Das Russenhaus - Ota Filip - E-Book

Das Russenhaus E-Book

Ota Filip

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Beschreibung

Ota Filips fantastischer Roman lässt eine große Liebe und ihr tragisches Ende wieder lebendig werden. Sechs Jahre verbrachten Gabriele Münter und Wassily Kandinsky gemeinsam in Murnau im sogenannten Russenhaus, bis diese schöpferische Beziehung mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs ihr Ende fand. Der Autor lässt die Grenzen zwischen Realität und Traum verschwimmen, die Übergänge zwischen den Zeiten sind fließend. Es entsteht ein farbiges, detailreiches Lebensbild der beiden Ausnahmekünstler. Wie es wirklich war, wird man wohl nie erfahren, aber Ota Filips Fabulierkunst bereitet dem Leser das wunderbare Vergnügen, in das Leben und Leiden des Künstlerpaares einzutauchen, so als sei man selbst dabei gewesen.

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Seitenzahl: 302

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© 2022 Langen Müller Verlag GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten

Umschlag: Sibylle Schug

Umschlagmotiv: Gabriele Münter, Das Russenhaus in Murnau, 1931; © Artothek, Bildagentur der Museen, Spardorf

Herstellung: Ralf Paucke

Satz und Ebook-Konvertierung: VerlagsService Dietmar Schmitz GmbH, Heimstetten

ISBN 978-3-7844-8421-1

www.langenmueller.de

Gewidmet meiner Tochter Hana

Inhalt

Einführung

Das Russenhaus

Anmerkungen

Personenverzeichnis

Einführung

In der unglückseligen Liebesgeschichte zwischen Wassily Wassiljewitsch Ritter von Kandinsky und Gabriele Münter schränkt der Erzähler die Macht der Zeit und ihre Abläufe über uns und unsere Geschichten auf das Notwendigste ein. Zugleich gibt er der Zeit die volle Freiheit, hin und her zu fließen, von der Zukunft zurück in die Gegenwart oder von der Vergangenheit, ohne die Gegenwart wahrzunehmen, direkt in die Zukunft, wie von Gabriele Münter – für den Erzähler Ella – und von Wassily Wassiljewitsch Ritter von Kandinsky gewünscht.

Genau wie Wassily Kandinsky – Ritter und »von« lässt der Erzähler öfters weg – und Gabriele Münter, wird er die sechs Jahre von 1908 bis 1914, in welchen die beiden in Ellas Haus in Murnau lebten, nicht mit Datenangaben zerstückeln, sondern sie als einen einzigen Zeitabschnitt schildern, in dem diese wunderbaren Künstler viel gelitten und dabei Wunderbares geschaffen haben.

Auf die berechtigte Frage – wie konnte der Erzähler mit Menschen sprechen, die es nicht mehr gibt, sich in Ellas Haus lange Selbstgespräche anhören, ja zum Teil auch in ihren Geschichten, die schon fast vergessen sind oder die nur in der Phantasie des Erzählers geschehen sind, eine Rolle spielen? – zuckt der Erzähler mit den Schultern und erwidert:

»Auf diese Frage habe ich keine Antwort gefunden, weil ich sie, erstens, nicht gesucht habe, und sie mich zweitens nicht interessiert. Der wesentliche Teil meines vermeintlichen Wissens über Wassily und Gabrieles Liebe beruht auf meiner Phantasie, auf meinen fabulierten, nie stattgefundenen Gesprächen mit Ella und Kandinsky sowie auf Aussagen einer leider nicht verlässlichen Zeugin.

Die einzige Zeugin, die sich in Murnau noch an Gabriele Münter erinnert, hat sie erst mehr als zwanzig Jahre nach Kandinskys Aufenthalt in Murnau kennen gelernt und konnte dem Erzähler Geschichten aus den Jahren von 1908 bis 1914 im »Russenhaus« – so nannten und nennen die Einheimischen Gabriele Münters Murnauer Wohnsitz – erzählen, die sie von ihrer Großmutter Teresa, in dieser Zeit Dienstmädchen im Russenhaus, gehört haben will.

Die Tatsache, dass der Erzähler die ihm von einer Zeugin erzählten Geschichten über Wassily Kandinsky und Gabrieles Liebe nicht mehr überprüfen kann – alle anderen Zeugen sind nämlich schon lange tot –, hält er für seinen großen Vorteil: Selbst wenn er diese, wohl eher selten der Wahrheit entsprechenden Geschichten, durch seine Phantasie erweitert, wird ihm keiner beweisen können, dass er es mit seinem Fabulieren übertreibt oder sogar schon lügt.

Der Erzähler behauptet: Auch das, was zwischen Wassily Kandinsky und Gabriele in den aufregenden Jahren im Russenhaus nicht geschah oder gar nicht geschehen konnte, wird im Augenblick, in dem er es aufschreibt und publiziert, zur Wahrheit, auch wenn nur in der Literatur.

Der Erzähler, hingerissen von seiner Bewunderung für die Werke, die sie in Murnau geschaffen haben, verzichtet darauf, über diese großartigen Künstler und über ihre sechs Jahre in Murnau die Wahrheit und nichts als die Wahrheit zu schreiben, und zwar aus zwei Gründen: Erstens kennt er – und wer kennt sie schon? – Kandinskys und Gabrieles wahre Murnauer Geschichte nicht und zweitens nimmt er sich das Recht heraus, die beiden, Wassily Kandinsky und Gabriele Münter, in seiner literarischen Phantasie so auferstehen zu lassen, wie er ihnen in unserer Zeit in Murnau gerne begegnen möchte.

