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„Voller Farben, Geschmack und schmerzlicher Gefühle.“ Internazionale.
Irgendwo im Süden, im Herzen der Stadt, wo die Menschen arm sind und das Gesetz der Straße gilt: Hier wachsen Mimmo, Cristofaro und Celeste auf. Sie haben Träume und Hoffnungen, obwohl ihnen der kindliche Blick längst abhanden gekommen ist. Mimmos Vater, der Fleischer des Viertels, betrügt seine Kunden mit einer präparierten Waage. Cristofaros Vater, ein Trinker, schlägt seinen Sohn jeden Abend. Und Celestes Mutter Carmela, die Prostituierte des Viertels, schickt ihre Tochter auf den Balkon, wenn sie ihre Freier empfängt. Die drei Kinder haben ein Idol: Totò, Ganove, der besser schießt als jeder andere. Sie wollen so sein wie er, sie wissen nicht, dass auch Totò von einem anderen Leben träumt ...
„Eines der schönsten und grausamsten Bücher des Jahres.“ Corriere della Sera.
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Seitenzahl: 152
Giosuè Calaciura, 1960 in Palermo geboren, ist Schriftsteller und Journalist. Seine Romane wurden in mehrere Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet. Er lebt mit seiner Familie in Rom. Für "Die Kinder des Borgo Vecchio" erhielt er den Premio Volponi.
Verena von Koskull, geb. 1970, hat Italienisch und Englisch in Berlin und Bologna studiert. Sie übertrug u.a. Matthew Sharpe, Curtis Sittenfeld, Tom McNab, Carlo Levi, Simona Vinci und Claudio Paglieri ins Deutsche.
»Voller Farben, Geschmack und schmerzlicher Gefühle.« Internazionale
Irgendwo im Süden, im Herzen der Stadt, wo die Menschen arm sind und das Gesetz der Straße gilt: Hier wachsen Mimmo, Cristofaro und Celeste auf. Sie haben Träume und Hoffnungen, obwohl ihnen der kindliche Blick längst abhanden gekommen ist.
Mimmos Vater, der Fleischer des Viertels, betrügt seine Kunden mit einer präparierten Waage. Cristofaros Vater, ein Trinker, schlägt seinen Sohn jeden Abend. Und Celestes Mutter Carmela, die Prostituierte des Viertels, schickt ihre Tochter auf den Balkon, wenn sie ihre Freier empfängt.
Die drei Kinder haben ein Idol: Totò, Ganove, der besser schießt als jeder andere. Sie wollen so sein wie er, sie wissen nicht, dass auch Totò von einem anderen Leben träumt …
»Eines der schönsten und grausamsten Bücher des Jahres.« Corriere della Sera
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Giosuè Calaciura
Die Kinder des Borgo Vecchio
Roman
Aus dem Italienischen von Verena von Koskull
Inhaltsübersicht
Über Giosuè Calaciura
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Mimmo
Nanà
Die Sintflut
Das Messer und die Pistole
Die Ohrringe
Die Kugel
Totòs Messer
Impressum
Er hieß Domenico, doch das wusste er nicht. Seit jeher rief man ihn Mimmo. Er war am ersten Sonntag im September geboren und mit den Füßen voran auf die Welt gekommen. Ein zarter, waldig duftender Nebel erfüllte die nieselsatte Luft, wie ihn die Stadt noch nie gesehen hatte. Andere Nebel hatten die Oberhand, schwer vom zähen Qualm der Straßenröstereien, den der Seewind zu tänzelnden Wirbeln zerstob, während er den Fleischgeruch bis in die Häuser derer trug, die nie Fleisch aßen. Halb freuten sie sich daran, halb verzehrten sie sich danach. Doch als Mimmo geboren wurde, war der Nebel leicht wie im Märchen. So hatte es ihm seine Mutter erzählt.
Als die Hebamme aus dem Kreißsaal kam, sagte sie zu seinem Vater Giovanni, der Junge sei zyanotisch, weil sich die Nabelschnur um den Hals gewickelt habe, doch vielleicht würde er durchkommen. Man müsse schleunigst in die Kinderklinik, um festzustellen, ob das Gehirn Schaden genommen hätte. Der Vater verstand nicht recht, aber ein bisschen fuchsig wurde er schon. Während sie Mimmo mit dem Auto wegbrachten, weil der Krankenwagen kaputt war, sagte der Vater zu seinem Kumpel Saverio, der Junge sei jetzt schon eine Nervensäge.
