Das russische Rätsel - Sabine Huttel - E-Book

Das russische Rätsel E-Book

Sabine Huttel

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Beschreibung

Sommer 2010. Um ein Rätsel ihrer Kindheit zu lösen, reist Liane (58, Bibliothekarin) nach Moskau und in den Ural, wo ihr Vater sowjetischer Kriegsgefangener war. Ein junger Freund, der Russisch spricht, begleitet sie. Die Spurensuche ist schwierig, die Behörden mauern. Aber die fremde Welt mit ihren schillernden Facetten verändert Lianes Blick auf die Vergangenheit. Der Freund stellt irritierende Fragen. Erinnerungen an die Eltern werden aufgewirbelt, alte Gewissheiten über Bord geworfen. Alles gerät in Fluss, und die Reise führt ans Ziel, wenn auch anders als erwartet.

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Sabine Huttel

Das russische Rätsel

Roman

© 2021 Sabine Huttel

ISBN Softcover: 978-3-347-46169-7

ISBN Hardcover: 978-3-347-46172-7

ISBN E-Book: 978-3-347-46178-9

Druck und Distribution im Auftrag der Autorin:

tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Germany

Umschlagsgestaltung: Jan van der Most, Düsseldorf

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist die Autorin verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne ihre Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag der Autorin, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung „Impressumservice“, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Germany

Das russische Rätsel

In der Nacht vor der Reise hatte Liane nicht geschlafen. Am Morgen ging ihr Atem flach, ihr linkes Augenlid zuckte und sie schluckte Luft. Das kam vor, wenn sie sehr nervös war. Es war ihr ein wenig übel davon. Der Rollenkoffer stand schon im Flur, gepackt hatte sie am vergangenen Abend. In der Nacht waren ihr immer wieder Dinge eingefallen, die sie vergessen hatte und die ihr plötzlich so lebenswichtig vorkamen, dass sie mehrmals aufgestanden war, um sie noch in den Koffer zu stecken: ein fiebersenkendes Medikament, ein Brillenputztuch, eine Schirmmütze gegen die Sonne. Jetzt war es fünf Uhr, draußen lärmten die Vögel. Wie schön wäre es, hierbleiben zu können, ein wenig im Garten zu arbeiten, solange die Luft noch kühl und angenehm war …! Noch einmal prüfte sie ihre Papiere auf Vollständigkeit. So sorgfältig sie auch packte, immer blieb das Gefühl, etwas Wichtiges vergessen zu haben. Kontrollzwang, dachte sie beim Zähneputzen, ich werde alt. Im LED-Licht am Spiegel fand sie sich besonders grau und zerknittert.

Das Taxi, zehn Minuten zu früh, wartete schon vor ihrer Tür, sie sah es durchs Küchenfenster. Rasch zog sie ein paar Scheiben Knäckebrot aus der Packung, wickelte sie in Alufolie und steckte sie ein.

Sie war zeitig am Flughafen, die Sicherheitskontrolle lief reibungslos. Am Gate war sie die erste. Ringsum verlassene Schalter, schwarze Anzeigetafeln. Sie setzte sich zum Warten. Noch wäre Zeit zum Umkehren, dachte sie.

