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In der Erzählung DAS MÄDCHEN kommt bei einem Einbruch eine ältere Frau ums Leben. Ein Lehrling, vom dominanten Vater gehänselt und geduckt, versucht mit seinem "Kumpel", das schmale Budget durch Diebstahl aufzubessern, und gerät in eine aussichtslose Lage. DAS MÄDCHEN gehört zu den packenden Geschichten, die zuerst in der bekannten "Blaulicht"-Reihe publiziert wurden. LESEPROBE: "Papa, Papa... Er zieht den Leuten ja selber das Geld aus den Taschen." "Dirk, sei leise. Wenn er's hört." "Stimmt's etwa nicht?" "Das ist ganz was andres als Stehlen." "Ach, lasst mich doch alle in Frieden", schrie er und warf das angebissene Brötchen auf den Tisch. Er rannte aus der Küche und auf sein Zimmer. Sie ist tot, du kannst nichts mehr machen, hämmerte es in seinem Hirn. Du kannst nicht mal richtig an sie denken, kennst sie ja gar nicht. Er nahm den Kopf in die Hände und starrte blicklos vor sich hin. Er starrte, ohne es zu begreifen, auf das Radio, in dem die zwanzig Hunderter versteckt waren. Zwei Stunden später war Dirk auf dem Weg zu Falke. Er hatte keine rechte Vorstellung, was er von ihm wollte, aber allein hielt er es nicht länger aus. Falke war sein Freund und der einzige, der Bescheid wusste. Er hatte auch das Motorrad. Vielleicht würden sie ein Stück rausfahren. Der Kumpel wohnte beim Großvater in einem kleinen Haus an der einstigen Stadtmauer. Er war ein paar Jahre älter als Dirk und hatte sich bereits in mehr als einem Beruf versucht. Da der Großvater früher Besitzer einer Autolackiererei gewesen war — auch jetzt stand noch ab und an ein Schlitten im Schuppen, dessen Äußeres aufgemöbelt werden musste —, hatte er hier seine Lehrzeit absolviert. Dann aber hatte er sich mit dem Alten verkracht, war ausgezogen und als Maler gegangen. Er hatte in einem Fahrradladen gearbeitet, in einer Glaserei und nach der Armeezeit in der Tankstelle, wo er jetzt noch jobbte. Er war wieder zu seinem Großvater gezogen, der genug Platz im Haus hatte. Die Tankwärterei freilich wollte er bald an den Nagel hängen: "Das stupide Spritgeplätscher den ganzen Tag, und was kriegt man am Monatsende schon auf die Hand. Da pacht ich lieber 'n Scheißhaus." Als Dirk bei Falke ankam, war der mit dem Großvater im Schuppen. Der Alte hatte für einen Bekannten einen P 50 aufgefrischt, eine jämmerliche Klapperkiste, die aber jetzt in neuem Glanz strahlte. Am Wochenende half ihm sein Enkel manchmal, aus einem Gefühl verwandtschaftlicher Verbundenheit heraus.
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Seitenzahl: 85
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Klaus Möckel
Das Mädchen
Kriminalroman
ISBN 978-3-86394-163-5 (E-Book)
Die Druckausgabe erschien 1982 in der Blaulicht-Reihe (Heft Nr. 218) beim Verlag Das Neue Berlin.
Die kriminellen Sprüche wurden dem Buch "Wer zu Mörders essen geht..." von Klaus Möckel, erschienen 1993 bei Frieling & Partner GmbH Berlin, entnommen.
Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta
© 2012 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Alte Dorfstraße 2 b 19065 Godern Tel.: 03860-505 788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de
Diebe bedienen sich der Nacht — die Nacht rächt sich, indem sie jede unbedachte Bewegung laut widerhallen lässt.
An einem Donnerstag im August, kurz nach 23 Uhr, vernahm die Kürschnerswitwe Hildegard Sund in der Wohnung über sich ein Poltern, das dort nicht hingehörte. Nicht an diesem Abend, denn die Mieter, ein älteres Ehepaar, waren zu ihren Kindern gefahren und wollten erst am Wochenende zurück sein. Sie besaßen zwar einen Hund, einen spitzohrigen Scotchterrier, doch den hatten sie mitgenommen.
