Das Mörderische neben dem Leben. Ein  Wegbegleiter durch die Welt der Kriminalliteratur - Thomas Wörtche - E-Book

Das Mörderische neben dem Leben. Ein Wegbegleiter durch die Welt der Kriminalliteratur E-Book

Thomas Wörtche

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Beschreibung

»Kriminalliteratur, mit einer gewissen intellektuellen Wollust genossen, ist ein wunderbar funkelndes, facettenreiches Ding. Man kann sie von allen Seiten betrachten, man kann sich von ihr holen, was sie finden lässt. Reduzieren aber auf die Frage ›Wer war’s?‹ darf man sie nicht.« Eine Auswahl an Artikeln, Vorträgen und Aufsätzen von Literaturwissenschaftler und Kritiker Thomas Wörtche zur Kriminalliteratur. »Wörtches Blick auf die Kriminalliteratur ist unverkrampft, da er sich nicht ausschließlich mit diesem Literaturgenre beschäftigt – seine Interessen gelten auch der Musik, dem Comic, der Geschichte und Kunstgeschichte und – natürlich – der Literatur als solcher. ›Wer nur von Kriminalliteratur etwas versteht, versteht auch von Kriminalliteratur nichts‹ ist sein Credo.« Thomas Przybilka, Krimi-Tipp

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Über das Buch

»Kriminalliteratur, mit einer gewissen intellektuellen Wollust genossen, ist ein wunderbar funkelndes, facettenreiches Ding. Man kann sie von allen Seiten betrachten, man kann sich von ihr holen, was sie finden lässt. Reduzieren aber auf die Frage ›Wer war’s?‹ darf man sie nicht.« Eine Auswahl an Artikeln, Vorträgen und Aufsätzen zur Kriminalliteratur von Literaturwissenschaftler und Kritiker Thomas Wörtche.

»Wörtches Blick auf die Kriminalliteratur ist unverkrampft, da er sich nicht ausschließlich mit diesem Literaturgenre beschäftigt – seine Interessen gelten auch der Musik, dem Comic, der Geschichte und Kunstgeschichte und – natürlich – der Literatur als solcher. ›Wer nur von Kriminalliteratur etwas versteht, versteht auch von Kriminalliteratur nichts‹ ist sein Credo.« Thomas Przybilka, Krimi-Tipp

»Was ist eigentlich Kriminalliteratur? TW hinterfragt und sprengt gängige Kategorien der Rezeption von Kriminalliteratur, um statt unzutreffender Formalismen dynamische Näherungen zu wagen, und all das auf engstem, auf knappstem Raum: Reduced to the Max. […] Endlich mal wieder ein Buch, das man lesen MUSS …« Ulrich Noller, Titel-Magazin

Über den Autor

Thomas Wörtche ist Kritiker, Publizist, Literaturwissenschaftler, beschäftigt sich für Print, Online und Radio mit Büchern, Bildern und Musik, schwerpunktmäßig mit internationaler crime fiction in allen medialen Formen. Er ist Mitglied der Jury der KrimiZeit-Bestenliste und Herausgeber von CrimeMag/CulturMag. Außerdem ist er Herausgeber der Reihe penser pulp bei diaphanes. Für den Unionsverlag gab er die Reihe metro heraus. Er lebt und arbeitet in Berlin. Neben der Neuausgabe von »Das Mörderische neben dem Leben« wird in diesem Frühjahr eine weitere Sammlung mit aktuellen Essays und Aufsätzen zur Kriminalliteratur bei CulturBooks erscheinen.

Thomas Wörtche

Das Mörderische neben dem Leben

Ein Wegbegleiter durch die Welt 

der Kriminalliteratur

ImpressumeBook-Ausgabe: © CulturBooks Verlag 2014www.culturbooks.de Gärtnerstr. 122, 20253 Hamburg Tel. +4940 31108081, [email protected] Alle Rechte vorbehalten. Printausgabe: © Libelle Verlag 2008 Umschlaggestaltung: Magdalena Gadaj

Inhaltsverzeichnis

Kriminalliteratur tanzt, schwimmt und rudert auf vielerlei Grenzlinien
TWs seltsame Rankings
Sprengfallen
Das Versagen der Kategorien
It Does Make Sense!
Rätsel Ripley oder Ripley, revisited
Das Mörderische und das Komische
Kriminalliteratur, weltweit
The making of metro ...
Krimis und Kriminalliteratur
Desaster as usual
Die Verweigerung von Eindeutigkeit
Gewalt im Reich der Töne
Quellennachweise

For my beautiful blueeyes, who knows why

Kriminalliteratur tanzt, schwimmt und rudert auf vielerlei Grenzlinien

Ein Vorwort

Kriminalliteratur ist die Literatur, die – weltweit gesehen – am meisten gelesen wird. Immer noch. Die Konkurrenz aus Fantasy (im Gefolge von Harry Potter und dem Herrn der Ringe) und Romance (Liebesromane, bei uns charmant »Nackenbeißer« genannt) war hart, hat sich aber als Modetrend wieder zurechtgemendelt. Neue Konkurrenz erwächst der Kriminalliteratur allmählich aus dem großen, vielfältigen Genrezusammenhang der Crime-Fiction selbst, aus ihren multimedialen Spin-offs sozusagen: Komplexe Comics kommen nach den dürren Jahren der Manga-Alleinherrschaft wieder, viele mit kriminalliterarischen Stoffen und Motiven. Die Science-Fiction hat zunehmend einen Tinge of noir angenommen. TV- und Film-Konzepte werden ästhetisch zunehmend innovativer, und Computerspiele beginnen gerade erst mit ihrer kreativen Evolution – und zwar explosionsartig. Dennoch behauptet sich die klassisch dargebotene Kriminalliteratur, vornehmlich als Kriminalroman – vermutlich, weil sie keine Modewelle ist. Wenn auch eine Menge ihrer Produkte dem blanken Kalkül des mehr oder weniger gelungenen Trenddesigns folgen. Das aber gehört schon immer zum Spiel und sieht nur zeitgeistig verschieden aus.

