17,99 €
Fast 40 Jahre lang arbeitete Margret Rasfeld als Lehrerin, leitete zwei Jahrzehnte Schulen. Und von Ruhestand kann bei ihr heute keine Rede sein. Leidenschaftlich kämpft sie zusammen mit Ute Puder mit diesem Buch dafür, das Schulwesen so zu verändern, dass alle Kinder die in ihnen schlummernden Potenziale entfalten und mit Freude lernen können. Mit einem Vorwort von Dr. Gerald Hüther. Stress, Überforderung, Angst vor schlechten Noten. Zu wenig Erfolgserlebnisse, viel Frust und kaum eine Perspektive, dass es besser wird. Das sind Stichworte aus Briefen von Schülerinnen und Schülern, die für Margret Rasfeld und Ute Puder den Anstoß gaben, dieses Buch zu schreiben. »Ich weiß nicht, wie viele Eltern, aber auch verzweifelte und ausgelaugte Lehrkräfte angesichts der gegenwärtigen Situation in so vielen Schulen noch ruhig schlafen können. Dazu gibt es keine Umfragen, wahrscheinlich deshalb, weil dann allzu offensichtlich und unabweisbar würde, wie groß das Drama ist, das ihre Kinder dort erleben. Als Drama bezeichnen wir eine Theateraufführung immer dann, wenn das Ergebnis einer Handlung noch Auswege zulässt, wenn also noch Hoffnung besteht. Margret Rasfeld und Ute Puder machen Hoffnung: Es ist möglich, doch noch die Kurve zu kriegen. Für unsere heranwachsenden Kinder und Jugendlichen wäre das ein Segen. Denn so, wie es nun schon seit Jahren ist, kann es nicht weitergehen. In diesem Buch wird nicht über die Schule gemeckert, sondern ihr Neubau vom Fundament aus beschrieben.« Dr. Gerald Hüther
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 206
Margret Rasfeld / Ute Puder
... und wie wir unsere Kinder für die Zukunft stärken
Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG.
Stress, Überforderung, Angst vor schlechten Noten. Zu wenig Erfolgserlebnisse, viel Frust und kaum eine Perspektive, dass es besser wird.
Das sind Stichworte aus Briefen von Schülerinnen und Schülern, die für die pensionierte Schulleiterin Margret Rasfeld und Ute Puder den Anstoß gaben, dieses Buch zu schreiben. »Ich weiß nicht, wie viele Eltern, aber auch verzweifelte und ausgelaugte Lehrkräfte angesichts der gegenwärtigen Situation in so vielen Schulen noch ruhig schlafen können. Dazu gibt es keine Umfragen, wahrscheinlich deshalb, weil dann allzu offensichtlich und unabweisbar würde, wie groß das Drama ist, das ihre Kinder dort erleben. Als Drama bezeichnen wir eine Theateraufführung immer dann, wenn das Ergebnis einer Handlung noch Auswege zulässt, wenn also noch Hoffnung besteht. Margret Rasfeld und Ute Puder machen Hoffnung: Es ist möglich, doch noch die Kurve zu kriegen. Für unsere heranwachsenden Kinder und Jugendlichen wäre das ein Segen. Denn so, wie es nun schon seit Jahren ist, kann es nicht weitergehen. In diesem Buch wird nicht über die Schule gemeckert, sondern ihr Neubau vom Fundament aus beschrieben.«
Dr. Gerald Hüther
Weitere Informationen finden Sie unter: www.bene-verlag.de
Collage
Vorwort
Warum wir dieses Buch schreiben?
DAS DRAMA
Das überalterte System
Das Grundübel: der selektive Geist
Selektion prägt Haltungen
Wir setzen auf Trennendes
»Ist dein Kind nicht erfolgreich, machst du etwas falsch«
Als gäbe es nützliche und weniger nützliche Menschen
Herkunft bestimmt maßgeblich den Bildungserfolg
Die UN erteilt Deutschland eine Rüge
Selektion und Demokratie – ein Widerspruch
Schule für alle fördert alle – auch Hochbegabte!
Der tradierte Leistungsbegriff
Was zählt?