Einen Umweg, auf dem ich Ellas Russenhaus bei meinen täglichen zwei Spaziergängen in die Stadt hätte meiden können, konnte ich vier Jahre lang nicht frei wählen. Meine Feigheit, verbunden mit meiner ungezügelten Sehnsucht nach Ella, hinderten mich daran, links in meinen Umweg einzubiegen. Immer wieder schob mich eine unheimliche Kraft nach rechts in die Dr.-Seitz-Straße, die mich bei guter Witterung ohne Gegenwind nach dreihundertachtzehn, bei Schnee und Sturm nach dreihundertdreißig Schritten – ich habe meine Schritte mehrmals gezählt – direkt vor das blau-weiß-gelbe Haus führte.

Feigheit? Ein böses Wort, eine Beschimpfung.

Meine Feigheit hielt mich in den vergangenen vier Jahren fester im Griff als die Hoffnung, ich könnte mich von Ella und Gospodin Kandinskys Murnauer Geschichten befreien. Noch schlimmer: Ich ließ mich, und zwar freiwillig, in die Ereignisse im Russenhaus – sei es, dass sie tatsächlich geschehen sind oder ich, der Erzähler, sie mir ausgedacht habe – einbinden.

Einmal, sehr oft auch zweimal täglich, um neun Uhr in der Früh und um drei nachmittags, kapitulierte ich an der Straßenecke vor meiner Feigheit und ungezügelten Sehnsucht nach Ella und trat, obwohl ich zu gut wusste, dass ich mich für mein wiederholtes Versagen eigentlich hätte schämen müssen, den kürzesten Weg zu ihr an.

Bedauernd stelle ich fest:

Mit der Zeit habe ich mit einer gewissen Erleichterung, ohne Bedenken und ohne Widerstand, die Entscheidung über die Wahl meines Weges in die Stadt meiner Feigheit überlassen und mich dabei froh gefühlt, als ob mir die Verantwortung dafür ein zwar unsichtbares, dennoch in meiner unmittelbaren Nähe weilendes Wesen aus Fleisch und Blut abgenommen hätte.

Nach zwei Jahren kam ich mir wie ein leichter Eisenspan oder wie eine Nadel vor, die Ella – hoch oben auf dem Dach des Russenhauses sitzend – wie ein starker Magnet anzog.

Vier Jahre lang wusste Ella, davon bin ich fest überzeugt, dass ich ihr und Gospodin Kandinskys Werk bewundere, dass mich ihr Schicksal zu Tränen rührt. Doch sie schwieg, hörte nicht meine verzweifelten, vielleicht nicht immer aufrichtigen Liebeserklärungen, mit welchen ich ihre Aufmerksamkeit zu erhaschen suchte, sie übersah mich.

Fast vier Jahre lang hat mich Ella ignoriert.

*

In den ersten zwei Jahren, in denen ich Ella vielleicht sogar liebte, hatte sie kein Gesicht.

Auf ihrem Selbstporträt, das ich damals wie heute bewundere, saß sie auch nicht hoch oben auf dem Giebel ihres Russenhauses, sondern auf einer Terrasse rechts von einem weißen, vielleicht verschneiten Ziegeldach.

Gegen ein mit Schnee bedecktes Ziegeldach spricht der rote Boden der Terrasse, für einen Wintertag jedoch Ellas langes schwarzes Kleid aus schwerer Seide mit einem weißen Kragen und ihre Kopfbedeckung, eine schwarze Pelzmütze, die sie mit der rechten Hand festhält oder zurechtrückt.

Ella sitzt vor einer grün gestrichenen Wand, ihr Kopf ohne Gesicht ist von einem Schornstein umrahmt, dessen Ocker gar nicht ins Bild passt. Ein Stuhl oder ein Hocker ist nicht zu sehen. Schon der erste Blick auf Ellas Selbstporträt, in das ich mich verliebte, weckte in mir eine sonderbare Art von Neugier:

Warum ist sie ganz in Schwarz auf die Dachterrasse gestiegen?

Wäre sie nur deswegen hinaufgestiegen, um frische Luft zu schnappen, dann hätte sie sich bestimmt nicht hingesetzt.

Außerdem hat sie eine Pelzmütze auf und es sich auf einem unsichtbaren Stuhl oder Hocker bequem gemacht. Aber: wenn sich Ella mit einer warmen Kopfbedeckung auf die Terrasse begab, dann bedeutet das, dass sie eben nicht nur kurz Luft schnappen wollte, sondern dass sie vorhatte, hier längere Zeit zu verweilen.

Ellas rechte Hand an der Pelzmütze verrät Aufregung, vielleicht auch Ratlosigkeit. Ella ist bestimmt noch nicht lange auf der Dachterrasse, wahrscheinlich ist sie nach einem Vorfall im Haus aufgeregt oder verärgert.

Ich, der Erzähler, darf annehmen, dass sie allein sein und ihr durch Ärger, durch Trauer oder durch Verzweiflung verzerrtes Gesicht verbergen will.

In meiner Phantasie stand Ella vor einem Spiegel:

Über ihre linke Schulter sah ich ihr Gesicht: In ihren Augen erwartete ich ein wehmütiges Lächeln oder eine Träne, aber sie musterte ihre zusammengepressten Lippen, lehnte ihre Stirn an den Spiegel und flüsterte: »Warum tust du mir das an, Wassja? Du hättest nachts, wenn dir kalt war, aus deinem Schlafgemach zu mir ins Bett kommen können! Woher soll ich denn Geld für Holz oder Kohle hernehmen? Einen heißen Ziegelstein habe ich mir in mein Bett gelegt und ich bin auch noch nicht ganz erloschen. Aber nein, du hast absichtlich in der Kälte gelegen, laut geschnarcht und auf Russisch etwas gestöhnt, was ich nicht verstehen konnte. Immer wieder hast du einen russischen Namen gerufen: Bjena … Bjenotschka! Was hast du mit dieser Bjenotschka?«

»Nichts, nur ein Kind«, erwiderte Wassja im Hintergrund. »Aber reg dich nicht auf, Ella, es ist nicht sicher, ob Bjena wirklich schwanger ist und ob es überhaupt mein Kind ist.«

