Das Pestmädchen - Silvia Stolzenburg - E-Book
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Das Pestmädchen E-Book

Stolzenburg, Silvia

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Beschreibung

Augsburg, 1462: Das Totengeläut reißt nicht ab. Die Pest wütet in der Stadt und tötet Hunderte. Die junge Magd Lina pflegt im Heilig-Geist-Spital aufopferungsvoll die Kranken, bis sie sich selbst ansteckt. Mit der Hilfe des Wundarztes Ulrich, der sein Herz an Lina verloren hat, übersteht sie die Seuche als Einzige im Spital. Böse Zungen behaupten bald, sie sei mit dem Teufel im Bunde. Als ein reicher Jüngling ermordet wird, fällt der Verdacht auf sie. Lina muss ihre Unschuld beweisen, sonst droht ihr das Schwert des Henkers …

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Seitenzahl: 570

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Silvia Stolzenburg

Das Pestmädchen

Historischer Roman

Zum Buch

Das Große Sterben Augsburg, Anno Domini 1462: Die Pest hat die Stadt im Griff, wahllos rafft sie Junge und Alte, Reiche und Arme dahin. Im Heilig-Geist-Spital pflegt die junge Magd Lina die Siechenden und steckt sich bald selbst mit der todbringenden Seuche an. Wie durch ein Wunder überlebt sie als Einzige im Spital, und böse Zungen behaupten, Lina habe einen Pakt mit dem Teufel geschlossen. Als Findelkind und Waise gilt sie als Unehrliche und kann sich gegen die üble Nachrede nicht zur Wehr setzen. Sie wird aus dem Spital gejagt und arbeitet fortan in einem Badehaus. Ulrich, der Wundarzt der Stadt, lässt sich von den Gerüchten nicht beeindrucken, denn er hat sich in Lina verliebt. Das Liebesglück rückt jedoch in weite Ferne, als ein reicher Jüngling im Badehaus ermordet wird und der Verdacht auf Lina fällt. Falls sie ihre Unschuld nicht beweisen kann, droht ihr der Tod auf der Richtstätte.

Dr. phil. Silvia Stolzenburg studierte Germanistik und Anglistik an der Universität Tübingen. Im Jahr 2006 promovierte sie dort über zeitgenössische Bestseller. Kurz darauf machte sie sich an die Arbeit an ihrem ersten historischen Roman. Sie ist hauptberufliche Autorin und lebt mit ihrem Mann auf der Schwäbischen Alb, fährt leidenschaftlich Mountainbike, gräbt in Museen und Archiven oder kraxelt auf steilen Burgfelsen herum – immer in der Hoffnung, etwas Spannendes zu entdecken.

Impressum

Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.

Bei Fragen zur Produktsicherheit gemäß der Verordnung über die allgemeine Produktsicherheit (GPSR) wenden Sie sich bitte an den Verlag.

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Autoren- und Projektagentur Gerd F. Rumler (München)

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Daniel Abt

Satz/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Bildes von: © Shutterstock Generate. ID: 2531402535 / Shutterstock.com; https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Nuremberg_chronicles_-_Augusta_vendilicorum.png

ISBN 978-3-7349-3318-9

Widmung

Für den Mann, der mit mir bis ans Ende der Welt geht.

Kapitel 1

Reichsstadt Augsburg, Anfang Mai 1462

Der Morgen war kühl und klar. In den Wipfeln der Bäume, die bei der nahe gelegenen Stadtmauer wuchsen, beschimpften Spatzen die ersten Fuhrwerke, die an diesem Tag das Rote Tor durchquerten. Ein frischer Wind wehte aus dem Norden durch die Spitalgasse und trug den Geruch von feuchter Erde aus dem Umland in die Stadt. Da die Dämmerung gerade erst angebrochen war, erschien alles grau und farblos, als Lina das Heilig-Geist-Spital verließ, das sie seit fast zehn Jahren ihr Zuhause nannte. Den größten Teil ihrer sechzehn Lebensjahre hatte sie hier verbracht, an die Zeit davor erinnerte sie sich kaum.

Ihr rotbraunes Haar war wie immer zu einem dicken Zopf geflochten, der bis zu ihrer Hüfte reichte. Eine Bö pfiff durch den dünnen Stoff des schlichten Gewandes, das alle Bediensteten des Spitals trugen, und ließ sie frösteln. Obwohl ihr Handkarren leer war, fiel es ihr schwer, ihn über die Pflastersteine zu schieben, die an mehreren Stellen auf Ausbesserung warteten. Wehmütig dachte sie an das warme Bett in der Schlafstube, die sie sich mit einem halben Dutzend Mägden teilte.

»Mach Platz!«, herrschte ein ungeduldiger Fuhrknecht sie an, als sie die Spitalgasse überquerte, um den Milchberg zu erklimmen. Ohne Rücksicht auf die Fußgänger, die sich an den Rand der Straße flüchteten, ließ der Mann sein Fuhrwerk durch zwei tiefe Pfützen holpern, sodass der Schlamm in alle Richtungen spritzte.

»Pass doch auf, du Depp!«, schickte ihm ein Bursche in Zimmermannstracht hinterher und schüttelte die Faust. »Der Teufel soll dich holen!«

Lina, auf deren dunklem Rock der Schmutz nicht auffiel, beeilte sich, den Milchberg zu erreichen, und war froh, als sie wenig später die baufällige Kirche der Benediktiner zu St. Ulrich und Afra vor sich aufragen sah. Es kam nicht oft vor, dass sie allein in die Stadt geschickt wurde, doch kurz nach dem ersten Stundengebet des Tages hatte die Siechenmeisterin sie zu sich gerufen und ihr aufgetragen, zur Apotheke bei der Moritzkirche zu gehen. Dort warteten die Arzneien für die kranken Insassen des Spitals, die der Apothecarius im Auftrag des städtischen Medicus zubereitet hatte.

Als Lina den Marktplatz vor St. Ulrich betrat, fingen die Glocken einer anderen Kirche an zu läuten. Trotz der frühen Stunde herrschte auf dem Platz bereits reger Betrieb, da nicht nur Dutzende von Milchweibern mit hölzernen Tragegestellen ihre Ware anboten, sondern auch mehrere Ochsenwagen, Fuhrwerke und Handkarren am Berg feststeckten.

»Fegsand! Feiner Fegsand!«, rief eine Frau, deren magerer Klepper ganz vorn in der Schlange ein paar Pferdeäpfel fallen ließ. »Alles blitzt und blinkt, wenn ihr meinen Sand zum Scheuern kauft!«

»Was soll an deinem Sand besonders sein?«, schnaubte eine Alte mit einem Korb am Arm. »Das Zeug sieht eher aus wie Dreck!«

»Du musst es ja nicht kaufen!«, war die bissige Antwort. »So wie du aussiehst, hast du’s eh nicht mit der Reinlichkeit.«

»Was erlaubst du dir, du freches Weib?«

Während die beiden lauthals zankten, bahnte sich Lina einen Weg durch die Menge der Milchmägde und bugsierte ihren Handkarren mühsam weiter in Richtung Kirche. Vor den Mauern des Benediktinerklosters von St. Ulrich hatten sich zahllose Bettler versammelt; sie hofften auf eine milde Gabe.

»Habt Erbarmen!«, jammerte ein Greis, der nur ein Bein hatte. Er kniete auf einem Brett, an dem Rollen befestigt waren, und hob flehend die Hände.

Da Lina nichts besaß, was sie ihm geben konnte, wich sie seinem Blick aus und eilte weiter. Sie wusste nur zu gut, wie es sich anfühlte, auf die Almosen anderer angewiesen zu sein, als Findelkind hatte man sie ebenfalls zum Betteln geschickt.

»Ein Almosen, bitte, eine milde Gabe!«, folgte ihr die Stimme, bis sie die Heilig-Grab-Kapelle erreichte, von der es nicht weit war bis zum Weinmarkt und der Moritzkirche. Auch hier drängten sich bereits Fuhrwerke, Reiter und Mitglieder der zahlreichen Orden der Stadt. Je näher sie St. Moritz kam, desto mehr prächtig gekleidete Ratsherren und Zunftmeister tauchten in der Menge auf. Die pelzverbrämten Mäntel waren mit silbernen und goldenen Fäden verziert, modische Hüte saßen auf den Häuptern der Vornehmen. Lina vermutete, dass sie auf dem Weg zum Rathaus oder dem Tanzhaus waren, in dem sich neben einer Markthalle auch die Herrenstube für die feinen Leute befand. Direkt dahinter ragte der Turm von St. Moritz auf, in dessen Schatten sich die Apotheke duckte.

Lina atmete erleichtert auf und stellte ihren Handkarren vor dem Fachwerkhaus ab. Dann betrat sie den Verkaufsraum, in dem es nach allerlei Kräutern und Gewürzen duftete. Aus einem angrenzenden Raum drang ein stechender Geruch, den Lina aus der Siechenstube kannte. Vermutlich kochte der Apothecarius eines der Allheilmittel, die der städtische Medicus häufig verwendete.

Ein kleines Glöckchen über der Tür verkündete ihr Eintreten, und es dauerte nicht lange, bis eine dralle Frau mittleren Alters den Verkaufsraum betrat. »Womit kann ich dienen?«, fragte sie.

»Die Siechenmeisterin schickt mich«, entgegnete Lina. »Ich soll die Arzneien fürs Spital abholen.«

Die Frau nickte wortlos, wandte sich ab und verschwand nach nebenan. Kurze Zeit später tauchte sie mit einem Arm voller Flaschen und Tiegel wieder auf, die sie auf dem Tresen abstellte. Mehrere Dutzend daumengroßer Zäpfchen und Latwerge – Arzneien in Breiform – folgten. »Das ist alles«, schnaufte sie. »Bezahlst du gleich?« Sie ließ den Blick über Linas einfache Kleidung gleiten.