Liane liebte das Reisen nicht. Ihr fehlte ein funktionsfähiges Filtersystem, das anderen hilft, sich gegen die Außenwelt in zweckmäßiger Weise abzuschirmen. Wenn sie mit jemandem in einem gut besuchten Café saß, hörte sie nicht nur, was ihr Gegenüber sagte. Gegen ihren Willen verfolgte sie gleichzeitig, worüber die Leute an den Tischen in der Nähe sich unterhielten, spürte, wie diese Leute zueinander standen, registrierte Untertöne, Stimmungen, Krisen und Konflikte. Immer hörte, sah, roch sie mehr als sie wollte. Das war anstrengend und lästig, und es führte früher oder später zu Kopfschmerzen, die sie zwangen, aus dem Leben zu verschwinden in einen dunklen, stillen Raum, wo niemand sie stören konnte, so lange, bis es vorüber war. Reisen waren potenzierte Reizüberflutung: ein anderes Klima, eine fremde Umgebung, ständig neue Menschen, auf die man sich einstellen musste. Sie fand das interessant und vertrug es schlecht. Je älter sie wurde, desto schwerer fiel es ihr, sich zu einer Reise zu entschließen. Sie gestand es sich ungern ein, aber die tägliche Routine in der Bibliothek bekam ihr gut. Dort war es ruhig, die Arbeitsabläufe waren immer die gleichen, die Fluktuation im Kollegenkreis gering, viele der regelmäßigen Benutzer ihr seit langem bekannt. Es machte ihr Spaß, Veranstaltungen zu organisieren, Vorträge, Lesungen, Vorlesestunden für Kinder, aber die finanziellen Mittel dafür waren knapp geworden, es kam nicht allzu häufig vor. Im Gleichmaß der Arbeitstage waren die aufregendsten Momente die Pausen, in denen sie las. In einer Ecke sitzen, in der stillen Wärme der Bibliothek, mit einer Hefeschnecke aus der Bäckerei von gegenüber, einem Becher Kaffee und einem Buch, das Einblicke in andere Welten eröffnete, das man aber jederzeit zuklappen konnte, wenn man genug davon hatte – das war ihre Art zu reisen. Am Arbeitsplatz waren es meist Neuerscheinungen, in denen sie las, zu Hause aber auch immer wieder die altbekannten Werke von Flaubert, Dostojewski, Virginia Woolf, die ihr unerschöpflich vorkamen, und immer wieder Kafka.

Nun also eine echte Reise, und ausgerechnet nach Russland.

Es muss ein Samstag sein, denn der Vater ist nicht im Amt. Er sitzt nebenan im Wohnzimmer. Die Mutter ist beim Friseur, die Schwester beim Tanztraining, der Bruder mit dem Fahrrad unterwegs. Lili sitzt auf dem Boden im Kinderzimmer, das zugleich das Nähzimmer der Mutter ist. Sie hat eine große Tüte voll Kastanien gesammelt. Mann, Frau, Kinder, eine ganze Familie will sie aus den Kastanien machen, auch Gespenster, Kastaniengespenster, denn die gehören dazu. Aus der Schublade im Flur holt sie eine Schachtel mit Streichhölzern. Sie wählt eine dicke Kastanie aus, die der Bauch des ersten Kastanienmanns werden soll, und will ein Streichholz hineinstecken. An der glatten Kastanienhaut rutscht das Streichholz ab. Lili legt die Kastanie auf den Boden und versucht mit beiden Händen das Streichholz hineinzubohren, aber die Kastanie ist hart. Fünf Streichhölzer rutschen ab und zerbrechen, eins nach dem anderen. Lili verliert die Geduld, sie will endlich einen dicken Kastanienmann sehen. An der Nähmaschine steht ein Nähkasten, dessen Fächer man nach beiden Seiten hin auseinanderziehen kann. Hier gibt es alles. Schnell findet sie eine Fädelnadel, an einem Ende spitz, am anderen mit einem großen Fädelöhr, das man gut anfassen kann. Lili sticht die Fädelnadel in die Kastanie, zieht sie wieder heraus, steckt ein Streichholz hinein, sucht eine kleinere Kastanie für den Kopf aus, sticht wieder ein Loch, und in den Kastanienmannbauch noch zwei Löcher für die Beine und zwei für die Arme. Da leuchtet Blut in ihrer Hand. Jetzt plötzlich tut es auch weh. Sie springt auf und läuft ins Wohnzimmer. Am Fenster sitzt der Vater, vor ihm auf dem Schreibtisch liegt eine aufgefaltete Zeitung. Lili hält die verletzte Hand hoch und hofft auf Hilfe, auf tröstende Worte, auf irgendwas – aber der Vater hört und sieht sie nicht. Seine Augen sind offen, er blickt ins Leere, als wäre sie gar nicht da. Sie will ihn anreden, ihn anfassen und wachrütteln, aber sie traut sich nicht, zu unheimlich ist er, wie er dort sitzt, reglos, erstarrt oder erfroren, erdrückt von Traurigkeit. Sie macht kehrt und geht ins Bad, um Wasser über die Wunde laufen zu lassen, drückt Klopapier auf die blutende Stelle. Zum Vater wagt sie sich nicht wieder hinein, zu sehr fürchtet sie sich vor seinem Anblick. Es ist auch gar nicht nötig. Lili ist tapfer, und die Wunde ist nur ein kleiner Ritz. Die Mutter klebt ein Pflaster drauf, als sie nach Hause kommt. Sie lächelt und riecht nach Friseur.