Ein Buch wie dieses gönnt sich den Luxus, Kriminalliteratur und das Nachdenken über sie als zunächst einmal (allgemein-)konsensfreie Zone zu betreiben. Ein betriebswirtschaftlich kamikazeskes Projekt, vielleicht, aber schon okay, Verleger und Autor lassen sich – Suspense muss sein – gern davon überraschen, wie viele stille Sympathisantinnen und Sympathisanten dennoch darauf warten. Leute, die sich eben auch mit dem, was sie tun, denken und leben, in zunächst (allgemein-)konsensfrei erscheinenden Zonen bewegen. Für sie sind die bisher weit verstreuten Texte in diesem Band versammelt. Ein paar von ihnen, an den verschiedensten Orten erschienen, manche verschollen und wiedergefunden, manche eher prominent geworden, werden in der Buchfassung haltbarer. Auch wird die schiere Dauer etlicher Diskussionen sichtbar. Manche Argumente, denen man heute wie selbstverständlich begegnet, tragen hier ihr Copyright nebst Datum auf der Stirn – und das mag 10 bis 15 Jahre oder noch länger in der Vergangenheit liegen. Im letzten Jahrhundert also.

Das 20. Jahrhundert war auch das Jahrhundert der Kriminalliteratur. Es war noch vieles viel Wichtigeres mehr. Seine gewalttätige Signatur hat sich indes eine literarische Form geschaffen: den Kriminalroman. Da beginnen die Probleme schon. Die Kriminalliteratur ist, genauer betrachtet, keine Form. Sie ist nicht die »eine Form«. Das ist ein Missverständnis. Auch von diesem Missverständnis handelt dieses Buch. Es ist nämlich ein erfreuliches Missverständnis, ein unterhaltsames und ein produktives. Aber nach 150 Jahren Kriminalliteraturgeschichte, in der Jetztzeit, fängt die Rede vom »Krimigenre« an, ein wenig ärgerlich zu werden, weil immer wieder aufgewärmt wird, was eh nie so richtig gestimmt hat. Die Geschichte der Kriminalliteratur ist keine von den Weltläufen und den anderen Signaturen der Zeit isolierbare Geschichte, keine Evolutionsstory eines reinen Unterhaltungsgenres von E. A. Poe bis Fred Vargas, exterritorial zu anderen historischen, kunst- und literaturhistorischen, zeitgeschichtlichen und politischen Parametern. So etwas wird Ihnen hier auch nicht angeboten, sorry to say.

Denn auf den ersten Blick ist ja klar: Eine Father-Brown-Geschichte von Gilbert K. Chesterton und ein Roman von Derek Raymond, ein Miss-Marple-Roman von Agatha Christie und ein nicht-linearer Roman aus dem Harlem-Cycle von Chester Himes, ein Hausfrauen-Grimmi von Inge Noll und ein polyphoner Berlin-Roman von Pieke Biermann, ein ambitionierter Backstein von Elizabeth George und ein provokativer Radikal-Roman von Helen Zahavi, ein Ekel-Schlocker von Karin Slaughter und ein politischer Roman von Raúl Argemí, Faschistoides von Mickey Spillane und Bizarres von William Marshall, antisemitischer Quack von Ernest Tidyman und moderner NYC-Tribalismus von Jerome Charyn mögen das eine oder andere Standardmotiv (A ermordet B, C jagt D) teilen. Aber keine »Form«, Struktur, Erzählperspektive, keine gemeinsame Poetik oder gemeinsame »ideologische Grundentscheidung«, keine gemeinsame Funktion, und schon gar keinen gemeinsamen Blick auf die Welt. Never ever. Wohl aber teilen sie Themen, Konstellationen, Widersprüche und Problemfelder – auf allen Ebenen. Kriminalliteratur, mit einer gewissen intellektuellen Wollust genossen, ist ein wunderbar funkelndes, facettenreiches Ding. Man kann sie von allen Seiten betrachten, man kann sich von ihr holen, was sie finden lässt. Reduzieren aber auf die Frage »Wer war’s?« darf man sie nicht. »Wer war’s?«- und »Ohne Krimi geht die Mimi ...«-Albernheiten sind vermutlich unausrottbar, harmlos wie Gartenzwerge oder wie den Kölner Dom aus Streichhölzern nachbauen oder Bierfilze sammeln.

Wer sich mit der 17-millionsten Variante der »Wer war’s?«-Frage nicht beschäftigen mag, darf sich bei der Lektüre von intelligenter Kriminalliteratur dafür wahlweise delektieren an den Spannungsfeldern von Realität und Fiction, von Gewalt und ihrer Darstellung, von Ordnung und Chaos, von Aufklärung und Gegenaufklärung. von Erhellung und Verschleierung, von Ideologie und Ironie, von Transzendenz und Kontingenz, von Suspense und Langeweile, von Subtilität und Action, von Tempo und Entschleunigung, von Loyalität und Verrat, von Macht und Grausamkeit, von Terror und Horror, vom Verhältnis der Geschlechter, von Narration und Ästhetik, von Vor-, Post- und Metamoderne, von Komik und Tragik, von Kitsch und Kunst, vom Hohen Ton und von Vulgarität, von Seriosität und Trivialität, von gutem und schlechtem Geschmack, von Multimedia, von Bildern und Zeichen ... Und deswegen geht auch kriminalliterarisch gesehen vorläufig noch das 20. im 21. Jahrhundert weiter – seine Strukturen, Themen, Problemlagen haben sich bis jetzt vom Datum nicht beirren lassen und machen uns kontinuierlich weiter zu schaffen.

Wovon in den folgenden Texten wenig die Rede sein wird, weil sich das von selbst versteht: dass es neben der Kriminalliteratur noch andere Literatur und Kunst gibt, die ebenfalls die Themen Verbrechen, Tod, Gewalt, Mord, Gier und niedere Triebe behandeln, ohne deswegen irgendwie kriminalliterarisch verdächtig zu sein. Das gilt vor allem für die Kunst und Literatur früherer Zeiten ab Homer, Sophokles, Euripides und Aischylos. Ja: auch Shakespeare, Dostojewski und Doderer, die Märchen der Gebrüder Grimm und die Bildweiten von Callot, Goya, Dix und Grosz und Co. Ja, die Bibel und vor allem das Alte Testament.