Eine Woche blieb Mimmo im Krankenhaus. Weil die Eltern nicht wussten, ob er durchkommen würde, gingen sie vorsichtshalber zum Standesamt, um ihn anzumelden. Als der Beamte fragte, wie sie den Jungen nennen wollten, antwortete der Vater: »Mimmo.« »Dann alles Gute für Domenico«, sagte der Beamte. »Doch nicht Domenico!«, antwortete sein Vater und wurde laut. »Ich habe Mimmo gesagt.« Der Beamte erwiderte nichts. Er senkte den Blick und setzte seinen Stempel. Der Vater wusste nicht, dass Mimmo die Verkleinerungsform von Domenico ist.
Die Ärzte stellten fest, dass sein Gehirn keinen Schaden gelitten hatte. Doch als Mimmo größer wurde, sagte sein Vater, statt ihn einen Grützkopf zu nennen, sein Grips habe bei der Geburt einen Hau wegbekommen. Giovanni hatte im Viertel ein Wurstwarengeschäft. Er beschummelte die Kunden beim Abwiegen der Mortadella, weil es ihm mithilfe seines gewieften Kumpels Saverio gelungen war, die Waage zu türken. Einen ganzen Sonntag lang hatte dieser mit dem Schraubenzieher hantiert, bei heruntergelassenen Rollläden, damit niemand ihn sah, hatte die Eichplomben umgangen, die Sicherheitsschrauben gelockert und sämtliche Spuren des Eingriffs beseitigt, damit die Prüfer nichts spitzkriegten. Im Gegenzug hielt sich Giovanni den Kumpel mit anderen Geschäften außerhalb des Wurstladens warm.
Von hundert Gramm Mortadella blieben Giovanni zehn. Er beschummelte die Kunden, vor allem die Laufkundschaft. Die Hungrigen des Viertels, die auf den Sonntag warteten, um den Grillfleischdunst zu schmecken, hatten ein gutes Augenmaß. Sie lagen um höchstens zwei Gramm daneben. Niemals darunter, immer darüber, wegen des Appetits. Das größte Ass war der Vater von Cristofaro, Mimmos Freund, Schulkameraden und Fluchtkomplizen. Cristofaros Vater schätzte aufs Gramm genau, kein halbes Gramm mehr, kein halbes Gramm weniger. Auf den Punkt. Cristofaros Vater lebte in seinem Eckhaus bei der Umgehungsstraße am Meer von Bier. Giovanni sagte, er begreife nicht, wie der so spindeldürr sein könne. Jeden Tag eine Kiste Bier, fünfzehn Flaschen, für ’nen Appel und ’n Ei. Aber statt vom Gärzucker fett zu werden, wurde er immer dünner. Er hatte so harte, üble Knöchel, dass er Walnüsse und Mandeln mit der Faust zerschlug.
Im Borgo Vecchio wusste man, dass Cristofaro jeden Abend das Bier seines Vaters weinte. Wenn die Nachbarn nach dem Abendbrot vor dem Fernseher saßen, hörten sie sein Jaulen, das sämtliche Geräusche des Viertels verschluckte. Sie drehten den Ton leiser und lauschten. Anhand der Schreie konnten sie erahnen, wo die Faust zuschlug, harte, treffsichere Hiebe. Und auch Tritte, doch nie ins Gesicht. Cristofaros Vater war die Ehre seines Sohnes wichtig: Niemand durfte die Schmach der blauen Flecke sehen.
Cristofaros Vater kriegte sich erst wieder ein, wenn es dunkel wurde. Für Cristofaro war das Bier ein Unglück, aber auch die Rettung. Kurz bevor der Vater ihn umbrachte, riss es ihm die Beine weg. Nur noch ein Röcheln schwebte über dem Borgo Vecchio, wie das eines kranken Hundes. Es verschmolz mit dem Klagen des Fährschiffs, das die Leinen gen Festland losmachte. Und niemand im Viertel lauschte mehr Cristofaros Winseln. Sie waren gefangen im Heulen der Fähre, das sich mit Meer vollsog und nach und nach in der Nacht versank. Sie stellten sich die Menschen vor, die über die Decks flanierten, während der Dampfer über das Wasser zog, und grübelten dem Geheimnis des Auftriebs nach. Nur dann und wann wurde die Stille ihrer Träumereien vom Geräusch des Krankenwagens getrübt, der Cristofaro holen kam. Einmal wegen eines gebrochenen Arms. Eine Woche lang ging er nicht zur Schule. Er ist die Treppe heruntergefallen, sagte seine Mutter den Lehrern. Während sie ihnen die x-te Lüge auftischte, musterten sie ihre lackierten Nägel, die duftige Dauerwelle, das schmucke Armband am Handgelenk, die dicke Schicht Schminke in ihrem Gesicht, unter der sich die Wunde ihrer Angst und Ohnmacht verbarg. Wenn sie fertig war mit lügen, blickten sie ihr nach: Ein Absatz ihrer Trittchen war abgebrochen, und sie versuchte, das Humpeln zu überspielen.
