Das Ross der Himmelsphantasie - Karl May - E-Book

Das Ross der Himmelsphantasie E-Book

Karl May

0,0

Beschreibung

Karl May - dieser Name steht für spannende, niveauvolle Unterhaltung, für legendäre Helden wie Winnetou und Old Shatterhand. Die vorliegende Anthologie zeigt, dass die literarische Spannbreite des sächsischen Phantasten viel größer ist als vielfach bekannt. Die facettenreiche Sammlung von Texten aus der letzten Schaffensperiode des meistgelesenen Autors deutscher Sprache präsentiert May als Weltanschauungsschriftsteller, der mit seinen Schriften Impulse zur Humanisierung vermitteln wollte. DAS ROSS DER HIMMELSPHANTASIE enthält neben ebenso fesselnden wie tiefgründigen Erzählungen auch Reflexionen, Gedichte und autobiografische Texte. Eine bunte literarische Reise in den unbekannteren Teil des 'May-Universums', die den passionierten Leser zu einer Neuentdeckung des faszinierenden Autors einlädt. Mit fachkundigen Kommentaren und einer Einführung des Herausgebers Hartmut Wörner (Geschäftsführer der Karl-May-Gesellschaft).

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 415

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Karl May

Das »Ross derHimmelsphantasie«

Texte aus dem SpätwerkEingeleitet und kommentiertvon Hartmut Wörner

Inhalt

Hartmut Wörner:Zu diesem Buch

Karl May:Das „Ross der Himmelsphantasie“

Mit der Rikscha durch Colombo

Am Tode

Gespräch über Musik

Die Dschemmah der Lebenden

Sonnenscheinchen

Merhameh

Meine Beichte

Gedichte / Dramenbruchstücke

Aphorismen

Brief an einen jungen Leser

Erste und letzte Antwort

Robert Müller:Nachruf auf Karl May

Herausgegeben von Hartmut Wörner© 2017 Karl-May-Verlag, BambergAlle Urheber- und Verlagsrechte vorbehaltenDeckelbild: nach Am Jenseits,Band XXV der Gesammelten Reiseerzählungenim Verlag F. E. Fehsenfeld,unbekannter KünstlerISBN 978-3-7802-3086-7eISBN 978-3-7802-1627-4

www.karl-may.de

Zu diesem Buch

„Die Liebe ist eins, ist unteilbar.“Karl May, Am Jenseits

„Man ist ja schier ratlos gegenüber einem literarischen Gebilde, das sich mit kaum einem anderen auf eine Stufe stellen lässt. Sein Werk ist umstritten und war es seit jeher: Man verehrt und liebt in ihm einen gütigen und humorvollen Erzieher der Jugend, und man schilt ihn als einen Aufschneider und Lügner; man verweist ihn aus der Literatur in den Sumpf der Kolportage, und man hebt ihn andererseits zur Bedeutung großer Literatur empor als Surrealisten, als Symbolisten, als eine Art Vorläufer der Kafka, Sartre und Kasack, was er in seinem Alterswerk in der Tat gewesen ist. Der eine preist ihn als frommen Christen, der andere verdammt ihn als Verherrlicher brutaler Kraftmeierei; der eine lobt seinen schlichten verständlichen Stil, der andere tadelt sein Kanzleideutsch; die einen bestaunen sein Wissen, die anderen nennen ihn flach. Für manche ist er ein Verfechter des Pazifismus, für andere ein Verherrlicher von Kampf und Krieg.“

Seit Prof. Dr. Heinz Stolte, der Nestor der Karl-May-Forschung, 1988, in der Endphase der Massenwirkung Karl Mays, diese Zeilen schrieb, hat sich einiges verändert. May, dessen Geburtstag sich am 25. Februar 2017 zum 175. Male jährt, gibt heute kaum noch zu Kontroversen Anlass. Obwohl sein Werk über eine große Zahl von ‚Karl-May-Spielen‘ auf der Theaterbühne sowie durch neue Verfilmungen auch im 21. Jahrhundert wirkt und nach wie vor die Kulturwissenschaften beschäftigt, ist es doch bei Weitem nicht mehr so präsent wie früher. Das Interesse an Mays Schriften hat nachgelassen. Zwar wird der einst vielleicht wirkungsmächtigste deutsche Autor noch gelesen; es ist jedoch keineswegs sicher, dass seine Literatur in einigen Jahrzehnten in der breiten Öffentlichkeit noch im gleichen Umfang präsent sein wird.

Resultierte Mays Wirkung, vor allem auf jugendliche Leser, in der Zeit seines großen Erfolgs primär aus seiner Kraft als mitreißender Phantast, so könnte sich aus heutiger Sicht eine nachhaltige Bedeutung auch aus seiner Qualität als ‚Weltanschauungsschriftsteller‘ ergeben.

„Mehr als Esprit, Witz und Originalität imponiert mir die ethische Integrität eines Schriftstellers. Wenn er in der Lage ist, das Positive im Leser zu aktivieren und über den Anreiz interessanter Handlungsabläufe hinaus auch zu einer Humanisierung des Menschen beizutragen, dann hat er mein Vertrauen.“

Dieser Ausspruch des Hermann Hesse-Herausgebers Volker Michels lässt sich auch auf Karl May beziehen und kann in einer Epoche, in der die Humanität nach wie vor wirksamer Fürsprecher bedarf, seine Aktualität begründen. Mays Werk enthält – bei aller geschäftstüchtigen Anpassung des Berufsschriftstellers an unterschiedliche Publikationsorte und -formen – einen glaubwürdigen ethischen Kern, der auch in unserer Zeit noch Impulse zur Humanisierung geben kann. Ungeachtet der äußerlichen Veränderungen und Brüche von Mays literarischem Schaffen in einer Bandbreite zwischen der Darstellung brutaler Gewalt und christlicher Frömmelei zeigt dessen innerer Kompass schon seit seinen frühen programmatischen Schriften Geographische Predigten und Das Buch der Liebe von 1875 hin zu einer transzendenten Veredelung des Menschen und der Menschheit. Karl May vertrat eine Botschaft, in deren Zentrum die Humanisierung im Zeichen der Liebe stand. Liebe, Gott und Gotteskindschaft des Menschen waren für den Autor untrennbar miteinander verknüpft. Obwohl Karl Mays Botschaft transreligiös wirkt und er kein orthodoxer, konfessioneller Christ war, ist die christliche Liebesbotschaft der Bergpredigt der Dreh- und Angelpunkt seiner Spiritualität.

Dieser innere Überzeugungskern des „geographischen Predigers der Liebe“ (Peter Hofmann), der, wenn auch manchmal verpuppt, sein ganzes Werk durchzog, prägt vor allem Mays Spätwerk, das nach seiner Orientreise von 1899/1900 entstand. Das vorliegende Buch konzentriert sich deshalb auf diese späten Schriften und will bewusst nicht den ‚ganzen‘ Karl May präsentieren. Wer einen ersten Einblick in alle Facetten seines Schaffens erhalten will, sollte auf das im Karl-May-Verlag erschienene Karl-May-Lesebuch zurückgreifen. In den nachstehenden Texten geht es hingegen um einen – durchaus zentralen – Aspekt des Werks des großen Sachsen, seine religiös-philosophische Achse, die in seinen späten Werken ihren reifsten literarischen Ausdruck gefunden hat.

Die in dieser Anthologie enthaltenen May-Texte folgen jeweils der ersten Druckfassung. Dabei erheben die Textfassungen keinen philologischen Anspruch. Soweit das äußere Bild der Erstdrucke für den Leser unserer Zeit ungewohnt angemutet hätte, erfolgte eine Modernisierung. Dies betrifft insbesondere extrem überholte Schreibweisen wie „Thor“, „Nöthige“, „compacte, „ächte“. In diesem Sinne wurde auch die Verwendung von „ß“ und „ss“ den aktuellen Rechtschreibregeln angepasst. Um die eigene ‚Atmosphäre‘ der Erstdrucke erlebbar zu machen, wurden jedoch manche Eigenheiten in Orthografie und Interpunktion belassen. Dies kann bis zu Abweichungen der Schreibweisen in den verschiedenen Texten führen, z. B. bei dem Begriff ‚Dschemma‘ bzw. ‚Dschemmah‘.

