Die Begine und der Turm des Himmels - Silvia Stolzenburg - E-Book

Die Begine und der Turm des Himmels E-Book

Stolzenburg, Silvia

4,0

Beschreibung

Ulm im Jahre 1413. Die Begine Anna Ehinger wähnt sich kurz vor der erträumten Zukunft mit Siechenmeister Lazarus, da stürzt auf der Münsterbaustelle ein Steinmetz von einem Gerüst und erliegt im Spital seinen Verletzungen. Das Unglück ist der Auftakt zu einer Serie von Unfällen, die den Bau des umstrittenen Münsters heimsuchen. Die Beginensammlung wird zum Sündenbock, sie soll den Zorn Gottes über die Stadt gebracht haben. Anna, die um die Beginen fürchtet, beschließt, der Sache auf den Grund zu gehen, und gerät bald selbst in höchste Gefahr …

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 307

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
4,0 (1 Bewertung)
0
1
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Silvia Stolzenburg

Die Begine und der Turm des Himmels

Historischer Kriminalroman

Impressum

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Autoren- und Projektagentur Gerd F. Rumler (München)

Immer informiert

Spannung pur – mit unserem Newsletter informieren wir Sie

regelmäßig über Wissenswertes aus unserer Bücherwelt.

Gefällt mir!

 

Facebook: @Gmeiner.Verlag

Instagram: @gmeinerverlag

Twitter: @GmeinerVerlag

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2022 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Daniel Abt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung der Bilder von: Elnur / shutterstock; https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Uhr_Ulmer_Münster.jpg; https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Workshop_of_Rogier_van_der_Weyden_(Netherlandish_-_The_Dream_of_Pope_Sergius_-_Google_Art_Project.jpg

ISBN 978-3-8392-7204-6

Widmung

Für Surkus-Effan

Kapitel 1

Ulm, Anfang April 1413

Der milde Frühlingsmorgen war noch jung, als der Spielmann Gallus seine Sackpfeife schulterte und die billige Absteige verließ, in der er eine Kammer gemietet hatte. Die Sonne schien hinter dünnen Wolkenschleiern hervor, im Efeu, der das Fachwerk umrankte, schimpften die Spatzen. Gallus’ Laune war auf dem Tiefpunkt, da er sich am vergangenen Abend wider besseres Wissen auf ein Karnöffelspiel eingelassen hatte. Trotz einiger falscher Karten im Ärmel war ihm von den drei Metzgerburschen fast die Haut abgezogen worden. Außerdem hatte er zu viel von dem sauren Wein gebechert, was ihm nun einen veritablen Kater bescherte.

»Du bist ein Narr!«, schalt er sich, während er seiner Unterkunft den Rücken kehrte, um einen Platz zu finden, an dem er aufspielen konnte. Noch vor einem halben Jahr hatte er einer rosigen Zukunft entgegengesehen. Nach der Eselei, auf die er sich törichterweise eingelassen hatte, war er jedoch nicht nur den Posten des Stadtpfeifers los; er hatte auch einen Großteil des ergaunerten Geldes für eine gewaltige Buße ausgeben müssen, um sich von einer empfindlichen Leibstrafe freizukaufen. Der Hauptmann der Wache hatte ihn mit deutlichen Worten gewarnt. Wenn er Gallus noch einmal bei etwas Unredlichem erwische, würde er ihn eigenhändig aus der Stadt prügeln.

»Macht Platz!«, herrschte er eine Gruppe Gassenjungen an, die sich barfuß vor einem Zuckerbäcker herumdrückten.

»Du hast uns gar nichts zu sagen!«, war die freche Antwort der Rotznase, die sich für den Anführer hielt.

Gallus’ Hand zuckte, aber die Bengel waren den Ärger nicht wert, den er sich einhandeln würde, wenn er einem von ihnen das Fell gerbte. Mit einem grimmigen Blick versetzte er dem Burschen einen Stoß und ging weiter, ohne auf das Geschrei zu achten, das sich in seinem Rücken erhob. Er hatte Wichtigeres zu tun, als sich mit Bettelknaben zu prügeln. Wenn er an diesem Tag nicht hungrig ins Bett gehen wollte, musste er dringend zusehen, dass etwas Geld in seine Kasse kam.

Da der Marktplatz vor dem Rathaus noch verwaist war, beschloss er, sich zum Münsterplatz aufzumachen, um dort zu spielen. Den Frommen saßen die Geldkatzen locker, weil sie glaubten, sich mit Almosen ihr Seelenheil erkaufen zu können. Gallus war gleich, warum man ihn bezahlte, Hauptsache, er ging nicht mit leeren Taschen und leerem Magen nach Hause.

Vorbei an der Gräth, dem städtischen Waag- und Zollhaus, und dem Holzmarkt schlenderte er nach Norden. Die Glocke des Rathauses schlug die volle Stunde, als er an dem imposanten, bunt bemalten Gebäude vorbeilief. Kurz darauf gesellte sich die Glocke der Frauenkirche hinzu, des gewaltigen Münsters, das schon aus dem Umland zu sehen war. Trotz der frühen Stunde wurde an dem riesigen Bauwerk bereits fleißig gearbeitet, damit die Dächer der Seitenschiffe endlich fertig wurden. Der weiße Kalkstein warf das trübe Sonnenlicht zurück, die Werkzeuge der Steinmetze und Bildhauer blitzten gelegentlich auf. Das Geräusch von Metall auf Stein war weithin zu hören und wurde lauter, je näher Gallus der Baustelle kam. Das Läuten der Glocke schwoll zu einem gewaltigen Lärm an, und er legte den Kopf in den Nacken, um nach oben zu blicken. Dort schleppten Mörtelträger ihre Lasten über Laufschrägen in schwindelerregende Höhen, scheinbar unbeeindruckt vom Heulen des Windes. Wohin man sah, klopften, zimmerten und hämmerten Handwerker, derweil der Ofen der Ziegelbrenner schwarzen Rauch in die Luft spuckte. Seit dem Ende des langen und eisigen Winters schienen sich die Bauarbeiten auf den Westturm zu konzentrieren, dessen Errichtung die Gemüter in der Stadt erhitzte. Die einen waren des Lobes voll, da der Baumeister einen Turm von nie dagewesener Höhe versprochen hatte, andere fürchteten sich vor Gottes Zorn.