Cristofaros Vater schwor, er würde die Treppe auf eigene Kosten reparieren lassen, weil ja offenbar niemand im Haus dafür zahlen wolle. Er drohte sogar mit Anzeigen. Sie ließen ihn reden, weil sie wussten, dass er Cristofaro den Arm gebrochen hatte.
Ein anderes Mal kam der Krankenwagen, weil Cristofaros Vater einen Fehler gemacht hatte. Er hatte ein Küchenmesser genommen und ihm vom Auge bis zum Kinn die Wange aufgeschlitzt. Er kam damit davon. Niemand sollte je erfahren, was er den Ärzten erzählt hatte. Doch Cristofaro hatte alles bestätigt. Er wusste, dass sein Vater ihn eines Tages umbringen würde.
Giovanni hatte mit seinem Cousin gewettet, der nicht an die Wunder des Borgo Vecchio und die Gabe des Gewichtschätzens glaubte. Der Cousin lebte in Hamburg und kam jeden Sommer, um die marternde Hitze und den Kloakenmuff des Viertels mit den ansässigen Verwandten zu teilen. Die Ferne und die ehrliche Arbeit hatten ihn skeptisch werden lassen. »Um das Gewicht zu schätzen, braucht es eine Waage«, hatte er zu Giovanni gesagt. Dreihundert Scheine Einsatz für jeden, der Gewinner kriegt alles. Wenn der Vater wettete, meinte er es immer ernst. Auch wenn er zuschlug, meinte er es ernst. Die Wette lautete wie folgt: Wenn Cristofaros Vater das Gewicht erriet, hätte Giovanni gewonnen. Wenn nicht, würden seine dreihundert Scheine nach Deutschland wandern. Der Cousin sprach Deutsch, doch wenn ihm etwas faul vorkam, wusste er sich verständlich zu machen.
Als Cristofaros Vater wegen der Wette aufkreuzte, musterte der Cousin ihn schweigend, umrundete ihn, schloss die Augen und hob das Kinn. »Nie, bei Maria«, sagte er. Er meinte damit, dass es unmöglich sei, das Gewicht aufs Gramm genau zu schätzen. Bei Mortadella ebenso wenig wie bei jeder anderen Ware. Er sagte auch: »Wenn er es einmal schafft, kann das Zufall sein. Dreimal muss er schätzen.« Auch Giovanni musterte Cristofaros Vater. Er sah seine durstigen Augen, die von den Prügeln rot geschürften Hände, und nahm den hartnäckigen Geruch der Rülpser wahr, die einem Mahnruf oder einer Order gleich aus den Tiefen des Magens aufstiegen. Er spürte, wie der andere danach lechzte zu ersaufen. »Abgemacht«, erwiderte er.
Sie beschlossen, dass es die Waage eines Dritten sein müsse. Nicht aus Misstrauen, sagte der Cousin, »aber solche Partien werden auf neutralem Boden ausgetragen«. Sie gingen zum Eisenwarenhändler, der eine ehrliche Waage besaß. Er wog die Nägel für die Betonschalungen der Baufirmen ab. Die konnte man nicht bescheißen.
Als Giovanni Cristofaros Vater die ersten Scheiben Mortadella in die Hand legte, funkelten dessen durstige Augen. Die Abmachung lautete, wenn er richtig riet, konnte er die Mortadella und zwei Kästen Bier mit nach Hause nehmen. Hundertsieben, hundertneun und hundertdrei. So antwortete Cristofaros Vater, und dreimal gab ihm die Waage des Eisenwarenhändlers recht. Scheiße, rief Giovannis Cousin, dann redete er nur noch deutsch. Doch allen war klar, dass er in der anderen Sprache fluchte. Und sie wunderten sich, wie ähnlich der fremde Groll dem ihren war. Der Deutsche zählte die dreihundert Scheine ab und warf seinen Einsatz auf den Tresen. Während der gesamten Ferien im Viertel war von ihm kein mundartliches Wort mehr zu hören.
