Das Schwanenmädchen - Eva Maaser - E-Book
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Das Schwanenmädchen E-Book

Eva Maaser

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Beschreibung

Er will ihre Unschuld zerstören: Der packende Kriminalroman »Das Schwanenmädchen« von Eva Maaser jetzt als eBook bei dotbooks. Reglos liegt sie im Schilf, bizarr umhüllt von einem schwanenweißen Gewand … Entsetzt untersuchen Kommissar Rohleff und seine Kollegin Lilli Gärtner den Tatort am Ufer des kleinen Teichs, wo das zwölfjährige Mädchen einem grausamen Gewaltverbrechen zum Opfer fiel. Bei der Recherche zeigen sich schnell erschreckende Parallelen zu einem unaufgeklärten Mord, der vor zwei Jahren im 100 km entfernten Wesel geschah – kann es der Mörder von damals sein, der nun in Steinfurt zugeschlagen hat? Kurz darauf wird im Nachbarort ein weiteres totes Kind unter ähnlichen Umständen gefunden. Für Lilli wird dieser Fall alles verändern – denn eine der Spuren deutet plötzlich auf ihre eigene Familie … »Was Brunetti in Venedig kann, das ist für Rohleff Ehrensache.« Münstersche Zeitung Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der fesselnde Kriminalroman »Das Schwanenmädchen« von Eva Maaser, auch bekannt unter dem Titel »Kleine Schwäne«, ist der dritte Band ihrer Regiokrimi-Reihe um Kommissar Rohleff, der auch unabhängig von den anderen Bänden gelesen werden kann. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 373

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Über dieses Buch:

Reglos liegt sie im Schilf, bizarr umhüllt von einem schwanenweißen Gewand … Entsetzt untersuchen Kommissar Rohleff und seine Kollegin Lilli Gärtner den Tatort am Ufer des kleinen Teichs, wo das zwölfjährige Mädchen einem grausamen Gewaltverbrechen zum Opfer fiel. Bei der Recherche zeigen sich schnell erschreckende Parallelen zu einem unaufgeklärten Mord, der vor zwei Jahren im 100 km entfernten Wesel geschah – kann es der Mörder von damals sein, der nun in Steinfurt zugeschlagen hat? Kurz darauf wird im Nachbarort ein weiteres totes Kind unter ähnlichen Umständen gefunden. Für Lilli wird dieser Fall alles verändern – denn eine der Spuren deutet plötzlich auf ihre eigene Familie …

»Was Brunetti in Venedig kann, das ist für Rohleff Ehrensache.« Münstersche Zeitung

Über die Autorin:

Eva Maaser, geboren 1948 in Reken (Westfalen), studierte Germanistik, Pädagogik, Theologie und Kunstgeschichte in Münster. Sie hat mehrere erfolgreiche Krimis, historische Romane und Kinderbücher veröffentlicht.

Bei dotbooks erschienen bereits Eva Maasers Kriminalromane »Der Clan der Giovese« sowie die Rohleff-Reihe mit »Das Puppenkind«, »Die Eisfrau«, »Das Schwanenmädchen« und »Der Purpurjunge«. Kommissar Rohleffs erster Fall »Das Puppenkind« ist auch im Sammelband »Tatort: Deutschland« erhältlich.

Eva Maaser veröffentlichte bei dotbooks außerdem ihre historischen Romane »Krone der Merowinger – Das Schicksal der Königin«, »Krone der Merowinger – Die Herrschaft der Königin«, »Der Moorkönig«, »Die Rückkehr des Moorkönigs«, »Der Paradiesgarten« und »Die Astronomin«.

Zudem erschienen bei dotbooks Eva Maasers Kinderbuchserien um Leon und Kim: »Leon und der falsche Abt«, »Leon und die Geisel«, »Leon und die Teufelsschmiede« und »Leon und der Schatz der Ranen«, »Kim und die Verschwörung am Königshof«, »Kim und die Seefahrt ins Ungewisse« und »Kim und das Rätsel der fünften Tulpe«

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eBook-Neuausgabe Juni 2021

Dieses Buch erschien bereits unter dem Titel »Kleine Schwäne« 2002 bei Aufbau und 2014 bei dotbooks.

Copyright © der Originalausgabe 2002 Aufbau Taschenbuch Verlag GmbH, Berlin

Copyright © der Neuausgabe 2014 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/Victor Babenko, Zyankarlo, Sonquan Deng

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ae)

ISBN 978-3-95520-642-0

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Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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Eva Maaser

Das Schwanenmädchen

Kommissar Rohleffs dritter Fall – Kriminalroman

dotbooks.