»Denkt daran, was in Babel geschehen ist«, hatte Gallus kürzlich jemanden unken hören. »Es ist Frevel, Gott gleichkommen zu wollen!«

»Der Turm soll Gott ehren«, hatte ein anderer entgegengehalten. »Was sollte Gott daran auszusetzen haben?«

»Es ist vermessen.«

Bis jetzt konnte Gallus allerdings nichts Vermessenes an dem Turm erkennen, dem bis zu der geplanten Höhe noch viel fehlte. Nur die Vorhalle, das Erdgeschoss und das erste Obergeschoss waren abgeschlossen, da es auch an anderen Stellen viel zu tun gab. In den Laufrädern von einem Dutzend Galgenkränen schwitzten junge Burschen, und Gallus zog den Kopf ein, als dicht über ihm ein gewaltiger Holzbalken durch die Luft geschwungen wurde.

»Passt doch auf!«, knurrte er und sah sich nach einem Platz um, an dem er nicht Gefahr lief, von einem herabfallenden Stein oder einer Maurerkelle erschlagen zu werden.

Er hatte gerade eine Nische entdeckt und seine Sackpfeife von der Schulter genommen, da ertönte über ihm ein gellender Schrei. Ehe er begriff, was geschah, hörte er ein knackendes Bersten und keine vier Schritte von ihm entfernt schlug ein Körper auf dem Boden auf.

Kapitel 2

Die Begine Anna Ehinger hob den Kopf und legte ihn schräg, um besser hören zu können. War das ein Schrei gewesen? Sie kniete im Inneren der Münsterkirche vor einem der hölzernen Ständer, in dem sie ein Opferlicht entzündet hatte, um für Lazarus zu beten. Inzwischen war fast ein halbes Jahr vergangen, seit der Kindermörder von Ulm überführt worden war, doch das, worauf sie kurzfristig zu hoffen gewagt hatte, schien von Tag zu Tag unwahrscheinlicher zu werden. Zwar hatte der Heilig-Geist-Orden Lazarus nicht zurück nach Rom beordert, aber das war ein schwacher Trost. Unzählige Male hatte Annas Bruder, der vom Rat bestellte Pfleger des Spitals, sein Angebot dem Magister Hospitalis gegenüber wiederholt – ohne Erfolg. Es hatte den Anschein, als ob Lazarus seinen Orden niemals würde verlassen können, weshalb Anna immer noch die Tracht der Beginen trug. Solang eine Ehe mit Lazarus unmöglich war, gab es nur eine Alternative: Sie würde Gott demütig und gehorsam dienen, wie es sich für eine Begine ziemte.

Ein weiterer Schrei drang an ihr Ohr.

Obwohl die Meisterin der Beginensammlung nicht müde wurde zu wiederholen, dass die Neugier einer frommen Frau nicht gut zu Gesicht stand, zog es Anna wie von Zauberhand auf die Beine. Zu den Schreien gesellten sich laute Rufe und ein ohrenbetäubendes Krachen. Was war da draußen los? Sie beendete hastig ihr Gebet, bekreuzigte sich und beschloss nachzusehen. Gewiss würde Gott Verständnis haben für diesen winzigen Fehltritt, nachdem sie die Wochen vor Ostern in der Hostienbäckerei geschwitzt hatte. Wie jedes Jahr waren die Beginen während der Fastenzeit dazu verpflichtet gewesen, Tausende von kleinen und großen Oblaten an die Frauenpfarrei und das Predigerkloster zu liefern. Als wäre das nicht genug, wurden zudem mehrere Dutzend Kisten nach Italien verschifft. Da der Spitalmeister des Heilig-Geist-Spitals Anna nicht mehr erlaubte, sich um die Kranken in der Siechenstube zu kümmern, hatte die Meisterin der Beginensammlung ihr die Aufsicht über die Backstube erteilt. Einerseits war das Vertrauen schmeichelhaft, andererseits verzehrte Anna sich danach, Lazarus wiederzusehen. Lediglich die Wöchnerinnen und Pfründner durfte sie mit ihren Arzneien versorgen, für die Kranken war eine der anderen Schwestern eingeteilt worden.

»Sichert das Gerüst!«, hörte sie jemanden rufen, als sie zur Kirchenpforte eilte.

»Vorsicht!«

»Es fällt gleich noch mehr ein!«

Anna trat ins Freie und folgte den Handwerkern, die alles stehen und liegen ließen, um zum Seitenschiff zu laufen, wo eines der Stangengerüste in Stücken am Boden lag. Schnell war sie inmitten einer Gruppe von Männern, die entsetzt auf etwas starrten, das Anna nicht sehen konnte.

»Gütiger Jesus!«, keuchte ein Steinmetz.

»Gott sei seiner armen Seele gnädig!«, murmelte ein weiterer.

Ein Laufbursche mit einem dunklen Schopf trat von einem Fuß auf den anderen und bekreuzigte sich immer wieder. Sein Blick wirkte wirr und abwesend.

»Steht nicht rum wie die Ölgötzen! Holt den Wundarzt!«, brüllte ein Mann, an dessen Kleidung zu erkennen war, dass es sich um keinen einfachen Arbeiter handelte.

Ohne nachzudenken, zwängte Anna sich zwischen den hochgewachsenen Männern hindurch. »Vielleicht kann ich helfen.«

Der Gutgekleidete hob den Kopf und sah sie stirnrunzelnd an. »Eine Begine«, stellte er fest. »Warum nicht?« Er winkte sie zu sich.

Als Anna die Stelle erreichte, an der er auf dem Boden kniete, holte sie entsetzt Luft.

Einer der Arbeiter musste aus großer Höhe gestürzt sein, da seine Glieder zerschmettert waren. Um seinen Kopf herum breitete sich Blut aus, seine Brust hob und senkte sich nur schwach.