Der Name Djegtjarka hatte ihr sofort einen Schrecken eingejagt. Zum ersten Mal hatte sie ihn auf einem hauchdünnen Pauspapier gefunden, einem mit Schreibmaschine geschriebenen Kohledurchschlag, der zahllose kleine Löcher hatte. Djegtjarka Nr. 476 stand da, die beiden Buchstaben a herausgestanzt von der Wucht der Typenhebel. Flüsternd erforschte sie die drei Silben mit Gaumen und Zunge. Durch diesen Namen und diese Nummer schien plötzlich Konturen zu bekommen, was lange Zeit im Dunkeln gelegen hatte. Sie konnte das dünne Blatt nicht ruhig halten, ließ es los, um es nicht versehentlich zu zerreißen, nahm die Brille ab und holte sich ein Glas Wasser, mit dem sie ziellos durch die Wohnung schlich. Waren offene Fragen und verschwommene Befürchtungen nicht doch angenehmer als Gewissheiten? Einen Moment lang war sie versucht gewesen, das Blatt zu zerknüllen und wegzuwerfen, um den Namen wieder zu vergessen.

Stattdessen hatte sie gegoogelt. Djegtjarsk, früher Djegtjarka, bedeutete Teerstadt. Es war eine Stadt im Ural, rund tausend Kilometer östlich von Moskau, in der Nähe von Jekaterinburg, an der Grenzlinie zwischen Europa und Asien. Und sie hatte ihrem Freund G. davon erzählt, der vorübergehend in Moskau lebte. Ohne G. hätte Liane sich zu dieser Reise nicht entschlossen. Sie kannte sonst niemanden, der fließend Russisch sprach und bereit gewesen wäre, mit ihr in den Ural zu fahren. Sie wäre auch nicht auf den Gedanken gekommen, so jemanden zu suchen. Im Grunde war es von Anfang an G.s Idee gewesen. Am Telefon hatte sie den perforierten Kohledurchschlag erwähnt, und sofort hatte er ihr angeboten, sie nach Djegtjarsk zu begleiten. Ich kann alles für dich organisieren und dir alles übersetzen, so eine Gelegenheit wirst du vielleicht nie wieder haben, hatte er gesagt. Sie hatte den Vorschlag absurd gefunden und spontan darüber gelacht, bis sie merkte, dass es ihm ernst war. Dann hatte sie gezögert. Die Reise kam ihr zu weit, zu teuer, zu strapaziös vor und – ja, auch zu riskant. Man las in den Zeitungen nichts Beruhigendes über Russland, Liane war nicht mehr jung, und sie sprach kein Wort Russisch. Aber je länger sie sich sträubte, desto mehr schien G. sich für die Idee zu begeistern, und G.s Begeisterung war schon immer ansteckend gewesen, ganz gleich, ob sie sich auf Tschechows Erzählungen, auf schottischen Regen oder auf Kartoffelklöße bezog. Auch dieses Mal war es so. Sie schob ihre Bedenken beiseite und beschloss, ihren Sommerurlaub für diese Reise zu verwenden, sprach mit G. Termine ab, buchte Flüge, beantragte ein Visum. Ihre plötzliche Abenteuerlust machte Eindruck auf ihre Freunde. Auch ihr Hausarzt nannte sie mutig, soganz allein, ohne Reisegruppe!, und die jungen Kolleginnen in der Bibliothek hatten sie überrascht angesehen, beinahe ein wenig neidisch.

Ihr Magen grummelte, sie holte das Knäckebrot heraus. Von wegen Abenteuerlust, dachte sie, in Wahrheit werde ich von Jahr zu Jahr ängstlicher. Bis zum Schluss hatte sie insgeheim gehofft, irgendetwas würde diesen Aufbruch ins Ungewisse, ins nicht Geheure, ins Bedrohliche doch noch verhindern. Djegtjarsk. Wer fährt denn da hin?!

Das Knäckebrot klebte am Gaumen. Sie dachte an einen Kaffee und blickte sich um. Nach wie vor kein Mensch in Sicht, die Anzeigetafel am Schalter A32 leer. Dabei waren es nur noch zwanzig Minuten bis zum Abflug! Etwas stimmte hier nicht. Ihre Bordkarte steckte in der Jackentasche. Dort stand „B32“! Sie fluchte, griff nach ihrem Rollenkoffer, rannte den langen Weg zurück bis zur Sicherheitskontrolle und von dort aus einen noch viel längeren in den entlegenen B-Trakt. Das kann ja heiter werden, dachte sie, wenn ich noch nicht mal mit einem deutschen Flughafen zurechtkomme!, erreichte abgehetzt das Gate 32 und war bei den letzten, die durch den Blech-Schlauch zur Gangway eilten und das Flugzeug bestiegen. Wenige Minuten später der Abflug.