Sollte dieses Buch Ihr Interesse an Karl Mays Leben und Werk geweckt haben, finden Sie weitere Informationen auf der Internet-Präsenz der literarischen Karl-May-Gesellschaft e.V.:www.karl-may-gesellschaft.de, und auf den Webseiten des Karl-May-Museums/Radebeul (www.karl-may-museum.de), des Karl-May-Hauses/Hohenstein-Ernstthal (www.karl-mayhaus.de) und des Karl-May-Verlags (www.karl-may.de).

Schorndorf, im Februar 2017

Hartmut Wörner

Das „Ross der Himmelsphantasie“

Das war das Ross der Himmelsphantasie,

Der treue Rappe mit der Funkenmähne,

der keinen andern Menschen trug als seinen Herrn,

den nach der fernen Heimat suchenden.

Sobald sich dieser in den Sattel schwang,

gab es für beide nur vereinten Willen.

Die Hufe warfen Zeit und Raum zurück;

Der dunkle Schweif strich die Vergangenheiten.

Des Laufes Eile hob den Pfad nach oben.

Dem harten Felsen gleich ward Wolke, Dunst und Nebel,

und durch den Äther donnerte das Rennen

hinauf, hinauf ins klare Sternenland.

Dort flog die Mähne durch Kometenbahnen,

und jedes Haar klang knisternd nach der Kraft,

die von den höchsten aller Sonnen stammt

und drum auch nur dem höchsten Können dient.

Und taten sich die Tore wieder auf,

die niederwärts zur Erdenstunde führen,

so tranken Ross und Reiter von dem Bronnen,

der aus der Tiefe jenes Lebens quillt,

und kehrten dann im Schein der Sterne wieder.

Der Reiter hüllte leicht sich in den Silbermantel,

den ihm der Mond um Brust und Schultern warf,

und seiner Locken Reichtum wallte ihm vom Haupte.

Des Rosses düstre Mähne aber wehte,

im Winde flatternd wie zerfetzte Strophen,

schwarz auf des Mantels dämmerlichtem Grund.

Und jene wunderbare Kraft von oben,

die aus den höchsten aller Sonnen stammt,

sprang in gedankenreichen Funkenschwärmen

vom wallenden Behang des Wunderpferdes,

hell leuchtend, auf des Dichters Locken über

und knisterte versprühend in das All.

Zum vorstehenden Text:

Die poetische Schilderung eines Ritts auf dem „Ross der Himmelsphantasie“ stammt aus Mays Roman Im Reiche des silbernen Löwen IV von 1903. Dort erscheint er in Prosa, ist aber in rhythmischen Jamben geschrieben. Die vorstehende Umsetzung in die äußere Form eines Gedichts wurde größtenteils von Dr. Martin Lowsky erstellt. Der Text steht exemplarisch für die Programmatik des Mayschen Spätwerks, dessen besondere Qualitäten in dieser Anthologie präsentiert werden sollen. Die künstlerische Phantasie führt den Dichter danach zur Transzendenz. Kunst hat für May immer einen spirituellen Anspruch. Ein Vorbild des „Rosses der Himmelsphantasie“ dürfte „der Musen Ross“ aus dem Gedicht Pegasus in der Dienstbarkeit des von May verehrten Friedrich Schiller sein.

Quelle:

Karl May: Im Reiche des silbernen Löwen IV. Gesammelte Reiserzählungen Band XXIX. Freiburg 1903, S. 208f.

Literaturauswahl:

Karl May: Das versteinerte Gebet. Band 29 der Gesammelten Werke. Bamberg 2016 (326. Tsd.)

Martin Lowsky: „Der Musen Roß“ aus dem „Blitze sprühn“ (Schiller), und „das Roß der Himmelsphantasie“ mit der „Funkenmähne“ (May). In: Mitteilungen der Karl-May-Gesellschaft 175. 2013, S. 29ff.

Mit der Rikscha durch Colombo

Die von den Eingeborenen bewohnten Stadtteile haben schmale Straßen; die Häuser und Häuschen stehen eng beisammen. Man sieht Laden an Laden, und wer sich vor gewissen Gerüchen scheut, der tut wohl, sich in eine der stets und überall vorhandenen Rikschas zu setzen und dorthin zu fahren, wo es nicht mehr riecht.

Der Name dieser aus Japan eingeführten Fahrzeuge lautet eigentlich Jinrickschaw, doch pflegt jedermann kurz Rikscha zu sagen. Man denke sich eine sehr leichte und für die Zugkraft nicht eines Pferdes, sondern eines Menschen gebaute, zweiräderige Kalesche mit vorzuschlagendem Regendach und einer Doppeldeichsel, so weiß man ungefähr, wie eine Rikscha aussieht. Der Singhalese, welcher sie zieht, trägt die leichteste Kleidung, die auf der Straße erlaubt ist, oft nur eine Hose, welche vom Gürtel bis zur Hälfte der Oberschenkel reicht. Aber sein langes, seidenweiches Haar ist wohlfrisiert, zurückgekämmt und hinten in einen Knoten geschlungen, der von einem Kamme zusammengehalten wird. Das gibt dem Manne ein weiches, weibliches Aussehen. Dieser Kamm ist aber ein Zeichen der Männlichkeit; Frauen tragen ihn nicht und Knaben erst dann, wenn bei ihnen der Bart zu wachsen beginnt.

Also außer mit diesem Kamme und der bescheidenen Hose ist der Rikschamann vollständig unbekleidet. Warum? Man steige ein! Sobald man sitzt und er erfahren hat, wohin man will, beginnt er zu laufen. Die Luft ist schwül; die Sonne brennt; er läuft! Es geht nicht im Schritt, nicht im Trab, nicht im Galopp, sondern er läuft, aber wie! Es hat den Anschein, als ob er wie ein Torpedobootjäger sechsundzwanzig Knoten in der Stunde machen müsse. Man hat ihn etwas zu fragen; er antwortet so kurz wie möglich, und er läuft! Die nackten Beine werden nicht müde, die nackte Brust scheint keine Lunge zu bergen; der Atem geht ruhig und regelmäßig, und doch würde ihn eine Droschke erster Güte nicht einholen, denn – – er läuft! Da, da – – man schaue hin! Es beginnt noch etwas zu laufen! Nämlich unter dem Zopfe quillt ein kleines, einziges Tröpflein hervor, bleibt, wie verschämt darüber, dass es sich so öffentlich zeigen muss, einige Augenblicke im Schatten des Kammes stehen und bewegt sich dann, erst langsam, hierauf sprungweise und hernach schneller und immer schneller über den Hals und den Rücken herab, bis es unter dem oberen Rande der Hose verschwindet. Ein zweiter Tropfen kommt. Dieselbe anfängliche Verschämtheit, dasselbe Zögern, dann dieselben Sprünge und dasselbe vorläufige Ziel. Ein dritter, fünfter, zehnter, zwanzigster, hundertster Tropfen erscheint. Sie folgen sich schneller und schneller, bis sie ein Bächlein bilden, welches von dem Zopfe nach der Hose strebt. Das Bächlein läuft ununterbrochen, aber – – der Mann läuft auch! Der Passagier sitzt hinter ihm, sieht beide laufen und weiß nicht, worüber er sich mehr wundern soll, ob über die Ausdauer seines unermüdlichen Zweibeiners oder darüber, dass aus dem Zopfe eine so unerhörte Menge von Wasser laufen kann. Aber auf der rechten Schulter bildet sich auch ein Tropfen, auf der linken ebenso, beide rinnen herab, dem Rückgrate zu, um sich dort mit dem Bache zu vereinigen. Sie bekommen Nachfolger. Es entsteht hüben und drüben ein zweiter und ein dritter Bach, nach deren Einmündung der mittlere zu einem Flüsschen wird. Bald treten auch an anderen Stellen Wasserperlen hervor, aus denen Bäche werden, an den Oberarmen, der Brust, den Seiten, und alle eilen der Hose zu, welche nass und immer nässer wird, bis sie die allgemeine Überschwemmung nicht mehr fassen kann und in Gestalt von zwei Missisippis an den beiden Beinen niederlaufen lässt. So läuft das Wasser endlich am ganzen Körper, und – – der Mann läuft auch! Der Fahrgast sieht das mit Staunen und wundert sich schließlich darüber, dass er so ruhig sitzen bleibt und nicht von der Rikscha herunterspringt, um – – – auch zu laufen! Es ist ein wahres Glück, dass man dem Kuli gesagt hat, wohin man fahren will, denn wenn man das vergessen hätte, so würde er laufen, laufen und immer weiter laufen und gewiss nicht eher aufhören, als bis er sich ganz in Wasser aufgelöst hätte und zwischen den Deichselarmen der nun stehen gebliebenen Rikscha nur noch die Hose und der Kamm zu sehen wären.

