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Fran, eine junge Köchin aus London, erhält die Chance, in einem halben Jahr eine marode Farm auf Vordermann zu bringen. Sie gehört ihrer Großtante Amy, deren Neffe Roy kein Interesse an der Erbschaft zeigt. Fran verliebt sich schnell in das kleine Paradies mit Kühen und saftigen Weiden, und gemeinsam mit ihrem attraktiven Nachbarn Antony und anderen hilfsbereiten Dorfbewohnern gründet sie eine Käserei, die ein voller Erfolg wird. Da taucht plötzlich Roy auf, um nun doch sein Erbe anzutreten.
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Seitenzahl: 407
Katie Fforde wurde in Wimbledon geboren, wo sie ihre Kindheit verbrachte. Heute lebt sie mit ihrem Mann, drei Kindern und verschiedenen Katzen und Hunden in einem idyllisch gelegenen Landhaus in Gloucestershire, England. Erst vor wenigen Jahren begann sie mit dem Schreiben romantischer, heiterer Gesellschaftskomödien, die stets sofort die englischen Bestsellerlisten eroberten.
Katie Fforde
Das Paradies hinter den Hügeln
Roman
Aus dem Englischen vonUlrike Werner
Vollständige eBook-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Für die Kooperationsausgabe:
© 2018 by Weltbild GmbH & Co KG, Augsburg
Für die Originalausgabe:
Copyright © Katie Fforde Ltd 2018
Titel der englischen Originalausgabe: »A Country Escape«
Originalverlag: Century / The Random House Group Limited, London
Für die deutschsprachige Ausgabe:
Copyright © 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln
Titelillustration: © www.shutterstock.com
Umschlaggestaltung: *zeichenpool, München
eBook-Erstellung: hanseatenSatz-bremen, Bremen
ISBN 978-3-7325-8603-5
www.luebbe.de
www.lesejury.de
Für Georgina Hawtrey-Woore,3. Dezember 1966 – 27. Februar 2017,meine sehr geschätzte und schmerzlich vermisste Freundin und Lektorin.Es ist bitter, ein Buch zu schreiben, das du nie lesen wirst, aber die Idee dazu durfte ich dir noch unterbreiten.
Das Hoftor fiel hinter ihnen ins Schloss, während Fran ihr kleines Auto weiter den steilen Weg hinaufsteuerte. Endlich waren Issi und sie sicher, Hill Top Farm wirklich gefunden zu haben, denn der Name stand (recht undeutlich) auf dem Briefkasten. Fran empfand eine Mischung aus Aufregung und Nervosität. Das hier würde sich entweder als wunderbares Abenteuer oder als demütigender Reinfall erweisen. Fran beschloss, ihre Zweifel ihrer besten Freundin gegenüber nicht zu erwähnen. Issi ahnte wahrscheinlich ohnehin längst, wie ihr zumute war.
»Schon als kleines Mädchen wollte ich immer Bäuerin werden«, sagte Fran stattdessen.
Issi, die gerade das Tor geöffnet hatte und wieder ins Auto gestiegen war, wirkte überrascht. »Tatsächlich? Das wusste ich nicht, und dabei sind wir schon seit Jahren befreundet. Ich dachte immer, du träumst davon, dein eigenes Restaurant zu führen.«
»Der Wunsch kam später. Den Bäuerinnen-Traum hatte ich fast vergessen, aber Mum hat mich Weihnachten daran erinnert«, erklärte Fran.
»Halten deine Eltern dich für verrückt, dass du dich hierauf einlässt?«
»Schon, doch sie unterstützen mich trotzdem. Mein Stiefvater glaubt, dass ich vor Ende des Monats wieder zu Hause bin, aber ich plane eigentlich auf lange Sicht.« Sie brach ab und dachte kurz nach. »Und wenn ich es nicht schaffe, dann habe ich nur ein Jahr verloren.«
»Komm schon«, meinte Issi, »lass uns jetzt erst einmal dieses Haus in Augenschein nehmen. Vielleicht erbst du es ja wirklich eines Tages.«
»Es geht nicht nur um das Haus, weißt du? Es geht um den ganzen vermaledeiten Hof mit allem Drum und Dran.«
Fran schlingerte durch eine steile Kurve und versuchte, ihre Nervosität zurückzudrängen. Nachdem sie endlich angekommen war, wurde ihr bewusst, dass kein vernünftiger Mensch sein bequemes Leben in London aufgeben und auf einen Bauernhof in Gloucestershire umziehen würde, von dem er nicht einmal wusste, ob er ihn wirklich eines Tages erben würde. Ein vernünftiger Mensch vielleicht nicht – aber möglicherweise jemand wie sie, dessen Alltag ein wenig ins Stocken geraten war und der eine neue Herausforderung zu schätzen wusste.
Wenige Minuten später erreichten sie das Haus. Der Weg dorthin bestand hauptsächlich aus tückischen Schlaglöchern, die sie so gut wie möglich umfahren hatten.
»Ich fürchte, dein klappriger kleiner Wagen ist nicht unbedingt das richtige Fahrzeug für diese Strecke«, stellte Issi fest.
Fran stieg aus und ignorierte den Einwand ihrer Freundin. »Aber schau dir nur diese Aussicht an!«
Das Bauernhaus stand auf einem Hochplateau, von dem aus man über Hügel und bewaldete Täler hinwegblickte. In der Ferne glitzerte der Severn wie eine silberne Schlange, und hinter dem Fluss begann Wales.
»Ich glaube, ich kann mich an diese Landschaft erinnern!«, fuhr Fran fort. »Als kleines Mädchen war ich einmal hier. Ich hatte es vergessen, bis wir Weihnachten über den Hof gesprochen haben und Mum mir erzählte, dass wir Hill Top Farm zu Dads Lebzeiten einmal besucht haben. Ich muss noch ziemlich klein gewesen sein, denn schließlich war ich erst fünf Jahre alt, als mein Dad starb. Trotzdem fühlt es sich irgendwie vertraut an.«
»Die Aussicht ist wirklich atemberaubend«, stimmte Issi zu.
»Los«, schlug Fran vor, »schauen wir uns im Haus um, solange es noch hell ist. Gegen vier wird es dunkel, und wir müssen die Beleuchtung einschalten. Eine Taschenlampe habe ich übrigens dabei.« Sie besann sich kurz. »Wahrscheinlich ist der Januar nicht der beste Zeitpunkt, um auf einen Bauernhof zu ziehen.«
Issi lachte. »Es ist, wie es ist. Lass uns reingehen.«
Weil der Schlüssel nicht ins Haustürschloss passte, gingen sie um das Haus herum. »Ich glaube, auf dem Land benutzen die Leute nicht die offizielle Eingangstür«, überlegte Fran auf dem Weg zur Hintertür. Sie steckte den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn. Sekunden später standen sie im Haus.
»Wow! Ganz schön dunkel«, meinte Issi.
»Warte mal. Ich glaube, der Sicherungskasten ist da drüben, hat man mir gesagt. Ich hole nur schnell meine Taschenlampe raus. So! Jetzt haben wir Licht!«
Sie standen in einer ziemlich großen Bauernküche. Schweigend blickten sich die Freundinnen eine Weile um.
»Oh! Ein offener Kamin!«, rief Issi schließlich aufgeregt. »Toll, so etwas in der Küche zu haben.«
Fran grinste. »Solange es nicht das Einzige ist, worauf ich kochen muss.« Das Deckenlicht war nicht sehr hell und warf Schatten in alle Ecken. »Aber sieh mal«, fuhr sie erleichtert fort, »es gibt auch einen richtigen Herd. Offenbar uralt. Hoffentlich wird er nicht noch mit Kohle betrieben!«
Issi lachte ihre Freundin aus. »Fran, du bist Köchin. Du kannst auf jedem Herd kochen!«
»Kochen kann ich«, stimmte Fran zu, »doch ich habe nicht die geringste Ahnung, wie man in so einem alten Ding ein Feuer anzündet. Oh, wie es aussieht, ist es ein Ölherd.«
»Schau mal, es gibt auch noch einen Elektroherd. Du bist im kulinarischen Paradies gelandet.« Issi schien Frans Bestürzung über die Kochgelegenheiten höchst amüsant zu finden.
