Mein Onkel Hubert - Sabine Huttel - E-Book

Mein Onkel Hubert E-Book

Sabine Huttel

4,8

Beschreibung

Sabine Huttels beeindruckendes Romandebüt ist die Geschichte einer verletzten Jugend. Atmosphärisch dicht und mit großem Gespür für die Zeit erzählt sie von der ersten Liebe, falschen Hoffnungen und der beklemmenden Sprachlosigkeit der frühen 1960er Jahre. Mit großer Sensibilität zeichnet die Autorin das Bild einer Gesellschaft, in der eine sauber geputzte Treppe noch über den Ruf einer Frau entscheiden konnte. AUTORENPORTRÄT Sabine Huttel, 1951 in Wiesbaden geboren, studierte Medizin, Germanistik und Politikwissen- schaften und war viele Jahre lang Dozentin/Lehrerin für Deutsch und Sozialwissenschaften in Hamburg und Nordrhein-Westfalen. Sie ist Mitglied verschiedener Orchester und Kammermusik-Ensembles und lebt heute im Ruhrgebiet. "Mein Onkel Hubert" ist ihr erster Roman.

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Seitenzahl: 202

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Sabine Huttel

Mein Onkel Hubert

Roman

Saga

Ich lehnte in der Badezimmertür und betrachtete ihren Rücken, während sie vor dem Spiegel stand. Haarspraynebel hing in der Luft. Mit einem leuchtend roten Lippenstift bemalte meine Mutter ihren Mund.

Vergiss nicht das Flurlicht auszumachen, wenn du ins Bett gehst, sagte sie. Mach’s dir gemütlich.

Eigentlich sagte sie: Hach’s dir gehütlich, denn sie konnte während des Malens die Lippen nicht schließen. Was sie da tat, wusste ich genau: Ihre schmale Oberlippe sollte voller wirken, deswegen musste sie übermalt werden, aber nur eine Spur, damit es echt aussah. Dazu brauchte sie eine sehr ruhige Hand. Alles an ihrem Rücken war auf die Schminkarbeit konzentriert. Sie trug ein ärmelloses, hellgraues Kleid mit einem Muster aus lila Spiralen. Es saß eng in der Taille und umschloss ihren Rücken wie eine Haut. Sie hatte es gerade fertig genäht. Vor drei Tagen war sie vom Einkaufen aus der Stadt nach Hause gekommen, singend vor Glück über diesen herabgesetzten Stoffrest, einen feinen Batist. Die modernen Kunstfaserstoffe mochte sie nicht. Nyltest und all das. Sie behauptete steif und fest, der Mensch atme durch die Haut und müsse in Kunstfaserstoffen auf die Dauer eingehen. Ich fand, dass die anderen Mädchen in meiner Klasse, die ständig in Nyltestblusen steckten, noch ziemlich gesund wirkten. Jedenfalls war der Batist wirklich schön, das musste ich zugeben, und er stand ihr gut zu ihrem dunkelbraunen Haar. Wie meist bei Resten war es eigentlich viel zu wenig Stoff für ein Kleid gewesen. Aber meine Mutter kannte alle Tricks. Mit viel Raffinesse hatte sie den Schnitt so abgewandelt, dass sie einen weit fallenden Rock ansetzen konnte und trotzdem mit dem knappen Stoff auskam.

Sie prüfte das Lippenergebnis, griff dann ins Regal nach einer kleinen Flasche, schraubte den Verschluss ab, hielt mit dem rechten Zeigefinger die Öffnung zu, kippte die Flasche mit einem eckigen Schwung und tupfte sich einen Tropfen Parfum hinter jedes Ohrläppchen. Wenn irgendwas ist, kannst du bei Brauns klingeln. Frau Braun ist zu Hause, also hab keine Angst. Ich nickte, benommen von Haarspray und Parfum. Hast du zufällig irgendwo meine Sonnenbrille gesehen?, fragte meine Mutter. Ich schüttelte den Kopf. Sie lief in die Küche, entdeckte die Brille auf dem Kühlschrank und setzte sie auf, obwohl es schon nach acht war. Ich fand das albern. Geh nicht so spät schlafen, Herzchen, ja? Sie beugte sich zu mir herunter, spitzte die Lippen und machte das Kussgeräusch, berührte aber meine Wange nicht, wegen des Lippenstifts. Dann fiel die Tür hinter ihr ins Schloss.

