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Der elfjährige Waisenjunge Jona ist ein Bettler. Ein Bettler und ein Dieb. Als er im Februar 1409 in Nürnberg ankommt, ist sein Leben kaum mehr einen Pfifferling wert. Es ist eiskalt, und er ist nur noch Haut und Knochen. Jona kann sein Glück kaum fassen, als ihm ein reicher Städter etwas zu essen und ein Lager für die Nacht anbietet. Allerdings fordert dieser dafür eine, wie er sagt, harmlose Gegenleistung. Jona willigt ein. Und gerät damit in einen Strudel aus Täuschung und Gewalt, in den schon bald auch die Salbenmacherin Olivera hineingezogen wird, die den Bettelknaben halb totgeschlagen in ihrem Hinterhof findet …
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Seitenzahl: 450
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Silvia Stolzenburg
Die Salbenmacherin und der Bettelknabe
Historischer Roman
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Alle Rechte vorbehalten
1. Auflage 2016
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung der Bilder von: © https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Mrs._Richard_Paul_Jodrell_by_Sir_Joshua_Reynolds.jpeg
und https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Nuernberg-1650-Merian.jpg
ISBN 978-3-8392-5076-1
Für Eumel – du fehlst
Ein Wald, Februar 1409
Die Dämonen waren ihm dicht auf den Fersen. Wenn es ihm nicht gelang, sie abzuschütteln, würden sie ihm die Seele rauben und ihn in die Tiefen des Höllenschlundes hinabreißen! Die Augen des fliehenden Knaben zuckten von links nach rechts wie die eines gehetzten Tieres – geweitet vor Furcht. Stolpernd brach er durch das immer dichter werdende Unterholz, glitt auf dem eisigen Waldboden aus, rappelte sich wieder auf und rannte weiter. Wohin er floh, wusste er nicht. Es war auch nicht wichtig. Alles, was zählte, war, dass er die Teufel in seinem Nacken abschüttelte. Die dünnen Sohlen seiner Schuhe fanden kaum Halt auf dem eisigen Untergrund. Dennoch schlug er nach einem angsterfüllten Blick über die Schulter Haken wie ein Hase – ungeachtet des Schmerzes, der ihm bei jedem Schritt in den Knöchel fuhr.
Sein Atem ging keuchend, verpuffte in winzigen Dampfwölkchen, die einige Augenblicke in der Luft hingen, ehe sie sich auflösten. Seine Lunge protestierte bei jedem Atemzug, und der Wind pfiff durch die Löcher in seinem fadenscheinigen Leibrock. Die schneidende Kälte stach mit Tausenden von winzigen Nadeln in seine Haut. Immer wieder rutschte ihm die Kapuze von dem kahl geschorenen Kopf, doch Angst und Entsetzen sorgten dafür, dass er den Wind, der ihm ins Gesicht schlug, kaum spürte. Sein Herz hämmerte so heftig gegen die Rippen, dass er fürchtete, es könne seinen Brustkorb sprengen. Er zuckte zusammen, als das Knacken von dürren Ästen unheimlich durch den Wald hallte, in dem alles wie erstarrt wirkte. Schnee und Reif verliehen den kahlen Bäumen ein gespenstisches Aussehen, und einen Augenblick lang fürchtete der Junge, er wäre bereits auf dem Weg zur Unterwelt. Hieß es nicht, Satan wäre tief im Schlund der Hölle in einem See aus Eis gefangen? Die Vorstellung ließ ihn erschauern. Noch schneller als zuvor jagte er den kaum erkennbaren Pfad entlang und sandte ein Stoßgebet zum Himmel. »Barmherziger Vater, bewahre mich vor den Dämonen«, flehte er wimmernd. »Vergib mir meine Sünden.«
»Da vorn ist er!«
Der Ruf ließ ihn einen erstickten Angstschrei ausstoßen. Wie nah sie schon waren! Das Bellen eines Hundes zerriss die Luft, dicht gefolgt von einem heiseren Befehl. »Hol ihn dir, Brutus!«
Das Bellen wurde wilder.
Mit der Kraft der Verzweiflung zwang sich der Knabe, noch schneller zu laufen, obwohl der Hunger ihn allmählich schwindlig machte. Wenn sie ihn einholten … Der Gedanke an das, was ihn dann erwartete, war so grauenhaft, dass er beinahe die Kontrolle über seine Blase verlor. Wie von Furien gehetzt flog er über den tückischen Untergrund und versuchte, sich nicht von seiner Furcht lähmen zu lassen. Warum war er nicht zur Beichte gegangen, als einer der heiligen Brüder ihn dazu aufgefordert hatte? Weshalb hatte er sich lieber vor der Arbeit im Kloster gedrückt, um den Reichen das zu stehlen, auf das sie beim Marktbesuch nicht aufpassten? Sein Fuß trat auf eine Baumwurzel, die unter dem Schnee aus dem Boden ragte. Um ein Haar wäre er lang hingeschlagen, fing sich jedoch im letzten Augenblick und lief weiter. Er schreckte eine Handvoll Krähen auf, die hoch über ihm in den Wipfeln einer Eiche thronten. Mit jedem Schritt spürte er, wie ihn die Kraft mehr und mehr verließ.
Ein kehliges Knurren gesellte sich zu dem Bellen.
»Hilf mir, Herr«, wisperte der Knabe und versuchte sich zu bekreuzigen. Die Bewegung brachte ihn ins Straucheln. Während er um sein Gleichgewicht kämpfte, schossen ihm die Bilder durch den Kopf, die ihm einer der ersten Pfaffen im Spital eingeprügelt hatte: Sünder, die in der Vorhölle von Ungeziefer gepeinigt wurden, Legionen von Teufeln, die die Höllenstadt bewachten, Unglückliche in flammenden Särgen, in einem Blutstrom kochende Sünder, auf die stetig Feuerflocken herabrieselten, Büßer, die sich entweder in ätzendem Kot wälzten oder kopfüber in Höhlen steckten – die brennenden Fußsohlen in die Luft gereckt, andere versenkt in Gräben mit kochendem Pech. Und diejenigen, deren Strafe er teilen würde: die Diebe – unablässig angegriffen von Schlangen, durch deren Bisse sie zu Asche zerfielen, nur um wieder aufzuerstehen und dieselbe Pein erneut zu erleiden.