Vorbemerkung

Auch wenn es einigen Steinfurtern sicherlich anders lieber wäre: Alle Personen und die Handlung sind frei erfunden. Und wenn die eine oder andere dieser Figuren rote oder schwarze Haare hat, diesen oder jenen Namen trägt, so ist das kein Hinweis auf eine real existierende Person, sondern schlichter Zufall. Irgendwie muß ja auch ein erfundener Mensch heißen dürfen.

2. Juni

Rohleff hielt den Hörer ein Stück vom Ohr ab, legte den Kopf dabei schief, faßte sich in sein graues kurzes Drahthaar und begann, eine Strähne zwischen zwei Fingern zu zwirbeln – das hätte mich warnen müssen. Es war nicht gerade klug, daß ich auch noch seine Miene studierte, in der Verlegenheit, zunehmende Gereiztheit und Pflichtbewußtsein um die Oberhand stritten.

Während ich mich an seinem Unbehagen weidete, trafen sich unsere Blicke. Schlagartig entspannte sich Rohleff und winkte knapp mit dem Hörer.

»Lilli, das ist was für dich.«

Den ganzen Vormittag hatten wir nichts zu lachen gehabt, und es war mittlerweile halb fünf nachmittags, ohne daß sich ein Lichtblick gezeigt hätte.

Trübe Stimmung bei heißem Frühsommerwetter draußen.

Ich hoffte, daß der Anruf wenigstens etwas mit dem anstehenden Fall zu tun hatte. Wir schlugen uns mit einer Serie von Einbrüchen herum, bei denen nicht nur ziemlich viel geklaut wurde, sondern ganze Wohnungseinrichtungen beinahe sperrmüllreif zerlegt wurden. Also obendrein Vandalismus und seit gestern ein Todesfall. Ein Mann um die Siebzig.

Es waren gut drei Wochen bis zu den Sommerferien, und es tröstete uns nicht unbedingt, daß die Diebe in der Urlaubssaison voraussichtlich auf weniger Bewohner stoßen würden, die sich störrisch an ihr Eigentum klammerten. Der Siebzigjährige hatte vermutlich einen Schlaganfall erlitten, als er die Einbrecher mit der zusammengerollten Fernsehzeitung bedrohte. Er hielt sie noch in der Hand, als wir ihn fanden. Der Fernseher flimmerte in der allgemeinen Verwüstung weiter, ein Fußballspiel lief mit dem üblichen Gegröle der Zuschauer als Hintergrundgeräusch. Ich fragte mich flüchtig, ob wir es bei den Tätern mit Fußballfans zu tun hatten.

Doch was hieß das schon?

Gerade liefen die Spiele der Champions League, da saßen auch ziemlich viele meiner Kollegen vor dem Fernseher, selbst Hauptkommissar Karl Rohleff, wenn er Zeit hatte. Zu Hause hockte Detlev mit Katia und Laura ebenfalls vor der Glotze. Um halb eins hatte mich letzte Nacht das Diensthandy aus dem Schlaf gedudelt. Bevor ich mich zu dem Einsatz aufmachte, habe ich meine Töchter, die gerade das letzte Spiel des Tages anschauten, ins Bett gescheucht. Detlev kann ja seine Schüler in der ersten Stunde still beschäftigen und unauffällig dabei weiterschlafen.

Ich hätte mich eventuell irgendwie herausreden können, Rohleffs Stichwort »Das ist was für dich« bot mir genügend Stoff dazu, aber die Diskussionen um Gleichberechtigung und geschlechtsspezifische Aufgabenverteilung haben wir in unserem Team längst hinter uns. Nicht, daß die tatsächlich etwas geändert hätten.

Aus dem Hörer gellte mir eine Frauenstimme ohne erwähnenswerte Unterbrechung entgegen, obwohl Rohleff die übliche Überleitung heruntergeschnarrt hatte.

Neurotisch, war das erste, was ich dachte. Direkt neben mir gingen Harry Groß und Patrick Knolle der aktuellen Ermittlung nach, die mich mehr interessierte.

»Die Knilche haben eine Meißener Platte aus dem späten 18. Jahrhundert zerdeppert«, schimpfte Harry, eine Liste schwenkend. Er hatte was gegen Vandalismus.

»Na und? Vielleicht haben sie die nicht mehr in den Sack gekriegt«, wandte Patrick ein.