»Das letzte Mal bist du vor einem Monat in Moskau gewesen, Wassja.«

»Mir kommt es aber vor, Ella, als wäre ich vor einer Ewigkeit in Russland gewesen, als wären alle Wege nach Moskau für mich mit Eis bedeckt oder seit Jahren verwachsen. Wie bist du auf Bjena gekommen?«

»Im Schlaf hast du nach ihr gerufen.«

»Das wundert mich, Ella, denn ich habe Bjena schon längst vergessen.«

»In meinem Bett, oben im geheizten Schlafzimmer, wäre dir auch im schlimmsten Traum die Bjena nicht eingefallen. Wenn du bei mir schläfst, rufst du immer nur nach mir. In der letzten Zeit, auch jetzt im Winter, ziehst du dich jedoch immer öfter in dein Schlafgemach zurück. Liebst du mich nicht mehr, Wassja?«

»Liebe, Liebe«, kicherte der unsichtbare Wassja entweder hinter dem Spiegel oder in einer dunklen Ecke. »Ella, sage mir: Was ist Liebe? Wenn ich von der Kälte, von der Einsamkeit überwältigt und zitternd mein Schlafgemach verlasse, zu dir ins Schlafzimmer komme, unter dein Federbett krieche, mich an deinem Körper erwärme, ist das dann wirklich Liebe?«

»Wenn ich dir jetzt, wie schon so oft vorher, antworten würde, auch das ist Liebe, Wassja, dann hättest du wieder deine Lippen geschürzt, mich mit Hohn und Häme überschüttet und mir wieder einmal erklärt, dass unsere Liebe und unsere Gemeinsamkeit sich am überzeugendsten in unseren Werken verwirklicht, und nicht in meinem Bett.

Was bin ich für dich, Wassja? Eine Künstlerin, der du, der große Meister, das Malen beibringst, oder eine Frau, die dich liebt und von dir auch als eine Frau geliebt werden will?«

Mit einer Stimme, die ungeduldig und gereizt klang, erwiderte Wassja: »Ella, geben wir der Zeit genügend Zeit, damit sie sich auf deine Frage eine für uns beide befriedigende Antwort überlegen kann.«

*

Im Russenhaus lebten nur Ella und Wassja. Ein Streit, ein heftiges Gespräch war im Russenhaus nichts Seltenes. Ella, die das Haus verlassen wollte, wohin und warum werde ich nie erfahren, ließ ihren Wintermantel links vom Spiegel hängen, lief wütend auf die Dachterrasse, setzte sich, obwohl es dort keinen Stuhl und auch keinen Hocker gab, hin, ordnete ihr Haar oder rückte ihre Pelzmütze zurecht und atmete tief durch.

Sie wollte allein sein.

Die Einsamkeit ist auf dem Bild nicht nur zu sehen, man spürt sie förmlich: Mit dicken schwarzen Konturen grenzt sich Ella auch von ihrer Umwelt auf der Dachterrasse ab. Der Saum ihres langen schwarzen Kleides, eine Fläche ohne Falten, liegt auf einem roten Boden. Von den Knöcheln bis zum Hals ist Ella von Grün umgeben, fast erdrückt von dieser Farbe, die sie nicht mag. Ihr Gesicht, eine ovale Fläche mit einer Nase, die zu ihr nicht passt, ist mit dick aufgetragenen Konturen von einer Wand – wahrscheinlich ein gelb gestrichener Schornstein – getrennt.

Die Farben, die Ella für ihr Selbstporträt gewählt hat, schließen sich gegenseitig aus:

Das Schwarz grenzt sich vom Rot ab, das Grün, das die Mitte des Selbstporträts beherrscht, ist brutal aufgetragen und betont die weißen, am Rand gelben Ziegeldachsteine. Das Gelb des mit drei dicken schwarzen Linien angedeuteten Schornsteines fällt Ella fast auf den Kopf.

Die einzigen lebendigen Farben, das Rosa von Ellas linker, auf ihrem Oberschenkel ruhenden und ihrer rechten Hand, mit der sie sich die Pelzmütze zurechtrückt oder festhält – möglicherweise war es oben auf der Terrasse ziemlich windig und kalt – und der ovale Fleck, Ellas Antlitz, sind eingeengt mitten in diesem kühn-farbigen Unsinn von drei Flächen, die das verklärte Unglück und die ausweglose Einsamkeit dieser Frau unterstreichen.

Die Terrasse, auf der Ella saß, genauer gesagt, auf der sie sich malte, ist für den Erzähler ein Rätsel: Im Russenhaus gibt es auf dem Dach nämlich keine Terrasse, auf der Ella hätte frische Luft schnappen, auf die sie hätte fliehen und wo sie sich hätte verstecken können. Also muss Ella an diesem Wintertag in ein fremdes Haus und auf eine fremde Terrasse geflohen sein. Und wenn sie schon im Winter aus dem eigenen Haus in ein fremdes flieht, ohne Mantel und nur mit einer Pelzmütze auf dem Kopf, dann muss es einen ernsten Grund für eine solch überstürzte Flucht für Ella gegeben haben.

Oder hat Ella in ihrem Selbstporträt die fiktive Terrasse als Symbol ihrer Sehnsucht nach einem sicheren Fluchtort oder einem Versteck gemalt?

Ihr erstarrtes Gesicht ohne einen einzigen Gesichtszug zwang mich, mir noch eine weitere Geschichte auszudenken, die so zwischen Ella und Gospodin Kandinsky hätte geschehen können:

Auf Ellas Frage nach der Bjena schrie Kandinsky: »Bjena geht dich nichts an! Sie ist nicht hier, sie ist in Moskau! Und Moskau ist meine Welt, nicht deine!«

Nach diesen Worten setzte sich Ella vor dem Spiegel im Vorzimmer ihre Pelzmütze auf, ließ ihren Wintermantel am Haken links vom Spiegel hängen und flüchtete gedemütigt auf eine Dachterrasse, die es, wie schon gesagt, im Russenhaus nicht gab. Dort setzte sie sich in ihrer Sehnsucht nach einem Fluchtort oder Versteck hin – den Hocker oder Stuhl verdeckte ihr breiter Rock –, ordnete ihr Haar, rückte die Mütze zurecht, atmete tief durch und entschloss sich, ihr nächstes Selbstporträt auf einer nur in ihrer künstlerischen Vorstellung existierenden Terrasse, ihrem geheimen und sicheren Zufluchtsort, zu malen.