Die Luft entwich mit einem lauten Geräusch aus seinen Lungen, als er beim Kampf um sein Gleichgewicht gegen einen Baumstamm prallte und sich die Stirn blutig schlug. Der Aufprall war so heftig, dass er nach hinten taumelte.
»Fass! Fass!«
Zuerst spürte er nichts, als sich die Fänge des riesigen Hundes in seine Wade schlugen. Erst als das Tier ihn zu Boden riss und von dem Baum fortzerrte, schoss der Schmerz wie siedendes Öl durch sein Bein. Verzweifelt versuchte er, sich zu befreien. Aber die Kiefer des Hundes waren wie ein Schraubstock.
»Aus!« Ein Gesicht tauchte über ihm auf. Der Mund des Mannes war wutverzerrt, die Augen so kalt wie das Eis unter den Händen des Knaben. »Dachtest wohl, du könntest entwischen«, knurrte er.
»Bitte …«, flehte der Junge.
Der Pfeil, der ihn mitten ins Herz traf, schnitt ihm das Wort ab.
»Nehmt seinen Kopf mit«, befahl der Mann seinen Begleitern. »Den Rest können die wilden Tiere beseitigen.«
Nürnberg, Februar 1409
Die Sonne tat dem elfjährigen Jona in den Augen weh. Sie stand direkt über der trutzigen Feste, die hoch über der Stadt Nürnberg thronte, und blendete schon von Weitem. Der Schnee auf den Dächern warf das Licht gleißend zurück, weshalb Jona den Blick auf den von Hunderten von Rädern, Hufen und Füßen aufgewühlten Boden senkte. Inmitten eines Stroms von Pilgern und Bauern bewegte sich der Knabe auf die gewaltige Ringmauer zu, deren zahllose Türme weithin die Macht der Reichsstadt verkündeten. Nördlich erstreckte sich ein Waldgebiet, aus dem eine lange Schlange von Karren Baumstämme in die Stadt schaffte. Vor der Stadtmauer befanden sich eine Handvoll befestigter Gehöfte, Ställe und Gärten. Doch Jonas Aufmerksamkeit wurde von dem riesigen Tor angezogen, über dessen Durchgang das Wappen der Stadt prangte. Ein breiter Holzsteg führte über den Wallgraben, wo Torwächter in glänzenden Harnischen den Reisenden in den Weg traten. Als Jona keine zwei Steinwürfe mehr von dem Stadttor unter der Reichsfeste entfernt war, sah er sich verstohlen um.
»Du kannst genauso gut gleich wieder umkehren«, hatte ihm ein anderer Waisenknabe im Pilgerspital »Heilig Kreuz« geraten. Dort hatte Jona ein Nachtlager und ein einfaches Mahl erhalten – das erste Mal, seit er vor vier Tagen vom Henker aus Bamberg hinausgeprügelt worden war. Die Erinnerung an die furchtbaren Schläge ließen ihn instinktiv den Kopf einziehen und mit der Rechten nach seinem Rücken tasten, der immer noch grün und blau war. Er wusste, dass er Glück gehabt hatte, dass der Richter Milde gezeigt hatte. Denn der Diebstahl des Brotlaibes hätte ihn ebenso gut einen Finger kosten können. Er ließ die Hand wieder sinken und suchte nach einem Gefährt, das für sein Vorhaben geeignet war.
»In Nürnberg kann nicht jeder betteln«, hatte der Junge im Spital gesagt und Jona damit fast die Hoffnung geraubt. Sein Magen war leer, seine Beinlinge zerschlissen, seine Glocke – ein einfacher Kapuzenumhang – kaum dick genug, um die Kälte abzuhalten.
»Eigentlich dürfen nur Einheimische in der Stadt um Almosen bitten«, hatte der andere Waisenknabe ihn informiert. »Wer betteln will, muss zwei Zeugen beibringen, die seine Bedürftigkeit beschwören, und eine Bettelmarke kaufen.«
Jona hatte ihn ungläubig angesehen.
»Die Bettelmarke muss offen getragen werden«, hatte der Junge weiter berichtet. »Wer ohne aufgegriffen wird, bekommt Ärger mit dem Bettelmeister und den Stadtknechten.«
Als Jona seine wenigen Pfennige aus der Tasche gezogen hatte, um sie zu zählen, hatte der Junge abgewinkt. »Als fremder Bettler darf man sich nur drei Tage in der Stadt aufhalten. Verding dich lieber als Mörtelträger beim Bau der neuen Ringmauer.«
Aber darauf hatte Jona nicht die geringste Lust. War er nicht wegen der harten Arbeit aus dem Elisabethenspital in Bamberg fortgelaufen? Wie dumm wäre es, jetzt in einer anderen Stadt noch härter zu schuften, um etwas zwischen die Zähne zu bekommen? Sein Blick blieb an einem Karren haften, auf dem sich Butterfässer stapelten. Da er nicht vorhatte, Nürnberg nach nur drei Tagen wieder zu verlassen, blieb ihm keine andere Wahl, als sich heimlich in die Stadt zu stehlen. Denn für den Torzoll reichten seine bescheidenen Mittel ganz sicher nicht aus.