Sie atmete auf. Nachdem sie sich so hatte anstrengen müssen, um den Flug noch zu erwischen, freute sie sich nun doch, unterwegs zu sein. Die Sonne schien. Die Stewardess lächelte. Mit einem Mal war Liane hellwach und beinahe reiselustig.

Neben ihr saß eine junge Frau, die ein dickes Notenheft auf den Knien liegen hatte, einen Klavierauszug offenbar. Es musste etwas Barockes sein, dem Notenbild nach zu urteilen, und es weckte Lianes Neugier, die ein wenig Geige spielen konnte und seit vielen Jahren in einem Chor sang. Aber sie hatte sich vorgenommen, während des Fluges Russisch zu lernen, was dringend nötig war, also fing sie kein Gespräch an, sondern holte ihr Russisch-Wörterbuch und ihr Vokabelheft heraus.

Viel Zeit war ihr nicht geblieben, um die Reise vorzubereiten. Mit CD und Sprachführer hatte sie sich auf die Schnelle ein Minimum an Vokabeln beizubringen versucht, bitte, danke, die Zahlen. Sie hatte zwei Flugtickets gekauft, Düsseldorf – St. Petersburg, Moskau – Düsseldorf. Außerdem hatte sie mit Hilfe eines Osteuropa-Reisebüros zwei Übernachtungen für G. und sich in Jekaterinburg gebucht. Von dort aus gab es angeblich einen Bus nach Djegtjarsk. Ihr Visum war gerade noch rechtzeitig angekommen. Um alles andere hatte G. sich gekümmert. Im Netz hatte sie außer einem kurzen Wikipedia-Artikel nur einen einzigen Text über die Teerstadt gefunden, leider in russischer Sprache. Eine Übersetzungsmaschine hatte Folgendes ausgeworfen:

Wenn am Ende dieser Reise werden Sie wollen, um zu baden, wickeln Sie den See Izhbulat. Seine Schlamm-Sapropel nicht schlechter. Und der Strand ist gut. Lake of the Küstenstreifen ist durch Privatpersonen vermietet. Diese laufen in den verwilderten und sterbenden See Karpfen und Graskarpfen, Teich und gegen die Änderung – sie suchen nach dem Strand. Am Ufer ist eine leistungsfähige Brechanlage, und die Klarheit des Wassers ist schlecht. Aber Barsche und Krebse gefallen sind, sie zu reproduzieren …

Dieser Unsinn faszinierte sie. G., dem sie den vollständigen Text auf Russisch geschickt hatte, schrieb ihr jedoch, für ihre Zwecke biete er nichts. Auch er, der auf russischen Seiten gesucht hatte, fand kaum etwas über Djegtjarsk. Eine Luftaufnahme der Stadt bekam sie von ihm, auf der ein paar Holzhäuser zu sehen waren, verstreut in einer Wiesenlandschaft, ähnlich den Sennhütten auf einer Schweizer Alm. Keine Spur von Schlamm-Sapropeln und Brechanlagen.

Sie blätterte in ihrem Sprachführer, um die „nützlichen Redewendungen“ zu wiederholen. Bitte geben Sie mir einen Kaffee! Wo finde ich Toilettenpapier? Meine Familie lebt in Wuppertal. Ich wurde überfallen. Ich wurde ausgeraubt. Du gefällst mir. Hast du ein Kondom? Möchtest du mit mir schlafen? Nein, heute nicht. Hau ab, lass mich in Ruhe! usw. Man hatte ihr diesen Sprachführer als besonders praktisch empfohlen. Inzwischen ärgerte sie sich darüber, dass die Dialoge und die meisten Vokabeln nur in Lautschrift abgedruckt waren, nicht in kyrillischer Schrift. Ich muss doch Schilder lesen können, Straßenschilder beispielsweise, dachte sie, übte das russische Alphabet und begann, in ihrem Wörterbuch die Vokabeln nachzuschlagen und sie in kyrillischer Schrift neben der Lautschrift einzutragen.