»Heilige Muttergottes!«, hauchte sie.

»Kannst du was für ihn tun?«, fragte der Mann, den Anna erst jetzt als Hans Kun erkannte, den Kirchenmeister und Schwiegersohn Ulrichs von Ensingen, der in dessen Abwesenheit den Bau an der Münsterkirche leitete. Jeder in Ulm kannte die beiden einflussreichen Baumeister, deren Turmbau auch im Spital für Diskussionen sorgte. Einige Mitglieder des Rates fürchteten, dass Gott die Ulmer genauso für ihren Frevel bestrafen könnte wie die Babylonier. Andere hingegen waren der Ansicht, dass mit dem Bauwerk Gott besser gehuldigt wurde als irgendwo anders im Land. Auch die Beginen hatten sich schon öfter darüber unterhalten, da die Meisterin und einige andere die Meinung der Mahner teilten.

»Ich kann für ihn beten«, sagte Anna.

»Mehr nicht?« Hans Kun verzog das Gesicht. »Besser als gar nichts«, brummte er, erhob sich und lief zu dem, was von dem Gerüst übrig geblieben war.

Anna kniete sich neben den Verletzten auf den Boden und sah aus dem Augenwinkel eine bunt gekleidete Gestalt, die sie sofort erkannte. Gallus! Was hatte der hier zu suchen? Sie verfolgte unter gesenkten Augenlidern hindurch, wie er sich in eine Nische drückte und versuchte, sich davonzuschleichen. Hatte eretwas mit dem furchtbaren Unfall zu tun? Selbst aus der Entfernung war zu erkennen, dass er totenbleich war. Vermutlich hatte er vor der Kirche aufspielen wollen und war von dem Unglück genauso überrascht wie alle anderen. Obwohl er ein Bruder Leichtfuß war, jemand, der es mit den Gesetzen nicht allzu genau nahm, konnte sie sich nicht vorstellen, dass er seine Hände im Spiel gehabt hatte. Warum auch? Sicher waren die Gerüste nicht so zerbrechlich, dass sie einfielen, wenn man sich aus Versehen daran lehnte oder Gott weiß was darunter trieb.

»Anna?«

Die Stimme ihres Bruders ließ sie aufschrecken. Er war vermutlich auf dem Heimweg in den Mailand gewesen, die Straße, in der sich sein Haus befand, und musste von der Menschenmenge angezogen worden sein. »Was bei allen Heiligen geht hier vor?« Er fasste sie beim Arm und zog sie auf die Beine. »Was hast du damit zu tun?« Sein Blick wanderte zu dem Verletzten, der ein leises Stöhnen von sich gab.

»Ich war in der Kirche«, entgegnete Anna.

»Und dir ist nichts Besseres eingefallen, als dich mitten auf den Münsterplatz zu knien und die Aufmerksamkeit der ganzen Welt auf dich zu ziehen?« Auf Jakobs Stirn pochte eine Ader. Der Mann am Boden schien ihn nicht zu interessieren.

»Die ganze Welt ist wohl ein bisschen übertrieben«, gab Anna zurück. »Jemand muss für ihn beten.«

»Das kann jemand anders übernehmen!« Jakob wollte sie wegziehen, doch sie machte sich von ihm los.

»Ich bin immer noch eine Begine!«

Jakob blies die Wangen auf. »Wie könnte ich das vergessen?« Er hob beschwichtigend die Hände. »Sei vernünftig. Du kannst nichts für ihn tun.«

»Ich fürchte, damit habt Ihr recht«, ließ sich der Wundarzt vernehmen, der in diesem Moment mit Begleitern und einer Trage angelaufen kam. »Das sieht nicht gut aus.« Er war ein vierschrötiger Mann mit einem Gesicht wie von einem schlechten Steinmetz gehauen. Sein Mund war schmallippig und hart, die Augen durchdringend. Nicht nur Anna fürchtete sich vor ihm, da seine bevorzugten Heilmittel Brenneisen, Pflaster und Buße waren. Wo er auftauchte, brachte er Schmerz mit. Er ging in die Hocke, um die Glieder des Verletzten zu betasten.

Das Stöhnen verwandelte sich in einen schwachen Schrei.

»Hebt ihn auf die Trage!«, befahl der Wundarzt seinen Helfern. »Wir müssen ihn ins Spital schaffen.«

»Was soll das bringen?«, fragte Hans Kun. »So einen Sturz kann kein Mensch überleben.«

»Mag sein«, erwiderte der Wundarzt. »Aber noch ist er nicht tot.« Mit einem Nicken gab er seinen Helfern noch einmal zu verstehen, den Mann auf die Trage zu heben.

»Du bleibst hier!«, befahl Jakob, als Anna Anstalten machte, sich dem Wundarzt anzuschließen.

»Aber …«

Jakob schnitt ihr mit einer Geste das Wort ab. »Versprich mir, dass du deine Nase nicht in Angelegenheiten steckst, die dich nichts angehen!«

»Er braucht Hilfe!«

»Nicht von dir!«

»Jakob!«, empörte sie sich.

Ihr Bruder hörte nicht auf sie, packte sie erneut beim Arm und zog sie weg vom Geschehen.

»Was soll das?«, schimpfte sie.

»Willst du dir schon wieder Ärger einhandeln?«, zischte er.

»Wieso Ärger? Ich will für ihn beten!«

»Du ziehst die Aufmerksamkeit auf dich. Und damit auch auf mich!«

Anna begriff. Jakob hatte Angst um seinen guten Ruf und sein Fortkommen im Rat. Es war ihm schon lange ein Dorn im Auge, dass seine Schwester eine Begine war. Nicht nur die Zisterzienser und die anderen in der Stadt ansässigen Mönche brachten den Beginen Misstrauen entgegen, wenn nicht gar Hass, seit auf dem Konzil von Vienne vor beinahe einhundert Jahren das Beginentum offiziell verboten worden war, weshalb Anna und ihre Mitschwestern vielen Geistlichen als Ketzerinnen galten. Auch viele Ratsmitglieder hätten es gern gesehen, wenn der Besitz der wohlhabenden Beginensammlung in die Hand der Ulmer übergehen würde, obwohl sich die Schwestern den Barfüßern angeschlossen hatten.