Ellas Unglück, das sie mit sicherer Hand malte, ihre Einsamkeit, der sonderbare Missklang der Farben, ein unsichtbares Netz, in dem sie sich selbst gefangen hält, das alles war für mich, den Erzähler, eine stumme, dennoch aufdringliche Aufforderung, Ellas Selbstporträt immer wieder zu betrachten und darin nach verschlüsselten Botschaften zu suchen, die ich – wie ich erst zu spät und sehr enttäuscht feststellen musste – nicht finden sollte, folglich auch nicht entziffern konnte.

Immer wieder starre ich das Bild an und hoffe, dass sie die Kälte auf der Terrasse doch einmal durchschüttelt, dass sie sich rührt und endlich mein Geflüster erhört: »Gehen Sie nach Hause, Ella! Allein und einsam zu sein ist in Ihrem Unglück ein noch größeres Unglück.«

Ella rührt sich nicht.

Mir scheint es, als hätte sie ein wenig ihre Lippen gekrümmt oder geschürzt.

In ihrem gesichtslosen Antlitz glitzern auf der Höhe ihrer Wangen zwei vom strengen Frost in fein geschliffene Diamanten verwandelte Tränen.

*

Vier Jahre wollte mich Ella nicht sehen, nicht hören, sie beachtete mich nicht, sie antwortete auf meine Fragen nicht; für sie war ich weniger als ein Windhauch, der die breite Krempe ihres abgewetzten, einst gelben, mit verwelkten künstlichen roten und blauen Blumen geschmückten Strohhutes ins Schwingen brachte und durch ihr schütteres, längst ergrautes Haar am Nacken blies. Und wenn ich sie in den vergangenen vier Jahren ansprach, dann nur, weil es mir dumm und unhöflich schien, an einer Dame, die auf dem Dach ihres Hauses sitzt, schweigend und mit gesenktem Kopf vorbeizugehen. Nun sagte ich, um überhaupt etwas zu sagen, zum Beispiel: »Heute haben wir ein scheußliches Wetter … Es wird wieder einmal ein heißer Tag werden … Heute wird es ein Gewitter geben … Der Föhn ist wieder einmal unerträglich …« Jedes Mal hob sie ihren Kopf, rückte ihren Hut zurecht, gähnte laut, wandte sich von mir ab und gab sich Mühe, mir eine Art von arroganter Gleichgültigkeit vorzugaukeln.

Ich muss gestehen, dass ich meine Floskeln, mit welchen ich Ella vier Jahre ansprach und höchstwahrscheinlich langweilte, selbst ziemlich dumm und unbeholfen fand. Doch es war wie verhext: Oft, wenn ich zu Ella hinaufsah, kam es mir so vor, als hätte mich ein sanfter Schlag getroffen, mich auf eine schonende Art gelähmt, mein Gehirn ausgeschaltet. Mit einer mir fremden Stimme, die ich nicht als die meine erkannte, stotterte ich dann gegen meinen in diesem Augenblick zusammengebrochenen Willen wieder einmal nur Floskeln. In der hintersten Ecke meines Gehirns beschimpfte ich mich immer wieder dafür, dass ich nicht fähig war, vor Ella einige kluge und wohl formulierte Sätze voll Poesie vorzutragen, wunderschöne, in erhabene Worte gefasste Bilder, die ich mir vor dem ersten Hahnenschrei ausgedacht, gedichtet oder von namhaften Dichtern aus ihre Werken abgeschrieben und auswendig gelernt hatte.

*

Jeden Tag, wenn ich mich um neun Uhr auf meinem Weg zur Post oder nachmittags um drei auf meinem Spaziergang in die Stadt Ellas Russenhaus näherte, roch ich schon von weitem ihren süßlich-sauren Duft, der sommers wie winters wie ein Schleier über ihrem Kopf schwebte.

Einer riesigen blauen Reiterin ähnlich saß sie auf dem Dach ihres Hauses.

Ihre entblößte rechte Wade mit dem angeschwollenen Knöchel hing locker von der Dachrinne herunter, mit ihrem abgetretenen, hohen Stöckelschuh, der überhaupt nicht zu ihrem blau angelaufenen Bein passte – das linke Bein konnte ich nicht sehen –, berührte sie den gepflegten Rasen.

Meine Ratlosigkeit, mit der ich mich jeden Tag, Sonn- und Feiertage nicht ausgenommen, Ellas Russenhaus näherte, war von einer ganz besonders beunruhigenden und geheimnisvollen Sorte.

Ich fragte mich immer wieder:

Sehe ich auf dem Dach tatsächlich Gabriele Münter, oder projiziere ich sie mir nur auf das Dach des Russenhauses, aufgrund meiner von zahlreichen Porträts und Fotos irregeführten Phantasie?

In meinen Überlegungen über die Art und Weise ihrer sonderbaren Existenz ging ich so weit, dass ich Ella, obwohl ich wusste, dass es sie seit langen Jahren nicht gibt, dass sie seit 1962 in der obersten Reihe auf dem Murnauer Friedhof liegt, als ein lebendiges Wesen sah.

*

Natürlich liebte ich nicht Ella, diese vom Leben, Unglück, von ihren eigenen Irrtümern, von ihrer schon fast neunzig Jahre toten Liebe und von einer verheerenden Leidenschaft und glühender Eifersucht gezeichnete Frau. Ich liebte Ella, so wie ich sie mir vierzig Jahre nach ihrem Tod neu gedichtet hatte.