Und wenn das Ziel erreicht ist und er sich mit der freigewordenen Hand über das badende Gesicht streicht, so geht sein Atem so ruhig wie im Augenblicke des Einsteigens; sein Auge blickt so sanft wie eine dunkelsammetne Pensee; er fordert nach deutschem Gelde nur eine Mark für die Stunde, und wenn man ihm noch einige Pfennige zu dem geliebten Siribissen extra gibt, so möchte er nun vor lauter Dankbarkeit so, wie vorher vor lauter Wasser, auseinanderfließen. Das ist die Rikscha und das ist der Rikschamann!

Zum vorstehenden Text:

Mays Miniatur über eine Fahrt mit einer Rikscha durch Colombo in Ceylon (heute: Sri Lanka) ist ein Auszug aus dem Roman Et in terra pax.

Der pazifistische Roman entstand 1901 nach Karl Mays Orientreise von April 1899 bis Juli 1900, die ihn auch in – damals unter britischer und niederländischer Kolonialherrschaft stehende – Orte im heutigen Sri Lanka, Malaysia und Indonesien führte. Der Schilderung der Rikschafahrt dürfte, wie vielen Episoden des Romans, ein reales Reiseerlebnis zu Grunde liegen. May weilte vom 6. bis 28. Oktober 1899 in Colombo.

Et in terra pax erschien in dem monumentalen Sammelband China. Schilderungen aus Leben und Geschichte, Krieg und Sieg. Ein Denkmal den Streitern und der Weltpolitik (1901) der – herausgegeben von dem berühmten Joseph Kürschner (1853–1902) – den deutschen Beitrag zum europäischen militärischen Eingreifen in China 1900 – 1901 verherrlichen sollte. Mays Roman, der sich für Liebe und Völkerverständigung einsetzt, läuft dieser Tendenz zuwider. Er selbst reflektiert dies in der erweiterten Fassung des Romans Und Friede auf Erden! (1904):

„Ich hatte etwas geradezu Haarsträubendes geleistet, allerdings ganz ahnungslos: Das Werk war nämlich der ‚patriotischen‘ Verherrlichung des ‚Sieges‘ über China gewidmet, und während ganz Europa unter dem Donner der begeisterten Hipp, Hipp, Hurra und Vivat erzitterte, hatte ich mein armes, kleines, dünnes Stimmchen erhoben und voller Angst gebettelt: ‚Gebt Liebe nur, gebt Liebe nur allein!‘“

In der fein ziselierten Schilderung des profanen Erlebnisses einer Fahrt in einer Rikscha drückt sich der liebevolle Blick des umfangreichen Romans auf das Menschliche in nuce aus.

Quelle:

Karl May: Et in terra pax. Erstdruck in: Joseph Kürschner (Hg.): China. Schilderungen aus Leben und Geschichte, Krieg und Sieg. Ein Denkmal den Streitern und der Weltpolitik. Leipzig 1901. Reprint der Karl-May-Gesellschaft 2001, S. 309ff.

Literaturauswahl:

Karl May: Und Friede auf Erden. Band 30 der Gesammelten Werke. Bamberg 2008 (280. Tsd.)

Ders.: Briefwechsel mit Joseph Kürschner. Band 94 der Gesammelten Werke und Briefe. Bamberg 2013

Dieter Sudhoff/Hartmut Vollmer (Hg.): Karl Mays „Und Friede auf Erden!“ Oldenburg 2001

Am Tode

„Sihdi, wie denkst du über das Sterben?“

Wir waren stundenlang schweigsam nebeneinander her geritten, und nun erklang diese Frage so plötzlich, so unerwartet, so unmotiviert, dass ich den Sprecher erstaunt ansah und keine Antwort gab. Das arabische Wort Sihdi bedeutet „Herr“. So pflegte mich Halef noch immer zu nennen, obgleich wir schon längst nicht mehr Herr und Diener, sondern Freunde waren.

„Sihdi, wie denkst du über das Sterben?“, wiederholte er seine Frage, als ob er annehme, dass ich ihn nicht verstanden habe.

„Du kennst ja meine Ansicht über den Tod“, antwortete ich nun. „Er ist für mich nicht vorhanden.“

„Für mich auch nicht. Das weißt du wohl. Aber ich habe dich nicht nach dem Tode, sondern nach dem Sterben gefragt. Dieses ist da. Kein Mensch kann es wegleugnen!“

„So sage mir zunächst, wie du zu dieser Frage kommst! Mein lieber, heiterer, stets lebensfroher Hadschi Halef spricht vom Sterben! Hast du etwa einen besonderen Grund zu dieser deiner Frage?“

„Nein. Von meiner Seele, meinem Geiste, meinem Verstande wurde sie nicht ausgesprochen, sondern sie ist mir aus den Gliedern in den Mund gestiegen.“

Das klang wohl sonderbar; aber ich kannte meinen Halef. Er pflegte mit dergleichen, für den ersten Augenblick auffälligen Ausdrücken immer den Nagel auf den Kopf zu treffen. Darum wiederholte ich seine Worte:

„Aus den Gliedern? Fühlst du dich vielleicht nicht wohl?

„Es fehlt mir nichts, Sihdi. Ich bin so gesund und stark wie immer. Aber es ist etwas in mich hineingekrochen, was nicht hineingehört. Es ist etwas Fremdes, etwas Überflüssiges, was ich nicht in mir dulden darf. Es steckt in meinen Gliedern, in den Armen, in den Beinen, in jeder Gegend meines Körpers. Ich weiß nicht, wie es heißt und was es will. Und dieses unbekannte, lästige Ding ist es, welches dich über das Sterben gefragt hat.“

„So wird es wohl wieder verschwinden, wenn wir es gar nicht beachten, ihm gar keine Antwort geben.“

„Meinst du? Gut; wollen wir das versuchen!“

Er kehrte nach diesen Worten in sein früheres Schweigen zurück.

Sollte jemand fragen, wer dieser mein Hadschi Halef eigentlich war? Jeder meiner Leser hat ihn nicht nur kennengelernt, sondern auch von Herzen liebgewonnen. Früher mein Diener, jetzt der Scheik eines mächtigen Beduinenstammes. Früher ein strenger, zelotischer Muhammedaner, jetzt im Innern wahrer Christ und seelensguter Menschenfreund. Stolz, eigenwillig, ehrgeizig, dabei aber mir treu und opferwillig, zu jedem, selbst dem schwersten Dienst bereit. Es gab keinen Zweiten, der in Beziehung auf die orientalische, bilder- und blumenreiche Ausdrucksweise sich mit ihm messen konnte. Wenn er von etwas begeistert war, ging ihm das Maß verloren. Dann war es höchst ergötzlich, ihm zuzuhören. In solchen Augenblicken glaubte er so fest an seine eigenen Übertreibungen, dass es bei seinem heißblütigen Temperamente nicht geraten war, sich in Widerspruch mit ihm zu setzen.