»Es ist meine Pflicht«, protestierte Anna.

»Himmelherrgott!«, schimpfte Jakob. »Deine einzige Pflicht ist es, an die Zukunft deiner Familie zu denken!«

Kapitel 3

Anna spürte Wut in sich aufsteigen. Die Worte ihres Bruders schmerzten umso mehr, weil ihr klar war, dass sie nie eine eigene Familie gründen würde. Gewiss, es war ihre Entscheidung gewesen, der Sammlung beizutreten. Doch die Liebe zu Lazarus hatte den Wunsch nach einem anderen Leben in ihr geweckt. Einen Wunsch, der allem Anschein nach niemals in Erfüllung gehen würde.

»Ich muss an meine Christenpflicht denken«, gab sie kühl zurück.

Jakob verdrehte die Augen. »Gott, wie ich hoffe, dass dieser vermaledeite Bote bald zurückkommt!«

Anna horchte auf. »Welcher Bote?«

Jakob ließ sie los, nahm seine Filzkappe ab und fuhr sich durchs Haar. »Ich wollte es dir erst sagen, wenn ich Antwort erhalten habe«, brummte er.

»Was wolltest du mir sagen?«

»Du gibst keine Ruhe, bevor du es nicht aus mir herausgekitzelt hast, oder?«

Sie verschränkte die Arme vor der Brust.

»Wie kann man nur so sturköpfig sein!« Trotz des augenscheinlichen Ärgers zuckten Jakobs Mundwinkel.

»Ich bin nicht stur.«

Jakob schnaubte. »Genauso wenig wie ein Esel.«

»Also?« Anna sah ihn fragend an. »Was wolltest du mir sagen?«

Er zögerte einen Moment. »Ich habe einen Boten nach Rom geschickt.«

Anna glaubte, nicht richtig gehört zu haben. »Zum Heilig-Geist-Orden?«

Er nickte.

»Wieso? Glaubst du, dort hast du mehr Erfolg als beim Spitalmeister?«

»Allerdings.« Er setzte die Kappe wieder auf. »Dem Orden geht es schon lange nicht mehr um den Spitaldienst. Höfe, Güter, die Hinterlassenschaften der reichen Pfründner und harte Münze sind das, was die Oberen am meisten interessiert. Da kann der Spitalmeister sich so lange querstellen, wie er möchte. Ich bin sicher, dass Rom mein Angebot annimmt.« Er schnitt eine Grimasse. »Es war äußerst großzügig.«

Anna sah ihn entgeistert an. Sie wusste, dass Jakob alles dafür tun würde, sie unter die Haube zu bringen, damit ihre Schwesternschaft ihm nicht mehr peinlich sein musste. Aber dass er so weit gehen würde, einen Boten nach Rom zu schicken, hätte sie nicht gedacht.

»Du kannst mir danken, wenn die Pfaffen das Angebot annehmen«, sagte er trocken.

Anna wusste nicht, ob sie sich freuen oder weinen sollte. Die Hoffnung, die in ihr aufkeimte, wich der Sorge, die seit einiger Zeit an ihr nagte. »Was, wenn Lazarus mich gar nicht mehr will?«, sprach sie aus, was sie befürchtete.

Jakob schob die Brauen zusammen. »Wieso sollte er dich nicht mehr wollen?«

»Ich habe ihn seit einem halben Jahr kaum zu Gesicht bekommen«, erwiderte Anna. »Vielleicht hat er es sich anders überlegt. Den Dienst an Gott aufzugeben ist kein Schritt, den man leichtfertig macht.«

»Mir kam er ziemlich sicher vor, als ich mit ihm gesprochen habe«, sagte ihr Bruder.

»Wann war das?«

Jakob zuckte mit den Schultern. »Als du verschwunden warst.«

»Das ist lange her.«

Jakob brummte etwas Unverständliches, dann schien er einen Entschluss zu fassen. »Ich mache mich nicht euretwegen zum Narren«, knurrte er. »Sieh gefälligst zu, dass er es sich nicht anders überlegt!«

»Und wie soll ich das anstellen? Die Brüder lassen mich nicht mal in die Nähe der Siechenstube.«

Jakob überlegte einen Augenblick. »Ich werde dafür sorgen, dass du dort wieder Dienst tun darfst.«

»Ich dachte, darauf hast du keinen Einfluss?« Jedenfalls hatte er das in den vergangenen Monaten immer wieder behauptet.

»Das war gelogen.«

Die Antwort machte Anna fassungslos. »Du hast mich belogen?«

»Ich wollte nicht, dass der Spitalmeister dich noch mal benutzen kann, um …« Er brach den Satz ab.

»Um dich in ein schlechtes Licht zu rücken?« Annas Stimme zitterte vor Wut.

Jakob blieb eine Antwort schuldig. Stattdessen zog er sie weiter vom Münsterplatz weg und fragte: »Willst du Lazarus heiraten oder nicht?«

»Natürlich will ich das! Das weißt du!«

»Dann ist es wohl nicht zu viel verlangt, wenigstens einmal zu tun, worum ich dich bitte.« Er fasste sie scharf ins Auge. »Halte dich aus Dingen raus, die dich nichts angehen, und mach deinem Liebsten schöne Augen, damit mein Angebot nicht für die Katz ist.«

Seine Kaltschnäuzigkeit hätte Anna nicht überraschen sollen. Sie mochte ihren Bruder, aber ihr war längst klar, dass sein Ehrgeiz ihm wichtiger war als die meisten anderen Dinge. Er betrachtete seine Mitmenschen entweder als Werkzeug für sein Fortkommen oder als Hindernis, selbst ihre Schwägerin Ella bildete keine Ausnahme.

»Versprich es!«, forderte er.