Noten erzeugen Nöte
Schon Kinder im Burn-out
Gute Leistungen brauchen psychologische Sicherheit
Beschämung verletzt
Die heimliche Gewalt des Systems
Beschämung und Scham der Lehrkräfte
Eltern unter Druck
Folgen der Pandemie für Kinder und Jugendliche
Das Drama mit Social Media
Kinder werden zu abhängigen Konsumenten degradiert
Verstörende Inhalte
WAS UNS HOFFNUNG MACHT
Die Weltgemeinschaft bricht auf
Die AGENDA21
Die Global Goals und der Weltaktionsplan
Der Nationale Aktionsplan
Der Lernkompass 2030
Das wichtigste Schulbuch der Kinder
Die Kraft der Kinder
Kinder wollen gehört werden und gestalten
AGENDA-Revue
Engagement der Kinder braucht Freiräume
Ein Schulsong verbindet
Die Schulversammlung – Demokratie braucht Öffentlichkeit
Menschen mit Botschaften als Vorbilder
Den Reichtum der Kulturen feiern
Civil-Courage: ausgezeichnet!
Das Schulprogramm in der Hosentasche
Verantwortung als Schulfach
Schüler:innen als Lesepaten
Schüler:innen als Lernbegleiter:innen
Schüler:innen als Klimabotschafter:innen
Der FREI DAY – ein »System Changer«
Das Schulfach Herausforderung
Schüler schulen Lehrer
Siegeszug der Achtsamkeit und Empathie
Alles ist schon da
Transformationsbegleitung
Selbstwirksamkeit entfalten
Ängste besiegen
Kraft der Künste
Kraft der Natur
Kraft der Liebe
Schulen als Resilienzzentren
ResonanzRaum und Liebe im Alltag
Reset Bildung
Die Kraft des Wir
Pioniere der Bildung
»Das links am Tisch anlehnende Kind stellt mich dar. Und die chimärenartige Figur rechts von mir spiegelt das Schulsystem wider. Die Figur füttert mich mit dem Lehrplan … Der Esel ist ein Symbol der Dummheit, welchen Goya bereits in seinen Werken verwendet hat. … Der Komet, der auf mich zurast, stellt die Zukunft dar und die Dinge … auf die ich nicht vorbereitet bin. Ich empfinde ein Angstgefühl, wenn ich daran denke, dass ich bald mein Abitur beenden werde.«Collage und Text von Wlada Ott
Ich möchte, dass mich jemand anschaut,
so richtig anschaut,
und sieht,
was für einen Schmerz ich spüre.
Schüler, 14 Jahre
»Wenn ich an unsere Kinder denke in der Nacht, bin ich um den Schlaf gebracht«, so hätte es wohl Heinrich Heine formuliert, wenn er heute in Deutschland leben würde und seine vier Kinder der »Schulbesuchspflicht« folgend in eine Schule schicken müsste, aus der sie tagtäglich jahrelang und zudem noch während der wichtigsten Phasen ihrer Gehirnreifung und Persönlichkeitsentfaltung missmutig, verängstigt, unglücklich und verstört nach Hause kämen; und den dort erlebten Frust dann erst einmal mithilfe ihrer digitalen Geräte in Chatrooms, Computerspielen und virtuellen Welten abzubauen versuchten.
Ich weiß nicht, wie viele Eltern, aber auch verzweifelte und ausgelaugte Lehrkräfte angesichts der gegenwärtigen Situation in so vielen Schulen noch ruhig schlafen können. Dazu gibt es keine Umfragen, wahrscheinlich deshalb, weil dann allzu offensichtlich und unabweisbar würde, wie groß das Drama ist, das ihre Kinder dort erleben. Als Drama bezeichnen wir eine Theateraufführung immer dann, wenn das Ergebnis einer Handlung noch Auswege zulässt, wenn also noch Hoffnung besteht, dass es im Stück auch noch mögliche andere Ergebnisse als diejenigen gibt, die von den Zuschauern befürchtet werden. Deshalb bin ich froh, dass Margret Rasfeld und Ute Puder den Titel Schuldrama gewählt haben. Wenn ein Geschehen bereits durch die Ausgangskonstellation so sehr festgelegt wird, dass eine Verstrickung der Helden in immer unlösbarer werdende Konflikte bereits von Anfang an festgelegt ist, handelt es sich um eine Tragödie.