Der liebe, kleine, so gern lustige Hadschi war seit gestern oder wohl schon seit vorgestern ungewöhnlich ernst und in sich gekehrt gewesen, bei ihm eine Seltenheit. Ich hatte angenommen, dass ihn irgendein Gedanke innerlich beschäftige; nun aber wusste ich, dass dies nicht der Fall gewesen sei. Es war eine körperliche Indisposition vorhanden, von der ich annahm, dass sie bald vorübergehen werde.

Wir waren von Basra über Muhammera und Doraq an den um diese Zeit ziemlich wasserreichen Dscherrahi gekommen und hatten uns von ihm in die Berge des südlichen Luristan führen lassen. Nun war der Fluss längst verschwunden, und wir befanden uns in einem wasserarmen Gebiete, wo der Regen höchst selten und dann nur als kurzes, aber verheerendes Gewitter aufzutreten pflegt. Die Höhen ragten schroff und steil empor. Ihre Hänge waren kahl. Man sah keinen Baum, nur hier und da einen durstigen Strauch. Die Sonne brannte am Tage heiß hernieder; die Nächte hingegen waren empfindlich kalt, und wo es in den Schluchtentiefen mit Gras bewachsene Stellen gab, da hatte dieses Grün sein Dasein nur dem Tau der kalten, wunderbar sternenhellen Nächte zu verdanken.

Wir glaubten, morgen den obersten Zufluss des Quran zu erreichen. Dort, wo es Wald und Wasser gab, wollten wir uns ausruhen und unseren Pferden einige Tage Zeit lassen, sich von der jetzigen Anstrengung zu erholen. Es waren edle Pferde, zwei Rappen. Assil Ben Rih hieß der meinige. Der Hengst Halefs hieß Barkh, was „Blitz“ bedeutet. Über die Eigenschaften und den Wert dieser beiden Tiere habe ich bereits an anderer Stelle das Nötige gesagt.1

Jetzt war es Nachmittag. Wir strebten einem Höhenkamm zu, dessen Erklimmen die Kräfte unserer Pferde so in Anspruch nahm, dass wir, als wir endlich oben angekommen waren, für einige Zeit anhielten, um sie verschnaufen zu lassen. Tief unter uns sahen wir das leere, wild zerrissene Bett eines Regenbaches, dem wir zu folgen hatten, wenn wir den jenseitigen Gebirgszug erreichen wollten. Ich sprach die Hoffnung aus, dass sich dort ein zum Übernachten geeigneter Ort finden lassen werde. Aber Halef ging nicht, wie ich geglaubt hatte, auf diesen Gedanken ein, sondern er sagte:

„Sihdi, ich habe es versucht, doch vergeblich. Die Frage kommt immer wieder. Wie denkst du über das Sterben? Antworte mir; ich bitte dich!“

„Lieber Halef, meinst du nicht, dass es besser wäre, von etwas anderem zu sprechen?“

„Besser oder nicht besser; ich kann jetzt an nichts anderes denken. Es ist, wie ich schon sagte, nicht der Tod, den ich meine. Den habe ich auch früher für etwas Wahres gehalten, jetzt aber weiß ich, dass er nichts als Täuschung ist. Wenn wir von ihm sprechen, so meinen wir eben das Sterben, welches doch kein Tod ist. Hast du schon darüber nachgedacht?“

„Natürlich! Jeder ernste Mensch wird das tun. Warum fragst du denn nicht dich selbst? Du hast doch ebenso wie ich schon Menschen sterben sehen?“

„Nein, noch keinen!“

„Wieso? Ich habe doch mit dir vor Sterbenden gestanden!“

„Allerdings. Aber sterben sehen habe ich trotzdem noch keinen Einzigen. Man legt sich hin; man schließt die Augen; man röchelt; man hört auf zu atmen; dann ist man gestorben. Aber was ist dabei geschehen? Hat etwas aufgehört? Hat etwas angefangen? Hat sich etwas fortgesetzt, nur in anderer als der bisherigen Weise? Kannst du mir das sagen?“

„Nein, das kann ich nicht. Das kann überhaupt kein Lebender. Und wenn die Gestorbenen wiederkommen und zu uns sprechen könnten, wer weiß, ob sie es vermöchten, deine Frage zu beantworten. Sie würden vielleicht auch nichts weiter sagen können, als dass im Sterben die Seele von dem Leib geschieden wird.“

„Von ihm geschieden! Wo kam sie her? Wurde sie ihm gegeben? Ist sie in ihm entstanden? Was hat sie in ihm gewollt? Geht sie gern von ihm? Oder tut ihr das Scheiden von ihm weh?“

„Lieber Halef, ich bitte dich, von diesem Gegenstande abzubrechen! Was Gott allein wissen darf, das soll der Mensch nicht wissen wollen!“

„Woher weißt du, dass nur Allah es wissen darf? Das Sterben ist ein Scheiden. Ich darf ja wissen, wohin mich dieses Scheiden führen soll, nämlich in Allahs Himmel. Warum soll es mir verboten sein, zu erfahren, in welcher Weise dieser Abschied vor sich geht? Höre, Sihdi, während du in der vergangenen Nacht schliefest, habe ich darüber nachgedacht. Soll ich dir sagen, was mir da in den Sinn gekommen ist?“

„Ja. Sprich!“

„Ich bin der Scheik der Haddedihn, ein in der Dschesireh sehr reich gewordener Mann. Worin besteht mein Reichtum? In meinen Herden. Da sendet mir der Sultan einen Boten, durch welchen er mir sagen lässt, dass ich nach drei oder fünf Jahren in die Gegend von Edreneh ziehen soll, um Rosen zu züchten, welche mir den Duft ihres Öles zu geben haben. Was werde ich tun? Kann ich meine Herden mitnehmen? Nein. Ich werde sie nach und nach aufgeben, um mir an ihrer Stelle anzueignen, was mir dort in Edreneh von Nutzen ist. Und wenn ich das getan habe, so kann ich, wenn die Zeit gekommen ist, aus meinem bisherigen Lande scheiden, ohne mitnehmen zu müssen, was im neuen Lande mir nur hinderlich sein würde. So ist es auch beim Sterben. Ich wohne in diesen Leben, doch Allah hat mir seine Boten gesandt, welche mir sagen, dass ich für ein anderes bestimmt bin. Nun frage ich mich, was ich in jenem anderen Leben brauchen werde. Früher glaubte ich, es sei nichts weiter nötig als nur der Kuran und seine Gerechtigkeit. Aber ich lernte dich kennen und erfuhr, dass diese Gerechtigkeit bei Allah nicht einen Para Wert besitzt. Ich weiß jetzt, was ich hier hinzugeben und was ich mir dafür für dort einzutauschen habe. Ich will Liebe anstatt des Hasses, Güte anstatt der Unduldsamkeit, Menschenfreundlichkeit anstatt des Stolzes, Versöhnlichkeit anstatt der Rachgier, und so könnte ich dir noch vieles andere sagen. Weißt du, was das heißt, und was das bedeutet? Ich habe aufzuhören, zu sein, der ich war, und ich habe anzufangen, ein ganz anderer zu werden. Ich habe zu sterben, an jedem Tage und an jeder Stunde, und an jedem dieser Tage und jeder dieser Stunden wird dafür etwas Neues und Besseres in mir geboren werden. Und wenn der letzte Rest des Alten verschwunden ist, so bin ich völlig neu geworden; ich kann nach Edreneh, nach Allahs Himmel gehen, und das, was wir das Sterben nennen, wird grad das Gegenteil davon, nämlich das Aufhören des immerwährenden bisherigen Sterbens sein!“

Nachdem er dies gesagt hatte, sah er mich erwartungsvoll an. Ich war nicht nur erstaunt, ich war sogar betroffen. War es denn möglich, dass mein Hadschi derartige Gedanken hegen und solche Worte sprechen konnte?!

„Halef, sag mir aufrichtig: Bist du krank?“, fragte ich ihn.