Lina schüttelte den Kopf. »Das … Ich weiß nicht …«, stammelte sie. Davon hatte die Siechenmeisterin nichts gesagt.

»Schon gut!«, ertönte eine Männerstimme aus der Arzneiküche. »Darum kümmert sich der Pfleger.«

»Meinetwegen«, brummte die Frau, bedachte Lina mit einem gleichgültigen Blick und wandte sich einem Mann zu, der in der Zwischenzeit den Verkaufsraum betreten hatte. Seiner Kleidung nach zu urteilen, handelte es sich um einen der besser betuchten Augsburger.

Während Lina die Arzneien zu ihrem Karren brachte, tauchte der Apothecarius aus der Salbenküche auf, um sich selbst um den neuen Kunden zu kümmern. Erleichtert darüber, dass sich niemand mehr für sie interessierte, verstaute Lina das zerbrechliche Gut sorgfältig und überlegte einen Augenblick, ehe sie beschloss, auf dem Rückweg zum Spital das Gedränge auf den belebten Plätzen zu meiden. Nicht auszudenken, was die Siechenmeisterin und der Spitalmeister sagen würden, falls eine der Arzneiflaschen zu Bruch ginge.

Die Sonne hatte gerade die Giebel der Häuser erreicht, als sie den Karren anhob und sich gen Osten wandte, um am Oberen Graben entlang zum Heilig-Geist-Spital zurückzukehren. Der Weg brachte sie zu einer schmalen Gasse, die zu einem der Lechkanäle hinabführte. Zwei Enten schwammen auf dem trüben Wasser. Anders als die breiteren Straßen waren die Gassen am Fuß des Berges nicht gepflastert, sodass das Fortkommen mühsamer war, als Lina gedacht hatte. Schon nach wenigen Schritten blieben die Räder des Karrens im knöcheltiefen Schlamm stecken, in dem Lina einen halb abgenagten Rattenkadaver entdeckte. Unrat, vermischt mit dem Inhalt zahlloser Nachttöpfe, verbreitete einen bestialischen Gestank, der Lina die Nase rümpfen ließ. Vielleicht war ihre Entscheidung doch nicht so klug gewesen.

Der Schmutz schien überall zu sein. Je tiefer sie in das Gewirr aus Gassen und Kanälen eintauchte, desto dichter drängten sich die winzigen Häuser aneinander, deren Dachgiebel sich fast berührten. Obwohl die Sonne von einem wolkenlosen Himmel schien, lag der Weg vor ihr fast im Dunkeln. Wo war denn nur die innere Stadtmauer? Beklommen sah sie sich um. Hatte sie sich verlaufen? Weit und breit war keine Menschenseele zu sehen.

Als dicht vor ihr ein Knurren ertönte, zuckte sie erschrocken zusammen. »Wer ist da?«, flüsterte sie.

Ein weiteres Knurren folgte, dann tauchten Augen auf, die im Dämmerlicht der Gasse unheimlich leuchteten.

Linas Herz setzte einen Schlag aus. Streunende Hunde!, fuhr es ihr durch den Kopf. Eines der Tiere löste sich aus dem Schatten und kam mit gefletschten Zähnen auf sie zu. Lina stieß einen Schrei aus. Im Findelhaus, in dem sie bis zu ihrem siebten Lebensjahr aufgewachsen war, hatten zwei tollwütige Hunde einen kleinen Jungen zerrissen. Damals hatte Lina kaum begriffen, was geschehen war, aber die Gefahr, in der sie nun schwebte, ließ sie vor Furcht erstarren.

Kapitel 2

»Heilige Muttergottes, steh mir bei!«, wisperte Lina, wagte jedoch nicht, sich zu bekreuzigen. Vielleicht verschwanden die Hunde, wenn sie sich nicht rührte. Trotz des kalten Windes trat ihr der Schweiß auf die Stirn. Sie bemühte sich, so flach wie möglich zu atmen.

Das Knurren wurde lauter und verwandelte sich in wütendes Bellen. Einer der Hunde löste sich mit gesträubtem Nackenfell aus dem Rudel und kam auf Lina zu.

Eisige Furcht packte Lina und ließ sie alle Vernunft vergessen. »Verschwindet!«, stieß sie atemlos hervor und bückte sich nach etwas Hartem, das neben ihrem Karren auf dem Boden lag. Ohne nachzudenken, schleuderte sie das Ding, das stank wie ein alter Suppenknochen, dem vordersten Köter an den Kopf. »Haut ab!«

Anstatt sich um den Knochen zu balgen, wie sie gehofft hatte, wurden die Hunde noch wütender und griffen an.

Lina kreischte. Kopflos vor Furcht versuchte sie, sich mit Tritten zur Wehr zu setzen, doch es dauerte nicht lange, bis sich messerscharfe Zähne in ihre Wade gruben. Einer der Köter zerrte an ihrem Bein, als wollte er es ausreißen.

»Lass los!«, schrie sie, griff in ihrer Verzweiflung eine Arzneiflasche aus dem Karren und schlug sie dem Tier auf den Schädel. Vergessen war die Sorge um die Schelte der Siechenmeisterin.

Die Flasche zerbarst mit einem lauten Klirren. Der Inhalt bespritzte Fell und Augen des Angreifers und sorgte dafür, dass er jaulend von ihr abließ. Während sich das Tier mit eingeklemmtem Schwanz zurückzog, fielen drei andere Lina an und brachten sie zu Fall. Der Aufprall auf dem schlammigen Boden trieb ihr die Luft aus der Lunge. Um Atem ringend verspürte sie ein Rütteln an Schulter und Oberschenkel, dann kam der Schmerz. Blindlings trat sie um sich und warf die Hände hoch, um ihr Gesicht vor den scharfen Fängen zu schützen. Wie durch einen Nebelschleier sah sie, dass sich der Rest des Rudels um sie scharte und mit gefletschten Zähnen nur darauf zu warten schien, sich ebenfalls auf sie zu stürzen.

»Hilfe!«, brachte sie heiser hervor. »So helft mir doch!«

Ihre Worte gingen im wütenden Geknurr der Hunde unter.

Tränen schossen ihr in die Augen, als ein weiterer Biss ihr Kleid zerfetzte. Vater unser im Himmel, geheiligt werde Dein Name, Dein Reich komme, Dein Wille geschehe …, betete sie in Gedanken. Wann hatte sie die letzte Beichte abgelegt? Würde sie sündenbefleckt vor ihren Schöpfer treten?

Ein gellender Pfiff riss sie aus den verzweifelten Gedanken. Dem ersten Pfiff folgte ein zweiter, dann vernahm sie schwere Schritte. Etwas sauste durch die Luft und die Hunde ließen von ihr ab.

»Dieser verdammte Schinder!«, hörte sie jemanden brummen. »Irgendwann bringen die Mistviecher noch jemanden um!«

Dem Geräusch von Schlägen folgte lautes Jaulen, begleitet von einem Fluch, der im Spital für eine mehrwöchige Bußstrafe gesorgt hätte. Starke Hände schoben sich unter Linas Achseln, und jemand half ihr ruppig auf die Beine.

»Kannst du stehen?«, fragte ein Mann, der an seiner grün-weiß-rot gestreiften Tracht als Stadtknecht zu erkennen war. Er blickte mit einer Mischung aus Mitleid und Verwunderung auf sie hinab und wartete, bis sie schwach nickte.

Ihre Beine zitterten so heftig, dass sie fast eingeknickt wären, als er sie losließ, doch obwohl ihr alles wehtat, gelang es ihr, stehen zu bleiben.

»Was in drei Teufels Namen hast du hier zu suchen?«, fragte der Stadtknecht nach einem Blick auf ihre Kleidung und den Karren. »Gehörst du zum Spital?«

Sie nickte noch einmal.

»Wie schlimm ist es?«, erkundigte er sich.

Lina biss die Zähne zusammen und kämpfte darum, die Tränen zurückzuhalten. Mit jeder Sekunde wurde der Schmerz schlimmer. Sie hatte mindestens sechs Bisswunden davongetragen, von denen drei heftig zu bluten schienen. Ihre Wade fühlte sich an, als würde sie in Flammen stehen, ebenso ihre Schulter und ihr Oberschenkel. Es tat höllisch weh, wenn sie das volle Gewicht auf ihr linkes Bein verlagerte. »Ich weiß nicht«, stieß sie mühsam hervor und betastete vorsichtig ihre Schulter.

»Einen hab ich erwischt«, verkündete der zweite Stadtknecht, der – einen blutigen Knüppel schwingend – zu ihnen trat. »Die anderen sind auf und davon. Der Rat sollte sich überlegen, einen neuen Abdecker zu suchen. Der Lump, der die streunenden Köter erschlagen soll, schert sich einen Dreck um seine Pflicht!«

Sein Begleiter zuckte mit den Schultern. »Also? Was tust du hier?«, wandte er sich erneut an Lina.

»Ich wollte eine Abkürzung nehmen«, gestand sie kleinlaut.

»Zum Spital?«, war die ungläubige Antwort. »Durch diese Gegend?«

Lina spürte, wie ihr das Blut in die Wangen schoss. Wie hatte sie nur so einfältig sein können? Das Findelhaus, in dem sie aufgewachsen war, befand sich nicht weit entfernt in der Nähe des Barfüßertors. Auch dort gab es Gassen, die man besser nicht allein betrat, allerdings nur bei Nacht.