Auch wenn viele besorgte Eltern und Lehrkräfte von diesem Gedanken um den Schlaf gebracht werden, so machen die beiden Autorinnen mit ihrem Buch über das Schuldrama allen Beteiligten Hoffnung: Es ist möglich, doch noch die Kurve zu kriegen. Für unsere heranwachsenden Kinder und Jugendlichen wäre das ein Segen. Denn so, wie es nun schon seit Jahren ist, kann es nicht weitergehen. Wenn Kinder und Jugendliche die ihnen angeborene Freude am eigenen Entdecken und am gemeinsamen Gestalten, also am Lernen, ausgerechnet dort verlieren, wo ihnen Gelegenheit geboten werden soll, alles zu lernen, worauf es später für die Gestaltung ihres Lebens, eines konstruktiven Zusammenlebens mit anderen, auch mit anderen Lebewesen auf dieser Erde, ankommt, dann ist das nicht nur eine Tragödie, sondern eine Schande für ein ganzes Land. Wenn zu viele junge Menschen mit »null Bock« auf Lernen, auf gemeinsames Gestalten und auf die Suche nach kreativen Lösungen aus der Schule kommen, hat eine solche Gesellschaft keine Zukunft mehr. Manche spüren das, aber viele auch (noch immer) nicht.
Die vielen mehr oder weniger klugen Bücher, die in den vergangenen Jahren erschienen und auch von vielen verzweifelten Erwachsenen gelesen worden sind, haben diese Situation nicht spürbar verändert. Auch nicht die zahlreichen Podcasts, Initiativen und Schulveränderungsprogramme, noch nicht einmal die besorgniserregenden Resultate internationaler Vergleichsuntersuchungen konnten den einmal eingeschlagenen Kurs dieses riesigen und schwerfälligen Tankers »Schulsystem« neu justieren.
Wahrscheinlich – und zumindest aus der Sicht eines Neurobiologen ganz sicher – sind Argumente, auch wenn sie noch so gut begründet werden, nicht geeignet, um Menschen zu veranlassen, notwendige Veränderungen auch wirklich umzusetzen. Da muss wohl, neben den kognitiven Bereichen im Gehirn, auch noch ein Bereich aktiviert werden, der tiefer sitzt und auch in seinen Wirkungen tiefer reicht als der nackte Verstand. Ein Gefühl also, oder so etwas wie eine innere Stimme, die uns unmissverständlich darauf hinweist, dass wir dabei sind, etwas zu tun, was unsere Existenz, also die Entfaltungsmöglichkeiten unserer Kinder, gefährdet. Es müsste uns also wirklich »unter die Haut gehen« und uns tief im Inneren berühren.
Margret Rasfeld und Ute Puder haben diese innere Stimme schon lange vernommen. Als sie die erschütternden Briefe Jugendlicher gelesen haben, sind sie an die Öffentlichkeit gegangen. In den Briefen beschreiben Schüler und Schülerinnen eines Gymnasiums, wie es ihnen in der Schule geht, wie leer, wie verzweifelt, wie ohnmächtig sie sich dort fühlen. Und zwar deshalb, weil sie dort – trotz der wohlmeinenden und unterstützenden Begleitung durch manche Lehrkräfte – gewissermaßen systemimmanent ständig belehrt und bewertet und damit wie zu optimierende Objekte behandelt werden.
Das war ihr Gefühl. Sie haben aufgeschrieben, was dieses Gefühl mit ihnen macht und wie sie damit umgehen, auch wie sie es »wegbekommen«. Es sind erschütternde Zeugnisse einer Fehlentwicklung, wohlgemerkt nicht in »Problemschulen«, sondern in »Vorzeigegymnasien«, auch nicht verfasst von »Versagern«, sondern von solchen, die das Gymnasium mit sehr guten Abschlüssen verlassen. »Hier stimmt also etwas sehr grundsätzlich nicht«, hatte ihre innere Stimme den beiden Autorinnen gesagt. Und deshalb haben sie dieses Buch geschrieben.
Und damit es keine Tragödie mit unausweichlichem Ausgang wird, haben sie es als Mutmachbuch für alle verfasst, die noch daran glauben, dass Menschen (und nicht künstliche Intelligenzen oder kultusministerielle Vorgaben) für das verantwortlich sind, was in unseren Schulen geschieht. Und dass das, was dort nun schon seit so vielen Jahrzehnten als eingefahrenes Muster wie ein einmal einprogrammierter Automatismus abläuft, geändert – oder besser: im Inneren verwandelt – werden kann.