»So was kann zehn Mille bringen.«

»Beim Hehler? Du träumst wohl.«

Es wurde Zeit, daß ich die Stimme aus dem Telefon zum Schweigen brachte, bevor mir das Stereohören auf die Nerven ging.

»Kommissarin Gärtner«, stellte ich mich sehr bestimmt selbst vor, denn ich war sicher, daß die Frau Rohleff nicht zugehört hatte, als er meinen Namen erwähnte. »Hören Sie, Frau Hainsbach, lassen Sie uns von vorn anfangen und die Fakten klarstellen: Ihre Tochter Caroline ist also seit etwa einer Stunde überfällig«, sagte ich laut und deutlich.

Die Frau stockte nur kurz. Eine Zwölfjährige, die vom Musikunterricht noch nicht zurück war, eine kleine Pünktlichkeitsfanatikerin, die Zuverlässigkeit in Person.

Ich hätte vor Neid erblassen können, wenn ich an meine Töchter dachte, mein Realitätssinn stand aber dagegen. Außerdem waren meine Kollegen noch nicht fertig miteinander.

»Du machst mich krank mit deinem Gefasel über unschätzbare Werte«, schnauzte Patrick gerade.

»Richtig«, hakte Rohleff ein, »wir haben es diesmal mit einem Bruch mit Todesfolge zu tun, das ist was anderes.«

Patrick bleckte die Zähne und fuhr sich mit der Hand durch sein karottenrotes Wuschelhaar. »Die halten sich heute nicht mehr an den Ratgeber ›Wie breche ich effektiv und sozialverträglich ein‹.«

»Gibt’s den schon auf polnisch?«

Um das Gespräch über eine abgängige Zwölfjährige, die vermutlich in der Eisdiele am Markt saß, rasch und ungestörter zu beenden, rückte ich so weit vom Schreibtisch ab, wie es die Telefonschnur zuließ. Es hat mich dann doch noch eine Viertelstunde gekostet, um mich mit Frau Hainsbach darauf zu einigen, daß sie erstens bei der Musikschule anruft und zweitens eine weitere Stunde abwartet, bis sie sich wieder bei mir melden würde.

Der zweite Anruf erfolgte prompt eine Stunde später. Ich müsse sie schon entschuldigen, erklärte Frau Hainsbach, plötzlich ganz vernünftig klingend, mit einer Spur Verlegenheit, aber in der Zeitung habe sie von der Entführung der Zwölfjährigen in Bayern gelesen, da seien ihr halt die Nerven durchgegangen.

Mit einer solchen Entwarnung hatte ich zwar gerechnet, mich aber trotzdem in der letzten Stunde mehrfach dabei ertappt, daß ich mit leiser Sorge an das Mädchen dachte. Jetzt ärgerte ich mich über Frau Hainsbach, die mich so lange im ungewissen gelassen hatte, denn Caroline war gleich nach dem ersten Anruf heimgekehrt, es hatte noch eine Orchesterprobe gegeben. Ich schrieb eine Aktennotiz, obwohl das nicht nötig war, und knallte sie Rohleff vor die Nase.

Eine halbe Stunde später schloß ich meine Haustür auf. Halbwegs kühle Luft kam mir entgegen. Unser Haus ist offen und kommunikationsfreudig gebaut, Glastüren und fehlende Wände machen es so gut wie unmöglich, sich unbemerkt die Treppe hinaufzuschleichen, um ohne Verzug unter die Dusche springen zu können.

Meine Töchter saßen an dem großen Tisch in unserer Eßzimmer-, Küchen-, Dielenraumeinheit und hoben nicht einmal die Köpfe von ihren Heften. Die letzten Wochen vor den Zeugnissen spornten sie zu sonst unüblichem Fleiß an. Ein Blick durch die halbgeöffnete Schiebetür in den Garten ließ mich entgegen jeder Umsicht ihre Studien unterbrechen.

»Wo ist Papa? Er hatte versprochen, den Rasen zu mähen.«

Laura starrte flüchtig nach draußen. »Aber jetzt doch nicht.«

»Wenn er das Gras jetzt schneidet, verdorrt es im Nu in der Hitze, und wir müssen nachher viel zu oft sprengen, das ist unökologisch«, ergänzte Katia.

»Papa ist in der Stadt«, sagte Laura noch, dann senkten sie wieder die Köpfe über die Hefte.