Ich liebte nicht Ella, wie sie 1909 Marianne von Werefkin wohl aus Neid malte, weil Ella als Frau viel anmutiger, ja attraktiver war als dieses Weib, das sich in Murnau als gnädige Frau oder als Mademoiselle Baronin ansprechen ließ.

Ich liebte nicht Ella in ihrem abgewetzten Strohhut mit Schleifen aus feinster Seide und mit einem verblichenen, künstlichen Blumengesteck über ihrem rechten Ohr.

Ellas graues, schütteres Haar mochte ich noch weniger als ihre Augen ohne Glanz, dennoch mit einem neugierigen Strahl belebt. Ellas längst abgetragenes, einst blaues Kleid – oder war es eine Pelerine? – konnte ich nicht ohne Abscheu sehen.

Ich liebte nicht ihre hängenden Schultern und ihre zersprungenen Stöckelschuhe, die sie sich Ende der zwanziger Jahre in Berlin kaufte.

Ich liebte Ella so, wie ich sie zum ersten Mal gesichtslos in einem schwarzen Kleid mitten in von ihr selbst gewählten, irrsinnigen Farben auf einer Dachterrasse einsam sitzen sah.

Auf der Rückseite von Werefkinas bestimmt absichtlich abscheulichem Porträt malte ich mir im Traum meine Ella:

Umgeben von ihrem wunderlichen Werk, jung, schön und elegant, so wie sie Gospodin Kandinsky heute vor achtzig Jahren gemalt hatte: Braunes Haar, das für mich auch von einer billigen Reproduktion einen bittersüßen Duft ausstrahlt. Ella mit großen Augen voll strahlender Neugier, eine Dame in weißer Bluse mit einem breiten blauen Kragen und einer blauen Schleife.

Heute ist es mir klar: Meine eigenartige Liebe zu Ella, eher meine Neugier, die mich täglich auch zweimal vor ihr Haus trieb, meine Bewunderung für ihr Werk, waren Nebenprodukte meiner Phantasie, mit der mich das hinterhältige Schicksal sehr oft beschert. Es wurde mir auch klar, dass meine vermeintliche Liebe zu Ella eine Entgleisung meiner, auch in anderen Fällen versagenden Vernunft war, die mich gemeinsam mit meiner stets unruhigen, mich in absurde Missgeschicke treibenden Phantasie von einem Unsinn in einen anderen drängte.

Wenn ich bedenke, dass im Jahr 1930, als ich geboren wurde, Ella bereits dreiundfünfzig Jahre alt war, damals lag ihr Leben schon dreizehn Jahre in Trümmern, der Rest einer betrogenen und verratenen Frau und Künstlerin, ein klägliches Überbleibsel von zu Asche und Staub verbrannten Illusionen und der Erinnerung an die Zeit, in der sie glaubte, von diesem Gospodin Kandinsky geliebt zu werden, dann läuft es mir kalt den Rücken herunter und ich fühle mich steif und gelähmt.

Meine begrenzte Bescheidenheit und meine Geduld, mit der ich eintausendvierhunderteinundzwanzig Tage auf ein Zeichen, einen flüchtigen Blick, ein nur von mir wahrgenommenes Lächeln oder ein wohlwollendes Kopfnicken gewartet habe, waren von einer so langen, mir nicht gut gesinnten Zeit und von Ellas Arroganz zu Staub zerfallen.

Vor Ellas Haus bin ich daran fast erstickt.

Was alles habe ich mir in den vergangenen Jahren ausgedacht, um Ellas Aufmerksamkeit oder ihre Neugier zu wecken und mich so mit einem Blick glücklich zu machen!

Im Vorbeigehen krächzte ich in ihre Richtung ab und zu laut und deutlich Sätze aus ihren Liebesbriefen, die sie fast zwei Jahrzehnte lang an ihren Geliebten und ihren vermeintlichen, jedoch mit zwei anderen Frauen verheirateten Ehegatten schrieb.

Ich fing immer mit der Frage an: »Erinnerst du dich an alles, was du Gospodin Kandinsky geschrieben hast? Ich will dein Gedächtnis ein wenig auffrischen, Ella!«

Dann folgte öfters ein Satz, den ich nach einer tiefen Verbeugung mit heller Stimme vortrug: »Liebster Wassja! Wenn du es willst, musst du mich ganz gewinnen, ich komme von dir nicht mehr los!«

Öfters habe ich vor dem Russenhaus versucht, nicht nur einige Sätze, sondern ganze Passagen aus Ellas Liebesbriefen an Gospodin Kandinsky, die ich für außergewöhnlich sentimental oder für mächtig übertrieben hielt, aus mir herauszuschreien; ich rechnete damit, dass sie Ella aufregen und in Rage bringen würden, dass sie einen Dachziegel nach mir warf, dass sie mich verfluchen würde.

Aber es geschah nichts.

Ella rührte sich nicht.

*

Im Murnauer Schlossmuseum entdeckte ich ein Foto aus dem Jahr 1910: im Hintergrund einen Berg, das Hörnle, im Vordergrund auf einem Feldweg Gospodin Kandinsky. Kandinsky in kurzer Lederhose, Wadlstrümpfen, bayerischem Hut, Spazierstock und einer Pfeife im Mund.

Ein Russe aus Moskau als ein echter Bayer verkleidet!

Um Ella zu beeindrucken und ihre lädierte Erinnerung an Gospodin Kandinsky zu provozieren, damit sie mich wenigstens beschimpfte, kaufte ich mir eine kurze Lederhose und einen bayerischen Hut. Wadlstrümpfe und Pfeife ließ ich, ein Nichtraucher, bei meinem Auftritt vor Ella aus, damit hätte ich vor ihr ein lächerliches Bild abgegeben.

Einen Spazierstock von allerbester Qualität besaß ich; vor Jahren hatte ihn der russische Schriftsteller Lew Kopelew als Ehrengeschenk vom österreichischen Bundeskanzler Bruno Kreisky bekommen. Lew hatte allerdings seinen Spazierstock, als er mich besuchte, bei mir vergessen und weil er gestorben war, konnte er ihn, wie heilig versprochen, nicht mehr abholen.