Aber lesen Sie selbst. Es ist ein Buch, in dem nicht über die Schule gemeckert, sondern ihr Neubau vom Fundament aus beschrieben wird.
Gerald Hüther Witzenhausen, im Juli 2024
Ist das normal? Dass Kinder eine 40-Stunden-Schul-und-Hausaufgaben-Woche haben? Ist es normal, dass sie stillsitzen müssen und wir ihren Bewegungsdrang einschränken? Ist es normal, dass wir Kinder einem 45-Minuten-Takt unterwerfen und sie immer durch eine Klingel aus ihren Lernprozessen reißen? Ist es normal, dass wir Kinder durch Prüfungen, Tests und Abfragen unter Dauerstress setzen, sie ängstigen und in ihrem Selbstwert schwächen? Ist es normal, dass wir sie langweilen mit Lehrplänen, die nicht ihren Interessen und Wünschen entsprechen? Ist es normal, dass für das, was sie interessiert und bewegt, keine Zeit ist, weil immer nur vom Stoff die Rede ist, der durchgenommen werden muss? Dass dadurch die Begeisterung am Lernen, dass die Neugier verloren geht, weil Kinder und Jugendliche nicht eigenen Fragen nachgehen dürfen? Wie normal ist es, dass Kinder vor den Zeugnissen Angst haben, Angst haben, nach Hause zu gehen, weglaufen oder sich selbst verletzen, um auf ihre Not aufmerksam zu machen? Dass vor den Zeugnissen in den Zeitungen steht, welche Beratungsstellen es gibt, weil sich manche sogar in ihrer Verzweiflung das Leben nehmen wollen?
Treten wir heraus aus dem Hinnehmen, Erdulden und Erleiden. Sprechen wir Missstände an. Aussprechen macht Probleme sichtbar und bearbeitbar. Aussprechen befreit. Es ist an der Zeit, dass wir aus der Gleichgültigkeit heraustreten und Anwälte für die Rechte der Kinder werden.
Wir wollen mit diesem Buch aufrütteln, die Herzen bewegen, Zusammenhänge aufzeigen, zum Handeln inspirieren, zum Haltungswandel in Schule und Gesellschaft ermutigen.
Wie kommt es dazu, dass eine ehemalige Schulleiterin und eine Künstlerin gemeinsam ein Buch schreiben? Ausgangspunkt sind siebzig Briefe von Schüler:innen eines Gymnasiums. Alles leistungswillige und leistungsstarke Jugendliche. Die Schule war schon vor Covid für sie stressig, aber sie haben das weitgehend weggesteckt und sind mitgelaufen imHamsterrad der Bestnotenerbringung. Dann kam der Lockdown. Viele Jugendliche kamen anschließend psychisch angeschlagen in die Schule zurück, und es erwarteten sie Stoff nachholen, Stoff nachholen, Stoff nachholen und Tests, Tests, Tests. Die Lehrer:innen wollten und brauchten Noten. Die Jugendlichen lieferten.
»Ja, ich habe einen Durchschnitt von 1,0 geschafft. Ich habe zehn Stunden am Tag dafür gelernt, auch an jedem Wochenende. Und ich habe dafür Angst, Panik, und Zusammenbrüche in Kauf genommen.« (Schülerin, 15 Jahre)
»Manchmal möchte ich heulen. Vor Verzweiflung und diesem tagtäglichen Stress und Druck und Klassenarbeiten und Hausaufgaben. Gerne würde ich mal so richtig laut schreien. Einfach nur schreien. Ich würde mich besser fühlen. Doch ich schreie nicht. Ich fühle mich alleine. Niemand versteht mich richtig. Niemand bemerkt meinen Schmerz, niemand.« (Schülerin, 17 Jahre)
Im Dezember 2021, als Leolo, Schüler einer 10. Klasse, noch spätabends für eine Arbeit am nächsten Tag lernte, floss alles, was sich angestaut hatte, aus ihm heraus. Er fragte sich: »Wieso sitze ich hier um Mitternacht noch – ausgelaugt, extrem fertig und verzweifelt?« Leolo nahm sein Handy und tippte einen Text in seine Notiz-App: »Ich hätte gern mein Leben zurück. Meine Zeit und die glücklichen Momente, die ich mit tollen Menschen haben könnte. So viel für nichts. Stattdessen ist mein Leben Schulqual, Vorbereitung bzw. Nachbereitung der Schulqual und Schulqual verdrängen mit Scheiß, den ich mir auf YouTube und Co antue. Für viel mehr ist nichts übrig – weder Zeit noch Kraft. Wofür? …