Ihre Abwesenheit füllte jeden Winkel der kleinen Wohnung. Es war so still, dass ich hören konnte, wie Frau Braun in ihrer Küche mit Geschirr klapperte. Wasser rauschte durch das Rohr in der Küchenwand.

Lautlos, um mich nicht vor meinen eigenen Schritten fürchten zu müssen, schlich ich ins Wohnzimmer. Auf dem Klavier hatte sie Bügelwäsche gestapelt. Der große Tisch in der Mitte war überhäuft mit ihren Näharbeiten – der schwarzgoldene Brokat für Frau Werresheim, der graue Futtertaft für Frau Engelbrechts Kostüm, das schon halb fertig auf dem Bügel am Bücherregal hing. Sie räumte ihre Nähsachen niemals weg, es lohnte sich nicht, ständig saß sie daran, angestrengt, den Nacken gebeugt, meist bis tief in die Nacht. Offen stand die Nähmaschine, eine Pfaff mit verschnörkeltem Fuß aus schwarz lackiertem Eisen und dem schräg stehenden Trittbrett, das das Schwungrad antrieb. Eine Zickzackschere lag herum, eine Zuschneideschere, eine kleine spitze Schere zum Auftrennen, bleiches Reihgarn auf großen Rollen, ein alter Schuhkarton voller angebrochener Nähseiden-Röllchen, achteckige Blechdosen mit Stecknadeln und mit Spulen, vier Bruchstücke hellgrauer Schneiderkreide, das Rädchen, mit dem sie die Schnitte ausrädelte, um sie auf den Stoff zu übertragen. An der Wand hatte sie Pappkartons gestapelt, in denen sie kleine Bündel von Stoffabfällen aufbewahrte, man konnte nie wissen, wofür man sie noch brauchen würde. Auf dem Boden rund um den Tisch häuften sich kleine und kleinste Schnipsel. Früher hatte ich aus solchen Schnipseln Bilder zusammengeklebt, Häuser, Sonnen, Blumen. Oder ich hatte versucht, mit schiefen Stichen Blusen und Röcke für meine Puppen daraus zu nähen. Das war vorbei.

Ich ging ins Bad und stieg auf einen kleinen Hocker, um mein Gesicht von nahem im Spiegel zu sehen. Ihre schmale Oberlippe hatte ich geerbt. Ich nahm den Lippenstift und malte meine Lippen an. Das war verboten, ich wusste es, obwohl sie es nie ausgesprochen hatte. Sie konnte es nicht leiden, wenn ich an ihre Sachen ging. Außerdem war es Verschwendung, Lippenstift war nicht billig. Und Lippenstift gehörte sich nicht – für ein Kind. Ich drückte zu fest auf und kleisterte mir die Lippen voll, zum ersten Mal in meinem Leben. Fasziniert und angewidert betrachtete ich meinen verschmierten Mund. Ich wollte gern begreifen, warum meine Mutter so etwas tat, aber es fiel mir schwer. Das Zeug roch klebrigsüß wie die flüssige Füllung der kleinen bunten Zuckereier, die es zu Ostern gab, aber es war stumpf und schmeckte nach Chemie, wenn man mit der Zunge darüber fuhr. Meine Versuche, es mit Wasser abzuwaschen, führten dazu, dass ich schließlich mein ganzes Gesicht und meine Finger mit der roten Farbe besudelte. Ich wusch und rieb, und es wurde immer schlimmer statt besser. Erhitzt und entnervt setzte ich mich auf den Rand der Badewanne.