Ebenso wenig interessieren uns hier die diversen Realismus- und Widerspiegelungsdebatten, die tendenzielle Vermischung von fiktionalen Texten und »realen« Ereignissen in den kultursemiotischen Auslegungsalgorithmen. die Genre- und Gattungsdebatten und ihre Defizite, auch nicht die einschlägigen Essays von Brecht, Bloch, Kracauer & Co.

Wir müssen auch nicht breit ausführen, dass es nirgendwo auf diesem Planeten ein einigermaßen brauchbares Übersichtswerk über die globale Kriminalliteratur gibt, wohl aber – bis auf den deutschsprachigen Raum – ein paar hilfreiche Steinbrüche zur angelsächsischen, franko- und iberophonen Kriminalliteratur, meistens als »Encyclopedia of ...«, »Encyclopaedia of ...« oder »Dictionary of ...« und gerne auch als Mega-Bibliographien. Solche Werke sind extrem nützlich, aber sie müssen enorme Mengen von Material sammeln und verarbeiten. Abertausende Titel im Jahr, weltweit und ohne Ende ... Da bleiben wenige Ressourcen fürs Reflektieren. Es ist ein wahrer Material-Tsunami: Allein in Deutschland erscheinen, arg vorsichtig geschätzt, pro Monat mehr als hundert einschlägige Primärtitel.

Wichtiges und Gutes steht neben reinem Quatsch und sinnfreien Marginalien, scheindemokratisch gleichwertig angeordnet; quasijournalistische Kolumnen neben echten, halbanalphabetisches Gebrabbel neben anständigen Texten. Die schiere Menge der Produktion nivelliert alles auf den kleinsten gemeinsamen Nenner hin. Das ist beileibe nicht kriminalliteraturspezifisch, trifft aber günstig auf einen Zeitgeist, demzufolge es keine Kriterien gibt, sondern nur zielgruppengenaue gelungene oder verfehlte Ansprachen.

So hängen dann letztendlich Primärproduktion, Sekundär- und Tertiärproduktion am selben Tropf: dem Diktat der Quote resp. der Verkaufszahlen.

Natürlich erzielt man mit »barrierefreien« Texten mehr Auflage und Clicks, nicht etwa nur aus Kalkül, sondern weil eine analoge Schlichtheit zwischen Produzent und Rezipient herrscht – das ist das Geheimnis von vielen Bestsellern. Wenn wirklich ein Autor namens Andreas Franz einer der meistverkauften deutschen Krimi-Autoren ist (man kann seine Bücher jenseits aller ästhetischen und anderen Barrieren zu lesen versuchen ...), dann erscheint eine solche Kongruenz als hochplausibel.

Ja, ich weiß auch, welche Namen von Sekundärarbeitern, Nach- und Be-denkern man jetzt als Gegenbeispiele anführen wird ... Auf diesem Gebiet kann ich Ihnen leider auch keinen Konsens anbieten: Ich bin mit nichts davon wirklich zufrieden oder gar einverstanden. Und weiß gleichzeitig doch, dass hinter dem sekundärliterarischen Defizit ein produktionsökonomisches, ein wertungstheoretisches und ein forschungsstrategisches Problem steckt. Weil die Akademie, die z. B. eine Geschichte der Kriminalliteratur finanziell stemmen könnte, den Gegenstandsbereich nicht genug kennt, vor allem, was die lebensweltlichen Kontexte angeht. Weil die Internationalität der Kriminalliteratur die Grenzen der Einzelphilologien sprengt. Und weil die Literaturwissenschaft, die seit Jahrzehnten abgetakelten Forschungsparametern (Literatursoziologie!) nachgelaufen ist, sich nicht wirklich für diesen noch lebenden Gegenstandsbereich interessiert hat, dessen Kanonisierungs- und Nobilitierungs-Status noch unklar und somit prekär ist. Ausnahmen wie Jochen Vogt oder Hans Richard Brittnacher und eine Handvoll anderer bestätigen die Regel.

Außerakademisch, also privatwirtschaftlich kann kaum jemand ein kriminalliterarisches Grundlagenprojekt finanzieren – welcher Autor kann schon fünf bis zehn Jahre Lebenszeit einsetzen für einen Vorschuss, der kaum die Kaffeekosten für einen Monat deckt? Zudem zahlt kein Verlag der Welt für ein Projekt, das 80 % der weltweiten Krimiproduktion (und mit viel Pech 90 % der Hausproduktion) als Schrott & Schotter bezeichnen müsste. Nein, die Sekundärbearbeitung von Kriminalliteratur hat sich ihrem Gegenstand angeglichen – sie ist verstreut, unsystematisch, vermischt und disparat. Auch dieses Buch kann davon keine Ausnahme sein.

Dennoch lohnt es sich, über Kriminalliteratur nachzudenken, sie ist eine zu gewichtige Größe, um nur als selbstbezügliche Marginalie gesehen zu werden.