Wie konnte so etwas Tolles wie Wissensbereicherung zu so etwas Furchtbarem wie das Schulsystem mutieren? Das, was Chancen aufzeigen, aufbauen, Gerechtigkeit schaffen, Leben formen, Persönlichkeiten schaffen, Mut machen, Probleme lösen könnte, zerstört Leben und kriminalisiert Fehler. … Und das Schlimmste ist, dass es normal ist. Zu leiden wird normalisiert. Niemand kritisiert es. Und wer es tut, der nervt. Er soll sich doch einfach fügen. Machen ja schließlich alle so. Was wir nicht verstehen, ist, dass wir in der Mehrheit sind. Wir haben die Macht zu ändern, was uns nicht recht ist. Wir sind nur schon zu müde, ausgelaugt und kaputt, schon zu tief drin, um das zu realisieren. Ich kann nicht mehr.«
Leolo schickte den Frusttext an seinen Freund. Betreff: Das denke ich gerade. Der Freund war auch noch wach und am Lernen. Als er den Text las, verstand er sofort, was Leolo meinte und spürte: Mir geht es ja auch so. Der Brief landete im Schüler:innenrat. Josi, die Schulsprecherin, lud Leolo ein. Als dieser seinen Brief vorlas, waren alle still, minutenlang. Einige weinten.
Endlich hatte jemand Worte für Gefühle gefunden, die viele umtrieben. Sie beschlossen: Wir rufen dazu auf, Briefe zu schreiben, wie es uns wirklich geht. Und dann kam die Angst. Dürfen wir das? Oder bekommen wir dann schlechte Noten? Die Schulleiterin hat als Schlüsselperson den jungen Menschen Mut gemacht und signalisiert: Ich stehe hinter euch. Bitte schreibt, wie es euch geht. Das ist wichtig. Und dann hingen im Schulflur 5, 10, 15, 20, 30, 50, 70 Briefe.
Die Briefe haben uns, Ute und Margret, zutiefst erschüttert. Diese Briefe sind Zeugnisse – eine innere schmerzliche Zeugenschaft. Die Briefe haben uns ins Herz getroffen. Es war zu der Zeit, als die Zeitungen voll waren von Meldungen, wie schlecht es den Kindern und Jugendlichen psychosozial geht. Für uns war klar, es braucht keine weiteren Studien, es muss gehandelt werden. WIR müssen sofort handeln. So luden wir Jugendliche aus dem Schüler:innenrat zu uns nach Hause ein. Beim ersten Treffen waren wir elf Personen. So gaben die Jugendlichen der Gruppe den Namen11 Rebell:innen.
Am Ende der Sommerferien hatten sie den Mut, mit dem Motto Schule macht uns krank in der Leipziger Innenstadt zu demonstrieren. Sie standen vor dem Rathaus und lasen mit Megafonen ihre Briefe vor. Es war viel Presse da. Später fuhren sie mit Lastenrädern durch die Stadt und diskutierten auf öffentlichen Plätzen mit Bürger:innen. Manchmal bekamen sie Bemerkungen ab wie »die Jugend von heute will nichts mehr leisten«, doch viele Menschen sind nachdenklich geworden und haben sehr ernsthaft mit den Jugendlichen diskutiert. Eltern dachten: »Wie geht es meinem Kind wirklich – das habe ich es tatsächlich noch nie gefragt.« Die Jugendlichen waren mehrfach im Fernsehen und prominent in der Presse. Wir beschlossen, ein RealLabor Friedliche Bildungsrevolution zu gründen, und arbeiteten intensiv daran. Im Oktober 2023 war es so weit. Das RealLabor hatte einen realen Raum und wurde eröffnet. Es ist ein großer, offener Vertrauens-Raum mitten in der Innenstadt, für jeden einsehbar. Ein Raum, der den Schmerz der Kinder in die Öffentlichkeit trägt und der Kristallisationsort für den Wandel ist. Später schrieben uns Eltern und Pädagog:innen, Studierende und weitere Schüler:innen aller Schulformen, wie es ihnen wirklich geht, angeregt durch die Briefe der Jugendlichen, die wir veröffentlicht haben.