Bei Brauns lief der Fernseher. Amerikanische Streichmusik und Männerstimmen, eine seltsame Mischung. Die Musik schwoll immer an, verschwand ruckartig, wenn gesprochen wurde, und brandete danach sofort wieder auf. An der See, fiel mir ein, wo ich einmal im Sommer mit meiner Mutter zwei Wochen der Sommerferien auf einem Bauernhof verbracht hatte, die einzigen wirklichen Ferien, an die ich mich erinnern konnte, hatte es irgendwo eine lange Strandpromenade gegeben. Wir gingen dort jeden Tag in ein Telefonhäuschen, um ihren damaligen Freund anzurufen. Er war nie zu Hause, aber sie ließ das Telefon stundenlang klingeln. Mich langweilte das und ich vertrieb mir die Zeit, indem ich die Tür des Telefonhäuschens auf und zu machte und das Meeresrauschen abwechselnd einließ und aussperrte. Die Tür schloss so dicht, dass ich das Tuten in der Leitung hören konnte, während ich den Geruch von Metall und kaltem Rauch einsog, der in dem Telefonhäuschen hing. Öffnete ich sie auch nur einen kleinen Spalt, donnerte das Meer. Daran io erinnerten mich die Musikschwaden, die von Brauns Fernseher so unregelmäßig durch die Wände drangen. Ich lauschte den Männerstimmen. Diese Männer hatten sicher Zigaretten und Gewehre. Später würde in dem Film geschossen werden und man würde Schreie hören.

Meine Mutter hatte wieder die Nivea-Dose offen gelassen. In manchen Dingen war sie unbegreiflich nachlässig. Als ich den Deckel in die Hand nahm, um die Dose zu verschließen, fiel mir ein, wie ich meine Bemalung wieder loswerden konnte. So machte sie es ja auch: Ich griff mit drei Fingern in die flache blaue Dose und verteilte kühle weiße Kleckse auf meinem Gesicht. Dann riss ich aus der großen Tüte, die an der Wand hing, ein Stück Watte und wischte damit so lange auf Stirn, Nase, Mund und Kinn herum, bis alle rote Farbe weg war. Den roten Wattebausch verpackte ich in einem Frühstücksbeutel und versteckte ihn in meinem Schulranzen. Das Englischbuch legte ich auf meinen Nachttisch. Dann zog ich mich aus.

Unter dem Kopfkissen lag mein Schlafanzug, genäht von meiner Mutter, türkiser Baumwollsatin mit einem Muster aus kleinen weißrosa Streublümchen, ohne Ärmel und mit kurzen Hosen. Dasch ischt kein Schlafantschug, dasch ischt ein Baby-doll, hatte meine Mutter gesagt, als sie ihn mir anprobierte. Sie hatte Stecknadeln im Mund gehabt. Auch der Schlafanzug war voller Stecknadeln gewesen, die mich pieksten. Ich war kein Baby mehr und hatte deshalb gegen das Wort protestiert, aber auf den Schlafanzug freute ich mich. Der Stoff war dünn und weich, und in den heißen Hochsommernächten schlief ich darin kühl und traumlos.

Im Bett lernte ich noch ein paar englische Vokabeln. Englisch war mein Lieblingsfach, und es fiel mir leicht, die neuen Wörter zu behalten. Nie ging es mir schnell genug voran, und die vielen Wiederholungen im Unterricht machten mich ungeduldig. Am liebsten blätterte ich ein paar Seiten voraus und sah mir die Lektionen an, die wir noch gar nicht gehabt hatten. Ich betrachtete die Bilder, versuchte mir vorzustellen, wie die unbekannten Wörter klingen könnten und formte sie sorgfältig mit den Lippen. Dann unterhielt ich mich auf Englisch mit meinem kleinen alten Stoffhasen. Irgendwann fielen mir die Augen zu, ich knipste die Nachttischlampe aus und schlief ein.