»Ich komme schon klar«, sagte Fran mehr zu sich selbst als zu Issi. »Schließlich bin ich nicht zum Kochen hergekommen, sondern um den Hof zu bewirtschaften. Und die frei stehenden Schränke gefallen mir wirklich gut. Von der Spüle aus hat man einen herrlichen Blick auf …« Sie schob den Vorhang beiseite und schaute durch das Fenster. »Ah, auf den Hof. Aber dahinter ist es wirklich nett. Los, komm!« Plötzlich siegte ihre Abenteuerlust über ihre Zweifel. »Gehen wir auf Erkundungstour!«
Das Wohnzimmer an der Vorderseite des Hauses war ziemlich groß. Auf der Fensterbank standen Topfpflanzen. Einige waren vertrocknet, doch die Geranien schienen überlebt zu haben. Es gab eine mit Häkeldeckchen verzierte dreiteilige Sitzgruppe und jede Menge kleiner Tische, auf denen gerahmte Fotografien standen. Außerdem lagen hier und da Stapel ungerahmter Aufnahmen. Fran griff nach einem der Fotos. »Eine Frau mit einer Kuh oder vielleicht einem Stier. Wie süß! Das Tier trägt eine Schleife.«
Issi trat zu ihr. »Die Fotografien scheinen alle von Kühen oder Bullen zu sein. Über die alte Dame, der sie gehörten, sagt das aber nichts aus.«
»Außer, dass sie sich wirklich für ihr Vieh interessierte«, entgegnete Fran und legte das Foto wieder an seinen Platz. »Oh, schau dir mal diesen Ofen da an!«
»Er ist winzig. Du brauchst etwas anderes, wenn du es in diesem Zimmer warm haben willst.«
»Stimmt, groß ist er wirklich nicht, doch achte mal auf den Balken darüber. Ich wette, hinter diesem kleinen Kohleofen ist ein wunderbarer Originalkamin versteckt. Am liebsten würde ich gleich mit dem Vorschlaghammer zu Werke gehen.«
»Ich würde damit lieber warten, bis du sicher bist, ob du bleiben kannst. Aber ich verstehe, was du meinst.« Issi schaute sich weiter um. »Es ist zwar nicht gerade Shabby Chic, doch mir gefällt es. Aus diesem Raum hier könnte man zwei, vielleicht sogar drei Zimmer machen.« Sie blickte zur Decke hinauf, die in Abständen von dicken Balken unterbrochen wurde.
»Ich würde es ›Old Lady Chic‹ nennen«, entschied Fran. »Und mir gefällt es auch. Obwohl ich mir wünschte, ich könnte den Kamin genauer untersuchen. Hinter all dem Zeug aus den Dreißigern steckt bestimmt etwas Erstaunliches.«
»Ein alter Brotbackofen vielleicht? Oder noch ein Herd? Du hast selbst gesagt, dass du nicht zum Kochen, sondern zum Bewirtschaften hergekommen bist«, wandte Issi ein. »Wenn dir das Kochen so fehlt, hättest du in London bleiben und weiter in dem Pub kochen sollen.«
»Nein«, erwiderte Fran entschlossen. »Dieses Mal werde ich nur für mich selbst arbeiten und meine eigenen Entscheidungen treffen. Aber du hast natürlich recht: Ich kann das Haus nicht umbauen, solange ich es nicht geerbt habe.«
»Morgen wirst du deine Tante oder Cousine – was ist sie überhaupt? – ja sehen.«
»An unseren Verwandtschaftsgrad kann ich mich nicht erinnern, doch sie gehört zur Familie meines verstorbenen Vaters. Ich bin Amys – ich nehme an, ich sollte sie vielleicht Tante Amy nennen – also, ich bin die einzige Verwandte, die sie aufspüren konnte. Seit dem Tod ihres Mannes hat sie Hill Top Farm allein bewirtschaftet. Und als sie in ein Pflegeheim umziehen musste, wollte sie den Hof jemandem aus der Familie überschreiben. Soviel ich weiß, hat sie sich auch noch mit einem anderen Verwandten in Verbindung gesetzt, aber laut ihrem Anwalt hat dieser nie geantwortet.«
»Und deshalb bist du jetzt hier!« Issi grinste fröhlich. »Sollen wir uns die Schlafzimmer anschauen? Sie sind vielleicht feucht, doch irgendwo müssen wir ja schlafen.«
»Danke, dass du mitgekommen bist«, sagte Fran, als sie die Treppe hinaufstiegen. »Ganz allein fände ich es ziemlich entmutigend.«
»Schade nur, dass ich nicht länger bleiben kann. Es ist echt abenteuerlich!« Issi brach ab. »Wäre es dir lieber gewesen, wenn Alex mitgekommen wäre?«
Fran schüttelte den Kopf. »Auf gar keinen Fall. Einer der Gründe, warum wir uns getrennt haben, war sein Mangel an Abenteuerlust. Als Praktikant bei seinem Onkel in New York scheint es ihm ganz gut zu gehen …« Sie seufzte. »Nein, ich vermisse ihn wirklich nicht. Höchstens als guten Freund.«
War sie über Alex hinweg? Fran wusste, dass Issi sich immer noch Sorgen deshalb machte, aber es stimmte: Alex war ein netter und liebenswürdiger Mann, doch zu sehr auf Sicherheit bedacht, wenn es darauf ankam, und ein wenig langweilig. Nach zwei gemeinsamen Jahren hatten sie sich vor wenigen Wochen getrennt.
Schon seit einiger Zeit hatten sie mit diesem Gedanken gespielt, aber der Auslöser war letztlich die Chance und Herausforderung in Gloucestershire gewesen. Selbst wenn Alex die Landschaft gefallen hätte (was eher unwahrscheinlich war), wäre er mit der Ungewissheit nicht fertig geworden. Bei einer ganz normalen Erbschaft wäre es vielleicht anders gewesen – doch davon konnte Fran nicht sicher ausgehen. Sie hatte zwar auch ein wenig Angst, war aber bereit, allem Neuen entschlossen die Stirn zu bieten.
Wenige Minuten später bezogen Fran und Issi ihre Betten mit den weichen, alten Flanell-Bezügen, die sie im Wäscheschrank entdeckt hatten. Sie fanden auch Wärmflaschen, füllten sie und legten sie in die Betten, obwohl sie einhellig der Ansicht waren, dass das Haus nicht feucht war. Dann war es Zeit zum Abendessen.
»So«, begann Issi, nachdem sie den größten Teil der Moussaka vertilgt hatten, die Fran noch zu Hause in London zubereitet, mitgebracht und nun im Backofen erhitzt hatte. »Morgen besuchst du also Amy?«
»Jep. Nach dem Treffen mit ihrem Anwalt. In seinem Brief teilte er mir mit, dass mir etwas Geld zusteht, um alles zu regeln, allerdings erwarte ich nicht, dass es sehr viel ist.« Sie seufzte. »Wenn ich so darüber nachdenke, finde ich es ein bisschen beängstigend. Ich habe keine Ahnung von Landwirtschaft – doch jetzt bin ich nun einmal hier. Ich hätte ablehnen können, als ich zum ersten Mal von Amys Anwalt hörte, aber …« Sie hielt inne. »Mir gefällt die Herausforderung.«
»Die Herausforderung, den Hof ein Jahr lang zu bewirtschaften und Profit zu machen?«
Fran nickte. »Glücklicherweise muss ich mich nicht selbst um die Kühe kümmern. Amy beschäftigt einen Fachmann, der für das Vieh zuständig ist, denn sie würde wohl niemals zulassen, dass ihre wertvollen Kühe von einer Ahnungslosen wie mir betreut werden.«
Issi nickte. »Kühe sind auch ziemlich große Tiere, nicht wahr?«
»Hast du Angst vor Kühen?«
»Sinnvoller wäre wohl die Frage, ob du dich vor ihnen fürchtest.«
Fran schluckte. »Ich hoffe, nicht … aber eigentlich glaube ich, doch.«
Issi lachte. »Lass uns den Wein austrinken und früh zu Bett gehen. Du musst morgen zeitig aufstehen. Also stell dir den Wecker erst mal auf sechs Uhr und gewöhne dich schon einmal an dein neues Leben.«
Obwohl Fran wusste, dass Issi scherzte, enthielt ihr Hinweis ein Körnchen Wahrheit. Und ob sie wirklich Angst vor Kühen hatte, würde sie herausfinden, sobald sie die Tiere kennenlernte.