Er zog die Kapuze seiner Glocke über den Kopf und schlängelte sich zwischen den Wartenden hindurch. Hie und da erntete er Protest. Ein bulliger Müller versetzte ihm gar einen Rippenstoß, aber Jona ignorierte sein Schimpfen. Als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt näherte er sich dem Karren mit den Fässern, dessen Lenker genauso träge den Kopf hängen ließ wie der Ochse davor. Zwei Schritte hinter der Pritsche machte Jona Halt, gab vor, die Lumpen an seinen Füßen neu wickeln zu müssen und ging in die Knie. Während er versuchte, seinen hämmernden Herzschlag zu beruhigen, sammelte er Mut. Er durfte einfach nicht daran denken, was passieren würde, wenn man ihn entdeckte, bevor er in der Stadt war! Die Nürnberger sind töricht, redete er sich ein. Hatte nicht sein Held, Till Eulenspiegel, ihnen einen Streich um den anderen gespielt? Wenn die Stadtwächter wirklich so einfältig waren, wie es einige der Eulenspiegeleien vermuten ließen, dann würde es ein Leichtes sein, sich in Nürnberg durchzuschlagen.
Jona warf einen Blick über die Schulter. Als er sicher war, dass ihm niemand Beachtung schenkte, sprang er geschickt auf die Pritsche des Butterkarrens und duckte sich zwischen die Fässer. Sein Puls machte einen erschreckten Satz, als sich das Gefährt keine zwei Atemzüge später in Bewegung setzte. Allerdings war seine Furcht, der Lenker könnte ihn entdeckt haben, unbegründet. Nach wenigen quietschenden Umdrehungen der Räder kam der Karren wieder zum Stehen, und das Warten begann von Neuem.
Beinahe eine Stunde musste Jona zusammengekauert zwischen den Fässern ausharren, bis der Bauer endlich das Tor erreichte. Um nicht von den Wächtern gesehen zu werden, machte er sich noch kleiner und hielt den Atem an. Während der Bauer mit den Stadtwachen verhandelte, fragte Jona sich, ob es ihm auch gelingen würde, den Stadtknechten ein Schnippchen zu schlagen. Würde er ebenso verwegen sein wie Eulenspiegel, der die Wachen im Wächterhaus beim Rathaus zum Baden geschickt hatte? Ein Grinsen stahl sich auf sein Gesicht, als er sich die Geschichte in Erinnerung rief. Offenbar hatte Eulenspiegel eines Nachts drei Bohlen aus dem Brückensteg zwischen dem Saumarkt und dem Wächterhaus entfernt, um danach die Stadtwachen mit allerlei Geschrei anzulocken. Als diese ihm hinterhergelaufen waren, hatte er selbst einen großen Satz gemacht, wohingegen seine drei Verfolger in der Pegnitz gelandet waren. Jona konnte sich das Spektakel nur allzu gut vorstellen. Wie gerne er in dieser Nacht dabei gewesen wäre!
Als der Wagen endlich wieder anfuhr und über unebenes Kopfsteinpflaster holperte, ließ er erleichtert die Luft aus den Lungen entweichen. Er hatte es geschafft! Am liebsten hätte er einen Freudentanz vollführt, so groß war seine Erleichterung. Eine Zeit lang blieb er zwischen den Fässern hocken und hielt den Kopf unten. Doch sobald der Wagen die gepflasterte Straße verließ und die Räder sich in harschigen Schnee gruben, wagte er einen Blick über die Ladefläche des Karrens.
Was er sah, hätte ihn um ein Haar einen erstaunten Ruf ausstoßen lassen. Keine zehn Zoll von seiner Nase entfernt glotzte ihm das Gesicht eines zahnlosen Reisigweibes entgegen. Die gebeugte Alte wartete mit trüben Augen, bis der Butterkarren an ihr vorbeigerumpelt war, ehe sie über die Straße huschte und in einem Kellerloch verschwand. So viele Menschen drängten sich vor und hinter dem Wagen, dass der Lenker anhalten musste, um niemanden zu überrollen. Das Gewimmel war so gewaltig, dass Jona sich vor Verwunderung die Augen rieb. Wie konnte eine Stadt einer solch gewaltigen Zahl von Einwohnern Obdach bieten? Er versuchte, die Köpfe zu zählen, scheiterte jedoch kläglich.
Sobald der Karren weiterfahren konnte, ließ er den Blick schweifen. Auf beiden Seiten der Gassen, durch die sie kamen, standen dicht gedrängte Holzhäuser mit abenteuerlich anmutenden Erkern, Außentreppen und Vorbauten. Die obersten Stockwerke der gegenüberliegenden Gebäude waren kaum eine Armlänge voneinander entfernt. Überall hingen Wäscheleinen, und die Rüssel von Hausschweinen zuckten durch den Morast, der sich in einer Rinne in der Mitte der Straße gesammelt hatte. Trotz der eisigen Kälte war dieser Schlamm nicht gefroren, was vermutlich am Urin der Tiere lag. Hoch über ihm ragte die Reichsfeste auf. Doch erst jetzt erkannte Jona, dass es sich nicht um eine, sondern um gleich drei Burgen handelte. Mussten die Nürnberger viel Geld haben! Er schob den Kopf etwas weiter nach oben und bestaunte die bunten Schilder vor den Häusern, die offensichtlich das Gewerbe der jeweiligen Bewohner verkündeten. Scheren, Töpfe, Schuhe und vieles mehr verrieten dem Jungen, in welchem Viertel er sich befand. Als der Wagen schließlich über eine Brücke polterte und anschließend auf ein Gebäude neben einer Kirche zusteuerte, beschloss Jona, dass es Zeit war, den Karren zu verlassen. Leichtfüßig sprang er von der Ladefläche und tauchte ein in das Gewimmel, das ihn augenblicklich verschluckte. Eine Zeit lang ließ er sich einfach treiben, sog die Gerüche der Stadt ein und malte sich aus, was er hier alles erreichen konnte. Doch nach einiger Zeit wurden seine Zehen steif, und sein Magen knurrte so vernehmlich, dass er die Hand darauf presste, um ihn zu beruhigen. Als er vor einer weiteren Kirche anlangte, machte er deshalb kurzerhand einen krummen Buckel, streckte die Hand aus und jammerte lautstark: »Ein Almosen, edle Herren. Habt Erbarmen mit einem armen Krüppel. Ein Almosen.« Er humpelte auf eine Gruppe wohlhabend wirkender Männer mit pelzverbrämten Mänteln zu. »Habt Mitleid mit einem Waisen«, flehte er. »Ein Almosen.«
Zwei der Kaufleute drehten ihm den Rücken zu, der dritte hingegen schien ein weicheres Herz zu haben, da er nach der Geldkatze an seinem Gürtel griff. »Hier«, sagte er und warf Jona ein paar Pfennige zu.