Die beiden haben mein Blond geerbt. Während mein Haar aber ziemlich viel Ähnlichkeit mit geplättetem Stroh zeigt, weshalb ich es möglichst kurz trage, lockt es sich bei ihnen engelhafter als bei Rauschgoldfigürchen, woraus sich ein trügerisches Bild ergibt. Wohl deshalb konnte ich es nicht lassen, sie ein weiteres Mal zu stören.

»Du müßtest doch Caroline Hainsbach kennen, die ist dein Jahrgang, Laura.«

»Ach die«, sagte Katia anstelle ihrer Schwester.

Die Abwehr war durchaus deutlich, aber wie viele Mütter beharrte ich uneinsichtig auf einer Ergänzung. »Und weiter?« Statt die Treppe hochzusteigen, trat ich an den Tisch und erkannte da erst, daß die Mathehefte nur als Unterlage für ein Spiel dienten. Sie tauschten Zettelchen mit Geheimbotschaften aus, SMS-Nachrichten mit einfachster Hardware.

»Caroline«, sagte Laura, sich unter meinem strengen Blick gesprächiger gebend, »geht nie irgendwohin mit, die muß nach der Schule immer sofort nach Hause.«

»Die ist ein ganz armes Schwein«, fügte Katia hinzu.

»Woher weißt du das denn? Du gehst erst nach den Ferien aufs Gymnasium.«

»Ich hab mir den Laden aber schon angeguckt, ich sollte doch wissen, auf was ich mich einlasse, und da reicht es nicht, mich auf die Aussagen anderer zu verlassen, wie du immer sagst, und nur mal eben die Homepage vom Arnoldinum anzuklicken.«

Mitten auf der Treppe fiel mir noch etwas ein, ich beugte mich über das Geländer.

»Papas Auto steht nicht in der Garage. Warum hat er nicht das Fahrrad genommen?«

Katia klang streng abweisend. »Ich hoffe nur, er bringt Sprudel mit, ich hab ihm gesagt, der ist alle.«

Den Sprudel hatte Detlev vergessen, als er eine halbe Stunde später mit Würstchen, Kartoffelsalat, Chips und Erdnüssen pünktlich zur nächsten Fußballrunde kam. Bier stand noch im Kühlschrank.

16. Juni

Diesmal ließ ich mich nicht erweichen, das Gespräch für Rohleff fortzuführen, als Frau Hainsbach wieder anrief.

An diesem Tag hatte in der Zeitung gestanden, daß man in Bayern das entführte Mädchen gefunden hatte. Vergewaltigt, erwürgt und in einem Laubhaufen versteckt. Ich gebe zu, daß ich nach einem Blick auf meine Töchter am Frühstückstisch nicht hatte weiter lesen mögen und gegen jede Logik und Vernunft ein paar altbekannte Verhaltensregeln wiederholte, wie die, sich nicht von einem Fremden anquatschen zu lassen.

»Solltest du auch nicht tun«, sagte Katia, Müsli kauend.

»Du weißt nie, was der von dir will, und für dein Alter siehst du gut aus«, fügte Laura hinzu.

»So ein geiler Südfranzose mit schwarzem Lackhaar.«

»Ruhe«, polterte Detlev, »hebt euch rassistische Bemerkungen für die Schule auf, eure Lehrer sollen auch noch was zu erziehen haben.«

Während ich Rohleff beim Telefonieren beobachtete, tat mir Frau Hainsbach leid, weil die Frühstücksgespräche mit ihrer Tochter wahrscheinlich ziemlich eintönig verliefen.

Dringender, als das Hainsbachsche Familienproblem zu lösen, erschien mir im Augenblick, ein paar erstklassigen Spuren nachzugehen, um die Sache mit den Einbrüchen möglichst vor den Sommerferien erledigen zu können.

Einige Stunden später zogen wir dann unser Netz um zwei Verdächtige zu. Harry, Patrick und Rohleff machten sich zusammen mit ein paar von der Wache für den Zugriff fertig.

Ich nahm an, daß Frau Hainsbach nicht noch einmal angerufen hatte, weil es ihr peinlich war, schon wieder unnötig die Polizei alarmiert zu haben. Genauer gesagt, ich hatte die ganze Sache vergessen, als sie sich doch wieder meldete. Sie weinte am Telefon. An mir blieb es dann hängen, sie aufzusuchen.