„Krank?“, lächelte er. „Du meinst im Kopfe? Ist das, was ich gesagt habe, so töricht gewesen?“

„Nein. Unklar zwar, aber so gut, so gut! Ich meine körperlich krank.“

„Ich sagte dir doch schon, dass ich gesund bin. Ein klein wenig matt bin ich seit gestern, und heut drückt etwas gegen meine Stirn. Die Sonne schien an diesen beiden Tagen gar so heiß. Das ist der Grund. Zu sagen hat es nichts.“

„Und anstatt zu schlafen, hast du deinen Gedanken nachgehangen. Wir werden heut eher als gewöhnlich Rast machen. Dir ist Ruhe nötig. Komm; reiten wir weiter!“

Es ging nur langsam in das Tal hinab, und dann folgten wir dem Regenbette, dessen Windungen uns wieder aufwärts führten. An einer schmalen Stelle ritt ich voran, als hinter mir ein lautes, zitterndes „Huh u uh!“ erklang.

„Was war das?“, fragte ich, indem ich mich umdrehte.

„Mich fror ganz plötzlich.“ antwortete Halef.

Ich sagte nichts, aber ich begann, besorgt um ihn zu werden. Der wackere Hadschi besaß eine fast ebenso eiserne Gesundheit wie ich selbst, doch war es sehr leicht möglich, dass er während unseres Aufenthaltes in dem höchst ungesunden Basra irgendeinen Ansteckungsstoff in sich aufgenommen hatte, der nun in ihm zu wirken begann.

Als wir höher kamen, erhob sich ein scharfer Wind. Die Nacht versprach sehr kalt zu werden, und das Gesicht Halefs zeigte eine Entfärbung, die mir nicht gefiel. Ich wünschte sehr, baldigst an eine vom Zuge freie Stelle zu kommen, wo wir zur Nacht bleiben konnten. Dieses Verlangen wurde auch sehr bald erfüllt, wenn auch in anderer Weise, als ich erwartet hatte.

Wir erreichten das Ende oder vielmehr den Anfang des Regenbaches. Zwei Bergeshänge stießen zusammen und bildeten ein Becken, dessen undurchlässiger Felsengrund das Wasser angesammelt hatte. Es gab in Folge der Feuchtigkeit da allerlei Gesträuch, mit Hilfe dessen man sich ein wärmendes Lagerfeuer gestatten konnte. Das war uns beiden natürlich sehr willkommen. Weniger erfreulich aber war, dass wir die Stelle schon besetzt fanden. Es lagerte ein Dutzend Männer da, deren abgesattelte Pferde am Wasser grasten. Sie sprangen überrascht auf, als sie uns kommen sahen. Ihre zurücktretenden Stirnen und hohen Hinterköpfe ließen mich vermuten, dass sie Luren seien. Bewaffnet waren sie nicht besser und nicht schlechter als alle diese Leute. Ihre Kleidung war die gewöhnlicher armer Nomaden, und auch unter ihren Pferden gab es keines, welches einen besonderen Wert gehabt hätte. Ob wir in ihnen ehrliche oder unehrliche Leute vor uns hatten, das wussten wir natürlich nicht, doch waren wir gewohnt, vorsichtig zu sein. Dass sie uns mit neugierigen und unsere Pferde mit bewundernden Blicken betrachteten, konnte uns nicht auffallen. Und ebenso wenig erregte es unsere Bedenken, dass sie unseren Gruß nicht abwarteten, sondern uns in jenem Gemisch von Arabisch, Persisch und Kurdisch willkommen hießen, welches man in diesem Grenzgebiete so oft zu hören bekommt.

Es gab unweit des Wassers einen alten Mauerrest, der gegen den Wind schützte; jedenfalls die beste Lagerstelle hier an diesem Platze. Sie wurde uns sofort und freiwillig angeboten, und wir machten von dieser Zuvorkommenheit recht gern Gebrauch. Man fragte uns nicht nach Namen, Stand und Herkommen, auch nicht nach der Religion, was hier, wo Sunniten und Schiiten einander stets feindlich gegenüberstehen, eine Seltenheit war. Auch gab es keine der gewöhnlichen Aufdringlichkeiten, denen man bei dem Zusammentreffen mit derartigen Leuten fast stets ausgesetzt ist. Kurz, wir fanden keinen Grund, wegen der Anwesenheit dieser Männer um uns besorgt zu sein.

Selbst als wir unsere Pferde abgesattelt hatten, belästigten sie weder die Tiere noch gaben sie ihre Urteile über sie in jener lauten, lärmenden Weise ab, welche zudringlich ist. Auch unsere, besonders meine Waffen fielen ihnen auf; das sahen wir ja, aber sie gestatteten sich nicht, uns nach ihnen zu fragen oder gar sie zu berühren und zu untersuchen. Wir waren in ihren Augen vornehme Fremde, denen sie mit Achtung und Rücksicht zu begegnen hatten. Diesen Eindruck machten sie auf uns.

Sie gingen nur ein einziges Mal aus ihrer höflichen Zurückhaltung heraus. Nämlich als Halef Holz zu sammeln begann, um für uns ein Feuer anzuzünden, leisteten sie ihm bereitwilligst Hilfe; dann aber hielten sie sich wieder so entfernt von uns wie vorher. Trotz alledem beschloss ich, zu wachen, während der Hadschi schlafen würde. Die Ruhe tat ihm not.

Ich nahm von unseren Datteln und aß. Halef versicherte, weder Hunger noch Appetit zu haben. Das hörte ich nicht gern. Dann sah ich wiederholt, dass er in sich zusammenschauerte.

„Friert dich wieder?“, fragte ich ihn.

„Ja“, antwortete er. „Aber es ist wie ein Frieren ohne Kälte. Ich möchte gern etwas recht Heißes trinken. Meinst du, dass ich diese Leute hier um etwas Kaffee bitten dürfte?“

Die Nomaden hatten nämlich auf ihrem Feuer ein großes Blechgefäß stehen, in welchem sie Kaffee kochten. Der Geruch dieses Getränkes verfehlte auch auf mich seine Wirkung nicht. Ich ging also hin zu ihnen und brachte unser Anliegen vor. Ich sah ganz deutlich, dass man sich herzlich darüber freute, uns diesen Gefallen erweisen zu können. Der, welcher ihr Anführer zu sein schien, sagte:

„Herr, ihr steigt in großer Güte zu uns nieder. Wir sind arme Leute, und dieser Kaffee wurde so bereitet, wie er sich für uns ziemt. Ihr aber sollt einen anderen, besseren haben, der eurer würdig ist. Habt einige Minuten Geduld; dann wird er fertig sein.“

Wir hätten ihn ja auch so genommen, wie sie ihn hatten; aber wenn man an Stelle des weniger Guten etwas Besseres bekommen kann, so wäre man ein Tor, es abzulehnen. Übrigens pflegt man in jenen Gegenden dem Kaffee Gewürz beizumischen, welches nicht hinein gehört. Der, welchen sie jetzt tranken, duftete ziemlich stark nach Cardamomen, und das war weder nach meinem noch nach Halefs Geschmack. Ich erlaubte mir, ihnen dies zu sagen. Der Mann antwortete so schnell und so bereitwillig, dass es mir unter anderen Umständen ganz gewiss aufgefallen wäre:

„Wir werden den eurigen nicht würzen, Herr. Aber unsere Bohnen haben einen etwas bitteren Beigeschmack, der euch ohne Gewürz mehr auffallen wird. Sie werden beim Händler in der Nähe einer bitteren Sache gestanden haben. Uns tut das nichts; euch aber wird es ungewöhnlich sein.