»Habt Dank, mein Herr«, rief der Knabe aus. Hastig sammelte er die Geldstücke ein und steckte sie in die Tasche. »Gott segne Euch.« Er wollte sich gerade ein neues Opfer suchen, als ein ärgerlicher Ruf die Luft zerriss.
»Du da!«, brüllte ein grobschlächtiger Kerl, der an seinem Helm als Stadtknecht zu erkennen war.
Jona erschrak bis ins Mark. Meinte der ihn? Da er nicht vorhatte abzuwarten, bis der Wächter nahe genug war, um ihn zu packen, rappelte er sich hastig auf und gab Fersengeld. Wieselflink bahnte er sich einen Weg durch Menschen, Reiter und Karren, bis er schließlich die Pegnitz erreichte. Mehrere Brücken und Stege führten von einem Ufer zum anderen, und als Jonas Seiten schließlich anfingen zu stechen, machte er in der Nähe einer kleinen Insel halt. Rechts von ihm befand sich ein Gebäudekomplex, der ihn an das Elisabethenspital in Bamberg erinnerte. Zu seiner Linken schaufelten riesige Mühlräder das Wasser des Flusses. Eine Handvoll Frauen kniete am Ufer und wusch auf großen Steinen Wäsche. Ein kleines Mädchen winkte Jona zu, wodurch es sich eine Ohrfeige von einer der älteren Frauen einhandelte. Jona steckte die Hand in die Tasche, um mit den erbettelten Münzen zu spielen. Wenn er nicht erfrieren wollte, musste er sich dringend einen warmen Schlafplatz suchen. Allerdings reichten die paar Pfennige, die er besaß, gerade für ein dürftiges Mahl. Er schlang den Umhang enger um sich, da die Kälte bis auf seine Knochen durchdrang, und steckte die Hände unter die Achseln, um sie zu wärmen. Dann sah er sich suchend um, bis sein Blick auf eine schiefe Holzkate neben einer der Mühlen fiel. Von einer Luke unter dem Dach führte eine Leiter nach oben. Selbst von Jonas Standpunkt aus waren die goldgelben Strohballen auf dem Heuboden zu sehen. Er lächelte. Wenn das kein Wink des Schicksals war!
Nürnberg, Oliveras Offizin, Februar 1409
»Kannst du mir noch mehr von diesem Trank mischen?« Die Augen der reichen Patrizierin leuchteten verräterisch, als sie eine Flasche vor Olivera auf den Tisch stellte. Von dem Mohnsaft darin war kein Tropfen mehr übrig. Obwohl die Frau ihre Wangen mit dem Farbstoff der Schildlaus gerötet hatte, wirkte ihre Haut fahl. Die schlanken Hände nestelten nervös an einem perlenbestickten Tüchlein herum, das aus der Tasche ihrer kirschfarbenen Fucke – einem eng anliegenden Obergewand – lugte. Trotz der strengen Kleiderordnung der Stadt war ihre modische Haube mit Edelsteinen und goldenen Ringen geschmückt, das Haar an Stirn und Schläfen entfernt und mit Henna gefärbt. Da ihr Gemahl einer der Ratsherren der Stadt war, wagte es jedoch vermutlich niemand, sie auf den Verstoß gegen die Stadtgesetze hinzuweisen. Ihre pelzbesetzte Heuke – einen ärmellosen Überwurf – hatte sie über einen Schemel gelegt. Unter ihre feinen Lederschuhe waren hölzerne Trippen geschnallt, damit sich die Sohlen nicht mit dem Unrat in den Gassen vollsogen.
Im Vergleich zu ihrem Putz wirkte Oliveras einfaches dunkles Wollkleid wie das einer Bäuerin. Ihr Haar hatte sie zu einem dicken Zopf geflochten und unter einem Tuch verborgen. »Habt Ihr denn immer noch Schmerzen?«, fragte sie. Sie legte den Stößel beiseite, mit dem sie in einem Tiegel Populeon, Rosen- und Veilchenöl, für eine hautberuhigende Salbe gemischt hatte.
Die Patrizierin nickte. »Entsetzliche Schmerzen. Ohne deine Arznei mache ich kein Auge zu.«
Olivera stellte den Tiegel beiseite und musterte die Frau unter gesenkten Augenlidern hervor. Die kleinen Pupillen und die fahrigen Handbewegungen verrieten ihr, dass die Patrizierin mehr Mohnsaft zu sich genommen hatte, als Olivera ihr geraten hatte. Auch wenn sie all ihre Kundinnen vor übermäßigem Genuss warnte, hielten sich die wenigsten daran. Sie seufzte leise. Ihr Blick wanderte zu dem Durchgang, der in den Nebenraum führte. Dort stand Götz hinter einem mit Schnitzwerk verzierten Tresen, um Konfekt, teuren Wein, Gewürze und Oliveras Salben zu verkaufen. Sollte sie der Dame Vorhaltungen machen? Und damit riskieren, dass diese sich bei ihrem Mann über Olivera und Götz beschwerte? Oder sollte sie ihr einfach geben, was sie verlangte, und hoffen, dass deren Zufriedenheit Götz half, endlich den Apothekereid vor dem Rat abzulegen? Seit ihrer Ankunft in Nürnberg vor sechs Wochen warteten sie ungeduldig auf eine Ladung vor das höchste Gremium der Stadt.