In ihrer Geschichte hat Kriminalliteratur immer in enger Abhängigkeit zu ihren Kontexten gestanden, konstitutiv. Egal, wie dieses Verhältnis aussah, es gab immer eines, auch in den trivialsten Ausprägungen von Krimi. Ohne die Katastrophe des Ersten Weltkrieges hätten die Golden-Age-Krimis der Damen Christie und Sayers nicht die antimodernistische Wendung genommen, indem sie nette, gepflegte Morde nach dem industrialisierten Massenschlachten des Krieges als idyllische Unterhaltungsspiele inszenierten, die der letztendlichen Versicherung dienten, dass die Welt schon wieder in Ordnung komme, wenn nur ein genialer Mann oder eine handfeste Frau das Geschäft der Verbrechensbekämpfung privatisiere. Dashiell Hammett reagierte auf die Erfahrung seiner Jahre, dass Big Business und Organisiertes Verbrechen analog funktionieren. Die Polit-Thriller seit John Buchans Zeiten waren treue Begleiter, Deuter und Propheten ihrer jeweiligen politischen und wirtschaftlichen Großwetterlagen. Der französische Néo-Polar schuf die kriminalliterarische, dialektisch-kritische Begleitung für 68 und die Folgen. Die Umbrüche in der US-amerikanischen Innenpolitik der Reagonomics gebaren den Serialkiller-Kult. Das Anti-Thatch-Writing der Brits brachte mit einer gewissen Konsequenz den »neuen britischen Polizeiroman« auf den Plan, der heute wiederum von Autoren wie David Peace bierernst oder von Stuart MacBride eher komisch demontiert wird. Und unsere deutsche Bespaßungs-Marketing-Gesellschaft wartet mit Halden recycelter Regio- und anderer Blödelkrimis auf.

Das alles gilt nur mit Blick auf »den Westen«. In anderen Weltgegenden und politischen Systemen reagierte Kriminalliteratur in jeweils anderen Funktionen auf die dortigen (und die von der Großmachtpolitik dort verursachten) Konfliktlagen auf ihre Weise – James McClure und Tom Sharpe mit Häme und Spott in Südafrika während der Apartheid, Deon Meyer mit Verunsicherung heute; Rubem Fonseca mit gewalttätigem Spott in Brasilien, Jorge Luis Borges mit dem Rückzug in hermetische, imaginäre Welten in Argentinien, Yasmina Khadra mit verzweifelter Komik in Algerien, Paco Ignacio Taibo II mit magischem Gewaltrealismus in Mexico City und Garry Disher mit Seziermesserprosa auf australische Verhältnisse today.

Diese wenigen Beispiele zeigen lediglich die Richtung des einen Vektors an: von der Realität in die Literatur. Das ist schon spannend genug.

Spannend wird es aber auch, wenn man dem Vektor in der anderen Richtung nachgeht. Von der Literatur in die Realität. Damit meine ich natürlich keine lebenspraktischen Anleitungen zum Bankraub oder zum Gattenmord – und wenn Sie’s nicht sein lassen können, halten Sie sich um Himmels willen nicht an die Vorlagen und Rezepte von Autorinnen des Golden Age, bei denen war Realitätsbeugung mit dem Ziel der glatten Auflösbarkeit eines Mordrätsels an der Tagesordnung. Versuchen Sie sich aber auch nicht an Ein-Mann-Kriegen wie Lee Childs intelligenter Superheld für abgeklärte Geister, Jack Reacher.

Ich möchte auch nicht überbewerten, dass sich die Sakko-Mode deutscher Polizisten seit den 1980s, seit »Miami Vice«, sichtbar ins Multicolorale geändert hat und dass ein paar italienische Mobster sich ihre Redeweise und Körpersprache weniger aus Mario Puzos »Godfather« geholt haben denn aus Coppolas Film. Das fiel schon den Wanzenlegern des FBI in den 1970s auf, bis endlich vor kurzem das deutsche Feuilleton hyperventilierte vor begeisterter Aufregung, nur weil Roberto Saviano in seinem Camorra-Buch Ähnliches über junge Mafia resp. Camorra resp. ’Ndrangheta-Azubis berichtete: Die kleinen Strolche wollen wie Gangster aus einschlägigen Filmen und den »Sopranos« aussehen, reden und töten. Mit anderen Worten – Fiction kreiert Moden und damit Partikel von Weltbildern. Das ist aber wenig trennscharf, wenn es um Crime-Fiction geht, und vermutlich überhaupt so alt wie das Verhältnis von Kunst und Publikum.

Der Vektor weist auch nicht von der Literatur in die Realität, wenn man Kriminalliteratur sozusagen als transzendentes Exempel liebt. Oft hat in der Kriminalliteratur das Leben, die Welt, die Existenz ein Telos, einen Kick ins Transzendente: die restlose Aufklärung eines Mordfalles, die gerechte Bestrafung eines Täters, das Wiederherstellen einer Ordnung, der Glaube an das letztendlich Gute oder dass irgendwo doch Gerechtigkeit sei. Es sollte uns zu denken geben, dass schon einer der Gründertexte des Genres, »The Murders in the Rue Morgue«, diese teleologische Tendenz ironisch sabotiert. Das Vieh war ein Affe. Und seitdem ist es auch ein Qualitätskriterium für gelungene Kriminalliteratur, wenn sie mit ihren teleologischen Tendenzen ironisch umgeht. Bezeichnenderweise wird gerade die Rolle des Zufalls in Kriminalromanen gerne als Manko und als unglaubwürdig gerügt. Als ob wenigstens Kriminalliteratur ein Kontingenz-freier Ort sein sollte, inmitten des Meers aus Kontingenz und Ironie, und ganz ohne präexistente Verbindlichkeiten. Richard Rorty, der Philosoph der Kontingenz und nicht zufällig neben Ludwig Wittgenstein eine nicht explizierte, aber stets präsente Lichtquelle in den folgenden Texten, wäre entgeistert gewesen: Kriminalliteratur ist nämlich eher die Literatur der Kontingenz als die Literatur irgendeines höheren Sinns. Deswegen tendiert sie, wenn sie gelungen ist, eher zu gebrochenen, ambigen, ironischen oder komischen Texten. Die Vielfalt ihrer Erscheinungen hingegen lässt sich wahrscheinlich am besten mit Wittgensteins »Familienähnlichkeiten« deskriptiv in den Griff bekommen, und seine Auffassung von Literatur als sozialem Prozess bleibt grundlegend.