Die Verhältnisse in den Kaufläden des Orients sind so mangelhafte, dass es gar kein Wunder ist, wenn irgendeine Sache den Geruch oder den Geschmack einer anderen „anzieht“. Dass der Kaffee ein wenig bitter schmecken werde, konnte also keinen irgendwelchen Verdacht in uns erwecken; aber der Eifer, mit dem es mir gesagt wurde, hätte meine Aufmerksamkeit erregen sollen. Diese Leute hatten, wie wir später erfuhren, uns schon lange Zeit, bevor wir sie bemerkten, von der jenseitigen Höhe herabkommen sehen und sich aus ganz bestimmten Gründen bei unserer Annäherung so gestellt, als ob sie keine Ahnung von uns gehabt hätten. Zu dem Plane, den sie ausführten, gehörte ganz besonders auch der Kaffee, den sie uns angeboten hätten, wenn ich nicht von selbst mit meiner Bitte gekommen wäre.

Das Frostgefühl Halefs nahm zu. Es schüttelte ihn, und darum war es wohl begreiflich, dass er, als wir das heiße Getränk bekamen, einen großen Becher voll auf einmal leerte und ihn sich auch gleich wieder füllen ließ. Ich genoss meinen Teil langsamer. Er war stark, sehr stark. Ich nahm freilich an, dass die Ursache dieser Übertreibung nur darin liege, dass wir für vornehme Leute gehalten wurden. Bitter war er allerdings auch, aber man hat in den fernen, einsamen Grenzbergen zwischen Khusistan und Luristan keine Ursache, den Feinschmecker herauszukehren, und so trank ich nach und nach ebenso viel wie der Hadschi – – drei große Becher voll. Ich tat dies besonders in der Absicht, dadurch zum Wachen angeregt zu werden. Wir pflegten, abwechselnd zu wachen; heut aber hatte ich mir im Stillen vorgenommen, Halef nicht aus dem Schlafe zu wecken.

Unsere Pferde grasten ganz in unserer Nähe. Sie waren gewohnt, sich nicht von uns zu entfernen. Und ebenso gehörte es zu ihrer Eigenart, dass sie sich nur gezwungener Weise zu anderen Pferden gesellten. Sie hatten ihre „Geheimnisse“. Was das heißt, habe ich an anderen Orten wiederholt gesagt. Hierzu muss noch erwähnt werden, dass sie von Halef dressiert worden waren, auf den zweimaligen Zuruf des Wortes „Litath“2 und einen dazwischen tönenden Pfiff jeden fremden Reiter abzuwerfen. Der Beduine liebt dergleichen Dinge und hat auch Zeit genug, sie seinen Pferden beizubringen. Sie können unter Umständen von großem Nutzen sein.

Mein Assil Ben Rih war gewöhnt, dass ich ihm des Abends, ehe ich mich schlafen legte, die Sure „Abu Laheb“ langsam und deutlich in das Ohr sagte. Er hätte keinem Menschen Gehorsamkeit geleistet, der dies nicht wusste und also unterließ. Ich tat dies auch heut und streckte mich dann, in meine Decke gehüllt, neben Halef aus, obwohl es nicht meine Absicht war, einzuschlafen.

Zunächst machte ich die Bemerkung, dass mich der starke Kaffee nicht nur an-, sondern sogar aufgeregt hatte. Meine Denkkraft war in die schnellste Bewegung gesetzt. Es jagte eine Vorstellung die andere; ich konnte keine Idee festhalten. Dabei war diese innerliche Ruhelosigkeit keineswegs von der äußeren begleitet. Ich bewegte mich nicht. Es fiel mir gar nicht ein, auch nur ein Glied zu rühren. Ich hatte das Gefühl, dass ich mich überhaupt nicht mehr bewegen könne, aber zum festen, klaren Bewusstsein wurde es mir nicht.

Zuerst sah ich die sich hetzenden Gedanken trotz ihrer Schnelligkeit deutlich an und in mir vorüberfliegen. Nach und nach verloren sie ihre Bestimmtheit; sie wurden verschwommen; dann konnte ich sie überhaupt nicht mehr voneinander unterscheiden, und schließlich wusste ich von ihnen gar nichts mehr; aber auch ich selbst war mir verschwunden, vollständig verschwunden.

Später war es mir, als ob ich einige Male halb aufgewacht, aber sofort wieder eingeschlafen sei. Das wiederholte sich, bis mir irgendein Etwas zuflüsterte, dass ich in einem unnatürlich tiefen Schlafe liege, den ich unbedingt zu besiegen habe. Dieses Etwas war ich selbst; ich hatte mich wiedergefunden. Und nun begann ein Ringen mit den widerstrebenden Augenlidern und der bleiernen Gliederschwere, die mich fest und unbeweglich an dem Boden halten wollte. Dazwischen hinein war es mir, als ob ich das Krachen des Donners höre. Das Rauschen des Windes und des Regens drang mir wie aus weiter Ferne an das Ohr, und dann kam es mir vor, als ob ich in kalter Nässe liege, welche den ganzen Körper durchdrang und ihn aber glücklicher Weise auch endlich, endlich wieder bewegungsfähig machte. Ich strengte meinen ganzen Willen an, und da gelang es mir, den Oberkörper aufzurichten und die Augen zu öffnen. Was aber sah ich da!

Der Himmel war verschwunden. Ein fürchterliches Gewitter tobte. Ein Blitz zuckte nach dem anderen. Der Donner schien keine Pause zu kennen. Es ging Krach auf Krach und Schlag auf Schlag. Der Regen fiel wie eine kompakte Masse nieder. Er hatte das Felsenbecken, dessen Boden vorher nur bedeckt gewesen war, fast bis oben angefüllt. Vor mir saß Halef, mit dem Rücken am Gemäuer lehnend. Seine Augen waren geschlossen. Er regte sich nicht. Seine Kleidung bestand nur aus Hose, Weste, Hemd und Stiefel. Der Regen troff von diesen vollständig durchnässten Stücken. Das lenkte meinen Blick auf mich selbst. Auch ich hatte nur Hose, Weste, Hemd und Stiefel, ganz so wie Halef, weiter nichts. Alles andere fehlte. Kein Mensch außer uns beiden ringsumher! Die Nomaden waren fort, mit ihnen unsere Pferde, unsere Waffen und alles, was wir sonst noch besessen hatten. Ein Griff in meine Taschen zeigte mir, dass sie vollständig leer waren. Man hatte uns ausgeraubt, und wir mussten noch froh sein, dass wir nicht vollständig ausgezogen worden waren.

Ich kann nicht sagen, dass ich über diese Entdeckung erschrak. Selbst wenn ich ein schreckhafter Mensch wäre, so würde der Zustand der Betäubung, dem ich mich doch noch nicht ganz entrungen hatte, eine so energische Regung, wie der Schreck ist, gar nicht zugelassen haben. Ich rieb mir die Stirn, und es gelang mir, zwei Gedanken herauszureiben. Der erste war, dass wir in dem Kaffee Opium oder etwas dem Ähnliches getrunken hatten. Opiate sind ja in Persien, ihrem Erzeugungslande, von jedermann sehr leicht zu haben. Und zweitens sagte ich mir, dass uns jetzt nichts so sehr wie ruhige Überlegung geboten sei.

„Halef!“, rief ich dem Gefährten zwischen zwei Donnerschlägen zu.

Er antwortete nicht. Ich wiederholte seinen Namen und schüttelte ihn am Arme. Die Wirkung war eine höchst sonderbare:

„Litaht!“, rief er fast überlaut. Dann steckte er, ohne die Augen zu öffnen, den Zeigefinger krumm in den Mund, brachte einen schrillen Pfiff hervor und schrie dann das Wort zum zweiten Male.

Das war sein Zeichen für die Pferde, Fremden nicht zu gehorchen, sondern sie abzuwerfen. Warum jetzt dieses Zeichen? Es war gewiss ein Zusammenhang der Ideen oder der Umstände, welcher ihn veranlasste, es zu geben. Ich rüttelte ihn stärker und so lange, bis er die Augen aufschlug. Er starrte mich wie abwesend an.

„Halef, weißt du wer ich bin?“, fragte ich. Da trat das Bewusstsein in seinen Blick, und er antwortete:

„Mein Sihdi bist du. Wer denn sonst?“

„Wie befindest du dich? Wie ist dir jetzt?“

„Warm, sehr warm“, lächelte er.