Für Dienstfahrten in die Stadt nehme ich das Auto, nicht wie Rohleff das Fahrrad. Als ich die Wagentür öffnete, schlugen mir etwa fünfundvierzig Grad Hitze entgegen. Beim Fahren ließen die heruntergekurbelten Fenster so viel frischere Luft ein, daß ich mir beim Einatmen nicht die Lungen versengte. Die leichte Abkühlung verhinderte aber nicht, daß mir bis zu dem gepflegten Anwesen der Hainsbachs der Schweiß herunter lief. Mein Rock war natürlich zerknautscht und die Bluse feucht geworden. Und meine Stimmung war auch mal besser gewesen.

Entgegen meinen Erwartungen zeigte sich Bettina Hainsbach einigermaßen gefaßt. Diese Gefaßtheit verriet viel tiefere Besorgnis als das Gekreische am Telefon.

Ich schätzte die Frau vor mir auf etwa fünfzig, sie hatte also die Tochter spät bekommen, ihr einziges Kind, auch das erklärte bereits einiges.

Wir standen noch im Hausflur, als der Ehemann die Tür aufschloß. Ich kannte ihn flüchtig, wie wohl fast jeder in Steinfurt. Allgemein galt er als angenehmer Typ. Vor ein paar Jahren hatte er eine der Apotheken hier übernommen, die Familie sei aus Süddeutschland zugezogen, hieß es. So ganz dazu gehörte sie noch nicht, dafür fehlten ihr mindestens fünfzehn bis zwanzig Jahre Ortsansässigkeit, daher hatte ich beim Namen Hainsbach nicht gleich geschaltet.

Hainsbach grüßte freundlich mit einem offenen, direkten Blick, ging dann auf seine Frau zu, umarmte sie kurz, küßte sie auf die Wange und dirigierte sie, mit einer Hand an der Schulter, gekonnt und bestimmt weiter ins Haus hinein, mich mit einer Geste gleichsam ins Schlepptau nehmend. Der Mann verlor keine Zeit.

»Was haben Sie unternommen, um Caroline zu finden?« fragte er.

»Die Frage muß ich an Sie zurückgeben.« Ich blickte Bettina Hainsbach an. »Wir haben ja am Telefon miteinander darüber gesprochen.«

»Sie ist weder bei den Nachbarn noch bei Mitschülerinnen, und viel mehr kommt nicht in Frage, das ist schon alles geklärt«, klinkte sich Hainsbach wieder ein, er wirkte dabei nicht ungeduldig, nur sachlich.

»Wann haben Sie Ihre Tochter zuletzt gesehen?« fragte ich ihn.

»Vor ihrer Musikstunde in der Apotheke, sie schaut öfter zu mir herein. Ich hatte diesmal leider keine Zeit für sie, da ich gerade Besuch von einem Pharmavertreter hatte. Sie sollte nach der Stunde wiederkommen, aber ich hab vergeblich gewartet. Daß sie nicht tut, was man ihr sagt, ist sonst nicht ihre Art.«

»Warum haben Sie uns nicht selbst angerufen?«

Einen Augenblick schaute er unsicher drein, dann legte er die Hand über die seiner Frau. Ich saß dem Ehepaar mittlerweile im Wohnzimmer gegenüber.

»Bettina wollte das übernehmen, in der Apotheke ist so ein Telefonat während der Geschäftszeit schwierig. Daß ich mich nicht gemeldet habe, heißt nicht, daß ich mir keine Sorgen mache. Wir haben nur Caroline.«

Einen Augenblick verharrten wir drei reglos, und in diesem Moment schob sich eine dicke Katze mit hellem Plüschfell um das Sofa, sprang mit einem behäbigen Satz hinauf und stieß mit dem Kopf gegen Hainsbachs Hand, die er ihr entgegengestreckt hatte. Die Finger des Mannes fuhren der Katze ins Fell und kraulten sie sacht, lange, schlanke Finger, die mit ruhiger Zielstrebigkeit das Tier auf seine Knie lenkten. Die Katze begann zu schnurren.

Bettina Hainsbach hatte ein Blatt vom Couchtisch aufgenommen und hielt es mir hin.

»Ich habe eine Liste von allen Leuten angelegt, die ich nach Caroline gefragt habe, die Telefonnummern stehen dabei.«

Man merkte ihrer Stimme die Mühe an, sie unter Kontrolle zu halten, dabei blieb das Gesicht ganz unbewegt. Es war kaum glaubhaft, daß es sich um dieselbe Frau handelte, die am Telefon so ungehemmt geschrien hatte.