Anna nickte. Dieses Versprechen fiel ihr nicht schwer. Sie liebte Lazarus mehr als jeden anderen Menschen, den sie kannte. Die wenigen Momente, die sie hatten stehlen können, waren ein Geschenk gewesen. Allerdings waren es in letzter Zeit immer weniger geworden. Allein die Vorstellung, wieder an seiner Seite sein zu dürfen, um sich um die Kranken zu kümmern, machte sie schwindelig. »In der Siechenstube kann ich mich aber nicht aus dem raushalten, was passiert ist«, gab sie zu bedenken.

»Du glaubst doch nicht im Ernst, dass der arme Teufel den Sturz überlebt?« Jakob sah sie entgeistert an. »Der hat sich jeden Knochen im Leib gebrochen. Geh meinetwegen und bete für ihn, aber erst, wenn ich alles Nötige in die Wege geleitet habe.« Er blickte zur Münsterbaustelle. »Bis dahin ist er vermutlich längst unter der Erde.« Er schaute sie erneut eindringlich an. »Und sieh zu, dass du nicht wieder in Schwierigkeiten gerätst!«

»Glaubst du, ich mache das absichtlich?«

Jakob lachte. »Mir wäre neu, dass dich jemand dazu gezwungen hätte, stets dort rumzuschnüffeln, wo man Gefahr läuft, sich eine blutige Nase zu holen.«

»Hätte ich das tote Kind einfach ignorieren sollen?«, empörte sich Anna. »Du kannst unmöglich mir die Schuld in die Schuhe schieben.«

Jakob seufzte. »Weißt du was? Ich will nicht mit dir streiten. Warte, bis du von mir hörst, dann kannst du zu deinem Lazarus.« Er warf ihr einen letzten warnenden Blick zu, wandte sich von ihr ab und verschwand in Richtung Mailand.

Anna sah ihm nach und ballte die Fäuste. Er hatte sie die ganze Zeit über belogen! All die Zeit, in der sie sich nach Lazarus verzehrt hatte … Sie biss die Zähne aufeinander und bat Gott um Vergebung für das, was sie ihrem Bruder in Gedanken am liebsten angetan hätte. Er meint es gut, redete sie sich ein. Er hatte einen Boten nach Rom geschickt, um Lazarus von seinem Gelübde freizukaufen. Auch wenn sie nicht so sicher war wie er, dass die Oberen des Ordens sein Angebot annehmen würden, gestattete sie sich, wieder ein wenig mehr zu hoffen. Vielleicht erlaubte Gott ihr und Lazarus doch noch, glücklich zu werden.

Obwohl vor dem Münster nach wie vor große Aufregung herrschte – inzwischen war die Stadtwache gekommen –, zügelte sie ihre Wissbegier und machte sich auf den Weg zurück zum Beginenhof. Dort nickte sie der Torhüterin zu und betrat das ummauerte Areal. Die Luft an diesem sonnigen Aprilmorgen war frisch und trug den Duft des blühenden Bärlauchs aus dem Kräutergarten heran. Wie überall in der Stadt pfiffen hier die Spatzen von den Dächern der Scheunen und Ställe auf die Katzen hinunter, die ihnen erfolglos nachstellten. Es roch nach frisch geschnittenem Gras, Brot und dem Holzfeuer der Kochstellen. Der Wind wirbelte die Blütenblätter der Kirsch- und Apfelbäume durch die Luft, Bienen schwirrten unermüdlich zwischen den Kronen umher. Die um den rechteckigen Innenhof angeordneten Fachwerkgebäude erstrahlten in frisch getünchtem Weiß. Die Ehehalten, die Knechte und Mägde der Beginen, waren emsig bei der Arbeit, schöpften Wasser aus dem Zugbrunnen und misteten die Ställe aus. Außerdem kümmerten sie sich um die reisenden Frauen, die in der Herberge der Sammlung untergebracht waren.

Obwohl Anna nicht wusste, wie schnell ihr Bruder sein Versprechen wahr machen würde, beschloss sie, in die Kräuterküche zu gehen, um nachzusehen, wie es um die gängigsten Arzneien bestellt war. Während sie sich ausmalte, wie es sein würde, endlich wieder mit Lazarus zusammenzuarbeiten, steuerte sie auf das Haus zu, in dem sich die Küche befand. Bald, so Gott wollte, würde ihr Wunsch in Erfüllung gehen. Die Erinnerung an die Kälte, mit der er ihr nach seiner Rückkehr aus Rom begegnet war, wischte sie hastig beiseite.

Kapitel 4

Der Siechenmeister Lazarus betrachtete den gelblichen Kot mit einem Stirnrunzeln. Der Insasse, an dessen Lager er stand, krümmte sich vor Schmerzen und hielt sich den Bauch. Er schien an einem febris ardens, einem Brennfieber, zu leiden, das im Unterschied zu anderen Fiebern durch innere Hitze und äußere Kälte zu erkennen war. Darauf deuteten auch die raue schwarze Zunge, der extreme Durst und die Schlaflosigkeit des Kranken hin. Lazarus wusste, dass dieses Fieber in einem Überfluss von Galle im Körper seinen Ursprung hatte und nur durch einen Ausgleich der Säfte geheilt werden konnte. Wenn das Fieber zurückgehen sollte, musste für Abkühlung gesorgt werden.

Er winkte einen Gehilfen des Spitals herbei. »Mach ihm Essigwickel«, trug er dem Burschen auf. »Und sorge dafür, dass er kein Fleisch isst und viel trinkt. Wenn sich sein Zustand nicht bessert, lass es mich wissen.«

Der Gehilfe nickte und nahm Lazarus’ Platz am Lager des Kranken ein, während der Siechenmeister sich erhob und zur Tür der Siechenstube sah, die sich in diesem Moment öffnete. Die große Halle wurde von Säulen, die das Kreuzrippengewölbe stützten, in drei Bereiche geteilt: einen für Männer, einen für Frauen und einen für Schwerkranke. An der westlichen Stirnseite befanden sich ein Brunnen und eine Kanzel, von welcher der Kaplan zweimal in der Woche die Predigt für die Sterbenden las. Wie immer herrschte reger Betrieb in der Stube, in der kaum ein freies Bett zu finden war.