Ein schriller Laut weckte mich. Es hatte an der Wohnungstür geschellt. Ich lag wie ein Knochen im Bett. Es schellte noch einmal. Meine Mutter hatte mir eingeschärft, niemals zu öffnen, wenn es in ihrer Abwesenheit klingeln sollte. Sicher war es schon nach Mitternacht. Die Angst hämmerte mir dicke Pflöcke ins Herz. Wer konnte das sein? Es schellte lang anhaltend. Ich hielt mir die Ohren zu und presste die Ellbogen an meinen Körper. So lag ich eine Ewigkeit. Die Angst ließ nicht nach, aber meine Kräfte, und ich hörte doch wieder etwas – ein energisches Klopfen diesmal. Schlotternd kroch ich aus dem Bett und schlich den Flur entlang.

Kind, mach doch bitte bitte auf, hörte ich meine Mutter draußen flehen.

Mit tauben Fingern drehte ich den Schlüssel im Schloss. Endlich!, stöhnte sie, ich dachte schon, du würdest niemals aufwachen! Ich hab meinen Schlüssel vergessen. Wahrscheinlich habe ich mit dem Spektakel jetzt das ganze Haus aufgeweckt. Morgen werd ich von Frau Braun was zu hören kriegen. Was hast du denn? Hast du schlecht geträumt? Na komm, das vergeht schon wieder ...

Sie strich mir das Haar aus dem Gesicht. Lila Spiralen auf grauem Grund. Ihr Kleid roch ein bisschen nach Zigarettenrauch.

Warum hast du bloß nicht eher aufgemacht? Na, ist ja jetzt auch egal. Nun schlaf mal schnell wieder ein.

Sie legte ihre Handtasche auf einen Stuhl am Ende des Flurs und ging an mir vorbei ins Bad. Gern hätte ich ihr erzählt, wie viel Angst ich gehabt hatte, aber ich sah, dass es zwecklos war. Sie hatte schlechte Laune und war mit sich selbst beschäftigt. Sogar von hinten konnte ich ihr das ansehen. Wie sie das immer machte, habe ich nie herausgefunden, aber sie lief dann herum wie verpackt in dickes Glas. Als kleines Mädchen rannte ich mir daran den Schädel ein, wie Kinder sich die Köpfe an Schaufensterscheiben stoßen, weil die Spielsachen dahinter aussehen, als wären sie zum Greifen nahe. Inzwischen hatte ich gelernt. Fahrig hantierte meine Mutter im Bad. Die Seife glitt ihr aus der Hand und knallte auf den Boden. Sie fluchte leise. Ich verzog mich ins Bett.

Am nächsten Morgen saß sie mit Sonnenbrille am Frühstückstisch. Ihre Augen konnte ich nicht sehen. In den senkrechten Falten rechts und links von ihrem Mund nisteten Vorwürfe. Wortlos schob sie mir Kakao und Zucker über den Tisch. Ich versuchte die Vorwürfe zu ignorieren, griff betont gleichgültig nach Haferflocken, Zucker und Kakao, mischte alles und goss Milch darüber. Neben mir lag das aufgeschlagene Englischbuch. Ich tat so, als läse ich darin. Eine Schuld musste es geben, das war klar, ich wusste nur nicht, welche. Mein Herz klopfte. Vielleicht hatte sie den Frühstücksbeutel in meinem Schulranzen entdeckt? Ich bemühte mich, regelmäßig zu kauen, obwohl ich nicht viel hinunter bekam, und heftete meine Blicke fest auf das Englischbuch. Was hatte ich ihr bloß getan? Ihr Schweigen lag schwer auf meinen Schultern.

Wir schreiben heute eine Englischarbeit, sagte ich.

Ach, du machst das schon, sagte sie, wie man ein Fädchen vom Ärmel schnippt.

Ich stand auf und holte meinen Ranzen, griff nach dem Englischbuch.

Vergiss dein Schulbrot nicht, sagte sie.

Ich packte es ein, gab ihr einen schnellen Kuss und ging. Zwei Stufen auf einmal sprang ich die Treppe hinunter und in die frische, kühle Morgenluft hinaus.