Frau Sund war eine zierliche, etwas ängstliche Person, einundsechzig Jahre alt und seit dem Tod ihres Mannes viel mit sich allein. Ihre beiden Töchter, seit langem mit eigener Familie, wohnten in anderen Städten. Den besten Kontakt im Haus, in das sie vor zweieinhalb Jahren gezogen war, um sich zu verkleinern, hatte sie zu den Zinnhahns, eben jenen Leuten über ihr. Die luden sie manchmal zum Plausch ein und ließen ihr den Wohnungsschlüssel da, wenn sie wegfuhren. So auch an jenem Donnerstag, der Frau Sund in ungewohnt aufgekratzter Stimmung sah, hatte sie doch eine gute Nachricht erhalten. Marko, ihr Lieblingsenkel, war an der Technischen Universität immatrikuliert worden. Wenn das ihr Mann Albert hätte erleben können! In Anbetracht des frohen Ereignisses hatte sich die Kürschnerswitwe am Abend eine Flasche Eierlikör mit Orange spendiert, ein Getränk, dem ihre Zuneigung schon seit geraumer Zeit gehörte. Bis 11 Uhr hatte sie dem sanftsüßen Gaumenkitzler mit ständig steigender Sympathie zugesprochen.
Das Poltern oben — als sei ein Aschenbecher, ein Buch zur Erde gesaust — nahm Frau Sund mit der Empfindung zur Kenntnis, es gehöre sich nicht. Sie lauschte, so aufmerksam es ihr der beschwingte Zustand erlaubte, in dem sie sich befand, verwarf aber den Gedanken an Diebe, als sie keine weiteren Geräusche vernahm. Vielleicht war ein Bild von der Wand gefallen: Die Wände im Haus waren mürbe, und wenn draußen die großen Lastwagen vorbeifuhren, klirrten die Scheiben. Frau Sund griff zum Gläschen. Eines alten Bildes wegen würde sie ihren gemütlichen Platz vorm Fernseher nicht aufgeben. Es reichte, wenn sie morgen nach dem Rechten sah. Aber als sie die Zungenspitze genießerisch in die gelbe Flüssigkeit tauchte, bohrte sich ihr plötzlich spitz ein Verdacht ins Hirn. Und wenn es nun die Hydropflanze gewesen war, die in der dickbauchigen Vase auf dem Kleiderschrank stand? Ihre langen, ineinander verflochtenen Ranken konnten Übergewicht bekommen und das Gefäß zum Kippen gebracht haben. Schon längst war das zu befürchten gewesen. Die Hydropflanze — ihr Wasser würde den Teppich verderben. Vielleicht gab es sogar einen Fleck an der Decke; die Kürschnerswitwe schaute misstrauisch nach oben.
Es half nichts, sie musste sich von ihrer Flasche losreißen. Mit einem kleinen Seufzer stand sie auf und ging zur Schublade, wo sie neben ihren Schlüsseln auch die der Nachbarn aufbewahrte. Als sie die Treppe hochstieg, tanzte ihr der Alkohol im Blut. Im Haus herrschte Stille, mehrere Mieter waren in Urlaub, die anderen wohl schon zu Bett.
Frau Sund schloss die Tür zur Zinnhahnschen Wohnung auf, alles schien in Ordnung. Sie gab sich keine besondere Mühe, leise zu sein, sie war es einfach auf Grund ihrer Unauffälligkeit. Sie machte Licht im Korridor und war mit ein paar Schritten am Wohnzimmer. Von dort aus gelangte man in den Schlafraum, wo der Kleiderschrank stand.
Doch die Kürschnerswitwe kam nicht dazu, nach der vermeintlich zerbrochenen Vase zu sehen. Kaum hatte sie den Fuß in die Wohnstube gesetzt und nach dem Lichtschalter getastet, da löste sich links neben ihr eine Gestalt vom Schreibtisch, rannte quer durchs Zimmer zur gegenüberliegenden Tür hinaus. Also doch Spitzbuben, schoss es Frau Sund durch den Kopf. "Diebe", schrie sie, "Hilfe!" Und tat einen Satz nach vorn. Sie sah die zweite Gestalt, die sich neben den Ofen geduckt hatte und in diesem Augenblick emporschoss, zu spät. Durch den Zusammenprall wurde sie zur Seite geschleudert und schlug hart mit dem Kopf gegen die Kante eines Bücherregals. Eine schlanke Person mit schulterlangem Haar hetzte hinter der ersten her und entfloh durchs Schlafzimmer.