»Sollen wir Hilfe aus dem Spital holen?«, fragte der Stadtknecht mit einem Blick auf ihr blutiges Bein.

»Nein!«, stieß sie hastig hervor. Bloß nicht! Sie war ohnehin in Schwierigkeiten, weil sie eine der Arzneiflaschen zerbrochen hatte. Dummheit schützte nicht vor Strafe, und die würde schlimmer ausfallen, wenn ein Stadtknecht ihretwegen im Spital auftauchte. Irgendwie würde sie es trotz der Schmerzen schaffen müssen, den Karren allein zurückzubringen. Unterwegs würde ihr hoffentlich eine Entschuldigung einfallen, die die Siechenmeisterin und den Spitalmeister milde stimmte. Falls nicht … Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch dachte sie an einen jungen Burschen zurück, der im Herbst aus dem Spital geworfen worden war. Wenn es stimmte, was sich das Gesinde erzählte, fristete er sein Dasein inzwischen als Bettler auf dem Perlach.

»Komm!« Der Stadtknecht mit dem Knüppel griff nach ihrem Karren. »Wir bringen dich zum Graben, da bist du sicher.«

Der Mann, der Lina auf die Beine geholfen hatte, führte sie am Arm, bis die innere Stadtmauer vor ihnen auftauchte. »Wenn du von hier aus in diese Richtung gehst«, erklärte er, ließ sie los und zeigte nach Süden, »kommst du am Kloster der Dominikanerinnen vorbei. Von da ist es nicht mehr weit bis zum Spital.«

Bemüht, sich nicht anmerken zu lassen, wie groß ihre Schmerzen waren, bedankte sich Lina und fasste die Griffe des Handkarrens, sobald die beiden Stadtknechte ihr den Rücken kehrten. Sie blickte ihnen nach, bis sie verschwunden waren, ehe sie sich mühsam auf den Heimweg machte. Sie spürte, wie Blut an ihrem Bein entlangrann. Als das Spital endlich vor ihr auftauchte, war sie schweißgebadet.

»Was ist denn mit dir passiert?«, fragte der Torhüter entgeistert, als er Lina in den Hof humpeln sah.

»Nichts«, log sie und beeilte sich, den Hof zu überqueren, der von mehreren großen und kleinen Gebäuden umgeben war. Neben dem Wohngebäude für die Brüder und Schwestern des Heilig-Geist-Ordens verfügte das Spital über eine Kapelle samt Friedhof, ein Haus für den Spitalmeister, eine eigene Mühle, ein Backhaus, Stallungen und Scheunen, einen Kornkasten sowie ein Narrenhäuslein neben der Mühle. Außerdem gab es Gebäude für die Einkaufspfründner – diejenigen Augsburger, die genügend Geld hatten, um ihren Lebensabend in eigenen Kammern zu verbringen. Die armen Pfründner wohnten in Gemeinschaftsstuben, die im Winter kalt und zugig waren. Um im Spital aufgenommen zu werden, musste man von ehrbaren Leuten vorgeschlagen werden und bereit sein, nach dem Ableben seinen gesamten weltlichen Besitz dem Orden zu überschreiben. Wer nichts hatte, fristete ein tristes Dasein, das allerdings immer noch besser war als ein Leben als Bettler.

Als sie die Mitte des Hofes erreichte, wo zahlreiche Fuhrwerke des Spitals standen, hielt Lina heftig atmend inne und wischte sich den kalten Schweiß von der Stirn. Ihr war schwindlig vor Anstrengung und schlecht vor Schmerz.

»Lina!«, tönte es aus der Siechenstube.

Bevor sie sich eine Erklärung zurechtlegen konnte, eilte die Siechenmeisterin – eine untersetzte Frau mittleren Alters – auf sie zu. »Was um alles in der Welt ist mit dir?«, fragte sie, als ihr Blick auf Linas zerfetzte Kleider fiel. »Wo warst du denn so lange?«

Lina öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, doch die Siechenmeisterin ließ sie nicht zu Wort kommen. »Himmel hilf, du blutest ja!«, keuchte sie auf.

Ehe Lina etwas entgegnen konnte, winkte die Siechenmeisterin eine Magd zu sich und trug ihr auf, Lina in die Siechenstube zu bringen. »Das muss sich der Wundarzt ansehen!«

Kapitel 3

»Es tut mir leid«, flüsterte Lina. »Ich wollte nicht …«

»Du kannst später erklären, wer dich so zugerichtet hat«, fiel ihr die Siechenmeisterin ins Wort. »Zuerst muss die Blutung gestillt werden.« Sie bedeutete der Magd, Lina fortzubringen. »Ich hole Meister Ulrich.«

Die Magd Gunda, ein blondes Mädchen mit wasserblauen Augen, das nur wenig älter war als Lina, fragte: »Bist du unter die Räuber gefallen?« Etwas Hämisches schwang in ihrer Stimme mit.

»Hunde«, presste Lina hervor. An anderen Tagen hätte sie sich über Gundas Schadenfreude geärgert, doch mit jedem Schritt, den sie tat, drängte der Schmerz alle anderen Gefühle weiter in den Hintergrund. Sie fürchtete nicht einmal mehr die Strafe, die das Zerbrechen der teuren Arzneiflasche zweifellos nach sich ziehen würde.

»Ei«, entgegnete Gunda mit geheuchelter Anteilnahme. »Tut es sehr weh?«

Lina ignorierte sie und biss die Zähne aufeinander, bis sie die Siechenstube erreicht hatten. In dem lang gestreckten Raum, der von Säulen in drei Bereiche geteilt wurde – einen für Frauen, einen für Männer und einen für Schwerkranke –, roch es wie immer nach Schweiß, Kräuteraufgüssen und dem Inhalt der Nachttöpfe neben den Lagern. Durch schmale Fenster fiel etwas Sonnenlicht auf den sauber gefegten Boden und das große Kruzifix an der Wand gegenüber der Tür.

Im hinteren Teil, in dem die Sterbenden lagen, ging der Kaplan des Spitals von Bett zu Bett, um Trost zu spenden und die Beichte abzunehmen.

»Da drüben ist ein Lager frei.« Gunda brachte Lina in den Bereich der Frauen und verfolgte mit ausdrucksloser Miene, wie Lina sich auf die klumpige Matratze setzte. »Man kann die Tollwut bekommen, wenn man von wilden Hunden angefallen wird«, stellte sie fest und betrachtete Lina mit herablassendem Blick.

Als ob ich das nicht wüsste, du dumme Gans!, dachte Lina, in der trotz des Schmerzes Wut aufstieg. Gunda kam aus einer armen, aber ehrlichen Familie. Sie ließ keine Gelegenheit aus, um Lina ihre unehrliche Herkunft spüren zu lassen. Als ob es Linas Schuld wäre, dass ihre Mutter sie kurz nach ihrer Geburt im Stich gelassen hatte! Was konnte sie dafür, dass … Sie brach den Gedanken ab. Als Waise im Findelhaus hatte sie sich alle möglichen Tagträumereien erlaubt, hatte versucht, sich vorzumachen, dass ihre Mutter bei ihrer Geburt gestorben war. Im Laufe der Zeit war ihr klar geworden, dass es nichts brachte, sich zu belügen. Sie hatte genug Geschichten über die Frauen in den beiden Hurenhäusern vor dem Gögginger Tor gehört.

»Vielleicht verwandelst du dich in einen Werwolf«, unterbrach Gunda ihre Grübelei.

Sei doch einfach still! Lina schloss die Augen und atmete gegen den Schmerz an. Leider ohne Erfolg. Als sich wenig später Schritte näherten, war ihr so übel, dass sie fürchtete, sich vor die Füße des hochgewachsenen jungen Mannes zu übergeben, der mit sorgenvollem Gesicht an ihr Lager trat.

»Du kannst gehen«, sagte die Siechenmeisterin an Gunda gewandt. »Ich lasse euch allein.« Die beiden Frauen verschwanden dorthin, wo sich der Raum befand, in dem die Arzneien des Spitals aufbewahrt wurden. Lina nahm an, dass der Inhalt ihres Handkarrens bereits dorthin gebracht worden war.

»Lina.« Meister Ulrich ging vor ihr in die Hocke und griff nach ihrer Hand.

Die Berührung sandte trotz der Schmerzen ein Prickeln über ihre Haut.

»Was ist passiert?« Er suchte ihren Blick. Seine dunklen Augen schienen bis auf den Grund ihrer Seele zu sehen.

Sein Mitgefühl machte ihr die Kehle eng. Er war einer der wenigen Menschen, in deren Gegenwart sie sich nicht minderwertig fühlte. Seit einem halben Jahr begegneten sie sich beinahe täglich in der Siechenstube, doch bisher hatte er sie nie berührt.

»Es waren so viele«, murmelte sie. »Ich konnte sie nicht verjagen.«

»Hunde?«

Sie bejahte.

»Ich muss mir die Wunden ansehen.« Eine feine Röte überzog Meister Ulrichs Gesicht, das durch das schwarze Haar stets bleich wirkte. »Bitte zieh dein Kleid aus.«

Unter anderen Umständen wäre Lina eher vor Scham im Erdboden versunken, als sich vor ihm und all den anderen Insassen in der Stube zu entblößen. Nun tat sie, was er verlangte, und schlüpfte aus ihrem Obergewand. Das dünne Unterkleid war blutgetränkt.