Es war nach der Turnstunde. Duschen gab es nicht. Einige Mädchen aus der Klasse rochen schon nach Schweiß, feine Partikel davon verteilten sich im Klassenraum, legten sich auf Haare und Haut. Frau Schreier, die neue Englischlehrerin, las aus den besseren Englischarbeiten Teile vor. Ich wurde rot, als sie meinen Namen nannte und vorlas, was ich zu der Aufgabe »What does your Dad do on Sundays?« geschrieben hatte:

»Sunday is my Dad’s favourite day. In the morning, he comes to my bed on tiptoes and wakes me with a kiss and a biscuit. Then he reads a story to me. Then he makes breakfast for my mother and me ...«

Ich hörte Gudrun hinter mir leise kichern.

»... After breakfast we go out to the big meadow in the park. My Dad tells funny jokes all the time. In the middle of the meadow he stops. Now he has always a surprise for us. He makes magic tricks or he sings a song or he tells us a poem. Then we play badminton. Afterwards we make a picnic. My Dad has cooked the picnic on Saturday ...«

Gudrun kicherte lauter, außerdem hörte ich jetzt Ulla und Gisela lachen. Frau Schreier hob den Kopf und blickte streng in Gudruns Richtung, bis es wieder still war. Dann las sie weiter.

»... At the afternoon, my Dad goes with me to a cinema and we see a new film. Then we are at home and eat our dinner. After dinner, my Dad shows me how I can build a house out of paper. In two hours we build together a whole town. Then my Dad takes my little dolls and plays a theatre piece for me in the town. I can laugh a lot. Then I must brush my tooths and he brings me to bed. There he reads to me a long story out of a very old and thick book. The story is thrilling and goes on till midnight. Then I sleep. Sunday is also my favourite day.«

Das ist gut und ausführlich, sagte Frau Schreier. Du hast nur wenige Fehler gemacht – die musst du natürlich berichtigen. Aber sag mal! Sie nahm ihre Lesebrille ab und peilte mich argwöhnisch an. Ist das denn auch wirklich alles wahr?

Ich schüttelte den Kopf und heftete den Blick auf meinen Tisch. Du Knalltüte war da mit Kuli eingeritzt, darunter Du Ei.

Was hast du denn dazuerfunden?, fragte Frau Schreier mit nachsichtigem Lächeln.

Ich sagte nichts. Einige in der Klasse fingen wieder an zu kichern, Gudrun prustete. So liebten sie es: Ich wurde splitternackt ausgezogen, in ein Fass gesteckt, das innen mit rostigen Nägeln ausgeschlagen war, und einen Abhang hinuntergerollt, während sie sich in ihren Nyltestblusen und Trevira-Faltenröcken königlich amüsierten. Gudruns heiseres, kaum unterdrücktes Wiehern ertönte hinter mir.

Alles, sagte ich. Ich habe keinen Vater.

Da war’s still. Der Schweißdunst lastete. Frau Schreier nuschelte irgendwas und beeilte sich, aus der nächsten Arbeit vorzulesen.

Ich saß am Klavier. Es war später Nachmittag. Die Pfaff ratterte an der entgegengesetzten Zimmerwand. Mühsam suchte ich mir die Töne von Der Mond ist aufgegangen zusammen. Jemand hatte früher mit Bleistift das C markiert. Da fing ich an. Das E war kaputt. Wenn man auf die Taste drückte, kam nichts. Ausgerechnet das E kam in diesem Lied besonders oft vor.

Mama, der eine Ton ist kaputt, sagte ich.

Ja, ich weiß, antwortete meine Mutter, spiel das Lied doch in einer anderen Tonart.

Wie?, fragte ich, denn ich hatte wenig Ahnung von Tonarten.

Na, fang einfach ein paar Tasten weiter oben an. Dann wird’s schon gehen.

Ich versuchte es, aber da klangen plötzlich einige Töne ganz falsch. Mami, zeigst du mir, wie das geht?