Die Manipulation des Zufalls, die doppelte Ironie, dass ein Zufall kein Zufall ist, dies aber zufällig so passieren kann, ist das Eröffnungsmotiv eines der großen Romane des 20. Jahrhunderts: »Chinaman’s Chance« von Ross Thomas, natürlich ein Kriminalroman. Der fängt mit einem toten Pelikan am Strand von Malibu an, und das scheint zunächst arg zufällig. Nicht umsonst ist Ross Thomas der skeptischste unter allen Skeptikern. Skeptisch, was Erklärungen, Auflösungen, Verlautbarungen und glückliche Fügungen angeht, deren manipulative Mechanismen man nicht erkennt. Skeptisch selbst gegenüber der Kontingenz des Daseins. Interessant wird es also, wenn man versucht, den skeptischen Anteil zu finden, der in jeder ernst zu nehmenden Kriminalliteratur steckt. Sozusagen den Geist, der stets verneint: Nein, mit der Aufklärung eines Mordes, mit dem Überführen des Täters ist das Morden nicht zu Ende und die Welt längst nicht in Ordnung. Nein, hinter den Erklärungen für Gewalt und Verbrechen, Mord und Massaker, die wir offiziell bekommen, bleiben die entscheidenden Dinge verborgen. Nein, Skepsis ist nicht lediglich als billig zu denunzierende Paranoia abzutun. Nein, wir müssen uns nicht über jeden dahergelaufenen Skandal wundern, wenn er gerade mal platzt – Konzerne und Staatskonzerne, die ihre Mitarbeiter abhören und bespitzeln oder so. Nein, wir gehen davon aus, dass Insidergeschäfte an der Börse, die Millionen von Existenzen ruinieren, systemisch »normal« sind. Nein, wir wissen schon, dass Rohstoffkriege uns als »Stammesfehden« in unseren Leitmedien verkauft werden. Nein, Sklavenarbeit für unsere Billigklamotten, normaler »Körperverbrauch«, wie neulich ein Kultursemiot schnöselte, und Gesetze zur »inneren Sicherheit«, die angeblich der »Terrorabwehr« dienen, aber stattdessen Datenerhebungen für den privatwirtschaftlichen Gebrauch und für die innenpolitische Überwachung sind – nein, das alles sind keine Fiktionen. Sondern Realitäten, die nicht weniger scheußlich werden, nur weil wir de facto mit ihnen leben können. Wir glauben auch nicht, dass das Outsourcing von hoheitlichen Akten, die Verprivatisierung des staatlichen Gewaltmonopols, um rechtsfreie Räume für was auch immer zu schaffen, eine harmlose Angelegenheit ist. Diesen ganzen Gruselkatalog des völlig normalen Lebens auf diesem Planeten darf man, nein, muss man empört zur Kenntnis nehmen. Nie aber verwundert oder überrascht oder naiv prustend oder erschrocken quiekend. Denn das alles ist bekannt.

Wir würden, hätten wir alle unseren Eric Ambler, unseren Ross Thomas, unseren Robert Littell so eifrig und aufmerksam gelesen, wie wir Steuerratgeber lesen oder Sexturnbücher, keine Energie mit glotzendem Staunen und aufgedrehtem Empören vergeuden, sondern die Politiker vom Acker jagen, die sich öffentlich darüber irritiert zu zeigen wagen, dass es korrupte Manager oder Ministeriale gibt.

Man könnte das alles wissen. Nicht, weil viele von uns viele unschöne Dinge erlebt haben und nicht alle Menschen ihre Kenntnisse von Gewalt und Verbrechen nur aus Büchern beziehen. Sondern weil, wenn man sie denn an diesem Punkt ernst nimmt, Kriminalliteratur auch und unter anderem eine probate Einübung in nicht-naives Denken ist. Nicht, weil die Frage nach dem Täter für den Alltag wichtig wäre. Sondern weil für den Umgang mit der Welt, in der wir leben, das Bewusstsein dafür nicht ganz unerheblich ist, dass Gewalt und Verbrechen konstitutiver Bestandteil menschlichen Zusammenlebens sind. Und nicht Abweichungen, Anomalien, Skandale, die man abschaffen oder finalisieren könnte. Jan Philipp Reemtsmas magistrales Buch »Vertrauen und Gewalt« kreist nicht umsonst um das Problem, dass das Perhorreszieren von Gewalt in unseren westlichen, modernen Gesellschaften zwar auf den ersten Blick ethisch-emotional begrüßenswert und erfreulich ist, ihre andauernde, gar obsessive Problematisierung – Reemtsma spricht gar von der »großen Obsession der Moderne« – aber den genauen Blick auf ihre Phänomenologie verstellt. Und damit einem weiträumigeren Verständnis von Gewalt (in all ihrer Ausdifferenziertheit) im Wege steht.

Die Wechselwirkung von Fiktion und Realität erscheinen mir an diesem Punkt ganz deutlich. Die Fiktion schafft sozusagen den erkenntnistheoretischen Rahmen oder stellt Rahmenoptionen dafür bereit, wie man mit gewissen Realitäten umgehen könnte, welche Optionen man hat, Gewalt einzuschätzen, zu werten, sie produktiv einzusetzen, ohne jeweils ordnungspolitischen Aprioris zu folgen.

Zurück aus solcher Abstraktion. Wolfgang Sofsky hat den Umstand sehr schön auf den Punkt gebracht, dass Ordnung und Gewalt sich bedingen: »Ordnung ist zur Eindämmung von Gewalt unerlässlich; aber umgekehrt ist Gewalt notwendig für den Bestand der Ordnung.« Diese karge, aber treffende Erkenntnis steckt natürlich in aller Kriminalliteratur, seit Beginn des Genres. Die jeweilige Offenheit, mit der dieses Paradox behandelt wird, ist ein Qualitätskriterium. Die Energie, mit der das schaudernde Abwehren von Gewalt betrieben wird, ist ein Ideologieindiz. Wer Schlachte-Orgien in einlässlicher, wollüstiger Schwelgerei inszeniert, wie Henning Mankell oder Thomas Harris, der tarnt diese Obszönitäten hinter der Persona dessen, der doch nur zeigen will, wie scheußlich Gewalt ist. Als ob das 20. Jahrhundert auch im 21. dies nicht wisse. Wer fröhlich und beiläufig im ironischen Modus töten und Gewalt ausüben lässt, wie Lee Child seinen Helden Jack Reacher, der hat die anthropologische Verhaltensoption »Gewalt« als solche akzeptiert. Und damit als eine unter anderen zur Disposition gestellt und sie damit in die Conditio humana eingebunden. Danach kann man etwas machen mit ihr. Auch viel Unfug natürlich, so viel Risiko ist immer – aber souverän eben und nicht ideologisch oder sensationalistisch blockiert.