Wie? Warm? Mich, den Gesunden, durchdrang eine eisige Kälte, und er, dessen Zustand mir Besorgnis eingeflößt hatte, fühlte sich warm, sogar sehr warm! Wenn ich richtig vermutet hatte, so konnte die jetzige Durchnässung ihm im höchsten Grade gefährlich werden. Und da fühlte er sich warm! War es etwa das Fieber, welches hier einmal als Wohltäter auftrat und ihm das Leben rettete?

„Weißt du, wo wir sind und was geschehen ist?“

Er schloss die Augen, wie um nachzusinnen, und antwortete nicht gleich. Dann öffnete er sie wieder, sprang mit einem einzigen Rucke in die Höhe und rief aus:

„Sihdi, du bist stets gegen den Gebrauch der Peitsche; aber hier ist sie es, welche das erste Wort zu sprechen hat! Es waren zwölf Mann. Sobald wir sie erwischt haben, bekommt ein jeder hundert Hiebe; das macht zusammen zwölfhundert Hiebe. Welche Seligkeit für mich!“

Er stand da, stolz und gerade aufgerichtet, als ob ihm nichts, aber auch gar nichts fehle. Bis auf das Hemd ausgeraubt, vollständig mittellos, sprach er doch genau so, als ob er der Beherrscher der Situation sei. Darum sagte ich:

„Rede mit Überlegung, lieber Halef! Schau dich und mich an! Wir sind Bettler; wir sind ganz ohnmächtige Menschen!“

„Bettler? Ohnmächtig? Was fällt dir ein! Wenn du nicht mein Sihdi wärest, so würde ich dir sagen, dass du dich schämen solltest, so ohne Selbstvertrauen zu sein! Kennst du denn dich und mich nicht mehr? Hast du vergessen, was wir alles erlebt und erzwungen haben? Bettler und ohnmächtig! Du bist der klügste Mann des Abend- und ich bin der pfiffigste Halef des ganzen Morgenlandes! Grad dass wir vollständig ausgeraubt und scheinbar ohne Mittel und ohne Hilfe sind, muss uns willkommen sein! Denn das gibt uns Gelegenheit, zu zeigen, was wir können! Lass mich nur machen! Ich werde überlegen. Ich habe nicht immer geschlafen; ich bin auch aufgewacht; aber bewegen konnte ich mich leider nicht. Ich habe gesehen und ich habe gehört. Was? Darüber will ich nachdenken.“

Er setzte sich wieder nieder, obgleich die Stelle nass wie jede andere war. Den Kopf in die Hände legend, sah er auf die Erde. Dabei sagte er, indem er zwischen den einzelnen Worten oder Sätzen längere oder kürzere Pausen machte:

„Ich wurde hin und her gewälzt, wachte aber nicht auf. – Ich fühlte fremde Hände in meinen Taschen, konnte mich aber nicht wehren. – – – Man hatte uns schon drüben auf dem Bergkamme stehen sehen, wo wir die Pferde ausruhen ließen. – – – Man beschloss, uns nicht zu überfallen und nicht zu töten, sondern mit Effjuhn3 wehrlos zu machen. – – – Dann war es Tag geworden. Ich hörte die Hufe der Pferde und dachte an unsere Hengste. Das gab mir Kraft die Augen aufzuschlagen. Ich sah, dass die Diebe fort wollten. Eben schwangen sich zwei auf unsere Rappen. Der Grimm darüber machte mich sofort gesund, leider nur für einen Augenblick. Ich rief zweimal das Wort und gab den Pfiff. Die Hengste gehorchten sofort. Sie gingen in die Luft, und die beiden Kerle flogen in weitem Bogen auf die Erde nieder. Der eine stand wieder auf. Der andere aber konnte das nicht tun; er musste aufgehoben werden. Allah gebe, dass er ein Bein gebrochen hat, noch besser aber alle beide! – – – Dann schlief ich wieder ein, doch nicht lange Zeit, denn ich sah sie fortreiten, da grad hinauf; jenseits verschwanden sie. Die helle Morgensonne schien. Nun aber kam der tiefste Schlaf, aus welchem mich der Donner weckte. Ich setzte mich auf und lehnte mich hierher. Mehr zu tun, hatte ich nicht die Kraft. – – – Ich träumte allerlei, bis ich von dir aufgerüttelt wurde. – – – Das, Sihdi, ist es, was ich dir sagen kann, weiter nichts!“

Wie kam es wohl, dass er nicht so tief wie ich geschlafen hatte? Hatten die in seinem Körper tätigen Krankheitserreger die Wirkung des Opiums abgeschwächt? Wohl möglich! Da umzuckte uns ein Blitz, als ob wir mit der nächsten Umgebung in einer einzigen Flamme ständen; es folgte ein betäubender Donnerschlag und dann gab es plötzlich keinen Tropfen Regen mehr. Das Wetter war vorüber; die Wolken verschwanden schnell, und hierauf schien die Sonne erwärmend und trocknend auf uns hernieder. Ihr Stand sagte uns, dass es Nachmittag gegen drei Uhr sei. Uhren hatten wir nicht mehr.

Es war, als ob uns mit der Sonne die volle Lebenskraft zurückgegeben worden sei. Halef behauptete, er sei vollständig gesund und wohl und fühle nicht das geringste Unbehagen. Er wurde, wie sich später herausstellte, getäuscht. Ich hatte Kopfschmerzen und vermisste sowohl die körperliche als auch die geistige Elastizität. Das konnte mich aber nicht hindern, zu tun, was nötig war. Zu überlegen gab es nichts. Wir konnten nichts anderes tun, als den Dieben folgen. Der Regen hatte zwar alle ihre Spuren weggewischt, aber wir wussten doch, nach welcher Richtung sie sich entfernt hatten. Eigentlich war es lächerlich, dass wir ohne alle Waffen und zu Fuße wohlbewaffnete Reiter verfolgen wollten, um ihnen ihren Raub wieder abzunehmen; aber sie konnten doch nicht wochenlang in einer Tour fortreiten. Sie mussten einen Ort haben, an welchem sie wohnten, und dieser konnte nicht wohl jenseits der Grenzen dieser Berge liegen. Wir mussten uns auf unseren Scharfsinn verlassen und unserem alten, guten Glück Vertrauen schenken. Die größte Misslichkeit unserer Lage bestand darin, dass wir ohne Lebensmittel waren. Aber verhungern konnten wir nicht, denn nur eine Tagesreise von hier gab es am oberen Quran bewohntes Land, wo wir wohl bekommen würden, was uns nötig war. Übrigens trug ich auf der Brust die Brieftasche mit den Geldwerten, welche mich gegen jeden späteren Mangel sicherstellten. Es fiel mir nicht im Geringsten ein, gleich von vornherein an unserem Erfolge zu verzweifeln. Wenn Halef munter blieb, konnte sich sehr wohl ein guter Ausgang einstellen. Er behauptete, bereit zu sein, und so traten wir in dem scheinbar hilflosen Zustande, in welchem wir uns befanden, an eine Aufgabe heran, zu deren Lösung mehr, viel mehr gehörte, als uns zur Verfügung stand.

Das Trocknen unserer höchst mangelhaften Anzüge ganz einfach der Sonne überlassend, verließen wir das Wasserbecken und stiegen in der Richtung bergan, in welcher sich die Nomaden entfernt hatten. Es war eine Art Bergsattel, auf dessen anderer Seite sie verschwunden waren. Gebahnte Wege gab es natürlich nicht. Jeder konnte die ihm beliebige Richtung einschlagen; aber es verstand sich ganz von selbst, dass er sich den bequemsten Abund Aufstieg suchte. Wenn das Terrain mehrere bequeme Richtungen bot und es keine Spuren gab, so war es freilich für uns schwer, zu bestimmen, wohin die Gesuchten sich gewendet hatten. Das war hier oben der Fall. Gegenüber lagen nackte Höhen, hinter denen im Osten Berge emporstiegen, welche bewaldet oder doch wenigstens mit Gebüsch bestanden zu sein schienen. Es war anzunehmen, dass die von uns Verfolgten dorthin geritten seien. Grad vor uns ging ein breiter, sanft geneigter Felsenhang hinab, an dessen Fuße drei verschiedene, nach Osten gehende Täler mündeten. Welches von diesen dreien war gewählt worden? Das wussten wir nicht. Jammerschade, dass der Regen jede Spur verwaschen hatte.