Herzchen, du siehst doch, ich hab jetzt keine Zeit, Frau Hörsch kommt in zehn Minuten zur Anprobe. Ein andermal, ja? Ein dunkelblauer Wollstoff fuhr wie besessen unter dem Nähfuß der ratternden Maschine hin und her.

Mami, bitte ...

Sie antwortete nicht. Hastig zupften ihre Finger Heftfäden aus dem Stoff. Dann sprang sie auf, stellte das Bügeleisen an, holte ein feuchtes Geschirrtuch aus der Küche und dämpfte die neuen Nähte von links. Es roch nach heißer, feuchter Wolle. Ich näherte mich meiner Mutter und hätte mich gerne an sie geschmiegt. Aber sie hantierte mit dem heißen Eisen, ihre Muskeln waren gespannt.

Mami, bitte, warum kann ich nicht Klavier spielen lernen?

Da klingelte es schon. Geh schnell in dein Zimmer!, zischte meine Mutter leise, ordnete ihre Frisur und ging zur Tür, um Frau Hörsch hereinzulassen.

Ich stellte mich ans Klavier, drehte der Tür den Rücken zu, strich noch einmal mit der Hand über die Tasten und schloss dann erst, mit äußerster Gemächlichkeit, den Deckel. Wieso sollte ich mich wegen dieser Vogelscheuche auch noch beeilen?

Ah, da ist ja auch Ihre Kleine, flötete Frau Hörsch. Ich muffelte weiter in meiner Klavierecke herum.

Meine Mutter funkelte mich an, steinernes Lächeln auf den Lippen: Sagst du mal guten Tag, Herzchen?

Sie meinte Nervensäge, sagte aber Herzchen. Das machte mich wild. Ich wollte mich auf dem Absatz herumdrehen und in mein Zimmer abmarschieren, aber Frau Hörschs ausgestreckter Arm bildete mit den beiden Armen meiner Mutter, deren linker meine Schulter unerbittlich hörschwärts drückte, während der rechte mir hörschwärts die Richtung wies, ein spitzwinkliges Dreieck, aus dem es kein Entrinnen gab. Vier Augen hypnotisierten mich von oben, Hörsch hatte zusätzlich schweres Parfum eingesetzt. Ich gab der Vogelscheuche die Hand, knickte vorschriftsmäßig in den Knien ein und fühlte mich elend.

Nun blieb mir nichts als der schmachvolle Rückzug ins Kinderzimmer. Hausaufgaben. Bruchrechnung. Ich heulte in mein Matheheft. Die beiden Frauen lachten nebenan. Bestimmt tranken sie Keuck Mokka. Jedenfalls hatten sie dieses typische Likörlachen. Sie amüsierten sich offensichtlich blendend. Normalerweise hatte ich auch was übrig für Keuck Mokka, nämlich für die Muster, die im Glas entstanden, wenn man den kleinen Schuss Bärenmarke in den Likör schüttete. Das wallte und waberte so schön in der dickflüssigen dunkelbraunen Soße. Aber jetzt nicht. Albernes Gegickel. Ich werde Klavier spielen lernen!, schrieb ich in mein Heft und unterstrich das doppelt mit Lineal. Ich werde nie wieder einen Knicks machen!

Nach Frau Hörsch kam Frau Fickelscherer zur Anprobe. Als sie ging, war es schon halb neun und meine Mutter schickte mich mit strengem Ton ins Bett. Rein äußerlich gehorchte ich, aber ich strafte sie mit Schweigen, gab ihr keinen Gutenachtkuss, sagte noch nicht mal gute Nacht. Dann weigerte ich mich einzuschlafen.