»Das kannst du anlassen«, sagte er, als hätte er ihre Gedanken gelesen. Vorsichtig zog er den zerfetzten Stoff beiseite und begutachtete Schulter, Wade und Oberschenkel. »Das sieht nicht gut aus«, murmelte er.

Lina hielt den Atem an, als er den Stoff ihres Rockes weiter nach oben schob.

»Ich fürchte, ich muss dir wehtun.«

Lina schluckte.

»Wenn ich die Wunden nicht ausbrenne, könntest du an Tollwut erkranken. Das Gift könnte bereits in deinen Körper gelangt sein.«

»Sterbe ich daran?«, fragte sie leise.

»Nicht, wenn ich es verhindern kann.« Er blickte ihr erneut in die Augen und drückte beruhigend ihre Hand. »Aber du musst tapfer sein.« Er griff sich an die Brust, holte ein silbernes Kruzifix unter seinem knielangen schwarzen Rock hervor und gab es ihr. »Gott wird dir beistehen«, raunte er, erhob sich und verschwand in Richtung Tür.

Lina vermeinte, seine Finger noch auf ihrer Haut zu spüren. Sie drückte das Kruzifix an sich und fing an zu beten.

Als Ulrich kurze Zeit später mit einem Kohlebecken und einer Tasche in die Siechenstube zurückkehrte, beschleunigte sich ihr Herzschlag. Sie wusste, was ihr bevorstand, schließlich hatte sie oft genug dabei zugesehen, wie er die Wunden von Knechten oder Insassen behandelt hatte. Das Geschrei, das bei derlei Behandlungen stets durch die Stube gellte, ließ sie das Schlimmste erwarten. Sie umklammerte das Kruzifix fester. Nein, sie würde nicht brüllen wie am Spieß! Obwohl ihr immer noch schlecht war vor Schmerz, war sie fest entschlossen, vor Ulrich keine Schwäche zu zeigen.

*

Ulrich hatte seit geraumer Zeit gehofft, Lina näherzukommen – aber sicher nicht auf diese Weise! Seit sie ihn das erste Mal mit ihren grünen Augen angesehen hatte, die stets ein wenig traurig wirkten, beschäftigte sie seine Gedanken öfter, als ihm lieb war. Es war nicht nur ihre Schönheit, die ihn in ihren Bann schlug. Sie war geschickt und besaß eine schnelle Auffassungsgabe, die sie von den meisten anderen Frauen im Spital unterschied. Trotz der Tatsache, dass sie ihm gerade bis zur Schulter reichte, strahlte sie eine Stärke aus, die er bewunderte.

In diesem Augenblick wirkte sie allerdings furchtsam und zerbrechlich. Sein Herz zog sich zusammen, als er sah, wie fest sie sein Kruzifix umklammerte. Er hasste es, ihr wehtun zu müssen, doch gab es keine andere Möglichkeit. Wenn er die Bisswunden nicht ausbrannte, konnte sich das Gift der Tollwut in ihrem Körper ausbreiten und sie töten. Er hoffte inständig, dass es nicht zu spät war, und beschloss, sie nach dem Ausbrennen der Wunden zur Sicherheit mehrmals zur Ader zu lassen.

Nachdem er das Kohlebecken abgestellt hatte, entzündete er ein Feuer darin und wartete, bis sich genügend Glut gebildet hatte. Dann holte er ein Eisen aus seiner Tasche hervor und legte es hinein.

Lina verfolgte jede seiner Bewegungen mit aschfahlem Gesicht.

»Erzähl mir, wie das passiert ist«, forderte er sie auf, um sie abzulenken.

Ihr Blick zuckte zu dem Eisen, ehe sie mit einem Seufzen ausatmete und von dem Angriff der Hunde berichtete.

»Das war ziemlich leichtsinnig von dir«, stellte er fest. »Warum bist du nicht in der Oberstadt geblieben?«

»Ich hatte Angst, den Karren in dem Gedränge umzuwerfen«, gestand sie geknickt. »Und jetzt habe ich eine teure Arzneiflasche zerbrochen.« Die Verzweiflung in ihrer Stimme war deutlich zu hören.

»Du kannst ja nichts dafür«, versuchte er, sie zu beruhigen, obwohl er wusste, wie streng der Spitalmeister war.

»Doch«, flüsterte sie. »Glaubst du, ich werde rausgeworfen?« Sie hob den Blick.

Ulrichs Kehle schnürte sich zusammen. Er beschloss, zur Not ein gutes Wort beim städtischen Pfleger für sie einzulegen. Falls es zum Schlimmsten kam, konnte er sie vielleicht als Gehilfin in seine Dienste nehmen. Der Sold, den der Rat ihm bezahlte, war ansehnlich, besser als der der meisten Handwerkschirurgen.

Als er nicht sofort antwortete, senkte sie den Blick wieder.

»Das Eisen glüht«, sagte er und griff mit schwerem Herzen danach. Er würde mit der Wunde an ihrer Wade anfangen. Wenn Gott gnädig war, würde er ihr die Besinnung rauben, damit sie den Schmerz nicht die ganze Zeit aushalten musste.

»Gegrüßet seist du, Maria, voll der Gnade, der Herr ist mit dir«, hörte er sie wispern. »Du bist gebenedeit unter den Frauen …«

Mit einem engen Gefühl in der Brust fasste Ulrich das Eisen fester, schob den Rock ihres Untergewandes weiter hoch und holte tief Luft, ehe er das glühende Werkzeug auf die blutende Wunde drückte.

Linas Schrei zerriss ihm fast das Herz.

»Es tut mir leid«, sagte er und hob das Eisen, um die Wunde an ihrem Oberschenkel auszubrennen.

Schweiß trat aus allen Poren ihres Körpers, ihre Unterlippe fing an zu zittern. »Gebenedeit ist die Frucht deines Leibes«, presste sie zwischen den Zähnen hindurch. Als Ulrich den Stoff des Untergewandes nach unten zog, um ihre Schulter zu entblößen, zuckte sie vor ihm zurück.

»Es ist gleich überstanden«, sagte er. Der Gestank von verbranntem Fleisch stieg ihm in die Nase.

Kapitel 4

Der Schmerz ließ allmählich nach. Nachdem Ulrich die anderen Bisswunden ausgebrannt hatte, war Lina zitternd und tropfnass vom Schweiß auf das Lager gesunken und hatte vergeblich gegen das Klappern ihrer Zähne angekämpft. Trotz der Hitze des glühenden Eisens war ihr so kalt, dass sich Gänsehaut auf ihrem gesamten Körper ausbreitete. Von den ausgebrannten Wunden ging ein dumpfes Pochen aus, das bis in ihren Kopf ausstrahlte. Selbst ihre Augenhöhlen schienen wehzutun. Das Sonnenlicht stach bei jedem Blick wie ein Messer.

Ulrich hatte sie zugedeckt und war mit dem Kohlebecken verschwunden, ohne sein Kruzifix von ihr zurückzufordern. Warm und schwer lag es auf ihrer Brust und spendete ihr wenigstens etwas Trost. Sie wusste nicht, wie lange sie so dagelegen hatte, als er wieder an ihrer Seite auftauchte und mit einem gequälten Lächeln auf sie hinabblickte.

»Wie fühlst du dich?«, fragte er.

»Besser«, log sie.

Er zog einen Schemel an ihr Bett. »Jetzt muss ich dich noch zur Ader lassen.« Er holte eine Fliete, ein breites Messer, manche nannten es auch Laßeisen, aus seiner Tasche und legte es neben sie. »Hast du Durst?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Das ist gut. Hätte sich das Gift schon in deinem Körper ausgebreitet, hättest du das Gefühl, förmlich zu verdursten.«

Lina schloss die Augen, als er ihr Handgelenk ergriff, um einen kleinen Schnitt in ihrer Armbeuge zu machen. Anders als beim Brennen verspürte sie kaum Schmerz.

»Du solltest eine Weile liegen bleiben«, riet er, nachdem er die Wunde mit einem dünnen Verband abgedeckt hatte. »Einen oder zwei Tage mindestens. Eher etwas länger.«

»Aber ich muss doch arbeiten!«

Er schüttelte den Kopf.

»Die Siechenmeisterin …«

»Ist ganz gewiss einer Meinung mit mir«, fiel er ihr ins Wort.

Der Aderlass war abgeschlossen. Er hielt ihre Hand noch einige Augenblicke fest, bevor er sie losließ und sich erhob. Er setzte an zu sprechen, doch dann schloss er den Mund.

»Dein Kruzifix«, flüsterte sie.

»Behalte es, bis es dir besser geht«, entgegnete er. »Es wird dich beschützen.«

Sie schloss dankbar die Augen und fiel wenig später in einen unruhigen Schlaf.

Als sie wieder aufwachte, war der Schmerz auf ein erträgliches Maß abgeebbt. Vorsichtig betastete sie den Verband an ihrer Schulter.

»Ah, du bist wach«, ertönte die Stimme der Siechenmeisterin, die von hinten ans Kopfende von Linas Bett trat.

Lina hob den Blick.

»Dann wirst du mir jetzt erklären, warum eine Flasche Theriak fehlt.« Ein strenger Unterton klang in der Stimme der Meisterin. Auf ihrer breiten Stirn lagen Falten. »Bist du überfallen worden?«

Lina schluckte trocken. Sie hatte befürchtet, dass es sich beim Inhalt der zerbrochenen Flasche um teuren Theriak handelte – Tyriaca magna Galeni, ein Allheilmittel aus Dutzenden von Zutaten. Warum hatte sie nicht einen der Tiegel genommen, um sich des Hundes zu erwehren? Die Salben darin kosteten bestimmt nur einen Bruchteil des Theriaks. Da es keinen Zweck hatte, die Unwahrheit zu sagen, berichtete sie stockend, was vorgefallen war.