»Du hast doch noch genug von dem Saft?«, unterbrach die Frau ihre Gedanken. Etwas wie Panik schwang in ihrer Stimme mit.
Olivera nickte. Sie wandte den Blick von Götz ab und drehte sich zu einem Regal um, das die gesamte Wandbreite hinter ihr einnahm. Auf Augenhöhe stand ein bauchiges Gefäß – randvoll gefüllt mit dem betäubenden Extrakt, nach dem ihre Besucherin verlangte. Zudem drängten sich dort irdene Behältnisse, Flaschen und Säckchen voller Nieswurz, Baldrian, Bärenklau, Weihrauch, Geißblatt und Mandelmilch. Schweinetalg, Zimbelkraut, getrocknete Pfingstrosen, Eisenkraut und zahllose weitere Arzneipflanzen bildeten die Basis für Oliveras Salben und Tränke. Zudem befanden sich Theriak, ein Allheilmittel aus über 50 Zutaten, und so alltägliche Dinge wie Fenchel, Honig und Flohkraut in der Arzneiküche. Die meisten der kostbareren Heilmittel hatte die junge Frau aus ihrer Heimat Konstantinopel mitgebracht, als sie diese im letzten Sommer mit Götz’ Bruder Laurenz verlassen hatte.
»Worauf wartest du?«, nörgelte die Patrizierin. Sie zog einen Gulden aus der Tasche und hielt ihn Olivera unter die Nase. »Doppelt so viel wie beim letzten Mal«, forderte sie.
Olivera schob die unangenehme Erinnerung an Laurenz beiseite und gab sich einen Ruck. »Wie Ihr wünscht«, sagte sie. Wenn die Frau sich berauschen wollte, konnte sie sie nicht davon abhalten. Sie zog einen Schemel heran, kletterte hinauf und hob das schwere Gefäß vom Regal. Anschließend entkorkte sie die Flasche, die ihre Kundin mitgebracht hatte, und ließ den öligen Saft hineinlaufen. »Benötigt Ihr sonst noch etwas?«, erkundigte sie sich, nachdem sie den Rand des Behältnisses mit einem Tuch abgewischt hatte.
»Heute nicht.« Die Frau schnappte nach der Flasche wie ein bissiger Hund nach einem Knöchel, versenkte sie in ihrer tiefen Tasche und warf sich die Heuke über die Schultern.
»Empfehlt uns weiter«, rief Olivera ihr hinterher, als sie durch den Verkaufsraum davonrauschte.
»Die hatte es aber eilig«, bemerkte Götz trocken, kaum war das Klingeln der Türglocke verklungen. Er trat über die Schwelle, kam auf Olivera zu und grinste jungenhaft.
Olivera schnitt eine Grimasse. »Ich habe kein gutes Gefühl dabei«, gestand sie. »Mir kommt es vor, als ob sie vor lauter Langeweile ins Traumland entfliehen möchte.«
Götz zuckte die Achseln. »Das ist ihr gutes Recht. Solange sie bezahlt, kann sie tun und lassen, was sie will.« Er machte eine ausgreifende Handbewegung. »Wenn es Frauen wie sie nicht gäbe, hätten wir uns nie so schnell dieses Haus in der inneren Stadt leisten können.«
Olivera lächelte schwach. Sie hatte ihm noch immer nicht gestanden, dass das Geld nicht nur aus dem Verkauf ihrer Arzneien stammte. Nach langem Grübeln hatte sie sich kurz nach ihrer Ankunft in Nürnberg dazu durchgerungen, einen kostbaren Goldreif mit einem Saphir und einen gefassten Edelstein zu verkaufen. Beide Schmuckstücke waren Geschenke ihres Gemahls Laurenz. Sie senkte den Blick, damit Götz die Lüge nicht in ihren Augen lesen konnte. »Ich frage mich, wann du endlich den Eid ablegen kannst«, lenkte sie ab.
Götz schlang die Arme um sie und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. »Kommt Zeit, kommt Rat«, scherzte er. »Solange uns niemand verbietet, den Laden zu führen …«
»Aber du wolltest doch eine Apotheke, keinen Kramladen mehr«, wandte Olivera ein. Sie sah zu ihm auf. »Es wird sicher nicht lange dauern, bis sich einer der anderen Bewerber über uns beschwert.«
Seine grünen Augen lagen mit einem ernsten Ausdruck auf ihr. »Ich möchte mit dir zusammen ein anständiges Leben führen«, sagte er. »Wenn Gott will, wird er uns diesen Wunsch erfüllen.« Er drückte sie fester an sich. »Früher oder später kommt die Ladung vor den Rat. Da bin ich mir sicher.«
Olivera schmiegte die Wange an seine Schulter. Wie gern sie seine Zuversicht teilen würde! »Einen Wunsch hat er uns bereits erfüllt«, murmelte sie nach einigen Augenblicken des Schweigens.
Götz’ Hand wanderte zu ihrem Bauch, der noch so flach war wie vor ihrem Aufbruch aus Tübingen. Vorsichtig tasteten seine Fingerspitzen die Region um ihren Bauchnabel herum ab, als erwarte er, das Kind spüren zu können. »Dafür bin ich jeden Tag dankbar«, sagte er. Er wollte gerade etwas hinzusetzen, als das Klingeln der Türglocke die Ankunft eines weiteren Kunden verriet.