Ich hörte sie noch lange nähen. Gudrun fiel mir wieder ein, die blöde Ziege. Ihre Herablassung erbitterte mich, ihr Gelächter brachte mich jedes Mal zur Weißglut. Die Pfaff schnurrte und ratterte. Meine Mutter hatte das Radio an. Sie hörte ihre Schlagerbörse, wie so oft am Montagabend. Wenn ich Gudruns Hefte in die Finger kriegen könnte, würde ich überall die Seiten mit den neuesten Hausaufgaben rausreißen. Dann käme sie dran, schlüge ihr Heft auf und hätte nichts. Sie würde dann sagen, sie habe die Aufgaben gemacht, sie seien nur unerklärlicherweise aus ihrem Heft verschwunden, und alle würden aus vollem Hals lachen über diese offenkundige, heillose, dummdreiste Lüge. Gudrun wäre zum ersten Mal auf verlorenem Posten, verlassen von allen, würde rot anlaufen und sich schämen und bekäme noch dazu eine schlechte Note.

Drüben sang Bill Ramsey das Lied vom itsy-bitsy-teenie-weenie Honolulu-Strand-Bikini. Meine Mutter pfiff in ihrer Likörlaune die Melodie mit. Ich fühlte mich sehr einsam und bedauerte mich deswegen. Damals kannte ich Onkel Hubert noch nicht, und deshalb dachte ich nicht daran, dass einsam sich steigern lässt, wie alle Adjektive.

Meine Mutter pfiff. Ich hasste Bill Ramsey.

Wir hatten Mathe bei Friderici. Mathe und seit neuestem auch Geschichte. Er war sehr alt. Zum Unterricht erschien er stets in einem vergilbten, ehemals vielleicht weißen Kittel. Wahrscheinlich rechnete er täglich mit dem Tod und wusch sich deshalb überhaupt nicht mehr, jedenfalls klebten seine weißen Haare gelbfettig an seinem Kopf. Eine riesige dunkle Hornbrille mit dicken, schmierigen Gläsern steckte in diesen fettigen Haaren und lag auch ab und zu auf dem Pult, während er an der Tafel Rechnungen vorführte.

Friderici konnte eigentlich nicht besonders gut Mathe. Das merkte man immer, wenn Ulla, eine kleine Dicke, eine Frage stellte. Wenn er sagte, das und das müsst ihr mit dem Dreisatz rechnen, und die Formel geht so und so, und die Formel anschrieb und uns einschärfte, wir hätten sie auswendig zu lernen, fragte Ulla zum Beispiel, warum wir das mit dem Dreisatz rechnen müssten und warum die Formel so gehe. Dabei kicherte sie, weil sie die Antwort schon wusste und weil sie albern war, und wir mussten alle lachen. Friderici war froh, dass sie kicherte, denn ihr ungebührliches Kichern verschaffte ihm disziplinarisches Oberwasser. Etwas mehr Ernst, Schwarz!, rief er sie zur Ordnung. Er redete uns immer mit Nachnamen an, und Ulla hieß Schwarz. Anzusehen war ihm aber, dass er die Dreisatzformel nicht richtig erklären konnte und dass ihm das peinlich war. Er geriet sogar leicht ins Stottern, wenn er dann irgendwas von »Stoff der Quinta« oder »Grundlagen der Mathematik« daherredete. Wenn er Ulla gelassen hätte, hätte sie das Ganze an der Tafel bestens erklären können. Natürlich hütete er sich wohl, seine Autorität in solche Gefahr zu bringen. Lieber schrieb er rasch große Mengen von Aufgaben an die Tafel, die wir mit der neuen Formel rechnen sollten.

Beim Rechnen setzte er immer Totenstille durch, indem er mit einem Stöckchen auf den Tisch schlug, aber während er anschrieb, trieben wir bunten Unsinn. Einige summten Am Tag als der Regen kam, andere warfen Papierschwalben durch die Luft. Ich griff in einer plötzlichen Eingebung nach seiner dicken Brille, die vor mir auf dem Pult lag. Sie war sehr schmierig, aber im Vorgefühl des zu erwartenden Beifalls setzte ich sie mir auf die Nase und drehte mich zur Klasse herum. Alles grölte. Friderici tat so, als sei ihm der Lärm egal. Unbeirrt schrieb er.