Das RealLabor steht für den Haltungswandel, den es jetzt dringend braucht, für einen Paradigmenwechsel im System Schule. Nichts macht das so deutlich wie die Stimmen der jungen Menschen, die in ihrer wichtigen Entwicklungszeit Tausende Stunden in der Schule verbringen; mit Hausaufgaben geht es nachmittags, abends und am Wochenende weiter. Und so, wie es vor 1989 in der DDR Orte der freien Zusammenkunft und Zukunftsplanung gab, um das diktatorische System DDR friedlich zu beenden, so braucht es heute Reallabore und Zukunftsschulen, Zukunftsministerien, Bildungslandschaften und Achtsamkeitsthemen in Schulen – mit mutigen Menschen, die das System Schule radikal, an die Wurzel gehend, verändern.
Die Briefe haben uns, Margret und Ute, Bildung und Kunst, zusammengebracht. Es war ein Kairos-Moment. Ein großes Danke an den Mut der jungen Menschen!
»Wer sind wir? Wir sind Gefangene des Bildungssystems. Und genau das wollen wir ändern.
Zu elft haben wir die friedliche Bildungsrevolution ins Leben gerufen, die jetzt in vollem Gange ist. Gemeinsam revolutionieren wir besagtes Bildungssystem, das uns alle zerstört, bevor wir erwachsen sind. Was wollen wir?
Wir wollen leben und nicht existieren.
Wir wollen wir sein und nicht so, wie ihr wollt.
Wir wollen Praxis statt Theorie.
Wir wollen Empathie statt Entfremdung.
Wir wollen Individualität statt Verallgemeinerung.
Wir wollen auch weinen und nicht nur funktionieren.
Wir wollen Zusammenarbeit statt Konkurrenz.
Wir wollen Vertrauen statt Angst.
Wir wollen und wir dürfen das auch.
Wir haben Rechte und wollen diese an Schulen integrieren!«
Schüler:innen, 11. Klasse Gymnasium
Ein Journalist der Zeitschrift chrismon hat sich mit den 11 Rebell:innen in Leipzig getroffen. »Schule macht uns krank« war im Mai 2023 das chrismon-Titelthema1. Der NDR hat daraufhin das Thema aufgegriffen und im November 2023 die beeindruckende Panorama-Sendung zum Thema »Macht Schule uns krank?« ausgestrahlt, in der 15 Jugendliche zu Wort kommen.
https://www.youtube.com/watch?v=wUqBt1Pzztg
Wir Erwachsenen sind Vorbild und haben die Verantwortung für unsere Kinder. Überall dort, wo wir Kindern begegnen, sollten wir ihnen Mut machen. Und wir ermutigen dich, liebe Leserin und lieber Leser: Hör auf dein Herz, das sich dem Kinde zuwenden möchte. Sei selbst die Veränderung, die du dir wünschst. Wir ermutigen dich, Gemeinschaft mit anderen zu suchen und zu bilden, sodass du den Weg nicht alleine gehen musst.
Es gibt für die Probleme unserer Zeit nicht die eine Lösung. Unsicherheit wird die neue Sicherheit sein. Aber Unsicherheit birgt schöpferisches Potenzial. Um ins Gestalten des Neuen – ins Gesunde – zu kommen, müssen wir uns selbst ernst nehmen, lieben und dort anfangen zu handeln, wo wir stehen und Einfluss haben.
Wir können stolz darauf sein, welch ein gutes Schulsystem wir aufgebaut haben. Und auf unsere Pädagog:innen, die täglich alles geben. Das alles hat uns viel gebracht, Wohlstand und Wirtschaft gefördert, allerdings war es auf die Erfordernisse des 20. Jahrhunderts zugeschnitten. Nun leben wir im 21. Jahrhundert. Die Welt ist komplex, volatil und unsicher geworden. Gewohnte Denk- und Vorgehensweisen, die uns bisher erfolgreich gemacht haben, funktionieren nicht mehr. Das, was früher galt, ist nicht mehr zeitgemäß. Krisen überall machen deutlich, dass unser derzeitiges Wachstumsparadigma vom »Höher, Schneller, Weiter«, dem auch die Bildung folgt, nicht zukunftsfähig ist. Menschliches Zusammenleben ist künftig auf Nachhaltigkeit in allen Lebensbereichen angewiesen. Das erfordert eine gesellschaftliche Transformation, einen grundlegenden Wandel in Einstellungen und Haltungen. Bildung ist dafür zentral. Auch hier brauchen wir einen Paradigmenwechsel, um zu fördern, was die Gesellschaft für die große Transformation braucht: mutige und kreative Zukunftsgestalter:innen, weltoffen mit Gemeinsinn. Engagierte Menschen, die es gewohnt sind, lösungsorientiert zu denken und Verantwortung zu übernehmen: für sich selbst, für ihre Mitmenschen, für unseren Planeten.