Da sprach ihre Nachbarin sie an. Sie lerne Russisch? Ob sie in St. Petersburg Urlaub machen wolle? Liane erzählte ihr, eigentlich wolle sie nach Moskau. Dort lebe ein Freund, ein Brite, der an der Moskauer Universität arbeite. Da er jedoch gerade in St. Petersburg sei, um eine Gruppe ausländischer Konferenzteilnehmer zu betreuen, werde sie ihn dort treffen, mit der Gruppe eine kurze Schiffsreise zu den Walaam-Inseln unternehmen und dann mit dem Zug von St. Petersburg nach Moskau fahren.

Also machen Sie dann Urlaub in Moskau?

Nein, auch nicht, sagte Liane, von Moskau aus will ich weiterfahren in den Ural, um die Stadt Djegtjarsk zu besuchen.

Von Djegtjarsk hatte ihre Nachbarin noch nie gehört.

Das ist die Stadt, erklärte Liane, in der mein Vater in Kriegsgefangenschaft war, vier Jahre lang.

Die junge Frau schlug ihr Notenbuch zu. Hat Ihr Vater Ihnen etwas erzählt über seine Zeit in diesem Lager?

Liane schüttelte den Kopf. Als ihr Vater noch lebte, habe sie ihn danach gefragt, aber er habe nicht darüber sprechen wollen. Aus einem alten Brief ihres Vaters, den sie kürzlich gelesen habe, wisse sie nur, dass er als Gefangener in einem Bergwerk arbeiten musste und dass er lange Zeit im Lazarett lag. Sie habe aber herausgefunden, dass es im Moskauer Reichskriegsarchiv über jeden ehemaligen Kriegsgefangenen eine Akte gebe, die man als Angehöriger einsehen dürfe. Davon erhoffe sie sich nähere Aufschlüsse.

Die junge Frau war Kasachin, sprach aber ein makelloses Deutsch mit kaum hörbarem Akzent. Ihr Vater lebe noch, sagte sie. Er sei als Sechzehnjähriger unter Stalin inhaftiert worden und habe anschließend fast zehn Jahre in verschiedenen Straflagern zugebracht, mehrfach sei er ausgebrochen und wieder eingefangen worden. Auch er habe über diese Erlebnisse bisher geschwiegen, sie wisse nicht einmal, was der Anlass für die erste Verhaftung gewesen sei. Aber sie habe sich vorgenommen, ihn bei ihrem nächsten Besuch darüber zu befragen und auf einer Antwort zu bestehen. Man müsse sich über solche Dinge Klarheit verschaffen, solange es noch nicht zu spät sei. Ihr Vater lebe in Kasachstan, sie hoffe, ihn im Dezember wiederzusehen. Jetzt fliege sie nach St. Petersburg, um mit einem ihrer früheren Gesangslehrer dort eine Woche zu arbeiten.

Sie hatte ein festes Engagement an einem sächsischen Theater. Zur Zeit studierte sie eine Sopranpartie aus „Xerxes“. Sie tippte auf den Klavierauszug, der auf ihrem Schoß lag. Liane fragte sie nach den Verhältnissen an ihrem Theater, nach der dort üblichen Aufführungspraxis alter Musik, nach ihrem Urteil über Händels Opern, aber die Sängerin kam wieder auf die Väter zurück. Glauben Sie, fragte sie mit unverhohlenem Interesse, dass Ihr Vater schlimme Erfahrungen gemacht hat im Ural?

Liane schoss etwas durch den Kopf, das sie nicht sagen wollte, obwohl ihr die Sängerin sympathisch war, etwas, auf das sie kürzlich gestoßen war, als sie in alten Briefen ihrer Eltern gelesen hatte, ein sehr persönliches Detail, das keine Erklärung war, vielleicht aber eine Art Schlüssel.

Ich weiß es nicht, sagte sie, vielleicht.