Wir stiegen hinab und begannen, das Terrain abzusuchen, obgleich wir keine Hoffnung auf Erfolg hatten. Aber das Glück, von dem ich vorhin sprach, war uns günstig. Das mittlere dieser Täler war das breiteste und, wie es schien, bequemste. Darum gingen wir zunächst eine Strecke weit in dasselbe hinein. Da sahen wir den zwei Finger starken Ast eines Strauches liegen. Er war gewiss erst heute früh abgeschnitten und gehörte derselben Buschgattung an, welche oben am Wasser gestanden hatten. Er war an dem einen Ende zersplittert und zwischen diesen Splittern hingen zwei lange schwarze Pferdehaare. Er lag ganz nahe an einem hoch und glatt aufragenden Felsenstück, dessen Vorderseite fast ganz trocken war, da der Wind den Regen von Süden gebracht hatte. Es gab da in fast Manneshöhe eine feuchte, rote Stelle am Gestein, und unten auf dem Erdboden war ein mehrere Hände großer Flecken geronnenen Blutes zu sehen, welches der Regen nicht getroffen und also auch nicht aufgelöst hatte.

„Ob das ein Beweis ist, dass unsere Spitzbuben hier gewesen sind?“, fragte Halef.

„Ja. Und zwar ein sicherer Beweis“, antwortete ich. „Um welches von unseren Pferden es sich handelt, das weiß ich nicht; aber man hat eines von ihnen hierher an den Felsen gedrängt, um es zu zwingen, sich besteigen zu lassen. Es hat sich gewehrt und ist dafür mit diesem Aste gezüchtigt worden. Man hat ihn an dem edlen Tiere in Splitter geschlagen und diesem dabei diese Haare aus dem Schwanze gerissen. Aber der Hengst hat die Missetat sofort vergolten und den Betreffenden so getroffen, wahrscheinlich an die Brust, dass aus seiner Lunge ein Bluterguss erfolgt ist. Sie sind also in diesem Tale aufwärts geritten, und wir wissen nun, welche Richtung wir einzuschlagen haben, wenn wir ihnen folgen wollen.

„Wie? Was?“, fragte Halef zornig. „Unseren Barkh oder unseren Assil Ben Rih geschlagen? Mit diesem Knüppel hier? Das muss hundertfach gerochen werden! Das erste Gebot für uns ist, Allah zu lieben; das zweite ist, die Menschen zu lieben, und das dritte ist, die Tiere und überhaupt alle Geschöpfe zu lieben, welche uns dienen sollen, weil Allah sie uns anvertraut hat. Wer gegen eines dieser drei Gebote handelt, der ist ja gar nicht wert, dass sie ihm gegeben worden sind! Ich will nicht etwa sagen, dass das Schlagen überhaupt verboten sei, denn warum hätte man sonst die Peitsche erfunden, und wozu wäre da ganz besonders auch meine eigene Kurbatsch4 vorhanden, welche in diesem Augenblick allerdings nicht mehr vorhanden ist? Ich hoffe aber, dass ich sie sehr bald wiederbekomme, um die Hiebe, mit denen die edle Haut unseres Pferdes entweiht worden ist, mit Zinsen und wieder Zinseszinsen von diesen Zinsen zurückgeben zu können! Wer ein Pferd schlägt, durch dessen Adern reines Blut und edler Wille fließt, der ist ein Schuft, ein Schurke, ein elender Taugenichts, der die größte Verachtung verdient. Und wenn er gar das Pferd vorher gestohlen hat und mit dem Knüppel also eine Stelle bearbeitet, welche gar nicht sein rechtmäßiges Eigentum ist, so – – so – so fehlen mir überhaupt die Worte, dir zu erklären, wie unendlich tief der Abgrund der Niederträchtigkeit ist, in dem er diese mir ganz unbegreifliche Tat begangen hat!“

Das war so recht die Gesinnung und Ausdrucksweise meines kleinen Hadschi. Er stand mit geballten Fäusten vor mir. Seine Augen blitzten, und sein Gesicht zeigte den Ausdruck des höchsten Zornes. Ein Vollblutpferd mit dem Stocke zu bestrafen, das ging ihm über alle menschenmöglichen Begriffe. Er riss mir den Ast aus der Hand und fuhr fort:

„Gib ihn mir! Ich sehe den Rücken schon von Weitem, auf welchem ich dieses Werkzeug der Missetat vollends zersplittern werde!“

„Sei ruhig, Halef“, fiel ich ein. „Schau hier das Blut! Die Tat ist ja schon gerächt worden, und zwar viel strenger, als du sie rächen könntest.“

„Meinst du? Hm! Ja! Der Haupttäter hat seinen Lohn bekommen. Aber es waren elf andere dabei, welche die Misshandlung geduldet haben. Traust du mir etwa zu, dass ich sie begnadige?“

Diese Frage war so ernst gemeint, dass ich über sie lächeln musste.

„Warum lachst du?“, fragte er. „Willst du etwa meinen Grimm vergrößern? Soll ich nun auch noch auf dich zornig werden?“

„Nein; das wünsche ich nicht, lieber Halef. Aber schaue dich an, und schenke auch mir einen Blick! Wie stehen wir da! Wie sehen wir aus! Worin besteht unser Besitz und unsere Macht? Und da sprichst du von Begnadigung?“

„Warum soll ich das nicht?“, fragte er im Tone des Erstaunens. „Werden wir etwa so, wie wir jetzt aussehen, hier stehen bleiben? Haben wir nicht soeben die Spur derer entdeckt, welche wir suchen? Werden wir ihnen denn nicht alles wieder abnehmen, was sie uns gestohlen haben? Und sind sie dann nicht ganz und gar in unsere Hände gegeben? Oh, Sihdi, von dir habe ich gelernt, an mich und dich zu glauben, und nun bist grad du es selbst, der keinen Glauben hat! Was soll ich von dir denken! Selbst wenn es aus allen anderen Gründen unmöglich wäre, an diesen Schurken Vergeltung zu üben, so ist doch diese eine Untat, unser Pferd geschlagen zu haben, so ungeheuerlich, dass sich das Kismet5 gezwungen sehen muss, uns diese Kerle auszuliefern! Also zweifle nicht! Ich weiß, was kommen wird. Pass auf, was ich jetzt tue!“

Er schleuderte den Ast weit von sich und fügte dann hinzu:

„So wie ich dieses Werkzeug des Verbrechens wegwerfe, so werde ich alle meine Güte und Gnade von mir werfen, wenn diese Spitzbuben mich um Schonung bitten! Sei so gut und komme mir dann ja nicht mit deiner wohlbekannten ‚Menschenliebe‘, mit welcher du mir schon so manche unbezahlte Rechnung ausgestrichen hast! Ich will und werde mich rächen, und zwar so, wie ich mich noch nie gerächt habe. Jetzt komm! Wir wollen fort von hier! Wir dürfen keine Zeit versäumen, um Gericht zu halten über alle, die uns beraubt, belogen, betrogen und beleidigt haben!“

Wir gingen, um dem Tale zu folgen, in welchem wir uns befanden. Mein Gesicht schien jetzt einen Ausdruck zu haben, der Halef nicht gefiel, denn dieser sah mich, während wir nebeneinander gingen, forschend an und sagte dann:

„Du lächelst abermals und doch ist es kein Lächeln. Du lächelst zwar sehr deutlich, aber innerlich. Habe ich Recht?“

„Ja“, nickte ich.

„So sag: Was kommt dir spaßhaft vor!“

„Deine Ungnade.“

„Die ist ganz und gar nicht lächerlich. Ich meine doch, dass du mich kennst, Sihdi!“