Das Haus lag am Stadtrand in einer Nebenstraße, es hatte drei Stockwerke und nach hinten hinaus einen Garten. Durch diesen waren die Einbrecher gekommen und wieder verschwunden. Im Schutz von Büschen und Bäumen konnte man, wenn man's drauf anlegte, bis zu einem Schuppen gelangen. Sie waren hinaufgeklettert und ohne Schwierigkeiten zur Wohnung der Zinnhahns vorgedrungen. Sie hatten ein Loch in die Fensterscheibe geschnitten und den Flügel von innen geöffnet. Die Nacht war finster, und niemand außer Frau Sund hatte etwas gesehen oder gehört.
So wenigstens stellte sich die Lage für Leutnant Kielstein dar, als er nach Mitternacht am Tatort eintraf. Er war aus dem Bett geholt worden und hing durch: Anderthalb Stunden nur hatte er geschlafen. Was ihm aber noch mehr zu schaffen machte, war leise bohrender Zahnschmerz. Seit dem Morgen. Vorübergehend hatte er aufgehört, doch nun regte er sich wieder. Kielstein hätte nicht einmal genau sagen können, welcher Zahn ihn plagte. Es war nicht wesentlich, aber es hinderte ihn am Nachdenken. Während die Kriminaltechniker noch nach Spuren suchten, Fotos in Haus und Garten schossen, die Schrank-, Tür- und vor allem die Fenstergriffe unter die Lupe nahmen, bemühte er sich, erste Fakten zu ordnen. Das schien ihm besonders notwendig, weil es sich um mehr als um den Einbruch handelte. Noch vor seinem Eintreffen hier war die Mieterin, die die beiden überrascht hatte, mit lebensgefährlichen Verletzungen ins Krankenhaus gebracht worden. Kielstein, am Ofen stehend, überschaute das Wohnzimmer. Ein großes Durcheinander hatten die Diebe nicht angerichtet; einige Schubladen waren zum Teil gewaltsam geöffnet worden, Wäsche lag am Boden. Was sie mitgenommen hatten — wenn sie überhaupt dazu gekommen waren —, würde man erst durch die Zinnhahns erfahren. Vielleicht Geld, doch das konnte nur vermutet werden. Dr. Mittler, ein Mieter aus dem dritten Stock, wusste jedenfalls nichts. Eine halbe Stunde nach dem Vorfall war er nach Hause gekommen, hatte sich über die angelehnte Wohnungstür gewundert und das Stöhnen der Verletzten gehört. Er handelte schnell und umsichtig, leistete Erste Hilfe, benachrichtigte das Rettungsamt und die Polizei. Kielstein hatte bereits mit ihm gesprochen, der Mann war Geologe, konnte freilich über die Zinnhahns so gut wie nichts berichten. Aber es war ihm gelungen, ein paar Worte mit Frau Sund zu wechseln, bevor sie ohnmächtig geworden war. "Einbrecher", hatte die Kürschnerswitwe geflüstert, "zwei... ein Mädchen."
Dieses Mädchen ging Kielstein im Kopf herum, er hatte sich die Worte von Dr. Mittler nochmals bestätigen lassen, der sie deutlich gehört haben wollte. Nun ja, im Wohnzimmer brannte kein Licht, alles musste schnell gegangen sein — die Frau konnte sich geirrt haben. Immerhin war die Aussage für die Ermittlungen wichtig. Allem Anschein nach waren die Täter mit einem Motorrad geflohen, das Mädchen vielleicht auf dem Sozius. Blieb zu hoffen, dass man von Frau Sund, sobald es ihr besser ging, noch ein paar Einzelheiten erfuhr.
Das "Mädchen" saß im Jeansanzug in seinem Zimmer auf der Bettkante und hielt einen Packen Geldscheine in der Hand. Es war schlank, hatte halblanges hellblondes Haar und feingliedrige Finger. Es hatte angenehme Gesichtszüge, eine gerade Nase, blaue Augen. Es hieß Dirk Schütz und war kürzlich neunzehn Jahre alt geworden.