Am nächsten Morgen standen sie, eingemummelt in mehrere dicke Wollpullis, in der Küche und umklammerten dampfende Teetassen. Fran hatte ihr Haar, das zu einem langen Bob geschnitten war, an diesem Morgen nicht geglättet, und ihre blaugrauen Augen waren nicht geschminkt. Auch ihre Sommersprossen hatte sie nicht mit Grundierung abgedeckt. Sie fühlte sich ein wenig ungepflegt, hatte aber an wichtigere Dinge als an ihr Aussehen zu denken. Auch Issi sah ziemlich naturbelassen aus.
»Zuerst gehst du also zum Anwalt und dann zu deiner Tante Amy?«
Fran nickte. »Ich weiß noch nicht, wie lange das alles dauern wird. Kommst du hier allein zurecht?«
Issi nickte. »Ich habe mir vorgenommen, die vertrockneten Topfpflanzen auszusortieren und die Umgebung ein wenig zu erforschen. Vielleicht schaffe ich es sogar noch, ein paar Möbel zu verschieben und den einen oder anderen Schrank auszuräumen. Wäre dir das recht?«
»Sehr sogar. Ich bin so froh, dass du hier bist, und gönne dir jede Art von Unterhaltung. Wenn ich an den Termin bei dem Anwalt denke, könnte ich mir vorstellen, dass du heute mehr Spaß hast als ich.«
»Mit anderen Worten, Mrs. Flowers ist eine um mehrere Ecken verwandte Cousine.«
Zu Frans großer Erleichterung hatte Amys Anwalt Mr. Addison, ein freundlicher, müde aussehender Mann um die fünfzig, die komplizierte verwandtschaftliche Beziehung schnell auf den Punkt gebracht.
»Was meinen Sie, wie soll ich sie ansprechen?«, fragte Fran. Sie war ein wenig nervös bei dem Gedanken, eine Frau zu treffen, die in jüngeren Jahren sehr beeindruckend gewesen sein musste.
»Das wird sie Ihnen schon sagen, machen Sie sich keine Sorgen«, antwortete Mr. Addison. »Lassen Sie uns jetzt über die Finanzen sprechen. Mrs. Flowers hat das Pflegeheim für sechs Monate im Voraus bezahlt. Außerdem hat sie ein Konto mit tausend Pfund für Sie eingerichtet. Zwar ist noch ein bisschen mehr Geld da, doch ich hielte es für vernünftiger, nicht damit zu kalkulieren. Mrs. Flowers ist zwar recht gebrechlich, wird aber ausgezeichnet betreut. Daher ist es möglich, dass sie mehr als sechs Monate Pflege benötigt – und das würde teuer.«
»Aber im Notfall?«
»Melden Sie sich bei mir.«
»Und was ist mit dem Gehalt des Mannes, der das Vieh betreut, und den Löhnen für eventuelle Hilfskräfte?«
»Außer dem Tierwirt gibt es noch ein paar Hilfsmelker, die aber nur einspringen, wenn sie gebraucht werden. Mit den Löhnen und Gehältern ist bereits alles geregelt, und zwar ebenfalls für sechs Monate.«
»Aber Cousine Amy will, dass ich ein Jahr lang bleibe. Was passiert nach den ersten sechs Monaten – also im Juli?«
Der Anwalt zuckte mit den Schultern. »Ich denke, sie hofft, dass der Hof bis dahin Gewinn abwirft.«
Fran registrierte seine sorgfältige Wortwahl. »Mit anderen Worten, bisher wirft er keinen Gewinn ab?«
Mr. Addison seufzte. »Mrs. Flowers hat schon eine Weile auf Sparflamme gewirtschaftet. Alles ist ein bisschen aus dem Ruder gelaufen.«
»Dann übernehme ich also keinen Betrieb, der sich trägt? Und um den Hof steht es schlecht?«
»Schlecht würde ich vielleicht nicht gerade sagen, allerdings auch nicht wirklich gut.«
Als Fran von dem verwaisten Hof erfahren hatte, hatte die Vorstellung, sich um einen Familienbetrieb kümmern zu dürfen, für sie etwas Dramatisch-Romantisches gehabt. Jetzt war sie sich dessen nicht mehr ganz so sicher.
»Drücken Sie sich nun nur taktvoll aus?«, fragte Fran skeptisch. »Sie würden mir doch die Wahrheit sagen, nicht wahr?«
Mr. Addisons Gesicht verschloss sich. »Ich bin verpflichtet, das Interesse meiner Klientin zu wahren, und denke, dass Sie sicher gute Arbeit leisten werden.« Er stand auf. Fran erkannte, dass er alles nach bestem Wissen und Gewissen erklärt hatte. Doch offenbar hatte er das Gefühl, nichts weiter für sie tun zu können.
»Was passiert, wenn sich herausstellt, dass ich Angst vor Kühen habe?«
Er schüttelte den Kopf und lächelte. Offenbar ging er davon aus, dass Fran scherzte. »Darum brauchen wir uns keine Sorgen zu machen, dessen bin ich mir ganz sicher.«
Als Fran im Pflegeheim eintraf, wussten alle Mitarbeiter auf Amys Station schon ganz genau, wer sie war. Sie brauchte ihre Anwesenheit nicht zu erklären, wie sie ursprünglich befürchtet hatte; ihre Verwandte hatte ihr Kommen bereits angekündigt. Zum ersten Mal an diesem Tag fragte Fran sich, ob sie richtig gekleidet war. Nach einer unruhigen Nacht auf einer ungewohnten Matratze und gestört von merkwürdigen Geräuschen, hatte sie am Morgen einfach die Kleidung vom Vortag wieder angezogen und sich mehr damit beschäftigt, die holprige Auffahrt zu meistern und den Anwalt und das Pflegeheim zu finden, als sich um ihr Aussehen zu sorgen. Jetzt allerdings überlegte sie, ob Leggings, Stiefel und eine Tunika, die ziemlich viel Bein enthüllte, tatsächlich akzeptabel waren.
Doch es war ohnehin zu spät, sich darüber Gedanken zu machen. Sie folgte einer Pflegerin durch einen mit Teppichen ausgelegten Korridor. Ihre Stiefel versanken im dicken Flor.
Die Altenpflegerin blieb stehen und öffnete eine Tür. »Mrs. Flowers? Ihre junge Verwandte ist da.«
Das Zimmer war nicht sehr groß, aber hell und sonnig. An den Wänden hingen Bilder, und die Möbel hätten zur Ausstattung des Bauernhauses gepasst. Fran betrat den Raum, ohne zu wissen, wie sie ihre Verwandte ansprechen sollte.
»Hallo, Tante … Cousine … Mrs. Flowers …« Sie brach ab.