Dann versuchte sie das Gespräch in eine allgemeinere Richtung zu lenken. In der Bibliothek hatte sie einen ganzen Stapel Bücher durchgesehen, in denen zurückgekehrte deutsche Soldaten von ihren Erfahrungen in sowjetischen Kriegsgefangenenlagern berichteten. Durch diese Lektüre, sagte sie der Sängerin, sei sie in ihren Annahmen teilweise korrigiert worden. Der Hunger sei bis zum Herbst 1947 fürchterlich und die Arbeit schwer gewesen. Offenbar seien die Kriegsgefangenen von den russischen Lagerkommandanten aber nicht aus Rache schlecht behandelt worden, wie sie vermutet hatte. Über zwanzig Millionen Menschen hatten Hitlers Soldaten in der Sowjetunion umgebracht, große Teile des Landes verwüstet. Dennoch sei später nicht Vergeltung das Prinzip für die Behandlung der Kriegsgefangenen gewesen. Vielmehr habe die sowjetische Bevölkerung ebenso gehungert wie die Kriegsgefangenen. Zertrümmerte Fabriken, der akute Mangel an Arbeitskräften in den Städten und auf dem Land hatten zusammen mit Dürreperioden und Missernten in eine jahrelang anhaltende Versorgungskatastrophe geführt. Die deutschen Kriegsgefangenen sollten nun mit ihrer Arbeit Kriegsschäden beheben, Städte wieder aufbauen und die Produktion in Gang setzen. Dies war die oberste Maxime der Lagerleitungen, daher lag es durchaus in ihrem Interesse, die Gefangenen ausreichend zu verpflegen. Ihnen fehlten nur die Mittel dazu.

Die Sängerin nickte. Noch immer sah sie Liane erwartungsvoll an. Warum aber dann jetzt diese weite Reise?, schien sie zu fragen, was versprechen Sie sich davon?

Es roch nach Kaffee. Die Turbinen sirrten, das Fenster hinter dem Gesicht der Kasachin war gleißend hell. Liane dachte an den alten Brief, an das Detail, das sie nicht erwähnen wollte, und suchte nach einer Antwort auf die unausgesprochene Frage. Klarheit, wie die Sängerin gesagt hatte, war ein großes Ziel. Liane hielt es für unerreichbar. Eine Annäherung? Vielleicht.

Mein Vater verehrte Tolstoi und Tschechow, sagte sie. Er liebte Mussorgsky, Prokoffiew und Schostakowitsch. Teile von Jewgeni Onegin konnte er auswendig.

Die Sängerin sah sie aufmerksam an. Ein Steward näherte sich mit dem Getränkewagen.

Aber …, Liane zögerte und fuhr sich mit der Hand durch die grauen Haare, als meine ältere Schwester ihren ersten Freund hatte, sagte mein Vater zu ihr: Du kannst später heiraten, wen du willst, ganz gleich welchen Beruf oder welche Hautfarbe er hat, nur keinen Russen!

Nachdenklich nickte die Sängerin und schwieg. Der Steward bot heiße und kalte Getränke an. Auf seinem linken Handrücken war eine Lotosblüte tätowiert. Liane folgte den Bewegungen der Lotosblüte, während der Steward Kaffee in Plastikbecher goss, mit Zuckersticks und Portionsmilch hantierte.

Die Hände des Vaters sind immer warm. Lili hat oft kalte Füße, besonders abends vor dem Einschlafen. Wenn der Vater Märchen vorliest, blättert er mit einer Hand die Seiten um, mit der anderen wärmt er unter der Bettdecke Lilis Füße. Beide Füße passen in eine Hand. Vom Vorlesen wird sie nicht müde, im Gegenteil: Die rostigen Nägel, mit denen das Fass der Gänsemagd von innen beschlagen ist, bohren sich in ihr eigenes Fleisch, der Pferdekopf über dem Torbogen hängt so tief herunter, dass sie den Atem des toten Pferdes spürt, und Verzweiflung kriecht in ihrer Kehle hoch über das verlorene Hinkelbein, mit dem die sieben Raben erlöst werden sollten. Oder sie muss lachen über den Kaiser, der nackt herumläuft, über die Wurst, die an der Nase des dummen Bauern festwächst, und lacht sich wieder hellwach. Dann hilft nur noch eins: Der Vater erzählt russische Geschichten oder er singt russische Lieder. Er spricht und singt sehr leise. Vom sanften Fluss, vom fremden Klang dieser knochenlosen Sprache kann Lili nicht genug hören. Wenn der Vater verstummt, stupst sie ihn mit dem Fuß in seine Hand, damit er weitermacht. So schön klingt das, so sanft, dass sie die Augen schließt und endlich einschläft.

Es ist sehr heiß in St. Petersburg, sagte die Sängerin nach einer Weile. Seit langem hat es nicht geregnet. Übrigens müssen Sie vorsichtig sein. Werden Sie vom Flughafen abgeholt?