Cristofaros Vater fackelte nicht lange, stopfte die Mortadella in eine Nageldose, lud sich das Bier auf die Schultern und ging nach Hause. An dem Abend schrie Cristofaro nur ein einziges Mal. Die Fäuste waren so in Schwung, dass sie ihm sogar die Luft zum Weinen nahmen. Und die Leute im Viertel, die auf Cristofaros Jaulen lauerten wie auf einen Startschuss, weil es sonst keine klangliche Zerstreuung gab und es für das Fährhorn noch zu früh war, fragten sich, ob der Vater Cristofaro wohl umgebracht hatte oder über dem vielen Bier eingeschlafen war. Da sie keine Antwort wussten, fingen sie an, über das Rätsel der Stille zu fantasieren.
Am nächsten Tag in der Schule hatte Cristofaro blasse Lippen. »Geht es dir nicht gut?«, fragte die Lehrerin. Durchfall, antwortete Cristofaro. Dann sagte er, er müsse mal. Weil er sich beim Gehen zusammenkrümmte und die Hände auf den Magen presste, trug die Lehrerin Mimmo auf, ihn aufs Klo zu begleiten.
Cristofaro spuckte Blut ins Waschbecken. »Ich hole die Lehrerin«, sagte Mimmo. Cristofaro hielt ihn mit der Hand zurück. »Kein Wort«, sagte er, als er wieder sprechen konnte. Dann kehrte er mit Mimmo in die Klasse zurück. Allmählich bekamen Cristofaros Lippen wieder Farbe, und es blieb dabei. Doch weil er die Augen geschlossen hielt, glaubte Mimmo, er schliefe. »Cristofaro …«, sagte er leise, damit die Lehrerin nichts mitbekam. Cristofaro öffnete die Lider und lächelte ihn an. Zum ersten Mal sah Mimmo den Tod in diesen Augen.
Cristofaro starb nicht. Nach der Schule begleitete Mimmo ihn bis zu seiner Haustür. Während sie das Viertel durchquerten, begegneten sie solchen, die mit ihren unverfrorenen Blicken noch immer nach einer Antwort für Cristofaros einzelnen abendlichen Schrei suchten, und solchen, die beschämt zu Boden starrten, ohne zu wissen, wieso; einige nickten, erschreckt von ihrer eigenen läppischen Hellsichtigkeit, manche Frauen hätten Cristofaro am liebsten wie einen Sohn umarmt, verharrten jedoch wie gelähmt auf der Türschwelle und machten kehrt, weil sie sich beobachtet fühlten, und manche schlossen mit sich selbst eine Wette über den Ausgang des kommenden Abends ab, und obwohl sie sich der Tragik bewusst waren, überlegten sie, welcher Spaß dem Vater wohl bliebe, wäre Cristofaro erst tot. Doch an dem Abend gab es weder Schreie noch Winseln. Weil er keine Lust hatte, den Rest des Abends zu erleben, war Cristofaro früh zu Bett gegangen und eingeschlafen. Sein Vater trat ins Zimmer. Unschlüssig betrachtete er den schlafenden Sohn. Dann zog er die Tür wieder zu. Am Morgen hatte seine Frau ihm wortlos Cristofaros Bettzeug gezeigt. Blut war darauf. Sein Vater gewährte ihm ein paar Tage Pause.
Als Mimmos Vater Nanà in den Borgo Vecchio brachte, standen alle am Fenster. Giovanni hatte angerufen und verlangt, sie sollten ihn auf dem Balkon erwarten. Und auch den Nachbarn Bescheid geben: Giovanni kommt mit einer Überraschung. Es war an einem Samstag im September, einen Tag vor Mimmos Geburtstag. Mimmo dachte: Jetzt kommt mein Vater mit dem Geschenk. Stattdessen tauchte Giovanni mit einem Pferd auf dem Platz des Viertels auf. Er führte es an der Kandare, und es trottete fügsam hinterdrein. Zusammen mit seinem Kumpel Saverio ließ er es über den menschenleeren Platz traben, denn es war drei Uhr nachmittags. Wieso ein Pferd, Zi’Giovanni, fragten alle auf den Balkonen. Giovanni antwortete, ohne sie anzusehen. Er hatte nur Augen für Nanà. So hieß das Pferd. Es solle an den illegalen Rennen auf dem Ring hinter dem Vorgebirge am Meer teilnehmen, erzählte er, und es werde sie alle gewinnen. Sie ist ein Champion, sagte er, aber für die anderen sah sie aus wie ein Kutschpferd. Sie ist ein Champion, wiederholte Kumpel Saverio, sie muss nur einen Monat trainieren und anständiges Futter kriegen, dann rennt sie so schnell wie früher. »Schneller als früher«, legte Giovanni nach und zwinkerte ihm zu. Weil die Neugierigsten auf den Balkonen nicht alles mitkriegten, kamen sie nach und nach auf den Platz herunter. Ein paar wollten sich dem Pferd nähern, um es zu streicheln, doch Giovanni hielt sie auf Abstand. »Achtung«, sagte er, »es tritt aus«, und Kumpel Saverio erklärte, Nanà habe einem Polypen die Beine gebrochen, als der den Kutscher nach den Papieren gefragt hätte. »Schlau ist sie nämlich obendrein«, bestätigte Giovanni, »sie hat einem Bullen die Beine gebrochen«, und alle lachten.