»Das war töricht von dir«, sagte die Siechenmeisterin, nachdem Lina geendet hatte. »Ich werde dem Spitalmeister davon berichten müssen. Der Rat verlangt Auskunft über alle Ausgaben des Spitals.«

»Wird er mich fortjagen?«, fragte Lina kleinlaut.

Die Siechenmeisterin seufzte. »Deine Absichten waren lauter. Ich lege ein gutes Wort für dich ein, aber ich kann dir nicht versprechen, dass es mir gelingt, ihn milde zu stimmen. Der Verlust ist hoch, deinetwegen wird er über die Mehrausgaben Rechenschaft ablegen müssen. Was auch immer er entscheidet, dich erwartet eine harte Strafe.« Sie strich ihr dunkles Gewand glatt. »Ich muss mich um die Verpflegung der Kranken kümmern. Sieh zu, dass du schnell gesund wirst.«

Warum?, dachte Lina bitter. Wenn sie sich doch nur in einem Mauseloch verkriechen könnte! Sie strich mit dem Finger über die glatte Oberfläche von Ulrichs Kruzifix und kämpfte gegen die Tränen an, die in ihr aufstiegen.

Die Worte der Meisterin hallten lange in ihrem Kopf nach. Während der nächsten Tage brachte sie jede wache Minute damit zu, Gott um Gnade zu bitten, und als Ulrich ihr an einem sonnigen Morgen endlich erlaubte aufzustehen, war sie dankbar und verzagt zugleich. Was sollte sie tun, wenn der Magister Hospitalis sie rauswarf?

»Es wird eine Weile dauern, bis die Wunden völlig verheilt sind«, warnte Ulrich, als sie das Bett abzog, in dem sie gelegen hatte, um das Laken in die Waschstube zu bringen. »Wechsle jeden Tag die Verbände und komm sofort zu mir, falls du quälenden Durst verspürst oder dich vor fließendem Wasser erschreckst.«

Sie nickte und hielt ihm sein Kruzifix hin. »Danke«, sagte sie.

Er nahm es entgegen.

Dabei berührten sich ihre Fingerkuppen, und Lina zuckte zurück wie vor dem glühenden Eisen.

»Ich … Es …«, stammelte Ulrich. Er hielt das Kruzifix unschlüssig in der Hand. »Ich muss wieder an die Arbeit«, sagte er nach einigen Augenblicken peinlichen Schweigens und ergriff die Flucht.

»Sieh an«, höhnte es hinter ihr. »Da sind sich wohl zwei nähergekommen.«

Lina wirbelte herum und entdeckte Gunda, die Ulrich und sie hinter einem Stützbalken hervor beobachtet haben musste. »Er ist der Wundarzt«, entgegnete sie kühl. »Natürlich ist er mir nähergekommen.«

»So habe ich das nicht gemeint«, schnaubte Gunda.

»Kümmre dich um deinen eigenen Kram«, brummte Lina. Sie hatte keine Lust auf Gundas überhebliches Geschwätz.

»Der Spitalmeister soll ziemlich wütend auf dich sein«, fuhr Gunda ungerührt fort.

»Woher willst du das wissen?«

Gunda zuckte mit den Schultern. »Man erzählt sich so allerhand im Spital.«

»Klatsch und Tratsch werden mit Bußstrafen belegt.«

»Nicht nur Klatsch und Tratsch.« Gundas Blick wanderte an Lina vorbei zum vorderen Teil der Stube. »Du solltest dein Kleid ausbessern«, riet sie, dann machte sie hastig kehrt und eilte davon.

Als Lina ihrem Blick folgte, entdeckte sie die Siechenmeisterin, die auf sie zukam. Ihr Magen zog sich zusammen.

»Der Spitalmeister will dich sehen«, bestätigte die Meisterin ihre Befürchtungen. »Ich muss dich warnen«, fügte sie mahnend hinzu. »Er ist in ungnädiger Stimmung.«

Linas Mund wurde trocken, ihre Handflächen feucht. Hatte sie durch ihre Torheit alles gefährdet, wofür sie seit dem Verlassen des Findelhauses so hart gearbeitet hatte? Mit einem Kloß im Hals folgte sie der Meisterin aus der Siechenstube nach draußen, wo sie den Hof überquerten.

Obwohl die Wunden gut verheilten, schmerzte Linas Bein bei jedem Schritt, allerdings war das Humpeln ihre kleinste Sorge. Gnädiger Gott, steh mir bei!, dachte sie beklommen, als sie auf das Haus des Magister Hospitalis zusteuerten. Das rote Fachwerk leuchtete im Sonnenlicht. Wie jeden Tag wurde emsig gearbeitet. Bei einem der Schuppen hackten zwei der armen Pfründner Feuerholz, ein Schmied beschlug vor dem Stall ein Pferd. Fuhrwerke wurden von Knechten be- und entladen, und aus dem Kamin der Backstube stieg schwarzer Rauch auf. Es duftete nach frisch gebackenem Brot und gebratenem Fleisch, das ohne Zweifel für die Tafeln der wohlhabenden Pfründner zubereitet wurde.

Linas Beklommenheit verstärkte sich, als sie das Gebäude betraten. Gegenüber der Tür, in der kleinen Eingangshalle, hing ein großes Holzkreuz, von dem der Heiland mit traurigem Blick auf sie hinabsah. Eine breite Treppe führte ins obere Stockwerk, wo die Siechenmeisterin an eine schwere Tür klopfte.

»Herein!«, ertönte eine gedämpfte Stimme.

Einen Moment lang kämpfte Lina mit dem Drang wegzulaufen. Natürlich würde sich ihre Lage dadurch nicht verbessern. Mit gesenktem Kopf folgte sie der Siechenmeisterin in einen Raum, bei dem es sich um die Schreibstube des Magister Hospitalis zu handeln schien. Er saß an einem großen Tisch, auf dem sich zahllose Schriftstücke stapelten. Hinter ihm befand sich ein mit Büchern vollgestopftes Regal. Die Wände waren weiß, die Dielen sauber, und ein buntes Bleiglasfenster malte farbige Flecken auf den Boden.

Der Spitalmeister warf einen Blick auf Lina, dabei trat ein Ausdruck auf sein Gesicht, der nichts Gutes verhieß. Die Frauen standen mit gefalteten Händen vor ihm. Er erhob sich und kam hinter dem Tisch hervor. Er war groß und hager und wirkte durch die scharfe Hakennase noch strenger. »Ist sie das?«, fragte er die Siechenmeisterin.

»Ja. Sie hat …«

»Ich will sie selbst befragen!«, unterbrach er sie. »Geh zurück an deine Arbeit!« Er wartete, bis die Meisterin die Stube verlassen hatte, ehe er sich so dicht vor Lina aufbaute, dass sie den sauren Geruch seines Schweißes riechen konnte.

Sie wagte nicht, zu ihm aufzublicken.

»Ist es wahr, dass du durch Ungehorsam und Torheit eine Flasche Theriak zerbrochen hast?«, fragte er.

Lina war wie erstarrt.

»Antworte und sieh mich an!«, forderte er in herrischem Tonfall.

Sie hob den Blick. »Ja, Meister«, gestand sie kleinlaut. »Es tut mir leid! Ich wollte nicht, dass der Karren auf dem Weinmarkt umgestoßen wird!«

»Und da dachtest du, es wäre besser, dich damit bei den Lechkanälen herumzutreiben?«

»Ich …«, hob Lina an, verstummte jedoch, als ihr klar wurde, dass er keine Entschuldigung gelten lassen würde. Er hatte sie nicht zu sich befohlen, um ihr zu vergeben, sondern um sie zu bestrafen.

Kapitel 5

In dem Augenblick, in dem Lina und die Meisterin im Haus des Magister Hospitalis verschwanden, hätte Gunda alles gegeben, um Mäuschen spielen zu können. Vielleicht nicht alles, dachte sie, aber ihre Neugier war beinahe unerträglich. Schon bei ihrer ersten Begegnung hatte sie eine Abneigung gegen Lina gespürt, die sich im Laufe der Zeit verstärkt hatte. Gunda hielt sich für weiblicher und ansehnlicher als Lina, doch schienen die männlichen Insassen anderer Meinung zu sein. Wann immer Lina die Knechte anlächelte, rissen sich diese Narren beinahe ein Bein aus, um ihr zu gefallen. Und jetzt auch noch Meister Ulrich!

Wenngleich der hagere Wundarzt Gunda gar nicht besonders gefiel, machte es sie fast rasend, dass er diesem Weib verfallen war. Lina war nicht einmal von ehrlicher Geburt! Gunda hob den Blick zum Fenster der Schreibstube, in die sie, dem Himmel sei Dank, bisher nie gerufen worden war. Während sie sich ausmalte, was darin geschah, sandte sie ein Gebet zum Himmel, dass Linas Strafe ebenso hart ausfallen möge wie die des Bengels, der vor einiger Zeit des Spitals verwiesen worden war. Wenn sie sich recht erinnerte, hatte dieser sich den Diebstahl eines Brotes zuschulden kommen lassen. Sicher wog Linas Vergehen schwerer.

»Was stehst du hier rum wie ein Kalb?«

Gunda zuckte zusammen.