Schweren Herzens machte Olivera sich von ihm los und sah ihm nach, wie er in den Nebenraum verschwand. Die Stelle, an der seine Hand eben noch gelegen hatte, fühlte sich warm an. Sie strich geistesabwesend über den Stoff ihres Kleides. Wie sehr sie ihn liebte! Niemals hätte sie sich bei ihrer ersten feindseligen Begegnung in Tübingen träumen lassen, dass Götz der Vater ihres Kindes sein würde. Sie lauschte eine Weile auf seine tiefe Stimme. Als der einzige Zweifel, der sie immer wieder quälte, sein hässliches Haupt hob, schüttelte sie ihn ab wie ein lästiges Insekt und griff nach einer Wachstafel und einem beinernen Griffel. Sie brauchte dringend einige neue Zutaten.
Beinahe eine Stunde brachte sie damit zu, ihre Bestände zu prüfen. Als die Liste der Dinge, die sie nur beim Fernhändler erhalten konnte, fertig war, nahm sie ihre Heuke von dem Haken neben der Feuerstelle. Dann griff sie nach einem Weidenkorb, in dem Handschuhe und ein versiegelter Brief lagen. »Ich gehe zum Markt«, ließ sie Götz wissen, der seiner sechsjährigen Tochter Cristin gerade einen verschrumpelten Apfel in die Hand drückte.
»Darf ich mitkommen?«, fragte die Kleine begeistert.
Die Magd Jonata, die sich um Cristin und ihren dreijährigen Bruder Uli kümmerte, rief aus dem Treppenhaus: »Du wolltest mir doch beim Backen helfen.«
Cristin verzog das Gesicht. »Ich mag lieber mit Olivera auf den Markt«, sagte sie. Die Kapuze ihrer Gugel war ihr vom Kopf gerutscht, sodass die dunklen Locken wirr in alle Himmelsrichtungen standen. »Bitte!«
Götz warf Olivera einen fragenden Blick zu. Es schien ihm genauso schwer zu fallen wie Olivera, seiner Tochter eine Bitte abzuschlagen.
Olivera nickte. »Hol schnell deinen Mantel und deine Handschuhe«, sagte sie.
Das Mädchen stob mit einem Freudenschrei davon – die Treppe hinauf in den Wohnbereich des Hauses.
»Sie wird mit jedem Tag quirliger«, seufzte Götz.
»Nicht mehr lange, und sie kann dir im Laden helfen«, tröstet Olivera ihn. »Oder mir in der Salbenküche zur Hand gehen.«
Götz hob erstaunt die Brauen. »Ist sie dazu nicht zu ungeschickt?«
Olivera schüttelte den Kopf. »Ich war auch nicht viel älter, als mir meine Yiayia beigebracht hat, wie man ein Mittel gegen Sommersprossen herstellt.«
Laurenz lachte.
»Lach nicht«, schalt Olivera ihn scherzhaft. »Es hat geholfen.«
»Fertig!«, unterbrach Cristin sie. Das Mädchen hatte die Kapuze ihrer Gugel tief in die Stirn gezogen, sodass ihre widerspenstige Haarpracht gebändigt war. Ihre Hände steckten in dicken Kaninchenfellhandschuhen, und der grobe Wollumhang war unter ihrem Kinn mit einer Spange verschlossen. Sie wippte ungeduldig auf den Fußballen auf und ab.
»Dann komm«, sagte Olivera. Sie griff nach der Hand der Kleinen.
»Darf ich dir vorlesen, was auf der Tafel steht?«, wollte das Mädchen wissen.
Olivera schmunzelte. »Natürlich«, versprach sie. Seit sie begonnen hatte, Cristin lesen und schreiben beizubringen, war deren Eifer kaum zu bremsen.
»Passt auf die Taschendiebe auf«, warnte Götz. »Zurzeit treibt sich viel Gesindel in der Stadt herum.«
Nürnberg, Februar 1409
Als Olivera und Cristindas Haus verließen, blies ihnen schneidender Wind entgegen. Auf der Mauer, welche den Hof umfing, türmte sich der Schnee zwei Handbreit hoch, und Olivera war froh, dass ihre Heuke einen dicken Pelzkragen besaß. Die Sonne hatte gerade genug Kraft, um den Schnee an einigen Stellen zu schmelzen, wodurch sich im Schatten tückische Eisrinnsale bildeten. Der Geruch von zahllosen Holzfeuern machte die Luft schwer, überdeckte aber zu Oliveras Erleichterung den Gestank der gekochten Schlachtabfälle, aus denen am Unschlittplatz Talg gewonnen wurde. Oft trug der Wind die üblen Ausdünstungen bis weit in die Sebalder Stadt, weshalb der Rat das Abkochen an Markttagen verboten hatte. Das Wasser der Pegnitz rauschte unter den beiden Fischerstegen, an denen armdicke Eiszapfen hingen. An einigen Stellen war der Fluss zugefroren, doch Müllergesellen und Fischerknaben zerstießen die Eisplatten mit spitzen Hacken. Olivera zog die Schultern hoch und schloss die Finger fester um Cristins Hand. Auf keinen Fall wollte sie in dem Getümmel der Stadt von dem Mädchen getrennt werden.