Glatte zwei Riesen, dachte Dirk, dazu mein Anteil an dem Silberzeug. Alles ist nach Plan gegangen; wenn bloß zum Schluss nicht die Alte dazwischengeplatzt wäre. Sie muss den Krach gehört haben, als Falke den Kerzenständer runterschmiss. Sie kam direkt auf mich zu, ich konnt gar nicht anders. Ob sie schwer gestürzt ist? Sie hat nicht hinter uns hergeschrien, nicht noch mal um Hilfe gerufen. Nur anfangs, als sie Falke sah. Ach was, wird schon nichts passiert sein, die Alten sind zäh. Wahrscheinlich hat's ihr nur die Sprache verschlagen.
Er widmete sich erneut dem Geld, den Hundert- und Fünfzigmarkscheinen, er musste es so verstecken, dass es die Mutter nicht fand. Vor der Polizei hatte er keine Angst, die Sache war raffiniert genug eingefädelt, aber seine Mutter brachte es fertig und stöberte in seinem Zimmer herum, wenn er zur Arbeit war. Sie hatte ihm zwar hoch und heilig versprochen, das nicht mehr zu tun, doch verlassen wollte er sich nicht darauf. Immer hoffte sie Fotos irgendwelcher Freundinnen zu finden. Oder Liebesbriefe.
Der Wandschrank kam nicht in Frage, auch das Bett war unsicher. Vielleicht das alte Plastradio, das er sowieso nie benutzte, seit er den Recorder hatte. Dirk stand auf, ging zum Regal, wo sich ein Kästchen mit Werkzeug befand, und holte einen Schraubenzieher heraus. Als er sich daranmachte, die Rückwand des Radios zu lösen, hörte er leise Schritte an der Tür. Er hatte das Geld neben sich auf dem Kopfkissen liegen, mit einer hastigen Bewegung schob er es unter die Bettdecke. Verdammt, sogar nachts kriegt man keine Ruhe vor ihr. Mit ihrer Affenliebe konnte sie einem wirklich auf den Wecker gehn.
Ein zaghaftes Klopfen; er überlegte, ob er sich schlafend stellen sollte, aber gewiss hatte sie das Licht gesehen und würde auf jeden Fall hereinkommen. Er zog schnell die Jacke aus, das Hemd halb über den Kopf und brummte ein mürrisches "Ja". Der dunkle Scheitel seiner Mutter schob sich durch die Tür. "Darf man?", fragte sie verlegen, war aber schon drin. Mit ihren großen braunen, stets ein wenig traurigen Augen schaute sie ihn Verzeihung heischend an. "Was ist denn, warum schläfst du nicht?"
"Weil... Ich wollte dir gute Nacht sagen. Hab dich aufschließen hören."
Dirk machte eine ungeduldige Handbewegung. "Deshalb hättst du nicht aus dem Bett kriechen brauchen. Hat er's auch mitgekriegt?"
"Nein. Papa sägt seine fünf Kubikmeter Holz. Ist selber spät dran gewesen. Du weißt doch, sie sind zurzeit bei dem Doktor auf 'm Grundstück."
Dirk erinnerte sich nicht, obwohl sie möglicherweise beim Frühstück davon gesprochen hatte. Es war ihm aber auch egal. Der Mann, den sie Papa nannte und den er, wenn es sein musste, mit Gerhard anredete, schuftete nach Feierabend ständig auf irgendeinem Grundstück. Er hatte Maurer gelernt und arbeitete jetzt als Kraftfahrer. Das große Geld jedoch machte er nebenbei, überall dort, wo für die Datschenversessenen Betonsockel zu gießen und Wände hochzuziehen waren. "Dann lass ihn sägen. Wenn er wach wird, blafft er dich bloß an."
Die Mutter trat näher. Sie raffte ihr Nachthemd, das vorn weit ausgeschnitten war, über der mageren Brust zusammen und setzte sich auf einen Hocker. Sie kannte die Abneigung ihres Sohnes gegen den Mann, den sie nach langem Alleinsein geheiratet hatte, und wusste, dass sie auf Gegenseitigkeit beruhte. Nach Gerhards Meinung war der Bengel zu nichts zu gebrauchen. Zu unbeholfen, zu weich. Schon der Beruf war ein Witz:
Friseur, welcher Junge lernt heutzutage so was. Wo man als Autoschlosser, Klempner, Monteur ganz anders ranschaffen konnte. Vergeblich hatte er Dirk diese Sachlage klarzumachen versucht, schließlich hatte er es aufgegeben. Sie waren zweierlei Bluts. Nur die Frau zwischen ihnen bemühte sich nach wie vor, ein Vater-Sohn-Verhältnis herzustellen.