Deswegen ist die Kriminalliteratur dort, wo sie doch ganz unschuldig sein will, am ideologischsten. Frommes Wunschdenken und reine Propaganda für verlogene Weltbilder, oder für ordnungspolitische Neurosen. Oder ein reines Verkaufsprodukt wie Kreuzworträtselhefte.

Kriminalliteratur wird zum belanglosen oder auch bedenklichen »Grimmi« dort, wo sie prätendiert, dass das Gute siegt, wo die Ordnung wieder hergestellt wird, die Monster »Serialkiller« heißen, »das Böse« psychopathisch ist, das Morden eine künstlerische Tätigkeit und das Aufklären ein Puzzlespiel. Daran schließen sich dann auch die verlogenen Schlagworte an, vom tröstenden Eskapismus der Kriminalliteratur oder von ihrem utopischen Drive, dass dereinst der Neue Mensch der bessere wäre. Das trifft auf Agatha Christie genauso zu wie auf Petra Hammesfahr, das trifft auf die ganzen tristen Pseudonoirs der Jetztzeit zu, auf die mechanisch gewordenen Polizeiromane genauso wie auf die Ekel-Fraktion aus der Geisterbahn, die nur schockieren will, aber es nicht mehr kann, weil too much blood jeden Choque kaputt kriegt.

»Grimmis« tun dann genau das, was Reemtsma und Sofsky (und andere einschlägige Köpfe von Elias Canetti bis Zygmunt Baumann) bemerkt haben: Sie hysterisieren und funktionalisieren Gewalt angstlusthaft so oder so – die jeweilige ideologische Ausrichtung im Spektrum meinetwegen von Mickey Spillane (rechts) bis Robert B. Parker (links) ist dann schon fast egal. Ungebrochener Exzess, cozy-hafte Verharmlosung und Skandalisierung sind als Techniken der lauthalsen Problematisierung die sichersten Hinweise auf Spielarten von Kriminalliteratur, in denen als harmlose Unterhaltung daherkommende Ideologie auch ästhetisch betrübliche Produkte hervorbringt.

Dieses kriminalliterarische Paradox hat Konsequenzen: Wie man dazu neigt, Gewalt durch Abweichungsmodelle der philosophischen, anthropologischen, soziologischen, rechtsphilosophischen oder juristischen Art zu verstehen, so neigt man dazu, eine »Gattungs«- oder »Genre«-Theorie zu entwerfen, die Kriminalliteratur ebenfalls als »Abweichungsphänomen« zu fassen trachtet. Die Norm, von der da abgewichen wird, ist die seriöse Literatur, die »Hochliteratur«. Weil für diese keine belegbaren und konsensfähigen Parameter existieren, ja, mehr noch, weil es konstitutiv für die »Hochliteratur« der Moderne-plus ist, solche Parameter zu zerstören, bleiben nur letztendlich begründungslose, eher über Aufmerksamkeits- und Prestigewerte nach Georg Francks »Ökonomie der Aufmerksamkeit« zu beschreibende Kriterien übrig. Sie haben notfalls mit den Texten so gar nichts zu tun. It’s all about prestige, wie ein kluger Engländer einmal sagte.

Dies wiederum verzahnt sich mit den Produktionsbedingungen der Kriminalliteratur. Denn Kriminalliteratur muss auf den Markt achten, das beeinflusst ihre Textorganisation. Sie ist nicht subventioniert. Wenn sie im Laufe ihrer Evolution denn doch eines Tages subventioniert wurde (den Zustand haben wir heute beinahe schon erreicht), also mit Stipendien, Preisen etc. ausgestattet ist, möchte sie auf den Markt verzichten und »literarisch« werden, um damit die Anerkennung der an subventionierter Literatur geschulten Multiplikatoren zu erreichen. Als Kriminalliteratur ist sie dann meistens erledigt, als fahle »Gegenwartsliteratur« west sie durch die Goethe-Institute – Jan Costin Wagner war so ein Fall und all die »literarischen« Krimis, die von notorischen Literati verfasst wurden und immer wieder werden.

Aber so seltsam verknotet sind die Wege nun einmal – zumindest kann man Kriminalliteratur auch aus diesen Blickwinkeln betrachten. Aber wie man’s auch dreht und wendet: Sie ist realistische Literatur, in spezifischer Weise mit Realitäten verbunden. So entfaltet sich ihr ganzes, schönes amphibisches Wesen in voller Pracht. Ich hätte diesen Begriff von »amphibisch« gern selbst erfunden, er stammt aber von dem englischen Literaturwissenschaftler Joseph Peter Stern, der damit den Status von Realismus trefflich beschreibt – als Doppelbezug auf die lebensweltliche Realität einerseits und auf literarische oder künstlerische Verfahren, die wir »realistisch« nennen, andererseits. Genau so muss sich Kriminalliteratur bewegen können: in den bewegten Wogen der Lebenswelt und im schlammigen Grund der literarischen Formen und ästhetischen Prinzipien. Ihre Themen und ihre Produktionsbedingungen gehören in das eine Element, ihre Textgestalt, die Interpretierbarkeit, ihre Funktionalisierung, ins andere. Ihre Vermarktbarkeit bezieht sie aus beiden. Kriminalliteratur tanzt, schwimmt und rudert auf vielerlei Grenzlinien.

Ein paar davon möchte dieses Büchlein mit Ihnen zusammen besichtigen.

Berlin, im Juni 2008

TWs seltsame Rankings

Rankings sind beliebt, Listen wunderbar unterhaltsam zu lesen. Vor allem daraufhin, wer gerade nicht in ihnen auftaucht. Die »in«- und »out«-Listen der zeitgeistigen 1980s haben die Büchse aufgemacht. Pandora war’s damals nicht, eher der Vorsatz, sich zu amüsieren.