Sie wandten sich nach Westen und tauchten in der Neuen Gasse in den Strom von Kauflustigen ein, die wie sie auf dem Weg zum Marktplatz waren. Cristin drängte sich dicht an Olivera, um nicht von den Ochsen vor den Karren der Bauern niedergetrampelt zu werden. Im Schneckentempo näherten sie sich der hoch über dem Grünen Markt aufragenden Frauenkirche, deren Glocken soeben die sechste Stunde des Tages verkündeten. Je näher sie dem Markt kamen, desto dichter wurde das Gedränge. Frauen und Männer mit Traggestellen auf dem Rücken schoben sich an ihnen vorbei. Kinder, die zum Wasserholen zum Schönen Brunnen geschickt worden waren, kämpften mit ihrer Last, und mehr als ein Tonkrug ging in dem Durcheinander zu Bruch. Das Brüllen und Grunzen des Viehs vermischte sich mit dem Grölen der Marktschreier, und über all dem Tumult ertönte das Schlagen von Zimmermannshämmern. Als Olivera und Cristin schließlich den annähernd quadratischen Marktplatz erreichten, wurden sie von einem Pferdefuhrwerk zur Seite gedrängt. Dieses steuerte auf einen Stand unter dem Laubengang eines Kaufmannshauses zu, wo der Lenker vom Bock sprang und die Ware ablud. Olivera versuchte sich zu orientieren. Der Grüne Markt war in mehrere Bereiche unterteilt. Auf Tischen, an Ständen und in Krambuden boten Händler, Bauern und Kaufleute Wildbret, Käse, Samen, Schmalz, Flachs, Garn, Brot, Tauben, Spanferkel, Kräuter, gesalzene Fische, Blumen, eingelegtes Gemüse, Seife, Salz, Kraut, Butter und vieles mehr feil. Je reicher die Händler, desto aufwendiger der Stand. Eine Gruppe Marktaufseher überprüfte die Gewichte, maß die Länge der Brote und verhängte empfindliche Strafen für Betrügereien wie das Wässern von Butterfässern oder das Strecken teurer Gewürze. Junge Männer in kurzen Schecken und schreiend bunten Beinlingen warfen Olivera und den anderen Frauen interessierte Blicke zu. Die meisten von ihnen hatten sich von ihren Schneidern die Brust auspolstern lassen, einige sogar den Schambereich. Olivera verkniff sich ein Grinsen, als einer dieser Gecken demonstrativ an einem geschmacklosen, aber teuren Ring drehte in der Hoffnung, ihre Aufmerksamkeit zu erhaschen.
Mit Cristin im Schlepptau bahnte sie sich einen Weg durch die Menge. Als sie schließlich den Stand des Fernhändlers erreichte, atmete sie erleichtert auf. Zwar begegneten ihr die Nürnberger nicht mit Feindseligkeit wie die Tübinger. Dennoch fühlte sie sich am wohlsten, wenn sie nicht so viele Menschen um sich herum hatte.
»Olivera«, begrüßte die Frau des Kaufmanns sie. Sie stand vor dem Kontor ihres Mannes hinter einem Verkaufstisch und nahm Bestellungen entgegen. Ihr Gemahl und ihre beiden ältesten Söhne beluden die Fuhrwerke der Kunden mit schweren Säcken. Darin befanden sich – so nahm Olivera an – Safran, Kardamom, Pfeffer, Muskat und Zimt.
»Affra«, erwiderte Olivera den Gruß. Sie winkte dem Kaufherrn zu, als dieser ihr einen Blick über die Schulter zuwarf.
»Was kann Felix für dich tun?«
Olivera zog die Wachstafel aus dem Korb. »Ich benötige dringend Galgantwurzel, getrockneten Tintenfisch, geriebene Skarabäen und Mastix.« Sie sah auf die Liste.
»Du hast doch gesagt, ich darf vorlesen«, mischte Cristin sich ein.
Die Frau des Fernhändlers musterte sie streng, doch das Mädchen ignorierte den tadelnden Blick geflissentlich.
Olivera gab ihr die Tafel. »Du musst aber schnell lesen«, mahnte sie. »Es warten sicher noch andere Kunden.« Sie tippte auf die Stelle, an der sie aufgehört hatte.
Cristin nickte. Sie fuhr mit dem Zeigefinger die eingeritzten Buchstaben entlang. Ihre Lippen formten lautlos die Buchstaben nach, ehe sie die Worte laut aussprach. »Petroleum und Muskat«, sagte sie etwas unsicher.
Olivera nickte ermutigend.
Das Mädchen las die Mengen vor, die Olivera dahinter notiert hatte. Danach ratterte es die restlichen Zutaten herunter.
»Es dauert eine Weile, bis ich alles zusammengesucht und abgewogen habe«, sagte die Frau des Händlers. »Musst du noch andere Besorgungen machen?«
»Ja …« Olivera zögerte einen Augenblick, nahm sich dann aber ein Herz. »Würdest du Felix fragen, ob er bei seiner nächsten Reise nach Konstantinopel diesen Brief mitnehmen kann?« Sie hielt das versiegelte Schriftstück in die Höhe.
Die Händlerin nahm es ihr aus der Hand. »Das kann er gewiss. Sobald die Donau wieder auf ihrer ganzen Länge schiffbar ist, bricht er auf.«
Olivera legte ein paar Pfennige auf den Tisch. »Für den Brief. Den Rest bezahle ich nachher.« Sie verabschiedete sich von Affra und versuchte, das hohle Gefühl in ihrer Magengegend zu ignorieren. Allerdings gelang ihr das nur so lange, bis Cristin ihre Hand wieder in die ihre schob und fragte: »Für wen ist der Brief?«
Olivera spürte, wie ihr Tränen in die Augen stiegen, die nichts mit dem schneidenden Wind zu tun hatten. Ohne Vorwarnung war es wieder da: das Heimweh. Die Sehnsucht nach der Wärme ihrer Heimat, nach dem Duft von Zypressen, dem Zirpen der Grillen und dem Staub in der Luft, über den ihre Yiayia immer so geschimpft hatte. Doch zu dem wohlbekannten nagenden Gefühl hatte sich seit der furchtbaren Entdeckung in Tübingen etwas anderes gesellt: Misstrauen.
»Olivera!« Cristin zupfte an ihrem Ärmel. »Für wen ist der Brief?«
Olivera schluckte die Tränen. »Für meine Großmutter in Konstantinopel«, sagte sie.