Für die Schulen bedeutet das einen Paradigmenwechsel. Doch noch viel zu oft folgt Schule, vor allem die weiterführende Schule, veralteten Prinzipien: Wir stuhlen die Kinder und Jugendlichen mit Sitzzwang ein, überfrachten sie kognitiv mit Wissen, dessen Lebensrelevanz sie nicht erkennen, unterziehen sie permanenter Bewertung mit Ziffern und schneiden sie ab von ihren Gefühlen.
Vom Klimawandel, der größten Bedrohung der Menschheit, hat laut einer aktuellen Studie jede(r) Fünfteder 12- bis 19-Jährigen noch nie gehört.2 Gleichzeitig haben 64 Prozent der Befragten ab zehn Jahren Angst vor der globalen Erderwärmung. Und die Hälfte der jungen Menschen hat gegenwärtig wenig Hoffnung, dass eine nachhaltige Zukunft noch erreichbar ist. Ihnen fehlen vor allem Erfahrungen von Selbstwirksamkeit. Während die Präsenz von Nachhaltigkeit in vielen Lebensbereichen steigt, ist das Thema in der formalen Bildung völlig unzureichend verankert. Mehr als 75 Prozent der jungen Menschen fühlen sich nicht in die Lage versetzt, effektiv zur Lösung von Nachhaltigkeitsproblemen beitragen zu können. Studien zeigen, dass sowohl Lernende als auch Lehrkräfte sich deutlich mehr, nämlich 40 bis 50 Prozent, Nachhaltigkeitsbezüge im Unterricht wünschen. Doch der übervolle, veraltete Lehrplan und die Sorge, ihn nicht zu erfüllen, sind mächtige Hinderungsgründe, ebenso wie die unzureichende Verankerung in Curricula sowie ein Mangel an Weiterbildungen.3
In Zeiten, wo Herzensbildung, Kreativität und der Umgang mit Komplexität hochbedeutsam sind, macht Schule junge Menschen zum Objekt von Belehrung, Bewertung, Maßnahmen. Damit verletzen wir die Grundbedürfnisse nach Verbundenheit und Autonomie. Auf diese Würdeverletzung reagieren Kinder mit Schmerz und dann mit dessen Unterdrückung.
»Hier wird uns systematisch das Fühlen abtrainiert.« (Schülerin, 14 Jahre)
»Schule lässt uns Fassaden bauen. Uns darf es nicht schlecht gehen. Uns darf nichts wehtun. Uns darf keine Träne über das Gesicht laufen. Wenn ich in die Schule gehe, verstecke ich das, was hinter der Fassade ist.« (Schüler, 16 Jahre)
Viele junge Menschen sprechen von diesen Fassaden. Die Briefe der Jugendlichen geben Zeugnis davon. Das Unterdrücken von emotionalen Botschaften führt dazu, dass Menschen den Kontakt zu sich selbst verlieren und in den Funktions- oder Konsummodus gehen. Manche steigen auch aus. Wer Emotionen unterdrückt, entfremdet sich selbst. Entfremdung früh einzuüben ist fatal, gilt es doch dringend, sie zu überwinden. Wenn wir auf diesem Planeten überleben wollen, müssen wir lernen, zusammenzuleben: miteinander, verbunden und verbindend, achtsam und in Fürsorge.
Die Mental-Health-Krise unserer Kinder und Jugendlichen ist in der öffentlichen Debatte angekommen. Studien belegen massive Zukunftsängste der jungen Generation sowie ein breites Spektrum psychosozialer Beschwerden, die mit Dauerstress zu tun haben. Die Zukunftsängste sind gepaart mit Gefühlen von Ohnmacht und Ausgeliefertsein. Dabei wird meist ausgeblendet, dass Heranwachsende das Ausgeliefertsein viele Jahre lang im System Schule erfahren, einüben, sich daran gewöhnen.