Die Frau des Spitalmeisters kam mit einem Korb voller Eier auf sie zu und bedachte sie mit einem missfälligen Blick. »Geh an die Arbeit, statt mit offenen Augen zu träumen!«, tadelte sie. »Müßiggang ist eine Sünde.«

»Entschuldigung«, murmelte Gunda, setzte eine zerknirschte Miene auf und eilte zurück zur Siechenstube. Ein Jammer!, dachte sie. Zu gern hätte sie gesehen, wie Lina vom Magister Hospitalis höchstpersönlich aus dem Spital geworfen wurde.

*

Linas Herz klopfte so heftig, dass sie vermeinte, es hören zu können. Der Magister Hospitalis ragte vor ihr auf wie ein Racheengel und wartete auf eine Antwort. Der saure Geruch seines Schweißes wurde immer stärker, und Lina fragte sich, ob er aus demselben Holz geschnitzt war wie der Vorsteher des Findelhauses. Dieser hatte den Mädchen vor Bestrafungen stets die Möglichkeit gegeben, sich freizukaufen durch etwas, was er als »Dankbarkeit« bezeichnet hatte. Einmal war auch Lina vor die Wahl gestellt worden, vor allen anderen Waisen mit Ruten geschlagen zu werden oder sich seine Milde zu erkaufen. Sie hatte sich für die Prügel entschieden. Die Erinnerung ließ Übelkeit in ihr aufsteigen.

»Ich habe einen Fehler gemacht«, sagte sie endlich mit zitternder Stimme. »Bitte vergebt mir. Es war ein solch furchtbares Gedränge zwischen St. Moritz und St. Ulrich, ich hatte Angst, dass ein Reiter oder eines der Fuhrwerke den Karren umwirft.«

Der Spitalmeister schnaubte. »Eine fromme Seele hätte auf Gott vertraut!«, stieß er hervor.

Lina schwieg. Was sollte sie dazu sagen?

Das Gewand des Magister Hospitalis raschelte, als er sich von ihr abwandte und hinter seinen Schreibtisch zurückkehrte. Mit einer steilen Falte zwischen den Brauen musterte er Lina, die hastig wieder den Blick niederschlug.

»Weißt du, wie viel eine Flasche Theriak kostet?«, fragte er schließlich scharf.

»Nein, Meister.«

»So viel, wie du in einem halben Jahr verdienst!«

Lina schwieg.

»Du wirst den Schaden wiedergutmachen!«

Lina wagte kaum zu atmen. Bedeutete das, dass er sie nicht des Spitals verwies?

»Dein Lohn wird in die Kasse des Spitals fließen, bis deine Schuld abgegolten ist«, fuhr der Spitalmeister fort. »Außerdem«, setzte er mit erhobener Stimme hinzu, »wirst du vier Wochen lang jeden Tag einhundert Paternoster und Ave-Maria beten, dazu täglich morgens und abends dreißig bei Tisch.«

Lina hob den Blick. »Ich werde jede Buße annehmen.«

»Ich bin noch nicht fertig!« Der Magister Hospitalis stemmte die Hände auf den Tisch. »Du wirst zudem vier Wochen lang auf jede Speise verzichten außer auf Haferbrei.« Er fasste Lina scharf ins Auge. »Kein Fleisch, kein Brot, kein Kraut und keine Rüben!«

Lina nickte.

Der Spitalmeister ließ sich auf den Stuhl sinken, auf dem er bei Linas Ankunft gesessen hatte. »Solltest du dir in nächster Zeit noch einmal etwas zuschulden kommen lassen, muss ich den Pfleger darüber in Kenntnis setzen«, drohte er. »Und jetzt geh! Du hast mir genug Zeit gestohlen!« Er griff nach einem Federkiel und wandte sich einem Schriftstück zu, das vor ihm auf dem Tisch lag.

»Danke, Meister«, murmelte Lina und ging mit weichen Knien zur Tür. Draußen fiel die Anspannung von ihr ab, und sie beeilte sich trotz ihres schmerzenden Beines, das Gebäude zu verlassen.

Was für ein unglaubliches Glück sie hatte! Sie konnte kaum fassen, dass sie mit einer gewöhnlichen Bußstrafe davonkam. Offenbar hatte die Meisterin mehr als nur ein gutes Wort für sie eingelegt. Während sich der Klumpen auflöste, der wie Blei in ihrem Magen gelegen hatte, humpelte sie zurück zur Siechenstube, um an die Arbeit zu gehen.

Als die Meisterin sie erblickte, erhob sie sich von einem Lager, an dem sie gesessen hatte, um einer Greisin etwas aus einer Schale einzuflößen, und schritt auf Lina zu. »Was hat er gesagt?«, erkundigte sie sich.

Lina erzählte es ihr.

»Ich hatte schon das Schlimmste befürchtet«, seufzte die Meisterin erleichtert. »Der Herr ist gnädig.« Sie deutete auf die alte Frau, an deren Bett sie gesessen hatte. »Kümmere dich um die alte Agnes und die anderen in diesem Bereich«, trug sie Lina auf. »Ich muss die Vorräte überprüfen. Morgen kommt der Metzger.« Mit diesen Worten ließ sie Lina allein mit den Kranken, von denen einige schliefen und andere leise stöhnten oder jammerten.

Die alte Agnes, deren Augenlicht seit Jahren erloschen war, hob den Kopf, als Lina sich ihrem Lager näherte. »Du bist nicht die Meisterin«, stellte sie fest. »Sie hat einen festeren Tritt.«

Ein Lächeln huschte über Linas Gesicht. »Deine Ohren sind besser als die eines Luchses.«

»Lina.« Die Greisin bedeutete ihr, sich zu setzen. »Was ist mit deinem Bein?«, wollte sie wissen. »Ich kann hören, dass du es schonst.«

»Nichts.« Lina hob die Schale auf, die neben dem Bett auf dem Boden stand. Der Brei darin war grau und unansehnlich. »Wie geht es dir?«

Die alte Frau winkte ab. »Ich bin alt. So Gott will, bin ich bald von allen Schmerzen erlöst.« Sie öffnete den Mund, um sich von Lina füttern zu lassen.

Während Agnes schmatzend ihren Brei aß, ließ Lina den Blick durch die Stube schweifen. Von Ulrich war weit und breit nichts zu sehen. Vermutlich hatte er das Spital verlassen, um sich in der Stadt um andere Augsburger zu kümmern, die seine Hilfe benötigten. Hör auf, an ihn zu denken!, schalt sie sich. Es hatte keinen Zweck, ihr Herz an ihn zu verlieren. Er war ein angesehenes Zunftmitglied, ein vom Rat angestellter Arzt. Eine wie sie würde niemals einen Platz in seinem Leben finden! Wenn er nicht ohnehin längst vergeben war, würde er früher oder später eine Tochter aus anständigem Haus finden, die er ehelichte und die ihm zahlreiche Kinder schenken würde.

Sie hob den Blick, als sie aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahrnahm. Anstelle von Ulrich betrat der städtische Medicus die Siechenstube, der dafür sorgen sollte, dass die Körpersäfte der Kranken wieder ins Gleichgewicht gerieten. Enttäuscht und erleichtert zugleich steckte Lina den Löffel ein weiteres Mal in den Brei und schob ihn Agnes in den Mund.

Kapitel 6

Der Tag neigte sich dem Ende zu und die Bisswunden an Linas Schulter und Bein schmerzten wieder heftiger. Zusammen mit einer anderen Magd und der Meisterin kümmerte sie sich um das Wohl der Insassen der Siechenstube, bis die Glocke der Spitalkapelle zur Vesper rief. In einer ruhigen Minute war sie dazugekommen, ihr zerfetztes Kleid auszubessern und die eigenen Verbände zu wechseln, die immer noch blutig waren. Sowohl die Wunde an ihrer Wade als auch die an ihrer Schulter hatte Eiter gebildet, der, wie sie wusste, wichtig für die Heilung war. Durch ihn wurden die schädlichen Gifte aus ihrem Körper ausgeschieden, die durch die scharfen Zähne der Hunde hineingelangt sein konnten. Zu ihrer grenzenlosen Erleichterung verspürte sie nach wie vor keinen brennenden Durst, und das Rauschen des Brunnenbachs flößte ihr keine Furcht ein.

Zusammen mit den übrigen Insassen und Bediensteten machte sie sich auf den Weg zur Kapelle, während die Sonne hinter den Türmen der Stadtmauer versank. Die Luft war kühl und erfüllt vom Duft der Küche, der Lina das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ. Ein halbes Dutzend Fuhrwerke stand bei den Ställen, außerdem einige Hand- und Sackkarren. Das schwere Tor war bereits geschlossen worden, um zu verhindern, dass sich kurz vor Einbruch der Nacht Bettler ins Spital schlichen. Seit einiger Zeit schienen immer mehr Menschen um Almosen zu bitten, obwohl die Stadt eine Kennzeichnungspflicht eingeführt hatte, die vom »Schiermeister«, dem Bettelmeister, überprüft wurde. Wer keine Bettelmarke besaß, wurde der Stadt verwiesen. Fremde durften sich höchstens drei Tage in Augsburg aufhalten. Wer beim unerlaubten Betteln aufgegriffen wurde, landete im Loch, wo er ausharren musste bis zum Gallustag im Herbst, an dem alle schändlichen Leute vom Henker aus der Stadt gejagt wurden. Die Stärksten verpflichtete der Rat zur Zwangsarbeit an der Stadtbefestigung oder zum Pflastern der Straßen.

Als das Läuten der Glocke allmählich leiser wurde, drängte Lina sich in die Kapelle, die kaum genug Platz bot für die zweihundertfünfzig Bewohner des Spitals. Das Innere wirkte im Kerzenschein noch beengter als sonst, was aber vermutlich daran lag, dass sie wegen ihrer Verletzungen auf Abstand bedacht war. Während die Insassen sich leise murmelnd einen Platz suchten, legte Lina die Hände zusammen und fing an, die als Buße auferlegten Paternoster zu beten.