Die alte Dame saß sehr aufrecht und adrett gekleidet in einem Sessel. »Nenn mich einfach Amy«, sagte sie knapp. »Sonst sterbe ich vielleicht, ehe du dich entschieden hast, wie du mich ansprechen sollst. Und setz dich hin.«
Fran nahm Platz und betrachtete die betagte Dame. Helle blaue Augen strahlten aus einem rosigen, leicht wettergegerbten Gesicht. Amys dünnes graues Haar war am Hinterkopf zu einem Knoten geschlungen. Sie trug einen langen Tweed-Rock und eine ordentlich gebügelte weiße Bluse mit Spitzenkragen und wirkte aufmerksam, fröhlich und gut versorgt. Offensichtlich hatte sie ihr Pflegeheim sorgfältig ausgewählt.
»Hallo, Amy, schön, dich endlich kennenzulernen«, sagte Fran und spürte, dass es wichtig war, selbstsicher zu klingen, auch wenn sie sich nicht unbedingt so fühlte. Das Gespräch mit dem Anwalt hatte das erhoffte nette einjährige Abenteuer mit spannenden Erfahrungen in der Landwirtschaft in ein mühsames, mit Verantwortung und Sorge belastetes Unterfangen verwandelt.
Amy nickte zustimmend. »Nun, meine Liebe, ich bin sehr froh, dass du gekommen bist. Ich wollte nicht, dass mein Hof den Bach runtergeht, während ich in diesem Seniorenheim bin.«
»Aber dir ist klar, dass ich nicht viel von Landwirtschaft verstehe, oder?« Amy war offensichtlich nicht die Art Person, die sich mit Small Talk zufriedengab, daher sagte Fran freiheraus, was sie bewegte.
»Ja, ich weiß. Und du kannst mir glauben – bitte nimm es mir nicht übel –, wenn ein anderer Hoferbe infrage gekommen wäre, hätte ich mich nie mit dir in Verbindung gesetzt. Zumindest sind wir verwandt. Eigentlich hätte ich einen der Verwandten meines Mannes vorgezogen – der Hof war sein Besitz –, aber obwohl ich einen aufspüren konnte, hat er nie auf meinen Brief geantwortet. Du bist also die Einzige, die ich finden konnte.« Sie machte eine Pause. »Ich war achtzehn Jahre alt, als ich heiratete, und habe seither ununterbrochen auf dem Hof gelebt, bis ich hierherkam.«
»Ach herrje! Der Umzug ist dir sicher nicht leichtgefallen. Trotzdem scheinst du es hier gut angetroffen zu haben.« Amy schien ihre Geschichte erzählen zu wollen, und Fran hoffte, dass sie ermutigend klang.
Die alte Dame nickte und fuhr fort: »Der Hof war seit vielen Generationen im Familienbesitz. Wir hatten keine Kinder und fanden es beide sehr traurig, uns vorzustellen, dass alles mit uns enden würde. Mein Mann ist vor zwanzig Jahren gestorben. Seitdem war ich auf mich allein gestellt und habe mir die ganze Zeit Gedanken darüber gemacht, an wen ich den Hof weitergeben sollte.«
Fran war gerührt. »Das kann ich verstehen.«
»Es geht mir um die Herde, weißt du? Es handelt sich um Milch-Shorthorns, eine recht seltene Rasse. Alle Rinder, die jetzt auf meinem Hof leben (und ich kenne jedes einzelne Tier persönlich), stammen noch von der ursprünglichen Herde ab. Das ist sehr ungewöhnlich.« Die alte Dame lächelte. »Kühe können sehr alt werden, wenn man sich gut um sie kümmert. Wenn ich den Hof nicht jemandem überlasse, der ihn weiterführt, müsste er verkauft werden. Die Herde würde aufgelöst und der ungebrochene Stammbaum verloren gehen. Das wäre eine Tragödie. Dich habe ich also wegen der Kühe und des Hofes aufgespürt. Und jetzt bist du hier.« Amy lächelte, als wäre dies für sie schon mal ein befriedigendes Ergebnis.
»Ich hoffe, ich enttäusche dich nicht.«
Amy schüttelte den Kopf. »Das wirst du nicht. Ich erinnere mich an dich als kleines Mädchen. Du mochtest die Kühe. Dir gefiel ihre rot-weiße Färbung.« Dass ihr das in Erinnerung geblieben war, freute Fran. »Es geht mir um die Herde«, wiederholte Amy. »Der Stammbaum ist wichtig. Er muss weiterbestehen.«
Ungeachtet der Neigung alter Menschen, sich häufig zu wiederholen, lagen Amy die Kühe offenbar wirklich sehr am Herzen.
»Ich verstehe.« Fran hoffte inständig, dass sie mit den Kühen gut zurechtkommen würde.
»Mein Tierwirt Tig steht dir zur Seite. Ich hätte dir meine Herde nie ohne jemanden überlassen, der sich um die Tiere kümmert. Aber natürlich bist du für alles andere zuständig – für die Büroarbeit, die Futterbestellung, die Instandhaltung der Gebäude und solche Dinge –, damit Tig sich ganz den Rindern widmen kann. Ich habe ihn für sechs Monate im Voraus bezahlt, er wird also nicht kündigen.«
Fran hätte Amy am liebsten gefragt, warum sie Tig nicht einfach den Hof überschrieben hatte, aber sie ahnte, dass auch dies mit Familientradition zu tun hatte. Im Gegensatz zu ihr selbst war Tig wohl nicht mit Amy verwandt.
»Für alle Fälle ist ein bisschen Geld da, doch du musst den Hof ein Jahr lang führen. Erst dann entscheide ich, ob du ihn auch erbst.« Amys Gesichtsausdruck zeigte, für welch große Belohnung sie das Angebot hielt. »Du wirst es doch versuchen, nicht wahr, Francesca?«
Niemand nannte Fran bei ihrem Taufnamen, nicht einmal ihre Mutter, wenn sie sich über sie ärgerte. Aber Fran merkte, dass es ihr gefiel. »Was das Haus angeht …«
Amy unterbrach sie. »Das Haus ist mir völlig egal. Du kannst damit machen, was du willst. Doch lass nicht zu, dass meiner Herde etwas zustößt.«
Fran nickte und dachte sofort an den Kamin, den sie jetzt guten Gewissens untersuchen konnte.
»Oh, und hüte dich vor diesem Schurken von Nachbarn. Halte ihn dir vom Leib. Er war schon immer scharf auf meinen Hof. Jetzt ist es dein Job, dafür zu sorgen, dass er ihn nicht bekommt! Weinreben – also ehrlich!«
»Sag mal …«, begann Fran.
Aber Amy hatte die Augen geschlossen und war anscheinend eingeschlafen.
»Das passiert ihr häufig«, erklärte die Pflegerin, die wenig später an der Tür erschien. »In einer Minute ist sie glasklar und munter, in der nächsten schläft sie ein.«
»Und wie lange dauert es normalerweise, bis sie wieder aufwacht?« Fran wollte unbedingt mehr über diesen schurkischen Nachbarn wissen.
Die Altenpflegerin schüttelte den Kopf. »Das kann ein Weilchen dauern. Sie sollten lieber morgen wiederkommen. Oder wann immer es Ihnen am besten passt.«
»Okay«, meinte Fran und stand auf. »Ich komme wieder. Ich weiß noch nicht annähernd genug Bescheid.« Sie drehte sich zur Tür um, blieb stehen und wandte sich noch einmal an die Pflegerin: »Dürfen Sie mir eigentlich Auskunft geben? Mrs. Flowers’ Allgemeinzustand ist wohl recht gut, nicht wahr?«
»Oh ja. Für ihr Alter geht es ihr wirklich gut. Ich nehme an, sie hat immer gesund gelebt, sich viel im Freien aufgehalten, nie geraucht und keinen Alkohol getrunken. Natürlich kann ich nicht in die Zukunft blicken, und bei älteren Menschen kann man nie hundertprozentig sicher sein. Im Moment scheint Mrs. Flowers jedoch nichts zu fehlen.« Sie runzelte die Stirn. »Na ja. Sie hat ein schwaches Herz, aber zurzeit macht ihr das nicht zu schaffen.«
»Gott sei Dank! Da bin ich wirklich erleichtert.« Fran lächelte. »Vielen Dank, dass Sie sich so gut um sie kümmern. Ich freue mich sehr darauf, sie in der nächsten Zeit besser kennenzulernen.«
Die Pflegerin erwiderte Frans Lächeln. »Wir haben sie hier alle sehr gern.«
Bis Fran auf den Hof zurückkam, war es früher Abend und fast vollständig dunkel. Sie fror erbärmlich und sehnte sich danach, eine Flasche Wein zu öffnen. Nach ihren Besuchen hatte sie sich ein wenig mit der Stadt vertraut gemacht, sich auf dem Heimweg aber verirrt und dabei viel Zeit verloren.