Wir wissen natürlich, dass Listen und Rankings eine Form von Scherz & Frohsinn sind und dass man kein ästhetisches oder kanonisches System herstellen kann, indem man Namen und Buchtitel untereinanderschreibt. Das sieht nur so aus, im besten Falle sortiert es ein bisschen den ganzen Tsunami von Hype, Vorlieben, Moden, Trends, Bestsellern, Meinung, Glaube und Propaganda.

TWs Rankings sind dagegen streng objektiv, metaphysisch abgesichert, ehern, in Marmor gemeißelt und unfehlbar. Sie konzentrieren sich mal auf Autoren, mal auf Romane. Und manche warten sogar mit Begründungen auf ...

10 deutschsprachige Classics von Glauser bis Steinfest

Ein wenig Literaturgeschichte vorab darf sein: Schon vor Döblin, Doderer, Wassermann & Co., also im 19. Jahrhundert, gab es Kriminalliteratur-analoge Produktionen, sogar in großer Zahl. Im Gefolge der 1848er Revolution waren sie u. a. publizistisch merkwürdiger- und interessanterweise im weiteren Umkreis der »Gartenlaube« angesiedelt. Es gab Krimi-affine Texte im Gefolge von Romantik und Schauerromantik und im Zuge »realistischen« (hier: als Epochenbegriff gemeint) Erzählens. Selbst im Nationalsozialismus gab es Kriminalromane in erklecklicher Quantität und von jener dubiosen Qualität, die Liebhaber zu dem Prädikat »immerhin« zu provozieren scheinen. Ich würde sie gerne weiterhin scheußlich nennen dürfen.

Aber wie man’s auch dreht und wendet, wie verdienstvoll, kenntnisreich, arkan und obskur die Ausgrabungen – von Dieter Paul Rudolph schwerpunktmäßig fürs 19. und frühe 20. Jahrhundert, von Carsten Würmann schwerpunktmäßig für die Zeit von 1914 bis 1945 – und die bibliographischen Anstrengungen von Mirko Schädel auch sein mögen, eine Erkenntnis bleibt: Zu einer ausgereiften »Tradition« hat das alles nicht gereicht, denn eine »Tradition« ohne Folgen ist keine.

Der deutsche Kriminalroman in Ost und West musste sich nach 1945 neu erfinden und erfand dabei manchmal das Rad neu – oder schielte auf ausländische Vorbilder. Das war legitim. Und hätte vielleicht sogar produktiv sein können. Und natürlich spielte der tiefdeutsche Horror vor der Kombination von Intelligenz und Unterhaltung, von Witz und Thrill eine Rolle. Dazu kam und kommt der fatale Gedanke, man müsse unbedingt überall Weltspitze sein – flächendeckend. Also auch beim Krimi. Also ist jeder Verkaufserfolg gleich ein Spitzenprodukt, global gesehen. Wer gegen diesen süßen Wahn Widerworte erhebt, womöglich noch mit Gründen, ist ein Nestbeschmutzer, ein Ketzer. Das Spiel kenne ich seit 20 Jahren, so lange bin ich »dabei«. Dabei käme ich nicht im Traum darauf, nationalliterarische All-Urteile abzugeben wie: Der deutsche Krimi taugt nichts. Falsch! Es gibt unendlich viele deutsche Krimis, die unterirdisch schlecht sind. Richtig! Und es gibt andere, die exzellent sind, und manchmal eben auch erfolgreich. Reiht man diese Bücher (also nicht den Hype des Tages) aneinander, dann bekommt die Entwicklung des Genres ein Gesicht.

Wir bleiben dabei schön auf dem Teppich: Von aller künstlerischen Produktion hat nur ein gewisser Prozentsatz Bestand – von der »deutschen Lyrik« genauso wie vom »deutschen Kriminalroman«. Also kann ich nur diejenigen Schriftstellerinnen und Schriftsteller nennen, die ich mit guten Gründen für entscheidend wichtig halte – gemessen an ihrer literarischen Qualität, an ihrer Innovationskraft und ihrer gedanklichen Schärfe.

Es sind dies, in der Reihenfolge ihres Auftretens auf der literarischen Bühne:

Friedrich Glauser

Der Begründer des modernen, deutschsprachigen Kriminalromans. Die fünf Romane um den Wachtmeister Studer, der 1936 seinen ersten Auftritt hatte, sind Meisterwerke mit unbegrenzter Haltbarkeit. Selbst ein Außenseiter, schrieb Glauser in spröder, sensibler Prosa über Irren- und Armenhäusler, über die Unangepassten und die, die nicht funktionieren, wie man zu funktionieren hat. Er definierte den Blick, den Kriminalliteratur zu haben hat: von unten auf die Gesellschaft.

Johannes Mario Simmel

Ein Buch reicht für den Pantheon – »Es muss nicht immer Kaviar sein« von 1960. Der Zweite Weltkrieg als Schelmenstück & Polit-Thriller, sehr komisch und tragisch, Lust an intelligenter Intrige und Gegenintrige. Cleverness als Tugend und das ganze garniert mit Sinnenfreuden der erotischen und kulinarischen Sorte. Plus eine ganz und gar undeutsche Weltläufigkeit und eine neue Interpretation des Subgenres Spionageroman.

Friedhelm Werremeier

Wichtiger als die Erfindung des ersten »Tatort«-Kommissars Trimmel war Werremeiers Gespür für Themen, die ein aktuelles Unterfutter für Kriminalromane sein können. White-Collar-Kriminalität, Umweltkriminalität, Fußball als verbrecherische Veranstaltung usw. nach dem Grundsatz: Immer dem Geld folgen. Das, kombiniert mit intelligenten Plots, ergab eine Chronique scandaleuse der Bundesrepublik, nachdem das Wirtschaftswunder sauer geworden war.