Als bayerischer Kandinsky ausstaffiert, sogar eine kleine Nickelbrille, wie er sie trug, hatte ich mir beim Optiker ausgeliehen, marschierte ich frohen Herzens, es musste im Spätsommer gewesen sein, die Dr.-Seitz-Straße zum Russenhaus los.

Dreißig Schritte vor Ella stellte ich mich in dieselbe Pose auf, wie Gospodin Kandinsky auf einem Foto von Gabriele Münter geknipst wurde; nach einer halben Stunde waren meine Halsmuskeln verkrampft, mein Rücken steif und in der Brust fühlte ich einen stechenden Schmerz. Ich gab auf.

Und Ella?

Wieder nichts!

Oben auf dem Dach klimperte sie nicht einmal mit ihren Wimpern.

Mehrfach hatte ich mich von Kopf bis Fuß mit billigen Farbdrucken von Gospodin Kandinskys Meisterwerken aus seiner Murnauer Zeit behängt, blieb vor Ella stehen und schrie so laut, dass ich mich vom Schmerz und Krampf überwältigt am Ende des Aufschreies krümmen, in die Knie gehen und mich, damit ich nicht umkippte, auch noch auf meine Hände stützen musste.

»Gospodin Kandinsky hat dich verraten und verlassen! Was ist aus deiner Liebe zu ihm und aus deiner maßlosen Bewunderung übrig geblieben? Nur Gospodin Kandinskys verrostetes Fahrrad, das du, wurde mir gesagt oder habe ich irgendwo gelesen, schon vor Jahren verhökert hast, und seine Unterwäsche, die er von dir, das habe ich auch gehört oder gelesen, auf dem Rechtsweg zurückverlangen musste. Und dann blieben dir nach Gospodin Kandinsky nur noch deine vergeblich geflossenen Tränen zurück, dein, einer im Flussbett deines Lebens festgefrorenen Eisscholle ähnlicher Stolz, an dem du gestrandet bist!«

Ellas Schweigen, ihre gekrümmte Unterlippe, ihre Bewegungslosigkeit, ihre rosa Hände reizten mich.

Meine in vier Jahren angestaute Ungeduld fing zu eitern an, drückte an mein Herz, das wild schlug, und meine Bosheit, die ich seit Jahren nur schwer beherrschen konnte, brach sich ihre Bahn.

Mein Speichel schmeckte bitter, ich spuckte ihn aus und sagte: »Ella, ich habe deine lebenslängliche Verzweiflung nicht vergessen, die du zum Teil mit Würde, zum Teil mit völlig unpassendem Masochismus bis zu deinem Tod mitgeschleppt hast. Ein jeder sollte begreifen, wie sehr dir dieser Schuft Kandinsky wehgetan hat, auf was für eine abscheuliche Art und Weise er dich verriet und wie sehr du ihn bis zu deinem Ende geliebt hast. Und die ganzen Jahre hast du dich als Frau Kandinsky aufgespielt.

Wie lächerlich!«

Erst als mein Aufschrei von der Südwand des Russenhauses abprallte und in meine Stirn einschlug, fiel mir auf, dass ich Ella duzte. Ich bereute es sofort, wollte mich bei ihr für mein Duzen entschuldigen, kam jedoch nicht dazu, denn Ella – und das verschlug mir die Sprache – schaute mich nach vier Jahren zwar verächtlich, dennoch mit einem Funken Neugier in ihren wie mit grauem Trauerflor verschleierten Augen an und sagte mit leiser Stimme, die ich im ersten Augenblick für ein Knarren der vom Wind bewegten Äste der hohen Eichenbäume über dem Russenhaus hielt: »Wenn es dir guttut, dann erzähle weiter. Aber schreie mich nicht an, ich bin zwar nicht mehr lebendig, jedoch nicht taub!«

Ein Wunder!

*

Warum bezeichne auch ich, ein nach Murnau »Zugroaster«, (wie fast alle Murnauer), Ellas Haus am Berg oberhalb der Eisenbahnstrecke nach Garmisch-Partenkirchen und nach München eigentlich als das Russenhaus?

Nur ungern erwähne ich die Tatsache, dass im Volksmund Ellas Zuhause, wo sie mit Gospodin Kandinsky ihre, wie sie sich zu trösten versuchte, glücklichsten sechs Jahre erlebte, bis heute auch als Hurenhaus bekannt ist.

Das hatte folgenden Grund:

In das Haus oberhalb der Eisenbahnstrecke nach Garmisch-Partenkirchen und unterhalb der Strecke nach Oberammergau zog Ella ein, um mit dem Moskowiten Kandinsky in Murnau, einer damals billigen Gegend, zu arbeiten und ihn von seiner Frau Anna, geborene Schemjakina, die in München wohnte, fernzuhalten. Schon die Tatsache, dass Ella, wie man damals sagte, in wilder Ehe mit einem verheirateten Mann lebte, dass sie sich als Frau Kandinsky ansprechen ließ, war für die Murnauer ein Grund dafür, die beiden und das Treiben im Russenhaus mit misstrauischen Blicken zu beobachten.

Im Russenhaus waren oft auch zwei russische Maler, Alexej von Jawlensky und Marianne Wladimirowna von Werefkin zu Gast, für die Murnauer exotische – genau wie Ella und Gospodin Kandinsky –, vor Gott nicht verheiratete Adelige, die sich auch auf der Straße laut in einer seltsamen Sprache unterhielten, nicht katholisch waren, sondern, munkelte man im Ort, an den einzig wahren russischen Gott glaubten und an ihre erlösende russisch-orthodoxe Kirche, deren Stellvertreter auf Erden der russische Zar Batjuschka[1] Nikolaj II. höchstpersönlich war.

Was für eine Blasphemie!

Eine Todsünde!