Als sie schließlich vor dem Haus parkte, sah sie Licht hinter den Vorhängen. Es wirkte heimelig und einladend. Fran nahm die Handtasche vom Rücksitz ihres Wagens. Dabei fiel ihr auf, wie hell die Sterne hier leuchteten – kilometerweit entfernt von jeglicher Industrie und Luftverschmutzung.
Minuten später stand Fran im Wohnzimmer und blickte sich um. Der Raum, der zuvor ziemlich vollgestellt gewesen war, hatte einen großen Teil seiner Möbel eingebüßt. Auf jeder geeigneten Fläche stand eine Teetasse mit einer flackernden kleinen Kerze. Das Zimmer wirkte gemütlich und friedlich und war genau das, was Fran nach ihrem Tag in der Stadt brauchte.
»Wow! Du hat ja wirklich ganze Arbeit geleistet. Und das Feuer hast du auch angezündet!«
Issi lachte. »Da ich weiß, wie pingelig du in Sachen Beleuchtung bist, habe ich ein paar Teelichter mitgebracht. Und nachdem ich die vielen Teetassen in einem Schrank entdeckt hatte, habe ich sie kurzerhand zu Kerzenhaltern umfunktioniert. Wie war dein Tag?«
»Das Zimmer sieht wunderschön aus! Und mein Tag? Der war eher Furcht einflößend. Auf dem Heimweg habe ich mich dann auch noch verfahren, aber das erzähle ich dir später. Ich darf den Kamin übrigens freilegen. Natürlich mache ich das nicht sofort.«
»Du hast Tante Amy danach gefragt?« Issi war überrascht.
»Nicht speziell, doch sie sagte, ich könne mit dem Haus machen, was mir gefällt, solange ich mich ordentlich um die Kühe kümmere.« Fran ließ sich in einen der Sessel neben dem Ofen fallen und zog die Stiefel aus. »Ich bin ganz schön geschafft. So viele neue Leute und so viele Informationen!« Sie blickte sich um. »Hier sieht es jetzt viel wohnlicher aus. Danke, Issi.« Dann jedoch runzelte sie die Stirn. »Aber warum hast du dieses schreckliche Bild da hängen lassen?«
»Weil es ein Stück Wand verdeckt, das dringend renoviert werden müsste. Doch wenn du dir dieses Stück vornimmst, musst du die ganze Wand streichen.«
Fran nickte. »In Ordnung. Abgesehen davon sieht es hier aber echt toll aus.«
»Na ja, ich musste mich beschäftigen, und du hast mir die Erlaubnis gegeben, ein wenig herumzuspielen.« Issi machte eine Pause. »Obwohl die Veränderungen nicht von allen gebilligt wurden.«
»Wie meinst du das?« Fran stellte die Stiefel neben den Sessel. »Wer hat es denn noch gesehen?«
»Du hattest eine Besucherin, eine Mrs. Brown. Sie kommt morgen früh gegen elf Uhr zurück. Sie hat sich wohl ein wenig um Tante Amy gekümmert, ehe die ins Heim übersiedelte, und scheint alles über den Hof zu wissen. Sie sah sich mit hochgezogenen Augenbrauen um und schien die Veränderungen zu missbilligen. Daraufhin habe ich ihr versichert, dass das Mobiliar noch da ist. Ich habe die Tische und den ganzen anderen Krempel schließlich nicht verbrannt. Trotzdem wirkte sie ein wenig verärgert.«
»Wo hast du die vielen Möbel denn hingebracht?«
»Am anderen Ende des Hauses ist eine kleine Kammer, in der schon einiges Gerümpel stand. Ich habe die Sachen einfach noch dazugestapelt. Ich glaube kaum, dass du dieses Zimmer brauchst. Das Haus ist wirklich ziemlich groß.«
»Toll! Haben wir Wein?«
Issi nickte zufrieden. »Haben wir, und es gibt Abendessen. Ich habe die von dir mitgebrachte Lasagne in den Backofen gestellt.«
»Tut mir leid«, sagte Fran. »Lasagne und Moussaka sind sich ziemlich ähnlich, doch ich wollte Essen mitnehmen, das sich leicht aufwärmen lässt und für das man keine Töpfe braucht.«
»Kaum zu glauben, dass du deine Pfannen nicht eingepackt hast.«
»Ich habe nur meine Messer mitgebracht. Ich wollte nicht gleich meinen ganzen Hausstand herschleppen und habe eine Menge Zeug in der Garage meiner Eltern deponiert.« Fran schloss die Augen. »Ich habe dir viel zu erzählen, doch erst, wenn ich etwas Starkes getrunken habe.«
»Eigentlich wäre jetzt aber Zeit für Tee«, protestierte Issi.
Fran schüttelte den Kopf. »Nein. Draußen ist es längst dunkel geworden. Zeit für Wein. Zumindest heute.«
»Okay, ich hole die Flasche. Willst du auch früh zu Abend essen?«
»Ja, bitte, Mummy …«
Nachdem sie gegessen hatten, fühlte sich Fran wieder frischer und war bereit, ihrer Freundin zu berichten, wie es ihr ergangen war. »Ehrlich gesagt bin ich ein wenig verwirrt, denn sowohl der Anwalt als auch Amy – sie bat mich, sie einfach beim Vornamen zu nennen – haben mir zwar viel erzählt, doch auch eine Menge weggelassen, wie mir schien. Der Anwalt sagte, ich hätte für den Hof tausend Pfund zur Verfügung, aber obwohl noch mehr Geld da sei, müsse es für Amys Pflege aufbewahrt werden.«
»Klar, Pflegeheime sind teuer.«
»Für die nächsten sechs Monate brauche ich mir darum noch keine Sorgen zu machen, denn Amy hat für diese Zeitspanne alle Kosten beglichen. Sie hat alles durchdacht. Dann gibt es da noch den Tierwirt, der sich um die gruseligen Kühe kümmert. Ihn hat sie ebenfalls für ein halbes Jahr bezahlt, ebenso wie seine Hilfsmelker.«
»Und wenn die Tiere gar nicht so gruselig wären?«
»Dann wäre alles in bester Ordnung.« Fran wusste, dass ihre Heiterkeit zum Teil gespielt war. Möglicherweise war sie gar nicht in der Lage, die Sache anzupacken. »Ich wünsche mir wirklich, dass es funktioniert«, fuhr sie fort. »Ich habe meinen Job aufgegeben und mein Hab und Gut zusammengepackt, um hierherzukommen. Natürlich könnte ich jederzeit wieder zurückgehen, aber dann würde ich mich immer wieder fragen, ob ich es nicht doch hätte schaffen können. Nur sehr wenige Menschen bekommen eine solche Möglichkeit geboten. Ich kann diese Gelegenheit nicht ungenutzt verstreichen lassen. Sie ist meine Chance, etwas aus meinem Leben zu machen.«
Fran wachte früh auf. Es regnete. Nicht gerade der beste Start für ihren ersten richtigen Tag als Landwirtin, aber dann fiel ihr ein, dass Mrs. Brown gegen elf Uhr vorbeikommen wollte und ihr damit die perfekte Ausrede lieferte, nicht hinauszugehen und die Kühe in Augenschein zu nehmen. Wenn Besuch erwartet wurde, musste sie etwas Leckeres backen.