»Für die, von der du mir die Geschichten erzählt hast?«, fragte das Mädchen.
»Ja.« Olivera nickte. »Für meine Yiayia.«
Das schien Cristin zufriedenzustellen, da sie die nächsten Minuten schweigend neben Olivera her trottete.
Während sie die Stände der Seifenhändler und Weißgerber hinter sich ließen, gingen Oliveras Gedanken auf Wanderschaft. Immer und immer wieder hatte sie sich in den letzten Wochen dieselben Fragen gestellt. Hatte ihre Yiayia von dem furchtbaren Handel gewusst, den Oliveras Vater und Laurenz trieben? War der alten Frau klar gewesen, dass die beiden nicht nur gefälschte Reliquien verkauften, sondern Menschen töteten, um diese angeblichen Reliquien herzustellen? Die Erinnerung an die grauenvolle Entdeckung ließ ihr immer noch das Blut in den Adern gefrieren. Was, wenn Laurenz nicht im letzten Augenblick ein Quäntchen Anstand und Ehre bewiesen hätte? Wäre sie dann auch zerstückelt und in Essig eingelegt an zahlreiche Kirchen und Klöster in Nah und Fern verkauft worden? Ihr Magen machte einen Überschlag, als sie an einem Stand vorbeikamen, an dem saures Gemüse verkauft wurde. Unter Aufbietung aller Willenskraft zwang sie sich, an etwas anderes zu denken. Laurenz war fort. Über alle Berge. Er würde ihr nie wieder zu nahe kommen. Schließlich drohte ihm der Tod am Galgen, sollte man ihn aufgreifen und an die Tübinger ausliefern. Ihr Blick wanderte wie magisch angezogen zum Turm der Marienkirche. Wenn sie Götz doch nur endlich heiraten könnte! Ihr Herz zog sich schmerzhaft zusammen. Wenn jemand herausfand, dass sie in wilder Ehe zusammenlebten, konnte das ihre gesamten Pläne zunichtemachen.
»Heda! Stehen bleiben!« Der gebrüllte Befehl riss Olivera aus dem Grübeln. Ein Stadtknecht gestikulierte zu Füßen der Kirche wild in der Luft herum, ehe er einem etwa elfjährigen zerlumpten Knaben nachsetzte. Der presste etwas an seine Brust und duckte sich wieselflink zwischen den Beinen der Marktbesucher hindurch.
»Ist das ein Dieb?«, wollte Cristin wissen.
Olivera, die den Jungen nur kurz gesehen hatte, zuckte die Achseln. »Vielleicht.«
»Stehlen ist eine Sünde«, stellte Cristin ernst fest. »Dafür kommt man in die Hölle.«
Olivera fröstelte, als sie sich vorstellte, welcher Ort Laurenz erwarten würde, wenn er starb. Hoffentlich ist er bereits tot! Der Gedanke war so unvermittelt in ihrem Kopf, dass sie vor ihrer eigenen Heftigkeit erschrak.
Um sich abzulenken, verfolgte sie einige Augenblicke lang, wie die Stadtwächter dem Knaben hinterherjagten. Dann straffte sie die Schultern und steuerte auf einen Händler zu, der die beliebten Schmalzküchlein verkaufte. Bald begann die Fastenzeit. Daher wollte sie mit Götz und den Kindern vorher noch ein wenig schlemmen.
Den Schmalzküchlein folgten ein Speckkuchen, sauer eingelegte Zwiebeln, Kichererbsen, Linsen und eine fette Gans. Als Olivera alles beisammen hatte, machte sie sich mit Cristin wieder auf den Weg zu Affra, der Gemahlin des Fernhändlers. Dort bezahlte sie die teuren Zutaten für ihre Arzneien.
»Hier«, sagte die Händlerin. Sie reichte Olivera ein Säckchen mit Sonnenblumenkernen. »Für Markos.«
Olivera bedankte sich. Darüber würde sich ihr Papagei sicher freuen. Auch ihm war der Winter in diesen Gefilden viel zu kalt, weshalb er sich mit Olivera die Ofenbank in der Stube teilte.
»Ach, bevor ich es vergesse«, rief Affra ihr hinterher, als sie schon fast außer Hörweite war. »Die Gemahlin des Jüngeren 1Losungers, Brida Tucher, hat nach dir gefragt.«
Olivera erschrak. Was konnte die Frau eines der drei Hauptleute der Stadt von ihr wollen? Lud man Götz endlich vor?
»Du sollst so schnell wie möglich bei ihr vorstellig werden.«
1 Es handelt sich bei den beiden Losungern, dem Jüngeren und dem Vorderen Losunger, um die höchsten öffentlichen Ämter der Stadt, weil die beiden die Kontrolle über die städtischen Finanzen hatten.
Nürnberg, Februar 1409
Jonas Herz dröhnte wie eine Kesselpauke. Er kauerte zwischen zwei Holzkaten im Gerberviertel der Stadt und zitterte am ganzen Leib. Nicht nur wegen der Kälte und des Hungers. Auch wegen des Fehlers, den er leichtsinnigerweise beim Stehlen gemacht hatte. Hätte er sich nicht so ungeschickt angestellt, wäre dem dicken Pfeffersack nicht aufgefallen, dass er ihm die Geldkatze vom Gürtel schneiden wollte! Er verfluchte seine Tollpatschigkeit und zog sich noch weiter in den engen Spalt zurück. Trotz der eisigen Temperaturen stank es nach den Exkrementen der Bewohner, die offenbar ihre Bettpfannen einfach aus dem Fenster kippten. Er rümpfte die Nase. Er selbst roch auch nicht unbedingt nach Veilchen. Zu allem Überfluss juckten seit der Nacht im Stroh auch wieder die Flohbisse an seinen Beinen, weshalb er sich die Knöchel blutig gekratzt hatte.
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