Sie war kaum beim dritten Vaterunser angekommen, als Gunda neben ihr auftauchte.

»Du bist ja noch da«, flüsterte sie gespielt verwundert.

Lina würdigte sie keines Blickes.

»Ich hätte wetten können, der Spitalmeister wirft dich raus«, fügte Gunda hinzu.

»Wetten und Glücksspiel sind verboten«, entgegnete Lina trocken und wandte sich von Gunda ab, um sich einen anderen Platz zu suchen. Sie hatte keine Lust, die ganze Vesper über neben dieser dummen Gans zu stehen.

Gunda schickte ihr einen Blick aus zusammengekniffenen Augen hinterher, ehe sie ein frommes Gesicht aufsetzte und den Kopf senkte.

Kurz darauf begann der Kaplan mit der Eröffnung des Stundengebets, dem Hymnus; Psalmen und Schriftlesung folgten. Bereits beim Magnifikat tat Linas Bein so weh, dass sie kaum mehr stehen konnte. Als der Kaplan endlich den Segen sprach, sandte sie ein Dankgebet zum Himmel.

Der Strom der schwarz gekleideten Bewohner setzte sich langsam in Bewegung. Als Lina endlich ins Freie trat, verschwanden die Ersten bereits in dem flachen Gebäude, in dem sich der Speisesaal befand, der einem klösterlichen Refektorium ähnelte. Die Kleidung aller Insassen war aus demselben Tuch gefertigt, dennoch stachen die wohlhabenden Pfründner aus der Menge heraus, da im Speisesaal eine strikte Sitzordnung herrschte. Wer dem Spital genügend Besitz vermachen konnte, durfte am Herrentisch Platz nehmen, an dem auch der Spitalmeister und seine Gemahlin saßen. Die übrigen Bewohner mussten sich mit den Knechttischen begnügen.

Darauf bedacht, so weit wie möglich vom Herrentisch und den strengen Augen des Magister Hospitalis entfernt zu sein, suchte Lina sich einen Platz am hintersten Ende des Raums, wo sie begann, die auferlegten Ave-Maria aufzusagen. Bald fielen die Pfründner in die Gebete mit ein, bis das Essen aufgetragen wurde. Lina begnügte sich mit Haferbrei, ihre Tischnachbarn erhielten Brot, Suppe, Kraut und Rüben sowie ein Stück fettes Fleisch, das in einer dicken Soße schwamm. Der Duft war so betörend, dass es Lina fast übermenschliche Kraft kostete, nicht zu sündigen.

Während um sie herum geschmatzt und mit Löffeln gekratzt wurde, aß sie ihren Haferbrei und versuchte, nicht aufzufallen. Nach dem Essen machte sie sich auf den Weg zu ihrer Kammer, um so früh wie möglich schlafen zu gehen. Sie fühlte sich wie erschlagen.

Zwei der Mägde, mit denen sie sich die Kammer teilte, kamen kurze Zeit später, und als Lina sich nach dem Beten der restlichen Paternoster entkleidete, um unter die dünne Decke zu schlüpfen, schnarchte eine von ihnen bereits.

Der nächste Morgen brachte ein heftiges Frühlingsgewitter. Bereits vor Sonnenaufgang grollte Donner in der Ferne, der Lina aus einem unruhigen Schlaf aufschrecken ließ. Durch die Ritzen zwischen den Fensterläden konnte man die Blitze sehen, die über den Nachthimmel zuckten. Um die anderen Mägde nicht zu stören, zog sie sich im Dunkeln an, kniete sich vors Bett und sagte ihre Buße auf, bis Leben in die Stube kam. Unter dem Trommeln des Regens auf die Dächer der Spitalgebäude nahm sie an Stundengebet und Frühstück teil, ehe sie sich schließlich auf den Weg in die Siechenstube machte, um ihr Tagwerk zu beginnen.

»Lina«, wurde sie von der Siechenmeisterin begrüßt. Die Meisterin bedeutete Lina, ihr zu dem Teil des Gebäudes zu folgen, in dem sich die Badestuben befanden. »Mach Wasser warm und richte die Zuber her!«, trug sie ihr auf. »Es ist Badetag. Außerdem kommen heute der Medicus und Meister Ulrich zur Musterung. Wer nicht mehr zu schwach ist zum Arbeiten, muss die Stube verlassen.«

Bei der Erwähnung von Meister Ulrich beschleunigte sich Linas Herzschlag. Darauf bedacht, sich nichts anmerken zu lassen, nickte sie, nahm zwei Eimer und eilte zum Brunnenbach, der durch den heftigen Regenguss angeschwollen war. Es dauerte eine halbe Stunde, bis der große Kessel in der Mitte der Badestube gefüllt war und das Feuer darunter brannte. Als das Wasser warm genug war, schöpfte sie es in die Zuber und setzte die Meisterin darüber in Kenntnis, dass das Bad bereit war.

Zu Linas Ärger wies die Meisterin Gunda und eine andere Magd an, ihr beim Baden der Kranken zu helfen. »Beeilt euch! Sie müssen fertig sein, bis der Medicus kommt.«

»Kommt Meister Ulrich auch?«, fragte Gunda scheinheilig mit einem Blick in Linas Richtung, sobald die Meisterin außer Hörweite war.

Lina zuckte mit den Schultern. »Woher soll ich das wissen?«

»Er ist ein guter Arzt«, mischte sich eine alte Frau ein, der Lina auf dem Weg zur Badestube behilflich war. »Und ein guter Christenmensch.«

Lina verkniff sich eine Antwort, half der Alten und sieben weiteren Pfründnerinnen in einen der Zuber und seifte sie mit einem weichen Schwamm ab. Entschlossen, nicht auf Gundas Sticheleien einzugehen, verrichtete sie ihre Arbeit schweigend und ließ ihre Gedanken zu Ulrich abschweifen.

Eine Stunde später – der letzte Pfründner war gerade abgetrocknet und zu seinem Lager gebracht – erschienen der städtische Medicus und Ulrich, anscheinend in ein Streitgespräch vertieft.

»Lass es!«, hörte Lina den Medicus hitzig sagen. »Damit würdest du mir in die Kur pfuschen!«

»Ich halte deine Arznei in diesem Fall für nicht hilfreich«, gab Ulrich zurück.

»Du kümmerst dich um die äußeren Gebrechen, ich mich um die inneren«, knurrte der Arzt. Er war etwas älter als Ulrich, klein und untersetzt. Sein feines Blondhaar hing bis auf den Kragen seines Rockes. Anders als Ulrich hatte er schlanke Hände mit langen Fingern, die Lina stets an eine Spinne erinnerten. Sein Harnglas trug er wie einen Schild vor sich her.

»Er leidet nicht an einem Ungleichgewicht der Körpersäfte«, hielt Ulrich dagegen. »Er hat einen Blasenstein! Und ein Blasenstein fällt in meine Zuständigkeit, das weißt du ganz genau.«

»Solange kein Blut im Urin zu finden ist …«

Es war Ulrich deutlich anzusehen, wie ungehalten ihn die Diskussion machte. »Wie du meinst«, sagte er verärgert. »Ich hoffe, du behältst recht. Ich möchte ihn mir trotzdem noch mal ansehen.«

»Wenn du deine Zeit verschwenden willst, bitte.« Der Medicus ließ ihn stehen und ging zu dem Bett, das der Tür am nächsten war. Dort zog er den Nachttopf des Kranken heran und fing an, den Inhalt zu begutachten.

Ulrich, auf dessen Stirn eine zornige Falte lag, wandte sich von ihm ab und steuerte auf Lina zu. Als er sie bemerkte, hielt er mitten im Schritt inne. Ihr Anblick schien dieselbe Wirkung auf ihn zu haben wie der seine auf sie.

»Wie fühlst du dich?«, fragte er nach einigen Augenblicken, in denen weder er noch Lina zu wissen schienen, wohin sie sehen sollten.

»Besser«, sagte sie mit einer Stimme, die zu ihrem Verdruss belegt klang. »Die Wunden eitern.«

»Das ist gut.« Er warf einen Blick über die Schulter, als wollte er sich vergewissern, dass niemand sie belauschte. »Ich sehe sie mir nachher an. Vorher muss ich mich um einen armen Teufel mit einem Blasenstein kümmern.« Er zögerte einen Moment. »Könntest du mir vielleicht zur Hand gehen?«

Lina unterdrückte mit Mühe die Freude, die in ihr aufstieg. »Natürlich. Dafür bin ich ja da.«

»Gut.« Er zeigte in den Teil der Siechenstube, in dem die Männer untergebracht waren. »Er liegt dort drüben.«

Kapitel 7

Herrgott noch mal!, dachte Ulrich, ärgerlich über sich selbst. Benimm dich nicht wie ein Kind! Es kostete ihn Mühe, in Linas Gegenwart nicht zu grinsen wie jemand, der in ein Narrenkleid gesteckt gehörte. Ein Blick in ihr Gesicht verriet ihm, dass sie weder unter Fieber noch unter der Tollwut litt, vielmehr ließen ihre rosigen Wangen auf etwas ganz anderes schließen. Vielleicht redete er es sich nur ein, aber er hatte den Eindruck, dass sie ihn mochte.

»Was soll ich tun?«, fragte sie.