Die Geschichte setzte sich nur bruchstückhaft zusammen, weil Giovanni dem einen erzählte, beim letzten Rennen auf der Rennbahn sei Nanà gestürzt. Man glaubte, sie hätte sich ein Bein gebrochen, und wollte sie töten, um sie viertelweise an die Metzgereien von Porta Nuova zu verkaufen. Und Kumpel Saverio erzählte einem anderen, sie hätte sich gar nicht das Bein gebrochen, aber das hätte niemand kapiert. Es war nur eine Zerrung. Und weil sie ein Kutschpferd ersetzen sollte, das an Erschöpfung eingegangen war, habe man sie nicht getötet. Sogar Mimmo kam herunter, um zu hören, was sein Vater und Kumpel Saverio zu berichten hatten. Auch Cristofaro war auf dem Platz und wartete darauf, zu seiner abendlichen Tracht Prügel heimzugehen. »In einem Monat, höchstens zwei, rennt Nanà wieder wie früher«, sagte Mimmos Vater. »Und sie gewinnt«, legte Kumpel Saverio nach. Sein Vater wollte sofort Wetten entgegennehmen, aber Kumpel Saverio hielt ihn zurück. »Wir warten ab, bis sie wieder fit ist, und dann wird gewettet.« Bis dahin würden sie sie im Lager des Wurstladens unterstellen. Weil die Geschäfte dank der Waage gut liefen, hatte Mimmos Vater ein neues Lager angemietet. Das alte sollte als Stall herhalten.
Mimmo und Cristofaro schauten einander an. Sie sahen Nanà nicht zum ersten Mal. An den blauen Augen und dem grauen Fell hatten sie sie sofort erkannt. Sie hatte helle Wimpern und den Blick eines sprechenden Tieres. Sie war das Pferd, das sie an einem Tag Ende August nach Hause gebracht hatte.
Sie waren ans Meer gefahren, an den Strand, mit den wenigen Kröten, die Cristofaro aus der Brieftasche seines Vaters geklaut hatte. Mimmo wurde mulmig, als er ihm das Geld zeigte. »Diesmal bringt dein Vater dich um«, sagte er. Cristofaro erwiderte nichts. Sein Vater würde ihn eh umbringen.
Sie nahmen den Bus und taten so, als freuten sie sich. Der Bus fuhr durch die ferienleere Stadt, und als sie den Park durchquerten, schauten sie aus dem Fenster. Sie fühlten sich erwachsen. Beim Anblick der Bäume ergriff sie eine unerklärliche Wehmut. Vielleicht lag es an all dem Grün, das keine Jahreszeiten kannte und nie alterte, vielleicht lag es an den schwarzen Frauen, die sich entlang der Alleen anboten und Mimmo zuzwinkerten, der zurückwinkte. Vielleicht lag es daran, dass der Sommer sich neigte und die Zeit verstrich, als würde man von einer Krankheit genesen.
Während der Bus Richtung Meer fuhr, bemerkten sie die Handtasche einer Touristin. Sie stand halb offen, und der Geldbeutel lugte einladend daraus hervor. Es wäre ein Kinderspiel. Sie hatten das schon getan, um sich den Spaß einer Wundertüte am Kiosk zu gönnen oder Brot und Aufschnitt für den Nachmittagsimbiss, wenn Mimmos Vater keinen Cent herausrückte. Als Mimmo sich der Tasche nähern wollte, legte Cristofaro ihm die Hand auf die Schulter. »Lass«, sagte er. Nach diesem Verzicht fühlten sie sich reifer. Ehe sie die Haltestelle erreichten, sagte Mimmo zu der Touristin, sie solle sich vor Taschendieben in Acht nehmen, doch sie verstand ihn nicht. Beim Aussteigen machte er eine blitzschnelle Handbewegung mit gespreizten Fingern und deutete auf den Geldbeutel, und sie bedankte sich, doch Mimmo verstand sie nicht, weil sie eine fremde Sprache sprach.
Sie gingen nicht sofort ins Wasser. Ausgestreckt im Sand, blinzelten sie in den sich auflösenden Nachmit