»Eigentlich geht man ja in die Schule, um gehorchen zu lernen. Den ganzen Tag tust du das, was die Lehrer dir sagen, und so lernst du zu gehorchen.« (Schülerin, 13 Jahre)»Und das Schlimmste ist, dass es noch sieben Jahre so weitergeht. Tag für Tag. Und du kannst nicht raus, du steckst fest in dem System.« (Schülerin, 12 Jahre)
Viel zu häufig erleben sich Schüler:innen in der Ohnmachtsfalle. Sie haben wenig Einflussmöglichkeiten. »Du sollst« bestimmt die Tagesordnung. Einfluss zu haben auf das, »was mit mir geschieht«, ist jedoch ein wesentlicher Schritt zur Selbstwirksamkeit. Schule mit den Prinzipien Selektion, Konkurrenz, Entfremdung ist schon seit langer Zeit selbst Risikofaktor. Statt Schüler:innen unter Stress durch einen standardisierten Leistungsapparat zu schleusen, brauchen junge Menschen eine Umgebung, die Wertschätzung, Dankbarkeit, Empathie und Werte vermittelt und Neugier, Mut und Begeisterung erhält. Eine Umgebung, die dabei unterstützt, die eigene Leidenschaft zu entdecken und zu entwickeln und diese im Sinne des Gemeinwohls einzubringen.
»Ich habe oft schlaflose Nächte, ich zittere, mein Herz rast. Viele Mitschüler:innen haben Kopfschmerzen und dolle Bauchschmerzen. Ich kenne einige, die Depressionen haben. Manche melden sich krank, weil sie nicht mehr können. Die kommen dann aber in einen Teufelskreis, weil sie Stoff verpasst haben.« (Schülerin, 15 Jahre)
Was lassen wir da an Verhärtung unserer Kinder und Verlust von ihren Potenzialen zu? Wir wissen, dass wir nur lernen können, wenn wir uns für etwas begeistern. Wir lernen, wenn wir uns selbstwirksam erleben, gegenseitig helfen und in guter Gemeinschaft fühlen. Viel zu viele Schulen funktionieren trotzdem immer noch wie Dressuranstalten im Fächer-, Noten- und Zeitkorsett, als ob Kinder kleine Maschinen wären.
»Das Schlimmste sind die Tests und die Klassenarbeiten. Kaum hat man den einen geschrieben, kommt schon der nächste. Du lernst zu funktionieren, wie eine Maschine. Eine Maschine, die Stoff ausspuckt, weit entfernt, wie abgeschnitten vom Leben und von Leichtigkeit.« (Schülerin, 15 Jahre)
»Wie fühle ich mich wirklich … Das ist eine Frage, die ich heute zum ersten Mal ehrlich beantworten werde: scheiße. Es ist nicht, dass ich einen wirklichen Grund hätte, mich seit jetzt knapp drei Jahren so zu fühlen. Im Gegenteil, ich habe eigentlich ein gutes Leben, teilweise stabile Familie, eine schöne Wohnung und genug Geld, um gut über die Runden zu kommen. Aber dann ist da diese lang anhaltende Traurigkeit und Leere. Tag für Tag, ohne Pause. Meine Freunde oder Bekannten würden mich wahrscheinlich als glücklichen, fröhlichen, immer lachenden Menschen bezeichnen – Fassade. Es war und ist der Schulstress, welcher mir solchen Druck macht und mich unglücklich macht. Schule ist für mich die reinste Qual – nur lernen, nur Leistungsdruck, dem du am Ende eh nicht gerecht wirst. Ich bin froh, dass endlich so etwas kam, ich habe mich nie getraut, es jemandem zu sagen oder mit jemandem zu sprechen, da ich nicht wusste, wie viele so fühlen.« (Schülerin, 13 Jahre, seit dem Wechsel aufs Gymnasium hat sie keine Freude mehr am Leben)
Nur wer radikal neu denkt, wird auch Neues gestalten. Gehen wir in Resonanz mit dem Schmerz der jungen Menschen in diesem Buch. Der Schmerz hat die Kraft, die verschütteten Potenziale, die unter unseren Gewohnheiten und Ängsten verborgen liegen, freizulegen.