Als Lazarus den Wundarzt und Männer mit einer Trage erblickte, eilte er den Säulengang entlang. »Was ist passiert?«, erkundigte er sich.

Der Wundarzt zeigte mit dem Kinn auf einen Schwerverletzten mit blutigen Kleidern. »Er ist von einem Gerüst gestürzt.«

»Auf der Münsterbaustelle?«

Der Wundarzt nickte. »Das Gerüst ist unter ihm eingefallen.«

»Bringt ihn dorthin.« Lazarus zeigte auf ein freies Lager in der Nähe der Kanzel. »Brauchst du meine Hilfe?«, wollte er vom Wundarzt wissen.

»Ich fürchte, weder du noch ich können viel für ihn tun«, erhielt er zur Antwort. »Er ist schon halb tot.«

»Ich kann ihm etwas gegen die Schmerzen geben«, bot Lazarus an.

Der Wundarzt zuckte mit den Schultern. »Wenn du die teuren Arzneien an einen armen Teufel wie ihn verschwenden willst …«

Lazarus betrachtete den Verunglückten voller Mitleid. Beide Beine schienen mehrfach gebrochen zu sein, an einer Stelle hatte der zersplitterte Knochen den Stoff seiner Hose durchbohrt. Sein Gesicht war aschfahl, die Augenlider flatterten. Er schien sich eine schwere Kopfverletzung zugezogen zu haben, die er kaum überleben konnte. Obwohl er häufig vom Magister Hospitalis ermahnt worden war, nicht so verschwenderisch mit dem teuren Mohnsaft umzugehen, eilte Lazarus in den kleinen Raum, der als Apotheke des Spitals diente, und gab einige Tropfen der Arznei in einen Becher. Dann goss er etwas Wein hinein und begab sich zurück in die Siechenstube.

Sein Herz machte einen Satz, als er eine Gestalt in grauem Gewand und weißer Haube am Bett des Verunglückten knien sah. Doch als er sich näherte, musste er enttäuscht erkennen, dass es sich nicht um die Begine handelte, die er gehofft hatte, endlich wiederzusehen.

»Schwester Guta«, begrüßte er sie und zog sich einen Schemel heran, um dem Sterbenden den Mohnsaft einzuflößen.

Die Frau im mittleren Alter nickte ihm zu, dann versank sie wieder in leisem Murmeln.

»Kannst du mich hören?«, fragte Lazarus, als er sich über den Verwundeten beugte.

Der Mann blieb stumm. Seine Lunge schien bei dem Unfall ebenfalls verletzt worden zu sein und sich langsam mit Blut zu füllen. Seine Lippen waren blau und er gab bei jedem Atemzug ein rasselndes Geräusch von sich.

Vorsichtig schob Lazarus die Hand unter seinen Kopf und hob ihn an, um ihm den Becher an die Lippen zu setzen. Was er dabei spürte, ließ ihn schaudern.

Deutlich war zu ertasten, wo der Schädel beim Aufprall auf dem Boden entzweigeplatzt war.

»Trink das«, sagte er, doch ein Großteil der Arznei lief am Kinn des Liegenden hinab.

»Ich werde versuchen, seine Beine zu richten«, ließ sich der Wundarzt vernehmen, der mit einem Kohlebecken, einem Brenneisen und anderen scheußlich anmutenden Gerätschaften zurückkehrte.

»Willst du ihn wirklich diesen Qualen aussetzen?«, fragte Lazarus.

»Deine Entscheidung, du bist der Siechenmeister.«

Lazarus’ Blick wanderte von dem Gesicht des Verwundeten zum Arzt und seinen Werkzeugen. »Ich denke, wir sollten ihn in Ruhe sterben lassen und nach dem Kaplan schicken, damit er ihm die Beichte abnehmen kann, falls er noch mal zu sich kommt«, sagte er schließlich.

»Meinetwegen.« Der Wundarzt gab seinem Gehilfen zu verstehen, das Kohlebecken fortzuschaffen, und packte seine Sachen ein. »Ich frage mich, ob der Unfall ein Zeichen Gottes war«, brummte er.

Lazarus hob die Brauen. »Was meinst du damit?«

»Dieser Himmelsturm …« Der Wundarzt schüttelte den Kopf. »Ich halte nichts davon.«

»Da bist du nicht der Einzige«, entgegnete Lazarus. Seit unter der Leitung Ulrichs von Ensingen mit den Arbeiten am Turm begonnen worden war, vermeinten die abergläubischen Ulmer in jedem Unfall auf der Baustelle den Zorn Gottes zu erkennen.

»Es ist ein Zeichen, dass man kein solch frevelhaftes Bauwerk errichten soll«, hatte es nach einem anderen Unglücksfall geheißen.

Manch einer behauptete, dass der Turm nichts als Leid und Elend über die Stadt brächte, weil der Allmächtige die Ulmer für ihren Hochmut bestrafen würde. Die Befürworter des Turms hielten dagegen, dass mit dem Bauwerk Gottes Größe besser verherrlicht werde als irgendwo sonst.

Lazarus teilte diese Meinung, hatte allerdings gelernt, sie für sich zu behalten, da im Spital die Zweifler überwogen.

»Ich verstehe nicht, warum der Rat nicht endlich einschreitet«, brummte der Wundarzt.

»Warum sollte er das tun? Er bezahlt den Bau«, erwiderte Lazarus.

»Es ist nicht recht«, beharrte der Wundarzt. Er bedeutete seinem Gehilfen, alles einzupacken, und kehrte Lazarus und dem Verunglückten den Rücken, um zu einem anderen Lager zu gehen, in dem eine Frau mit einem offenen Bein lag.