Als er fertig war, suchte er nach seiner Brille, fand sie nicht auf dem Tisch und sah uns mit kurzsichtigen Augen irritiert an. Seinem Blick fehlte die Schärfe, mit der er sonst einzelne von uns fixierte, um sie dann bloßzustellen und Strafen zu verhängen. Trotzdem wurde es stiller, als seine wässrigen Augen über unsere Gesichter wanderten und suchten, und als er mich ansah, hielt ich es nicht länger aus, setzte die Brille ab und reichte sie ihm.

Schücking! Du! Das hätte ich mir denken können!, rief er aus. Du kommst nach der Stunde zu mir! Dann setzte er die Brille auf, brüllte: An die Arbeit!, und haute mit seinem Stöckchen dreimal auf den Tisch, wobei das Stöckchen mit einem Sirren die Luft durchschnitt.

Es war nun so still, dass man eine dusselige dicke Fliege hören konnte, die in regelmäßigen Abständen mit dem Kopf gegen die Fensterscheibe brummte. Der halb vertrocknete Gummibaum auf der Fensterbank verlor ein Blatt. Alle hatten ihre vom Lachen geröteten Köpfe in ihre Mathehefte gesteckt, taten so, als ob sie rechneten, und priesen sich glücklich, ohne Strafe davongekommen zu sein. Ich dagegen sah nicht nur meine hart erkämpfte Zwei in Mathe davonschwimmen. Das Ende der Stunde war wie ein schwarzer Tunnel, in dem unabsehbare Foltern auf mich warteten, eiserne Zangen, glühende Kohlen, klebrige Finger, die nach mir griffen ...

Es klingelte. Alle meine Mitschülerinnen verschwanden in Windeseile. Ich klaubte mit der Langsamkeit eines Betäubten meine Siebensachen zusammen und packte sie in meinen Ranzen. Mit den Augen klammerte ich mich an die Kritzelschrift Du Knalltüte! Du Ei!

Das Heft brauche ich noch!, sagte er barsch. Komm mit dem Heft nach vorn!

Ich gehorchte und stand mit zitternden Knien neben seinem Pult. Leider konnte er sehen, dass meine Knie zitterten, denn mein Rock war kurz. Da legte er schon los, gar nicht laut, aber mit hässlich verzerrtem Mund:

Also, Schücking, was du dir heute geleistet hast, war eine bodenlose Unverschämtheit. Wir sind bisher sehr nachsichtig mit dir gewesen, denn wir wissen ja, zu Hause fehlt es an einer festen Hand. Natürlich kann deine Mutter dir nicht beibringen, was das ist, Respekt! Was das ist, Anstand! Aber wir können uns hier nicht alles bieten lassen. Und wenn du es nicht anders begreifst, dann musst du eben harte Maßnahmen zu spüren kriegen. Er schlug mein Heft auf. Du bekommst heute einen Tadel. Er schrieb:

Helmi Schücking erhält einen Tadel wegen Unverfrorenheit.

Dienstag, den 6. September 1960

Friderici

Denselben Text trug er auch ins Klassenbuch ein. Morgen zeigst du mir die Unterschrift deiner Mutter!

Ich nickte. Mir war schlecht. Er roch nicht gut.

Beim nächsten Elternabend will ich sie sprechen!

Ich nickte.

Sag mal – was ist denn das ...?! Er hatte etwas ganz Regelwidriges, etwas so vollkommen Unfassbares in meinem Heft entdeckt, dass er keine Worte fand. Sein kurzer roter Zeigefinger deutete auf meine beiden Vorsätze, betreffend Klavierspielen und Knicksen, die zugegebenermaßen nichts mit Mathematik zu tun hatten. Ich schwieg.

Streich das durch!, befahl er.

Ich rührte mich nicht.

Kannst du mir erklären, was dieser Käse in einem Mathematikheft zu suchen hat?

Ich schwieg und mir stieg das Blut in den Kopf.