrie, Signor giudice, wurde mir klar, dass sie mich just an diesem Tag zum ersten und zum letzten Mal umbringen würden, ohne Sündenerlass oder Berufung.

All dem entstammten wir, lebten nur in jähen Schauern wie der Herbstregen, Signor giudice, wenn sich die Schlammflut des übers Jahr angehäuften Staubes an den Märkten entlangwälzte und die Abflussschächte verstopfte, Signor giudice, und flohen auf die Straße, weil mit dem Schlamm die ganze Welt verflüssigt aus den Wasserhähnen strömte und unser Heim zerstörte, das bereits zerstört war durch unsere Gleichgültigkeit, auf der Welt zu sein, wälzten uns mit dem Schlamm voran, schnappten uns Datteln und Nüsse beim ägyptischen Samenhändler, der hierhergezogen war, weil sein Land noch beschwerlicher war als unseres, am Rand des Vorstellbaren, und die Schlammwalze riss uns mit vom Markt in die Gassen, wo einst der kleine Cagliostro die kindliche Kunst der Magie praktizierte, ohne dass wir hätten entscheiden können, auf welchen Platz wir einbiegen sollten, weil der Instinkt des Schlamms uns lenkte, Signor giudice, in einem allgemeinen Sich-vorwärts-Wälzen, das die ganze Stadt samt den wie Banner der Armut flatternden Lumpen in einer Lawine mit sich riss, die Krüppel auf den Stufen der Wohltätigkeitseinrichtungen mit ihren Schachteln voller von braven Christenmenschen erbettelter Knöpfe hinter sich herzog, die Krücken der Lahmen und Gelähmten, die nichts zu verlieren hatten als ihr wackeliges, einbeiniges Gleichgewicht, und die Blinden, die das Dammbruchdurcheinander nicht sahen, und die Gehörlosen, die einander vor lauter Purzelbäumen nicht hörten, wenn sie sich an den Hausecken Obacht zubrüllten, wir klammerten uns an die Franziskaner, die Benediktiner, die Dominikaner, an jene, die nur zu Don Bosco, dem Schutzpatron der unglückseligen Kinder, beteten, und an jene, die der Schutzmantelmadonna brennende Kerzen und Opfergaben der Mangelernährung darbrachten, an jene, die sich in einem Wirbel aus Psalmen und Novenen einzig im Namen und auf Geheiß der Madonna der Ohnmacht bekreuzigten, während wir uns weiterwälzten, ohne anhalten zu können oder es überhaupt zu wollen, Signor giudice, weil wir ohnehin an irgendeinem Ort der Welt gelandet wären, der besser war als jener, den wir im überstürzten Tumult unserer Kanonenkugelkörper verlassen hatten.

Als die Fahrt allmählich erlahmte, landeten wir an demselben Punkt, von dem wir fortgerissen worden waren, denn es war ein alptraumhaftes Gewitter gewesen, und ein anderer Ort der Gedeihlichkeit stand uns nicht zu.

Wir waren nichts mehr, Signor giudice, aber wir waren gut, und wir waren flügge, gewachsen wie krummes Holz, jeden Tag zerschrammten wir uns die Seele an der Schroffheit des Überlebens. Und glätteten sie wieder, Signor giudice, mit dem Hobel unseres rotzfrechen Grinsens, weil wir nichts zu verlieren hatten als das Pech, geboren worden zu sein, und wir rannten, Signor giudice, rannten im zügellosen Galopp des Adrenalins unseres herzrasenden Metabolismus, im Eifer, sämtlichen Appetit an einem einzigen Tag zu stillen. Sie pickten uns aus unseren hungrigen Meuten, wählten uns per Fingerzeig und siebten uns mit der Sicherheit der Routine aus, denn sie hatten uns seit den Zeiten unserer barfüßigen Raufereien im Blick, als wir die dürftige Sprache des Ich-will-Milch, Mama und Papa, Wauwau müde Heia sprachen. Hinter der Falltür unserer Augen hatten sie die Vernichtungslust gesehen, die Gewissheit, dass wir weiterrennen würden, bis uns das Herz barst, ohne jemals auszuscheren, nicht wie Pferde, sondern wie Lastesel ihrer nützlichen Dienste.

Sie befreiten uns von der Schmiere des Elends, schnitten uns die Haare unter dem Milchtopf, machten aus uns Kasernensoldaten in Zivil, mit weißem Hemd und gewienerten Mokassins für ihre bürokratischen Botengänge.

Mit ihren Leinenanzügen und Schildpattbrillen, mit denen sie wie Richter auf Urlaub aussahen, begleiteten wir sie in die Büros für Schwarzhandelhortung, an Bord ihrer vorsintflutlichen Autos mit sämtlichen an den Rückspiegeln hängenden Schutzheiligen ihrer verdammten Seele, die an den Gummibändern ins Schaukeln gerieten auf den holperigen, von den amerikanischen Offizieren der Alliiertenlandung mit dem Bleistift der Kriegsdringlichkeit gezogenen Straßen; als wir es waren, die die Befreiung mit Schwarzhandel über die Ozeane unter einen guten Stern stellten, die das Land der gewundenen Eselspfade an das Quietschen der Panzer gewöhnten, die die hinderlichen Olivenbäume fällten, die die störenden Johannisbrotbäume stutzten, die ihnen den Königsweg der Befreiung und sämtliche Abkürzungen der nächtlichen Meuchelmörder wiesen und andere, unaussprechliche Straßen für uns behielten, in der Gewissheit, dass dieser einstweiligen Macht, die uns in AM‑Lire bezahlte, die korrumpierbare Macht der Scheindemokratie folgen würde, in der es eiserne Unnachgiebigkeit zu zeigen und einander die Gefallen des Überlebens zu erweisen galt.

Signor giudice, wir bauten das Land mit unseren Zement- und Eisenbetrieben auf, persönlich vor Ort mit unseren GmbHs, unseren OHG