Da er wusste, was ihr bevorstand, murmelte Lazarus ein kurzes Gebet für sie, ehe er auf den Ausgang zusteuerte, um nach einem Kaplan zu suchen. Dabei wanderten seine Gedanken zu Anna, deren Abwesenheit ihm jeden Tag quälender erschien. War das Gottes Strafe für seine sündigen Begierden? Die Hoffnung, dass ihr Bruder etwas ausrichten und für seine Entlassung aus dem Orden sorgen könnte, hatte er längst aufgegeben. Der Magister Hospitalis würde niemals zulassen, dass so etwas passierte. Die Regeln waren streng, ein Ausscheiden unmöglich. Wie hatte er nur so töricht sein können, sich von Jakob Ehinger versuchen zu lassen?

»Ein Siechenmeister, der in einer dem Rat unterstellten Einrichtung tätig ist, muss nicht notwendigerweise ein frommer Bruder sein«, hatte er gesagt.

Aber diese Worte waren nichts wert, denn Lazarus war ein Bruder des Heilig-Geist-Ordens. Er hatte ein Gelübde abgelegt, und Gott würde ihm niemals Vergebung schenken für etwas, das so ungeheuerlich war, dass es noch nie jemand gewagt hatte. Ein solcher Schritt wäre lästerlich, das wurde ihm jeden Tag aufs Neue bewusst. Niedergeschlagen überquerte er den größeren der beiden Spitalhöfe und betrat die Kirche, in der er hoffte, den Kaplan anzutreffen.

Kapitel 5

Der Spielmann Gallus krümmte sich zusammen, hielt sich die stechenden Seiten und rang keuchend um Atem. Das, was von seinem Kater übrig gewesen war, war wie weggeblasen, dafür hämmerte sein Herz wie verrückt. Der Schreck saß tief, den Anblick des zerschmetterten Körpers würde er so schnell nicht vergessen. Viel schlimmer noch war das Geräusch gewesen, als der Verunglückte auf dem harten Stein aufgeschlagen war.

Gallus hatte keine Ahnung, warum das Gerüst neben ihm plötzlich zusammengebrochen war, und er hatte nicht vor, es herauszufinden. Die Begine hatte ihn gesehen und gewiss auch erkannt, und er hoffte inständig, dass sie nicht dachte, er hätte etwas mit dem Unfall zu tun. Denn dann würde der Hauptmann bei ihm auftauchen und seine Drohung wahr machen.

Die Vorstellung ließ ihn schaudern.

Warum geriet er immer in solche Dinge hinein? Was hatte er falsch gemacht? Konnte sein Leben nicht endlich ruhiger verlaufen? Er richtete sich wieder auf und zog mehrmals die frische Luft ein, um sich zu beruhigen. Es war ein Unfall gewesen. Vermutlich waren die Kerle, die das Gerüst aufgebaut hatten, besoffen gewesen und hatten vergessen, es richtig zu befestigen. Selbst wenn ihn außer der Begine noch jemand erkannt hatte, würde man ihm nicht die Schuld in die Schuhe schieben können, versuchte er sich zu beruhigen. Warum auch? Was hätte er davon, so etwas Dummes zu tun?

Als sich sein Herzschlag beruhigte, wich die Angst. Es war nicht der erste Unfall auf der Münsterbaustelle und es würde vermutlich nicht der letzte sein. Ständig passierten schlimme Dinge in der Stadt. Seine Furcht, der Hauptmann könne ihn dafür verantwortlich machen, war unbegründet. Jedenfalls hoffte er das.

Da er es sich nicht leisten konnte, herumzustehen und sich Sorgen um etwas zu machen, das nicht zu ändern war, umklammerte er seine Sackpfeife und entschied, sich einen anderen Ort zum Aufspielen zu suchen. Wenn das Pech nicht vorhatte, sich an seine Fersen zu heften, war der Tag vielleicht noch nicht ganz verloren. Immerhin bedeutete ein Unfall Gaffer, weshalb er die Kirche umrundete und sich an der Südseite aufstellte, um aus dem, was passiert war, Gewinn zu schlagen. Frechheit hatte ihn schon immer am weitesten gebracht. Warum sollte sie ihm nicht auch jetzt nützen? Er setzte die Sackpfeife an die Lippen, blies eine düstere Melodie und dichtete ein Lied:

»Es war an einem schönen Tag,

die Sonne schien, kein Nebel lag

über uns’rer reichen Stadt.

Da gellt’ ein Schrei, da birst das Holz,

der Teufel sah es kommen,

kurz ist das Leben, dumm der Stolz,

selbst für die allzu Frommen.

Jetzt zürnt euch Gott, lasst ab vom Bau

des lästerlichen Turms,

sonst schickt er Strafe, ja genau,

für alles böse Tun.«

Schon bei der zweiten Strophe versammelten sich Dutzende um ihn, die seinem Lied mit teils offenen Mündern lauschten. Viele von ihnen nickten und tauschten Blicke, ehe sie sich bekreuzigten.

Obwohl er noch vor Kurzem voller Angst gewesen war, dass ihm der Unfall zum Nachteil gereichen könnte, stahl sich ein Grinsen auf Gallus’ Gesicht, als ihm die ersten Münzen vor die Füße kullerten.

Wieso war ihm der Einfall nicht früher gekommen? Auf dem Weg zum Münster hatte er vorgehabt, die abgedroschenen Liebeslieder darzubieten, die ihm stets die Kasse füllten. Doch ein Blick in die Gesichter der Zuhörer verriet ihm, dass er eine weitaus größere Goldgrube entdeckt hatte. Die einfachen Bürger der Stadt schienen voller Furcht zu sein wegen des gewaltigen Bauwerks, in dessen Schatten er stand. Zwar hatte er das Getuschel über den Turm immer wieder gehört, es allerdings nicht für bare Münze genommen.

Sein Grinsen wurde breiter und er dichtete hastig eine weitere Strophe hinzu:

»Der Übermut ist eine Sünd’,

das sagt euch schon die Bibel,

hört auf sie, seid nicht blind,

so steht’s in jeder Fibel.«

Um den Worten Nachdruck zu verleihen, ließ Gallus der Sackpfeife einige schrille Töne entweichen, bei denen sich ein paar Kinder die Ohren zuhielten.