Wovon diese so genannten Künstler lebten, wusste in Murnau keiner so genau.

»Jessesmaria!« Mit diesem Ausruf soll Teresa, das Dienstmädchen im Russenhaus, vor ihren Eltern die Hände zusammengeschlagen haben. Sie hatte ein Bild von Ella zu Hause auf den Tisch gelegt und gesagt:

»Schon wieder hat mich die gnädige Frau mit einem Bild bezahlt! Und heute Abend, bis es dunkel wird, bringt sie ein weiteres und wird dich bitten, Vater, ihr dafür Milch, Butter oder ein Stück Geselchtes zu geben.«

Teresas Vater, ein gutmütiger Bauer und Christ, schaute aus dem Fenster auf den gegenüberliegenden Abhang mit dem Russenhaus und soll gesagt haben:

»Ein jeder will leben, auch die arme Künstlerin. Soll sie abends ihr Bild bringen. Es wird sich schon etwas Essbares auch für sie bei uns finden.«

Am Abend nahm Teresas Vater das von der gnädigen Frau Münter auf Pappe gemalte Bild, holte aus einem Schrank einen Hammer und Nägel und befestigte – damit es nicht zog – Ellas Werk neben ihren anderen Werken an die innere hölzerne Wand des Plumpsklos draußen neben dem Misthaufen.

Wie bei den Russen üblich, floss im Russenhaus Wodka in Strömen, soll Teresa zu Hause auch noch im hohen Alter ihren Enkelkindern erzählt haben.

»Und immer wieder wurde gesungen ›Raszvjetaly jabloni i gruschi‹, was so viel bedeutet wie ›Die Apfel- und Birnenbäume blühen auf‹. Spät in der Nacht, nach der letzten Flasche Wodka, erhob sich, wenn seine Stimmung, wie er sagte, keine Kopeke – zu Deutsch keinen müden Pfennig – wert war, auch Gospodin Kandinsky und sang mit. Als ihm die Puste ausging, Gospodin Kandinsky war ein starker Raucher, und er sich von einem heftigen Hustenanfall erschüttert an der Wand festhielt, musste ich mich vor ihm tief verbeugen und ihn laut und deutlich, damit es alle hören, als hochgeborenen Gospodin Wassily Wassiljewitsch Ritter von Kandinsky ansprechen und sagen, wie wundervoll er gesungen hat! Das tat Gospodin Kandinsky gut.

›Es erinnert mich an meine schönsten Jahre in Moskau. Alle hier sollen wissen, was der Name meiner Familie in Russland bedeutet‹, sagte er.

Danach sang Herr Kandinsky, wenn er in Stimmung war, das traurige Lied von den schwarzen Augen, ›otschi tschernoje‹. Ein so schönes und trauriges Lied, behauptete Herr von Jawlensky, das sich unglücklich Verliebte oder bis über den Kopf in Spielschulden steckende Offiziere von den Zigeunern zum Abschied vom Leben, kurz bevor sie sich eine Kugel in den Kopf jagten, spielen ließen.

Madame Baronin Werefkin musterte ihren Lebenspartner, oder was er war, in keinem Fall ihr Mann, Herrn von Jawlensky mit einem bös-krummen Lächeln.

›Schade, dass du, mein liebster Saschenka, kein Offizier mehr bist … Zigeuner und eine Pistole hätte ich dir jetzt sehr gern besorgt!‹

›Beleidigen Sie mich nicht, Madame! Ich bin ehrenhaft aus der Armee entlassen worden, weil ich mich nur der Kunst widmen wollte‹, erwiderte Jawlensky und zitterte vor Scham und Demütigung am ganzen Körper.

›Und wer hat Ihre Schulden bezahlt, Herr von Jawlensky?‹

›Sie, Madame!‹, gab Herr von Jawlensky wie schon so oft vorher und auch danach beschämt zu, beugte seinen Rücken, richtete sich jedoch schnell auf, sah sich hilflos um, sagte jedoch mit fester Stimme, aus der unterdrückter Hass, Neid, Wut und fast alle schlimmen Eigenschaften herauszuhören waren, die in einem gedemütigten Menschen keimen:

›Einmal, Madame, werden Ihre Nachkommen stolz darauf sein, dass Sie Ihr Geld an mich, wie Sie so oft sagen, verschwendet haben. Und sie werden es Ihnen übel nehmen, dass Sie all Ihren Reichtum nicht in mich und in mein Werk gesteckt haben!‹

›Mein liebster Herr von Jawlensky, was wären Sie ohne mich! Ich meine, ohne mein Geld und ohne mein Talent, an dem Sie sich, mein Lieber, künstlerisch miternähren!‹, lachte die Werefkin.

Ich konnte das böse Spiel, das Madame Werefkin mit Herrn von Jawlensky, diesem feinen Herrn, trieb, kaum ansehen«, soll Teresa erzählt haben.

»Die Werefkin erinnerte den Herrn von Jawlensky immer wieder an St. Petersburg, wo sie bei dem berühmten Ilja Efimowitsch Repin die Malerei studierte. Den Namen Repin habe ich von Madame Werefkin so oft gehört, dass ich ihn nie vergessen habe. Und die Geschichte, wie sie den mittellosen Hauptmann der Zarengarde Alexej von Jawlensky kennen lernte, seine Spielschulden bezahlte und ihn so vor einem ehrenhaften Tod gerettet hat, ihn in Paris und München in die Welt der Künstler einführte«, behauptete Teresa, »blieb mir mein ganzes Leben lang gegenwärtig.«

Herr von Jawlensky kostet mich viel Geld, soll Madame mehrmals in Teresas Anwesenheit immer wieder erklärt, ihre Lippen geschürzt und ihren Zeigefinger mit einem massiven goldenen Ring gehoben haben.