Liane erklärte, ihr britischer Freund könne nicht selbst kommen, denn er müsse im Auftrag der Moskauer Universität die Gästegruppe herumführen. Er habe jedoch alles organisiert: Eine Frau namens Olga werde auf sie warten, mit ihrem Namensschild in der Hand. Auch wenn das Flugzeug verspätet ankommen sollte, werde Olga warten. Olga spreche Englisch. Sie werde Liane mit der Metro ins Zentrum von St. Petersburg bringen, ihr einige Sehenswürdigkeiten zeigen und sie dann zur Schiffsanlegestelle begleiten, wo sie am Nachmittag den Freund mit seiner Gästegruppe treffen würde.

Das ist gut, sagte die Sängerin, Sie sehen nämlich nicht aus, als würden Sie seit Jahren Karate und Kung Fu trainieren. St. Petersburg ist nicht ungefährlich. Vor allem in der Metro müssen Sie aufpassen! Sie berichtete von mehreren Bekannten, die in der Metro bestohlen worden seien. Am besten trage man keine Handtasche, und wenn, dann vorn. Sie klauen wie die Raben, sagte sie.

So ähnlich steht es immer in der Zeitung, dachte Liane.

Das Schlimmste aber sei die Gewissheit, in diesem Land vollkommen rechtlos zu sein, fuhr die Sängerin fort. Wende man sich an Polizisten, sei es reiner Zufall, ob sie Lust hätten, einem zu helfen oder nicht. Dieses Gefühl der Ohnmacht und Hilflosigkeit deprimiere sie jedes Mal von neuem, wenn sie nach Russland komme. Immerhin könne sie sich mit Worten wehren. Touristen, die kein Russisch verstünden, seien schlimmer dran. Schon die polizeiliche Anmeldung, die zusätzlich zum Visum verlangt werde, sei eine reine Touristenfalle. Ganze Tage könne man in den Gängen irgendwelcher Ämter zubringen, bis jemand sich herablasse, einem dieses im Grunde vollkommen lächerliche und überflüssige Papier auszuhändigen, das man, wie sie betonte, dennoch immer bei sich tragen müsse. Könne man es einmal nicht zusammen mit dem Ausweis vorzeigen, müsse man mit Geldbußen und den verblüffendsten Schikanen rechnen. Den Polizisten sei jeder Vorwand willkommen, Touristen auszuplündern.

Liane war erstaunt, die landläufigen Urteile über Russland von der Sängerin bestätigt zu finden, und zögerte ihr zu glauben. Andererseits sprach sie aus Erfahrung. Vielleicht tat man doch gut daran, ernst zu nehmen, was sie sagte? Wegen der polizeilichen Anmeldung machte sie sich keine Sorgen, diese Formalität hatte G. für sie erledigt. Aber auch er hatte ihr kürzlich am Telefon von zwei erschreckenden Erlebnissen in Moskau erzählt: Gegen Mittag habe er, bei großer Hitze unterwegs zur Metro-Station Tretjakowskaja, gesehen, wie ein Mann einen anderen mit einem Zaunpfahl erschlug. Der Erschlagene habe dann mit blutendem Kopf auf dem Asphalt gelegen, neben sich den noch rollenden Zaunpfahl, Mann und Pfahl von Passanten schnell verdeckt, während der Schläger im Menschengewimmel am Eingang der Metro schon untergetaucht war. Am selben Tag, so G., sei ihm gegen drei Uhr nachmittags in einer Unterführung des Komsomolski-Prospekts, also ganz in der Nähe seiner Wohnung, im Laufschritt ein Mann entgegen gekommen, dessen Hemd von frischem Blut vollkommen durchweicht gewesen sei. Niemand habe sich auch nur umgedreht nach dem blutenden Mann, als sei so etwas eine vollkommen gewöhnliche Erscheinung. Liane hatte sich gewundert, wie unbekümmert G. ihr von diesen Erlebnissen erzählte. Offenbar kam er nicht auf die Idee, dass er ihr damit Angst einjagen und sie von der Reise abhalten könnte. Wahrscheinlich glaubte er, sie sähe ihrem Aufenthalt in Moskau so gelassen entgegen, als flöge sie etwa nach Kopenhagen. So war es leider nicht! G. war erst 26, dem Alter nach hätte sie seine Mutter sein können. Als sie ihn kennenlernte, war er 16 gewesen, sie schon 48. Vielleicht hielt er sie deshalb für mutiger als sie war.