Ulf Miehe

Mit nur drei Büchern schloss er die deutsche Kriminalliteratur an den internationalen Roman noir an, ungezwungen und organisch. Seine Romane verzichteten auf die Fall-Aufklärung-Klammer und zeichneten mit präziser, gehämmerter Prosa eine Welt außerhalb der üblichen Wahrnehmungsraster. Nicht das wirklichere »wirkliche Leben«, sondern das Leben, wie es auch sein kann. Knapp, atmosphärisch dicht, literarisch ohne Prätention, ohne die Tröstungen der Form, ohne die Scheuklappen der Sinnstiftung.

D. B. Blettenberg

Er öffnete die Fenster zur Welt, kombinierte Polit-Thriller und Abenteuerroman und etablierte einen immer sarkastischer werdenden, lakonischen Erzählton. Seine erfahrungsgesättigten Romane aus Asien, Afrika und Lateinamerika räumten mit exotistischen und drittweltistischen Romantizismen auf, begrenzten deutsche Schweinereien nicht auf Deutschland und erweiterten die Grauzonen von Legalität noch um ein paar erfreulich skeptische Schattierungen.

Gisbert Haefs

Der Homo ludens der deutschen Kriminalliteratur erfand das monströse Universalgenie Balthasar Matzbach, und dessen Streiche sind eine zwerchfellerschütternde und wunderliche Kombination aus angelsächsischem Deduktionswahn, französischer Karnevalisierung und enzyklopädischer Verschrobenheit. Matzbachs schräge Manierismen verhindern jedoch nicht, dass die deutsche Wirklichkeit hin und wieder kräftig Prügel bezieht.

Frank Göhre

In seiner St.-Pauli-Trilogie verdichtete er das Nebeneinander, die Zufälligkeiten und Koinzidenzen des alltäglichen Wahnsinns zu reinem Suspense. Dialog ist alles, der psychologische Realismus wird außer Kraft gesetzt, das Streetlife in Literatur komprimiert. Das Verbrechen ist nicht »Fall«, sondern Kontinuum und soziale Praxis, seine Dimensionen reichen in jeden Winkel der Gesellschaft – der Kiez wird zum Weltdorf und nicht zur regionalen Folklore.

Pieke Biermann

Führte die Realität der Polizeiarbeit u. a. vermittels des Personals ihres Kommissariats in die deutsche Kriminalliteratur ein und die exakten sozialen Realitäten von Berlin, einschließlich Huren als stolze Hauptfiguren. Sie mobilisierte virtuos sämtliche Verfahren der Moderne: Polyphonie, Rollenprosa, Montage, radikale Komisierung etc., Verzicht auf »Erklärungen« und epische Breite, öffnete damit die Feuilletons für deutsche Kriminalliteratur, machte sie international sichtbar und erreichte gleichzeitig ein breites Publikum.

Friedrich Ani

Kriminalromane müssen nicht notwendigerweise und immer mit Mord zu tun haben. Die zehn Tabor-Süden-Romane waren der schlagende Beweis dafür. Der elegische Dekalog war der radikale Anti-Zeitgeist, der den Vergessenen, Verschwundenen, Marginalisierten ihre Leben in einer toll und gnadenlos gewordenen Gesellschaft wiedergab. Kriminalliteratur als Trauerarbeit, durch die eigenwillige, nuancenreiche Prosa und Plotführung in kein bisher bekanntes Muster von Noir zu pressen.

Heinrich Steinfest

Der sanfte Terrorist und höfliche Pöbler über die Zumutungen des Lebens in unseren Zeiten. Zeit und Raum werden zerdehnt, seziert, neu angeordnet und paradox verzwirbelt. Das Ungeheuerliche lauert überall und gebiert manchmal Gelächter, manchmal Grauen. Die Traditionen heißen Wittgenstein, Musil, Hermanovsky-Orlando – und die erscheinen plötzlich Krimi-kompatibel. Und am Ende stehen auch keine Krimis, aber ohne Zweifel Kriminalromane.

15 begründete Vorlieben, international, in Büchern ...

15 Kriminalromane, die das Genre vorangebracht haben und die kaum in Bestsellerlisten zu finden waren. Sozusagen die heimlichen Macher, die wirklich wichtigen, keineswegs grauen Eminenzen. Und zwar in den letzten zehn, fünfzehn, zwanzig Jahren. Was sehr viel älter ist, heißt dann Klassiker – auch wenn es »vergessene Klassiker« en masse gibt. Aber das wäre ein anderes Buch.

15 Kriminalromane, die nicht Teil von Serien sind, höchstens Teile aus abgeschlossenen, mehrbändigen Projekten oder erste Romane, aus denen später dann Serien wurden. Kriminalliteratur wird nämlich zunehmend nur noch »seriell« wahrgenommen. Das ist sinnvoll, weil manche Serie konzeptuell gedacht und gemacht ist. Viele Serien sind von gemischter Qualität. Im Großen und Ganzen sagt da ein Einzelstück wenig. Ein Serienkonzept kann zudem kontraproduktiv sein, weil oft gilt: Success gives birth to the formula (Paco Ignacio Taibo II). Dann reiht sich zuweilen ein dämlicher Roman mit dem nämlichen dämlichen Personal an den anderen, nur weil die Dinger sich gut verkaufen. Kein Thema für eine Liste. Deswegen hier die schönsten Einzelstücke und Konzept-Teile. Ein Serien-Ranking wäre nett, aber ein anderes Buch.

15 Kriminalromane, unter denen Sie die üblichen Verdächtigen nicht finden werden. Was hätten Sie schließlich davon, wenn ich Hammetts »Red Harvest« zum siebenmillionsten Mal als »megawichtig« und »doll« bezeichnen würde, oder Einschlägiges von Georges Simenon, Patricia Highsmith oder Chester Himes? Ich weiß das, Sie wissen das, na also ...

15 Kriminalromane, Meisterwerke, Lieblingslektüren, aber strikt alphabetisch:

(O1) Thomas Adcock: Hell’s Kitchen (Sea of Green, 1989). Dt. von Jürgen Bürger, 1993.