»Heute Morgen gehe ich noch nicht zu den Kühen, Is«, verkündete Fran und biss in ihren knusprigen Toast. »Ich muss backen. Glaubst du, Mrs. Brown mag Flapjack?«
»Woher soll ich das wissen?«, konterte Issi amüsiert.
»Ich backe Flapjack und Shortbread«, entschied Fran. »Dann hat sie die Wahl. Und ich bin sicher, unser Tierwirt weiß später zu schätzen, was Mrs. Brown übrig lässt.«
Issi war trotz des Regens zu einem Spaziergang aufgebrochen, hatte jedoch versprochen, rechtzeitig zurück zu sein und Fran zu helfen, Mrs. Brown zu unterhalten.
Fran traf ihre Vorbereitungen. Während sie Butter und Zucker verrührte, blickte sie aus dem Küchenfenster auf den Hof hinaus.
Er war gepflastert und von Nebengebäuden umgeben. Trotz des düsteren Wetters erkannte sie, dass die Kühe hier nicht untergebracht sein konnten, denn die Gebäude waren auch für eine nicht allzu große Herde zu klein, und keiner der Ställe schien noch in Gebrauch zu sein. Die Kühe mussten woanders stehen. Fran war enttäuscht, denn insgeheim hatte sie gehofft, die Tiere von der sicheren Küche aus beobachten zu können.
Der Hof war aber wirklich hübsch, und sie konnte sich vorstellen, ihn im späten Frühjahr und Sommer mit bepflanzten Steinbottichen und Hängekörben voller Blumen und vielleicht ein paar hübschen, nicht mehr benutzten landwirtschaftlichen Geräten zu dekorieren.
Doch dann lachte sie über sich selbst – und brachte Issi später ebenfalls zum Lachen, als sie ihr von ihren verrückten Hof-Verschönerungs-Plänen erzählte. »Als würde es jemals hübsch werden! Wann hätte ich schon genügend Zeit, Kübel zu bepflanzen und alte Wagenräder an die Wände zu hängen?«
»Na ja, vermutlich wirst du vorerst wirklich wenig Zeit haben, doch eines Tages kannst du es sicher in die Tat umsetzen. Ich habe übrigens bei meinem Spaziergang eben deine Kuhherde gesehen. Sie ist in einem ziemlich neuen Gebäude untergebracht, und ich durfte bei der Fütterung zusehen.«
»Ach ja? Wie ist der Tierwirt denn so?«
Issi runzelte die Stirn. »So genau kann ich es nicht sagen, aber eins steht fest: Er ist alles andere als gesprächig.«
Fran sank ein wenig das Herz. »Bestimmt nimmt er mir übel, dass ich nun Amys Platz einnehme.«
»Gib ihm eine Chance!«, wandte Issi ein. »Er ist ein gutes Stück jünger, als ich vermutet hatte. Ich konnte unter seinem Hut gerade so einen Blick auf ihn erhaschen.«
Mrs. Brown war eine Frau in mittleren Jahren, die sich misstrauisch umsah, als sie durch die Hintertür in die Küche trat. Sie trug einen Regenmantel, einen Hut mit Krempe, den sie tief ins Gesicht gezogen hatte, und derbe Gummistiefel. Fran beneidete sie sofort um den praktischen Regenschutz.
Mrs. Brown zog die Stiefel aus. Darunter trug sie dicke graue Socken. Sie schien eine Frau zu sein, die sich erst einmal bedeckt hielt, bis sie jemanden besser kannte, und obwohl sie sich gleich an der Tür ihrer Stiefel entledigt hatte, scheute sie sich offenbar, Fran den triefenden Mantel und den Hut zu überlassen.
»Oh, bitte«, insistierte Fran. »Die Sachen sind klatschnass. Heute ist wirklich schreckliches Wetter. Ich hänge sie in die Nähe des Herdes, damit sie ein wenig trocknen können.«
»Na dann«, sagte Mrs. Brown, knöpfte den Mantel auf und reichte Fran ihren Hut.
»Lassen Sie uns ins Wohnzimmer gehen«, schlug Fran vor. Sie bemühte sich, eine gute Gastgeberin zu sein – ganz so, als wäre sie nicht gerade erst zwei Tage zuvor angekommen.
Vermutlich fand Mrs. Brown es um diese Tageszeit für ein flackerndes Kaminfeuer zu früh. Fran aber war der Meinung, dass es dem regnerischen Januarmorgen wenigstens einen Hauch von Helligkeit verlieh.
»Setzen Sie sich doch ans Feuer, da ist es schön warm«, schlug Fran vor. »Möchten Sie Tee oder Kaffee?«
Nachdem sich herausgestellt hatte, dass die Dame Tee bevorzugte, überließ Fran Issi das höfliche Geplänkel und ging selbst den Tee aufbrühen.
Wenig später schenkte sie ihn in die Tassen mit dem hübschen Rosenmuster und reichte Shortbread und Flapjack herum.
»Oh, das ist aber köstlich!«, stellte Mrs. Brown überrascht fest.
»Ich habe in London als Köchin gearbeitet«, erklärte Fran. »Und mit dem Backen habe ich schon als Kind angefangen und mache es immer noch gern.«
»Dann sind Sie also nicht wirklich für die Arbeit auf einem Bauernhof ausgebildet, oder?«, meinte Mrs. Brown.
»Nein, ganz und gar nicht«, stimmte Fran zu – die Tatsache ließ sich nicht leugnen. »Aber wie Sie vielleicht wissen, bin ich Amys einzig auffindbare Blutsverwandte. Schon als kleines Mädchen kam ich her. Amy hat mir erzählt, dass ich damals die Kühe gern hatte.« Sie stellte ihre Tasse zurück auf die Untertasse. »Ich bin fest entschlossen, es zu versuchen. Besonders seit ich weiß, wie wichtig es ist, dass es auch nach Amys Tod mit dem Hof weitergeht.« Sie runzelte die Stirn. »Aber dazu kommt es hoffentlich noch viele Jahre nicht.« Allerdings konnte Fran nicht umhin, sich zu fragen, wie um alles in der Welt in diesem Fall das Pflegeheim bezahlt werden sollte, ohne den Hof zu verkaufen.
Mrs. Brown schien ihre Gedanken zu lesen. »Das Heim ist sicher nicht gerade billig.«
»Amy hat es für sechs Monate im Voraus bezahlt«, berichtete Fran und hoffte, damit kein Geheimnis zu verraten. »Mit etwas Glück habe ich die Sache bis dahin im Griff.«
Mrs. Brown blickte sie zweifelnd an. »Dazu braucht es mehr als Glück, und für Sie als Stadtmensch wird es sicher nicht leicht. Glücklicherweise haben Sie einen sehr fähigen Tierwirt.«
»Ach ja? Was wissen Sie über ihn?«
Mrs. Brown lächelte. »Ziemlich viel. Tig ist mein Sohn.«
»Du meine Güte!«, platzte Fran heraus und dachte, dass diese Frau ihr Herz wirklich nicht auf der Zunge trug.
»Amy hält große Stücke auf ihn«, fuhr die Mutter des Tierwirts fort.
Fran nippte an ihrem Tee. »Ich kenne sie zwar noch nicht gut, doch ich gehe jede Wette ein, dass sie eine ausgezeichnete Menschenkennerin ist.«
Mrs. Brown entspannte sich ein wenig. »Das ist sie in der Tat.«
»Wohnen Sie hier in der Nähe? Darf ich Sie ab und zu um Rat fragen?« Fran hatte die Erfahrung gemacht, dass Menschen oft freundlicher reagierten, wenn man sie um Hilfe bat. Sie mochten das Gefühl, gebraucht zu werden.