Sie werden mir sicher nicht glauben, sagte die Sängerin, aber vor Gorbatschow war vieles besser als heute. Gleich nach der Perestroika, mit 18, habe sie Kasachstan verlassen, um in Berlin zu studieren. Nichts habe sie damals in der Sowjetunion gehalten. Ihr und auch ihren Eltern sei die Perestroika wie ein einziger Zerstörungsprozess vorgekommen, wie der Abriss eines Hauses, das zwar schadhaft gewesen sei, aber wenigstens sichere Fundamente gehabt habe und in dessen Mauern ein geregeltes, nicht ganz schlechtes Leben möglich gewesen sei. Verfrüht, verfehlt sei die Perestroika gewesen. Gorbatschow, in Westdeutschland der Sympathieträger unter den sowjetischen Präsidenten, sei in ihren Augen nichts als ein großer Zertrümmerer, ein Wegbereiter von Chaos, sozialem Elend, von übler Geschäftemacherei, brutalen Banden und skrupellosen Betrügern …

Die Lotoshand sammelte die Plastikbecher wieder ein, die Maschine war bereits im Anflug auf St. Petersburg.

Die Sängerin sprach jetzt über die Trinkgewohnheiten russischer Männer und riet Liane, sich niemals von jemandem im Auto mitnehmen zu lassen. Viele fahren sturzbesoffen, sagte sie – und sie hatte eine sehr überzeugende Art, das Wort „sturzbesoffen“ auszusprechen, mit zwei Betonungen und scharfem s in der Mitte –, ständig passieren Unfälle deswegen. Ihre letzte Autofahrt mit einem Russen am Steuer sei ein grauenhaftes, von der ersten bis zur letzten Sekunde entsetzliches Erlebnis gewesen. Seitdem habe sie beschlossen, sich nie wieder zu einem Russen ins Auto zu setzen, dessen Fahrweise sie nicht schon kenne. Liane lächelte über die Ernsthaftigkeit ihrer fürsorglichen Ratschläge, fühlte sich aber nun doch etwas unbehaglich.

Nach der Landung standen sie dicht an dicht im Mittelgang. Liane wollte sich verabschieden, aber die Sängerin schüttelte den Kopf. Sie unterschätzen die Gründlichkeit der Einreisekontrollen, sagte sie. Sicherheit, Papiere, Zoll …, das dauert, wir können uns noch lange unterhalten! Allerdings, sagte sie mit einem Blick auf ihre Uhr, sollte ich um 14 Uhr im Konservatorium sein. Das wird wieder knapp.

Beim Verlassen des Flugzeugs hielt Liane sich am Geländer fest. Plötzlich fürchtete sie zu stolpern. Immer hatte sie den deutschen Medien misstraut, die täglich Nachrichten über mafiöse und korrupte Strukturen in Russland verbreiteten, wohingegen Korruption und organisiertes Verbrechen im eigenen Land meist unter den Teppich gekehrt wurden. Jetzt, da sie mit ihren dünnen Sandalen über russischen Boden lief, jetzt fühlte es sich anders an … Sie war froh, noch ein wenig mit der Sängerin zusammenbleiben zu können. Diese freundliche Frau kannte sich hier aus, beherrschte die Sprache, was für ein unschätzbarer Vorteil!

Allein die Hitze war eine Herausforderung. Sie sah sich nach dem Flugzeug um. Der weiße Himmel blendete, ein Flimmern lag über dem Asphalt des Rollfeldes. Die Sängerin sah Liane von der Seite an. Schön warm hier, nicht? Sie lachte.

In der Halle, vor einer Sicherheitsschleuse, hatte sich eine Traube gebildet. Erstaunlich, dachte Liane beklommen, wie perfekt die Mechanismen von Gewalt und Einschüchterung schon an den Rändern der Staatsmacht funktionieren. Oder bin nur ich so leicht einzuschüchtern? Liegt es daran, dass ich als Kind zur Anpassung und zum Bravsein erzogen wurde? Habe ich zu viel Kafka gelesen? Es ist ja zum Lachen: Kaum höre ich, dass man meine Papiere penibel prüfen wird, schon habe ich Angst, etwas versäumt oder vergessen, irgendetwas leichtfertig übersehen zu haben, schon sehe ich mich verhaftet, verhört und verschleppt, sehe mich liegen auf etwas, das halb Pritsche, halb Operationstisch ist …