»Das kommt darauf an, wie es ihm geht.« Obwohl der Medicus behauptete, kein Blut im Urin des armen Kerls gefunden zu haben, war Ulrich fest davon überzeugt, dass der Mann einen Steinschnitt benötigte. Er litt seit Tagen entsetzliche Schmerzen, gegen die Ulrich ihm bereits ein Lithotriptikum, ein steinlösendes Mittel, verabreicht hatte. Dieses Mittel hatte er in einer der Badestuben der Stadt zubereitet, wo er all seine Arzneien kochte. Es bestand aus getrocknetem Taubenmist, der zu Pulver zerstoßen und danach drei Tage in Essig eingelegt wurde. Außerdem enthielt der Trank Wilde Raute, Engelsüß mit Kraut und Wurzel sowie scharfen Mauerpfeffer. Verabreichte man die Mixtur zwei Mal am Tag, bestand die Möglichkeit, dass der Stein sich auflöste oder in kleine Teile zerbrach, die schonend abgingen. Da es bisher keinen Erfolg gezeigt hatte, fürchtete Ulrich um das Leben des ehemaligen Ratsherrn, sollte der Blasenstein nicht entfernt werden. Er bedeutete Lina, ihm zum Lager des Kranken zu folgen.

Der alte Mann begrüßte ihn mit einem gequälten Lächeln.

»Wie geht es dir heute?«, erkundigte sich Ulrich.

»Es tut weh«, stöhnte der Greis. »Und ich kann kein Wasser mehr lassen.«

Ulrich zog die Brauen hoch. »Seit wann?«

»Seit gestern Mittag.«

»Das ist nicht gut«, murmelte Ulrich. Ein Harnstau war stets ein schlechtes Zeichen. Verblieb der Harn zu lange im Körper, bestand die Gefahr, dass die Nieren versagten. Er spürte Linas Blick auf sich und fasste einen Entschluss. Ganz gleich, was der Medicus sagte, dieser Kranke benötigte einen sofortigen Steinschnitt. Falls er starb, weil Ulrich gezögert hatte, würde er sich das nie verzeihen. Soll der Medicus sich beim Rat über mich beschweren!, dachte er und stellte die Tasche ab, die er immer bei sich trug. »Kannst du dich auf den Rücken legen?«, fragte er den Kranken.

»Ich helfe«, bot Lina an und fasste den Greis bei den Schultern.

»Bleib bei ihm«, bat Ulrich und eilte zu einer Kammer, in der eigens für diesen Zweck ein Gestell aufbewahrt wurde, mit dem die Beine eines Kranken gestützt werden konnten. Steinschnitte waren keine Seltenheit im Spital. Als er zum Lager zurückkehrte, hielt Lina dem Alten die Hand und sprach ihm Trost zu. Einen Augenblick lang kamen Ulrich Zweifel, ob es richtig war, sie zu bitten, ihm zu helfen, da ihm bei derlei Operationen für gewöhnlich Knechte zur Hand gingen. Allerdings blieb keine Zeit, sich um Anstand oder Schicklichkeit zu kümmern. Wenn er den Schnitt nicht so schnell wie möglich ausführte, war es vielleicht zu spät.

Er schlug alle Bedenken in den Wind. »Bring mir Wein!«, trug er Lina auf. Als sie kurz darauf mit dem Gewünschten zurückkehrte, holte er eine Flasche Mohnsaft aus seiner Tasche und gab ein paar Tropfen davon in den Becher.

»Hast du gebeichtet?«, fragte er den Kranken.

Der Mann nickte schwach.

»Flöß ihm das ein!«, wies Ulrich Lina an.

Linas Hand zitterte ein wenig, als sie den Becher entgegennahm.

»Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln. Er weidet mich auf grüner Aue«, murmelte der Kranke zwischen den Schlucken. Seine Hand umklammerte ein Kruzifix.

Während Ulrich darauf wartete, dass der Mohnsaft Wirkung zeigte, bereitete er seine Instrumente vor. Um den Stein erfolgreich zu entfernen, benötigte er eine Zange und ein Lithotom, ein langes, gebogenes Messer.

Allmählich wurde die Stimme des alten Mannes leiser, bis sie ganz verstummte.

»Ich glaube, er schläft jetzt«, stellte Lina fest.

»Gut.« Mit geübten Handgriffen richtete Ulrich das Gestell auf und legte die Unterschenkel des alten Mannes darauf, sodass er freien Zugang zu dessen After hatte. Lina blieb am Kopfende des Bettes, um zu verhindern, dass der Kranke aufwachte, und Ulrich fing an, den Unterbauch des Patienten zu kneten. Dadurch gelangte der Stein in den Blasengrund, wo Ulrich ihn mit durch den After eingeführtem Zeige- und Mittelfinger fixierte.

Der Kranke gab ein Stöhnen von sich.

»Er darf sich nicht bewegen«, warnte Ulrich. Nach einem kurzen Blick in das erschlaffte Gesicht des Greises drückte er den Stein kräftig gegen den Damm, bis er sich als Wölbung unter der Haut abzeichnete. Dann nahm er das lange Messer und machte einen Dammschnitt.

Wenig später hielt er den taubeneigroßen Übeltäter in der Hand.

»Was treibst du da?«, ertönte die empörte Stimme des Medicus, kaum hatte Ulrich den Stein weggelegt, um das Gestell zu entfernen.

Ulrich säuberte seine Hände an einem Tuch und richtete sich auf. »Ich rette ihm das Leben.«

»Hatte ich nicht gesagt …«, hob der Medicus an.

»Du hast dich geirrt«, fiel Ulrich ihm ins Wort und hielt ihm den Blasenstein vor die Nase. »Er hatte bereits einen Harnstau. Hätte ich länger gewartet, wäre er morgen vermutlich nicht mehr aufgewacht.«

Die Farbe wich aus dem Gesicht des Medicus. Er öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, schloss ihn jedoch wieder und rauschte wortlos davon.

»Eingebildeter Geck«, brummte Ulrich, der sich nicht das erste Mal über den Medicus ärgerte. Nur weil er an einer Universität studiert hatte, glaubte der Wichtigtuer, der bessere Arzt zu sein. Dabei hatte Ulrich den Eindruck, dass es weitaus fähigere Bewerber für den Posten des städtischen Medicus gegeben hätte. Allerdings stammte der Kerl aus einer feinen Familie, die mehr Einfluss hatte als die gesamte Zunft der Bader und Wundärzte zusammen.

Er säuberte seine Instrumente und verstaute sie wieder in der Tasche. »Da drüben ist ein freies Lager«, sagte er an Lina gewandt. »Ich will mir deine Wunden ansehen.«

*

Mit aufeinandergepressten Lippen verfolgte Gunda, wie Lina sich auf eines der Betten legte und ihre Röcke nach oben zog. Meister Ulrich, dessen Gesicht sie nicht sehen konnte, beugte sich über sie und löste ihre Verbände. Hoffentlich bekommt sie Wundbrand!, dachte Gunda feindselig, da ihre Abneigung gegen Lina seit ihrer Begegnung in der Kapelle noch zugenommen hatte. Wofür hielt sich dieses dahergelaufene Weibsbild eigentlich? Der Spitalmeister hätte besser daran getan, sie rauszuwerfen.

Sie verzog verächtlich den Mund. Vermutlich hatte diese Hure in seiner Gegenwart genauso schamlos die Röcke gehoben, um sich seine Milde mit dem Einzigen zu erkaufen, was sie besaß. Gundas Ansicht nach war sie nicht viel besser als die Weiber in den Hurenhäusern vor dem Gögginger Tor. Der Fleiß und die Frömmigkeit, die Lina stets allen vormachte, konnten Gunda nicht täuschen. Sie wusste genau, aus welchem Holz das Weibsbild geschnitzt war.

Obwohl genug Arbeit auf sie wartete, gab sie vor, einer der alten Frauen das Kissen aufzuschütteln und das Laken zu glätten, während sie in Linas Richtung schielte.

»Die Wunden verheilen gut«, hörte sie Meister Ulrich sagen. »Du hast wirklich unglaubliches Glück gehabt.«

»Gott hat mich beschützt«, antwortete Lina.

Gott hat mich beschützt, äffte Gunda sie in Gedanken nach. Wieso sah keiner außer ihr, dass die Frömmigkeit nur aufgesetzt war? Lina war wie ein wurmstichiger Apfel. Außen ansehnlich und rosig, innen faul und verdorben.

»Wo bist du denn mit deinen Gedanken, Kind?«, unterbrach die alte Frau ihr Grübeln. »Wenn du weiter an dem Laken ziehst, zerreißt es.«

Gunda wandte hastig den Blick von Lina und Meister Ulrich ab. Sie ließ das Laken los, richtete sich auf und beschloss, die beiden weiterhin im Auge zu behalten. Sollte sich weiterentwickeln, was sie vermeinte zu sehen, würde sie die Siechenmeisterin darüber in Kenntnis setzen. Liebeleien waren im Spital strengstens verboten. Der Meisterin würde keine andere Wahl bleiben, als endlich zu tun, was nötig war.

Dieser Vorsatz sorgte dafür, dass sich Gundas Laune schlagartig besserte. Hatte sie das vertrauliche Beieinander von Lina und Meister Ulrich zuvor verdrossen, so hoffte sie jetzt, dass die beiden bald einen Schritt weitergehen würden. So wie er sie ansah, konnte es nicht mehr lange dauern. Mit einem Lächeln kehrte sie dem Lager der Kranken den Rücken und nahm sich vor, sich in den nächsten Tagen besonders anzustrengen, um die Gunst der Siechenmeisterin zu erlangen. Dann würde die Alte ihre Anschuldigungen hoffentlich nicht infrage stellen.

Kapitel 8