»Aber bitte nicht so häufig, wie Amy es zuletzt getan hat. Ihr habe ich vor allem in letzter Zeit oft geholfen, sonst hätte sie es nicht geschafft. Ich muss mich nämlich um meine Schwester kümmern, die jedoch nicht hier in der Gegend wohnt.«
»Oh. Dann sollte ich Sie vielleicht jetzt gleich alles fragen, was ich wissen muss!« Fran klang und fühlte sich ein wenig verzweifelt.
»Schießen Sie los.«
Eine Frage brannte Fran besonders auf den Nägeln. »Können Sie mir etwas über meinen Nachbarn erzählen? Was ist los mit ihm? Amy wollte es mir erklären, aber dann ist sie eingeschlafen.«
Issi füllte Mrs. Browns Tasse nach, und Fran bot erneut Shortbread an, das ihrer Besucherin besonders gut zu schmecken schien. Mrs. Brown trank einen Schluck und biss genüsslich von dem Plätzchen ab. »Na ja … die Geschichte geht zurück auf seinen Vater. Nein, seinen Großvater.«
Die Aussicht auf ein bisschen Klatsch und Tratsch gefiel Fran.
»Amy hat es mir nie ausdrücklich bestätigt, aber ich habe in einigen Gesprächen den Eindruck gewonnen, dass es eine Beziehung zwischen ihr und dem alten Mr. Arlingham gab.« Fran und Issi blickten sie verwirrt an. »Eine romantische Beziehung«, verdeutlichte Mrs. Brown.
»Ah!«, entfuhr es Fran verständnisvoll.
»Wie auch immer, es wurde nichts daraus.« Sie hielt kurz inne, um die dramatische Wirkung zu verstärken. Offenbar genoss sie die Aufmerksamkeit der beiden jüngeren Frauen. »Ich weiß nicht, was genau passiert ist, doch es hatte etwas mit dem Land zu tun. Vielleicht vermutete sie, dass der alte Mr. Arlingham ihr nur den Hof machte, um in den Besitz des Grund und Bodens zu kommen. Ich weiß nicht, ob Sie es auf der Karte gesehen haben, aber Hill Top Farm drängt sich wie ein Keil zwischen die Äcker von Park House Farm, die den Arlinghams gehören. Ich könnte mir vorstellen, dass es diese Leute immer geärgert hat, dass ihnen nicht das ganze Tal gehört.«
Begierig auf weitere nützliche Informationen, füllte Fran Mrs. Browns Teetasse nach und bot ihr ein weiteres Plätzchen an.
»Ich weiß, dass der junge Mr. Arlingham – Antony – Amy vor einigen Jahren einmal besucht hat. Ich war zufällig hier, um in der Küche auszuhelfen. Sie ließ ihn recht freundlich ins Haus, aber als er sich wieder verabschiedete, blickte er ziemlich düster drein, und auch sie wirkte einigermaßen verstört. Sie ging nicht ins Detail, doch ich nehme an, er wollte den Hof kaufen.«
Fran biss sich kurz auf die Lippen, ehe sie ihre Gedanken aussprach. »Aber sie hatte doch tatsächlich niemanden, dem sie den Hof überlassen konnte. Warum wollte sie ihn nicht verkaufen? Vielleicht braucht sie eines Tages das Geld, um in dem Pflegeheim bleiben zu können.«
»Sie ärgerte sich wohl über das, was er mit dem Land vorhatte«, erklärte Mrs. Brown.
»Und was war das?«, fragte Issi.
»Das weiß ich nicht«, antwortete Mrs. Brown. »Vielleicht so etwas wie Massentierhaltung. Oder die Aufzucht von Vögeln für die Jagd. Oder ein Moto-Cross-Platz. Amy würde ihre wertvollen Kühe nie verkaufen, um Platz für Motorräder zu schaffen.«
»Nein, das wäre schrecklich«, meinte Fran, obwohl sie nicht ganz so entsetzt war, wie sie es vielleicht hätte sein sollen. »Amy sagte etwas von Weinanbau.«
»Was auch immer es war«, fuhr Mrs. Brown fort, »dieses Land ist noch nie gepflügt worden. Noch nicht einmal während des Krieges. Wirklich noch nie. Und das macht es zu etwas ganz Besonderem.«
»Ach du meine Güte!«, entfuhr es Issi. »Das ist unglaublich selten! Kein Wunder, dass Amy nicht will, dass ihr Grund und Boden anders genutzt wird. Es wäre wirklich ein Sakrileg!« Sie hielt inne, weil sie sich offensichtlich verpflichtet fühlte, ihren leidenschaftlichen Ausbruch zu erklären. »Ich schreibe gerade meine Dissertation über Landschaftspflege. Im ganzen Land sind nur noch weniger als zwei Prozent der Böden nicht bearbeitet, und die müssen um jeden Preis bewahrt werden.«
»Aber ich dachte, jeder hätte im Krieg ›für den Sieg‹ pflügen und etwas anbauen müssen«, sagte Fran.
»Diese Äcker sind zum Pflügen zu klein und zu steil«, entgegnete Mrs. Brown stolz. »Und genau das ist es, was diesen Hof so einzigartig macht. Sie sollten sich also nicht auf Mr. Antony Arlingham einlassen. Auf keinen Fall!«
»Werde ich nicht«, sagte Fran, der jetzt einiges klarer war.
»Wer auch nur eine Sekunde mit dem Gedanken spielt, noch nie gepflügtes Gelände zu bearbeiten, um daraus eine Moto-Cross-Strecke zu machen, der versündigt sich geradezu!«, ereiferte sich Issi, die sich gar nicht mehr beruhigen konnte. »Es wäre eine Entweihung.«
»Das ist genau das richtige Wort«, stimmte Mrs. Brown zufrieden zu. »Entweihung.« Sie stand auf. »Ich lasse Ihnen meine Nummer da, falls Sie weitere Informationen brauchen, aber ich denke, dass Sie es schon schaffen werden.«
»Ich hoffe es«, erwiderte Fran wenig überzeugt.
»Und Ihre Kekse waren wirklich ganz ausgezeichnet«, fuhr Mrs. Brown fort. »Besonders das Shortbread.«
»Wissen Sie, was? Ich packe Ihnen den Rest einfach ein, und Sie nehmen es mit«, schlug Fran vor und lief in die Küche, ehe Mrs. Brown das Angebot ablehnen konnte. Ihr war bewusst, dass sie sich mit dieser Frau gut stellen musste.
Nachdem Mrs. Brown ihren Mantel, den Hut und die Stiefel wieder angezogen hatte und von Fran und Issi freundlich verabschiedet worden war, sahen die beiden sich an. »Lass uns jetzt den Hof inspizieren«, schlug Fran vor. »Ich will wissen, was mir bevorsteht, auch wenn es immer noch regnet.«
»Fühlst du dich ein bisschen überwältigt?«, fragte Issi.
»Mmm. Ich bin immer noch entschlossen, die Sache in Angriff zu nehmen, aber es scheint echt ein dicker Brocken zu sein.«
»Ein dicker Brocken ist es wohl«, stimmte Issi zu. »Doch wenn es eine schafft, dann du.«
Fran reichte Issi ihren Parka. »Danke, Is. Alles wäre viel einfacher, wenn du morgen nicht nach Hause fahren müsstest, aber dein Glaube an mich baut mich auf. Sei so lieb und gib mir meine Gummistiefel.«
Als sie das Haus durch die Hintertür verließen, grinste Issi. »Ich glaube kaum, dass dieser Hof jemals Cath-Kidston-Gummistiefel gesehen hat.«
Fran schaute auf ihre Füße. »Vielleicht sollte ich mir lieber ein paar richtige Bauern-Stiefel besorgen.«
»Aber erst wenn diese da kaputt sind.«
»Stimmt. Schließlich habe ich nur die tausend Pfund von Amy, um meinen Unterhalt zu bestreiten und den Hof auf Vordermann zu bringen. Abgesehen von meinem eigenen Geld ist diese Summe alles, was da ist.«
Sie verließen den kleinen, geschlossenen Innenhof, den Fran bereits in Gedanken mit Blumen und altem landwirtschaftlichen Gerät ausstaffiert hatte. Endlich würde sie die Anbauten genauer kennenlernen. Sie spähten durch die schmutzigen Fenster.