Als eine Goldmünze vor seinen Füßen landete, hätte er sich fast an seinem Mundstück verschluckt.

Kapitel 6

Obwohl Anna alles versuchte, um die düsteren Gedanken im Zaum zu halten, drängten sie sich immer wieder in den Vordergrund. Damals, als Lazarus aus Rom zurückgekehrt war, hatte er ihr fast das Herz gebrochen mit seiner Kälte. Schmerzhaft erinnerte sie sich an ihre erste Begegnung nach seiner Ankunft im Spital.

»Meine Sünden sind mir vergeben worden«, hatte er gesagt.

Sie schluckte schwer, als der Rest des Gespräches in ihrem Kopf widerhallte, als hätte es erst vor Kurzem stattgefunden.

»Ich habe mich auf den falschen Pfad begeben«, hatte Lazarus beteuert und ihr mit den Worten mehr wehgetan, als er es mit Schlägen vermocht hätte. »Du bist eine Begine, ich bin ein Bruder des Heilig-Geist-Ordens. Unser Leben gehört Gott. Dein Verlangen ist sündig. Tu Buße!« Mit diesen Worten hatte er sie so sehr verletzt, dass sie ihn beinahe aufgegeben hätte.

Sie wischte die Tränen weg, die ihr zu ihrem Verdruss in die Augen stiegen. Er liebt dich, machte sie sich Mut. In der Stunde der größten Not, den Tod vor Augen, hatte er ihr gestanden, was er wirklich für sie empfand. Aber tut er das immer noch? Der Zweifel war hartnäckiger, als ihre zaghaft aufgekeimte Zuversicht aushielt, weshalb es nur eines gab, um sich abzulenken: die Arbeit in der Kräuterküche. Sie wusste nicht, wie lange es dauern würde, bis ihr Bruder etwas erreichte. Wenn sie sich nicht die ganze Zeit über mit Sorgen martern wollte, war die Flucht in die Arbeit die beste Medizin.

Nachdem sie in den Schatten des Arkadengangs eingetaucht war, betrat sie die Kräuterküche, die sie zu ihrer Erleichterung verwaist vorfand. Die Schwestern gingen andernorts ihren Beschäftigungen nach, eine von ihnen im Spital. Nicht mehr lange, hoffte Anna und schloss die Tür hinter sich.

Da der Raum nur zwei winzige Fenster besaß, war es nicht besonders hell, deshalb entzündete sie eine Kerzenlampe und fachte das Feuer unter der gemauerten Kochstelle an. Der Funkenhut darüber war mit einem Schornstein verbunden, dennoch hing immer etwas Rauch in der Luft. Nachdem Anna die Läden weit geöffnet hatte, überlegte sie, womit sie anfangen sollte. Schlichte Regale, bis obenhin gefüllt mit Behältnissen aller Art, säumten zwei der Wände. Auf einem kleinen Tisch lagen ein Dutzend Bücher und zwei gefaltete Bogen Papier mit ihren Aufschrieben. Außerdem befanden sich zwei Zuber, Kessel, Mörser, Schüsseln und ein großer Hacktisch im Raum. Anna stellte den Schürhaken beiseite. Da sie nicht alle Rezepte auswendig kannte, schlug sie eines der bebilderten Kräuterbücher auf und begann, die Zutaten für Meisterwurzwein, Schlehenaschenelixier und Lattichmischpulver zusammenzusuchen. Letzteres galt als Universalmedizin bei Kraftlosigkeit und Erschöpfung, die unter den Insassen des Spitals verbreitet war. Das Schlehenaschenelixier half bei Gicht und Rheuma, der Meisterwurzwein senkte Fieber und konnte bei Lungenentzündung Leben retten. Während sie mischte und mörserte, kochte und rührte, ertappte sie sich dabei, dass sie immer wieder an Lazarus dachte.

Wie hatte Jakob sie nur so kaltschnäuzig belügen können? Seit fast einem halben Jahr wünschte sie sich nichts sehnlicher, als wieder ins Spital zu dürfen, um sich an Lazarus’ Seite um die Kranken und Notleidenden zu kümmern. Warum hatte Jakob ihr das angetan?

Sie wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, wie viele Tiegel sie gefüllt hatte, bis es an der Tür klopfte und ein Bote im Rahmen erschien.

»Euer Bruder schickt mich«, ließ er Anna wissen.

Ihr Herzschlag beschleunigte sich.

»Ich soll Euch ausrichten, dass er alles geregelt hat.« Mit diesen Worten tippte sich der Bursche an die Kappe und verschwand.

Anna ließ den Stößel sinken, mit dem sie hantiert hatte, und legte ihn mit zitternden Händen auf den Tisch. Obwohl Jakob der vom Rat bestellte Spitalpfleger war, hatte sie nicht angenommen, dass es so schnell gehen würde. Sicher hatte der Magister Hospitalis versucht, ihm die Stirn zu bieten, auch wenn er damit nur selten Erfolg hatte. Sie zog einen Schemel heran und ließ sich darauf sinken, weil ihr unversehens die Knie weich wurden. Sie würde Lazarus wiedersehen! Endlich ging ihr Wunsch in Erfüllung. War das ein Zeichen Gottes? Sandte er ihr auf diesem Weg die Botschaft, dass er ihr und Lazarus nicht zürnte wegen ihres Vorhabens? Fahrig wischte sie über den Tisch, auf dem ein paar winzige Krümel lagen.

»Schwester Anna?«

Die Stimme der Meisterin riss sie aus den Gedanken.

»Ich dachte mir, dass ich dich hier finden würde.« Die Meisterin, eine stämmige Frau, deren grau meliertes Haar streng unter ihrer Haube verstaut war, betrat die Kräuterküche und kam auf Anna zu. »Ich habe Nachricht erhalten, dass es dir wieder gestattet ist, im Spital zu helfen«, sagte sie.

Anna versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Sie hatte sich keiner der anderen Schwestern anvertraut, niemand wusste, was sie und Lazarus vorhatten.