»Er ist mir jedoch mein Geld wert! Ich habe aus ihm einen großen Maler gemacht!«

Teresa musste mit ansehen, wie Herr von Jawlensky, von Madame von Werefkin gekränkt, beleidigt und gedemütigt, seine Schultern senkte, verlegen lächelte und mit einer langsamen Bewegung seine offenen Handflächen in die Höhe seiner Schläfen hob, als wollte er sich ergeben.

In dieser Haltung erstarrte er für lange Sekunden.

»In der Öffentlichkeit und auch im Russenhaus sprach Herr von Jawlensky die Frau Baronin Werefkin immer nur als darogaja blagorodnaja[2] Marianne Wladimirowna an, und zwar auf eine solch bös ironische Weise, als hätte er seine Mäzenin angespuckt.

Ich habe im Haus der gnädigen Frau Münter viel übers Leben in besseren Kreisen gelernt, gesehen und erfahren. Viel gelesen habe ich auch. Die gnädige Frau Münter legte mir öfters ans Herz:

›Teresa, wenn du im Haus nichts zu tun hast, dann lies‹, sagte sie und legte eines von ihren Büchern auf den Tisch. Ich habe im Russenhaus viel mitbekommen, so zum Beispiel auch die Geschichte, die Herr Kandinsky über die Baronin Werefkin und über Herrn von Jawlensky in einer Nacht erzählte, als es keinen Wodka mehr gab, weil die gnädige Frau Münter die letzte Flasche im Keller versteckt hatte.

›Vor Jawlensky, habe ich in Moskau gehört‹, lachte Gospodin Kandinsky, stand auf, streckte seine Knochen, machte das Fenster auf und atmete tief die kühle Nachtluft ein, ›hat Madame Werefkin einen Schoßhund besessen. Fiffy hieß das kleine Luder. Als Fiffy, weil er zu dick wurde, der Schlag traf, hat sich Madame Werefkin, ein feines, im Geld schwimmendes Mädchen, das sich ein Studium bei diesem schrecklich pathetischen, in der Vergangenheit stecken gebliebenen Repin, dem Abzeichner der Natur und malenden Erzähler von rührseligen Geschichten, erlauben konnte, Herrn Hauptmann Alexej von Jawlensky sozusagen als ihren Schoßhund angeschafft.‹

Gospodin Kandinsky erzählte diese Geschichte öfters, aber immer erst dann, wenn die Gäste, vor allem Madame von Werefkin und Herr von Jawlensky, schon gegangen waren, um, wie er sagte, seine Seele zu erleichtern, denn er könne es nicht mit ansehen, wie dieses schreckliche Weib – allerdings, das muss ich einsehen, fügte er hinzu, eine gute Malerin, die von moderner Kunst viel versteht – den noblen Alexej, einen großen Künstler, tatsächlich wie ihren Schoßhund behandelt!

›Sie füttert ihn vorzüglich, sie kleidet ihn elegant ein, sie nimmt ihn überall mit und beschützt ihn, aber er gehört ganz nur ihr. Ohne Madame Werefkins Erlaubnis darf ihr Sascha sogar nicht mehr als fünf Zigaretten am Tag rauchen und furzen darf er nur im Garten.‹

Die gnädige Frau Münter machte das Fenster zu und sagte: ›Wassja, das reicht! Schrei nicht so!‹

Herr Kandinsky legte seine Hand auf die Schulter der gnädigen Frau Münter und bevor er sie, allerdings nur mit einem traurigen Blick, nach oben in ihr Schlafzimmer begleitete – es war wirklich schon zu spät geworden, kurz vor der Morgendämmerung, die im Mai vor fünf Uhr am östlichen Horizont ihr rotes Feuer anzündet –, sagte er:

›Liebes Ellchen, ich weiß nicht, wieso, ich kann es nicht begründen, es ist mir ein Rätsel! Nein, es ist mehr als ein Rätsel, eigentlich schon ein Geheimnis, warum ich diese Werefkina nicht leiden kann. Wenn ich sie mit Alexej sehe, dann werde ich gereizt, mein Blut beginnt zu kochen! Und weißt du, liebes Ellchen, was mir immer wieder einfällt, wenn ich die zwei sehe?‹

›Ich weiß es bereits, Wassja. Du hast es mir schon mehrmals gesagt.‹

›Dann wiederhole ich es noch einmal: Die beiden sind ein Missgeschick, ein Irrtum oder ein böser Streich des Schicksals. Wenn das Verhältnis zwischen Marianne und Alexej eine der unzähligen Abarten von Liebe ist, dann bekomme ich vor der Liebe Angst! Aber wenn auch die meisten Spötter diese eigenartige Beziehung, die sie zwar belächeln und verspotten – in dieser Hinsicht bin ich keine Ausnahme –, dennoch für eine große Liebe halten, dann frage ich mich: Muss in einer vermeintlich großen Liebe immer oder sehr oft der eine Partner, egal ob Mann oder Frau, den anderen besitzen, ihn wie in einem Käfig, wenn auch vergoldeten, gefesselt halten? Weißt du, liebes Ellchen …‹

›Ja, ich weiß es, Wassja!‹, unterbrach ihn die gnädige Frau barsch. ›Du aber, Wassja, musst vor meiner Liebe keine Angst haben.‹«

*

»In warmen Nächten, als über dem Heimgarten der Vollmond stand«, soll Teresa erzählt haben, »wartete Herr Kandinsky ungeduldig und aufgeregt, im frischen Hemd, mit viel Pomade im Haar, in gebügelter Hose in seinem Schlafgemach auf die gnädige Frau. Und als sie an der halb offenen Tür klopfte, rührte er sich nicht, wartete auf das zweite Anklopfen, legte sich angezogen ins Bett und gähnte laut:

›Verzeihe mir, Ellchen, ich bin schon eingeschlafen.‹

Herr Kandinsky war aber gar nicht eingeschlafen, er war nicht einmal schläfrig, er war frisch und munter, nur eben nach der Dämmerung, als der Mond aufging, ungeduldig und aufgeregt und murmelte russisch immer wieder etwas, was ich nicht verstand.