»Die Gebäude scheinen in einem ganz guten Zustand zu sein«, meinte Issi. »Aber sie werden offenbar seit Jahren nicht mehr benutzt.«
Fran rüttelte an einer Tür und fand sie offen. »Bis obenhin vollgestopft«, stellte sie fest. »Wenn ich den Innenhof aufhübschen wollte, würde ich hier die nötigen Dekoartikel finden – jede Wette.«
»Was ist denn das hier?« Issi zeigte auf etwas, das wie eine Presse aussah. »Denkst du, es ist für Apfelwein?«
»Wenn es so wäre, ist mir klar, warum sie seit Jahren nicht mehr benutzt wird«, sagte Fran. »Die Altenpflegerin im Pflegeheim hat erzählt, dass Amy strenge Abstinenzlerin ist.«
»Sieh dir nur diese wunderbaren Schindeln an«, schwärmte Issi. »Wirklich faszinierend.«
»Wir sollten uns nicht ablenken lassen. Ich will Tig endlich kennenlernen, ehe er irgendwohin verschwindet.«
»Stimmt«, bestätigte Issi. »Der Krempel hier kann warten.«
Sie verließen den Hof durch das Tor und liefen durch die kurze Gasse, die zum Kuhstall führte. Fran hielt Ausschau nach Tig, dem sie sich gern vorstellen wollte, aber außer den Kühen war niemand anwesend.
»Wir haben ihn verpasst«, stellte Fran ärgerlich fest.
»Bestimmt finden wir ihn später noch irgendwo«, gab Issi zurück. »Inzwischen kannst du dich mit diesen besonderen, fast aristokratischen Kühen mit dem wunderbaren Stammbaum vertraut machen.«
Ein wenig zweifelnd betrachtete Fran die Tiere. Sie standen in ihrem großen, kühlen Stall, käuten wieder und schauten sie an. Und sie waren sehr groß und hatten Hörner.
»Ich möchte lieber nicht wissen, was sie denken«, sagte Fran. »Wahrscheinlich, dass wir zwei echte Stadtmenschen sind und bescheuerte Gummistiefel tragen.«
»Aber die Kühe sind wirklich hübsch, findest du nicht?«, meinte Issi. »Mir gefällt diese Mischung aus Rot und Weiß. Würdest du das als ›gefleckt‹ bezeichnen?«
»Es sind Milch-Shorthorns. Amy hat es mir erklärt. Ich muss die Rasse unbedingt googeln, wenn wir wieder im Haus sind. Mal sehen, was ich herausfinden kann.«
»Das könnte ein bisschen schwierig werden«, wandte Issi ein. »Der Hof scheint keine Internetverbindung zu haben. Ich habe es versucht, als du die alte Dame besucht hast.«
Der Gedanke, ohne Internetverbindung zu sein, versetzte Fran einen unangenehmen Stich. »Himmel, dann muss ich das also auch noch klären. Aber lass uns weitergehen. Mir scheint, der Regen lässt ein bisschen nach.«
»Findest du?«, sagte Issi, offenbar wenig überzeugt.
Eine halbe Stunde später standen sie am oberen Ende einer Wiese, die sich bis zu einem Bach hinunter erstreckte. Jenseits der Weide befand sich eine Reihe von Bäumen, dahinter gab es noch mehr Bäume und Hügel, dann kam der Fluss, und dahinter begannen die Berge von Wales.
»Mag sein, dass ich dich langweile«, sagte Issi, »aber ich glaube, das hier ist der schönste Fleck auf der Welt. Die Aussicht vom Haus her ist schon großartig, doch von hier oben ist sie noch besser.«
»Ich finde, man kann es gar nicht oft genug wiederholen«, stimmte Fran zu. »Es ist traumhaft schön. Und die Vorstellung, dass jemand mit dem Gedanken spielt, alles zu verderben, indem er es in einen Tummelplatz für Motorräder oder Ähnliches verwandelt, ist mir unerträglich.« Neben dem Haus entstand eine Bewegung. »Schau mal! Das da drüben könnte Tig sein. Lass uns hinuntergehen und ihm Hallo sagen.«
Auf dem schlammigen Weg zurück zum Haus und zum Kuhstall empfand Fran eine gewisse Nervosität. Es war immens wichtig, dass sie mit Tig gut zurechtkam. Wenn er sie ablehnte, weil sie aus der Großstadt kam (was Fran geradezu unvermeidlich erschien), würde die Sache mit dem Hof niemals funktionieren. Sie war von Tig ebenso abhängig, wie Amy es gewesen war. Amy aber hatte zumindest ein gewisses Maß an Wissen und Erfahrung zu bieten. Fran hingegen war ein absoluter Neuling. Und falls die Sache mit dem Hof schiefging, hätte Tig sicher keine Probleme, einen anderen Job zu bekommen.
»Hallo!«, sagte Fran und hoffte, nicht allzu übereifrig zu klingen. »Ich bin Fran, Amys … Mrs. Flowers’… äh … Verwandte.«
Tig nickte. Er war jünger als erwartet, etwa in ihrem Alter, und gut gegen das Regenwetter gerüstet. Wie seine Mutter trug er einen Hut mit breiter Krempe. Seine verwitterte alte Barbour-Jacke war bis obenhin geschlossen, und seine wasserdichten Hosenbeine endeten in schlammbedeckten Stiefeln.
»Eben hat mich Ihre Mutter besucht, und ich freue mich sehr, Sie jetzt auch kennenzulernen.« Sie reichte ihm die Hand. »Das ist meine Freundin Issi, die ein paar Tage bleibt, um mir bei der Eingewöhnung zu helfen.« Aus der Nähe bemerkte sie Tigs strahlend blaue Augen, die aussahen, als hätte er lange Zeit in den Himmel geblickt.
Der Tierwirt nickte wieder.
»Ich möchte, dass Sie mir alles über die Kühe erzählen, was Sie wissen«, fuhr Fran fort. »Sie sind so … so hübsch.« Ihr war klar, dass es nicht das Wort war, nach dem sie gesucht hatte, aber sie wollte, dass Tig sie mochte – wollte es unbedingt. Zwar war sie charmant und konnte gut mit Menschen umgehen, doch dieser junge Mann war anders als alle anderen, die sie bisher kennengelernt hatte; das spürte sie gleich.
Überrascht beobachtete sie, wie sich das wettergegerbte Gesicht bewegte und sich die Fältchen neben den blauen Augen vertieften. Tig lächelte und nickte. »Ja, sie sind wirklich hübsch. Also, was möchten Sie über die Tiere wissen?«
Issi neben ihr fröstelte. Die Freundinnen hatten sich auf ihrem Erkundungsgang in ihren Stadtkleidern fast zu Tode gefroren, und Fran wünschte, sie könnte auf Anhieb die richtigen Fragen aus dem Ärmel schütteln. Sie erwiderte Tigs Lächeln. »Was ist Ihrer Meinung nach das Wichtigste an ihnen?«
Er neigte den Kopf. »Diese Herde hat eine lange Tradition, länger als die meisten anderen Herden. Das ist wichtig. Außerdem geben die Kühe gute, fette Milch und sind ausgezeichnete Mütter.« Er sprach über die Milchleistung, darüber, wie viel Futter sie brauchten, und über die unterschiedlichen Temperamente der einzelnen Tiere.