Um sie nicht länger anzustarren, warf ich einen Blick auf die Liste, die Klassenlehrerin stand darauf, ebenso der Musiklehrer, auf seinen Namen tippte ich mit dem Zeigefinger.

»Was hat der Musiklehrer gesagt?«

Der Mann, ein älterer Herr, erfuhr ich, hinkte mit einem Gipsbein herum. Daher sei für den Unterricht eine Vertretung eingesprungen, ein Student der Musikhochschule in Münster. Da diese Vertretung bereits öfter stattgefunden hatte, mußte Bettina Hainsbach dieses Detail aus dem Leben ihrer Tochter offensichtlich mehrfach, vermutlich auch schon vor zwei Wochen, verdrängt haben. Der Student, dessen Name der alte Lehrer genannt hatte, war telefonisch nicht so leicht auffindbar. Vermutlich hauste er in einer WG mit Gemeinschaftstelefon.

Bei Telefon hakte etwas in meinem Hirn ein, ich entschuldigte mich, trat in den Flur und rief bei mir zu Hause an. Statt Detlev meldete sich Katia.

»Papa ist nicht da, dabei hat er versprochen, mir beim Aufsatz zu helfen. Ich hab erst drei Sätze, und Laura wollte nicht vorsagen.«

»Ist Papa nach der Schule nicht nach Hause gekommen?«

»Doch ...« Meine Kleine schniefte vernehmlich, es klang ein bißchen wie eine verstopfte Trompete, anscheinend hatte Katia aus Versehen das Gespräch laut gestellt.

»Bist du denn jetzt ganz allein?« Die Frage ärgerte mich bereits, bevor sie heraus war, wir erziehen unsere Kinder zu Selbständigkeit, und zu Überängstlichkeit neigen wir erst recht nicht.

»Ist sie nicht, und wir können gut selbst auf uns aufpassen. Papa ist zur Konferenz«, meldete sich Laura, »und mir fällt zu dem doofen Aufsatz auch nicht mehr ein.«

Ich konnte mich nicht erinnern, daß Detlev eine Konferenz erwähnt hatte, normalerweise sprechen wir uns über die Tagesplanung ab. Ein Hauch von Ärger kam auf.

Als ich zu Hainsbachs zurückkehrte, sah ich ihre Besorgnis mit etwas anderen Augen. Ein Blick auf die Uhr sagte mir, daß es halb acht war, Caroline hätte vor ungefähr dreieinhalb Stunden in der Apotheke sein müssen, spätestens vor drei, wenn wieder eine nicht planmäßige Orchesterprobe stattgefunden hätte. Das Mädchen spielte Geige.

»Sie sagen, Ihre Tochter hält sich an Abmachungen und ist immer pünktlich. Ich habe eine zwölfjährige und eine zehnjährige Tochter, beide sind wesentlich weniger folgsam, und das ist der Normalfall.«

Hainsbachs Augen blitzten kurz auf.

»Irgendwann wird auch eine kreuzbrave Tochter einmal aufmüpfig, gerade in diesem Alter«, fuhr ich fort. »Gab es einen Streit, der sie hätte veranlassen können, die Regeln zu brechen, Sie vielleicht bewußt in Sorge zu versetzen?«

Bettina Hainsbach schluchzte laut auf, ihr Mann dagegen wurde leicht sarkastisch.

»Ich weiß nicht, wie Sie Ihre Kinder erziehen. Caroline würde nie bewußt etwas tun, was uns verletzen oder ängstigen könnte, und wir umgekehrt schon gar nicht.«

Eine heilige Familie also, ich muß ziemlich blöd dreingeschaut haben, wie ich dem befriedigten Grinsen entnahm, das über Hainsbachs Gesicht huschte.

»Das heißt nicht, daß unsere Tochter ein Engel ist.«

Er tätschelte wieder die Hand seiner Frau, Bettina Hainsbach schniefte in ein Taschentuch und wandte sich ihm kurz zu, Staunen im Blick. Ich kam so nicht weiter.

»Können Sie sich vorstellen, daß sich Ihre Tochter von einem Fremden ansprechen läßt?«

Ich hatte meine Gründe für eine derart überflüssige Frage, auf die ich die Antwort bereits kannte: Natürlich nicht, auf gar keinen Fall.

Tatsächlich kann man sich diese Frage getrost sparen, denn die Reaktion von Kindern ist nie vorhersehbar. Da fragt einer aus dem Auto heraus nach dem Weg und lächelt vertrauenerweckend, das Kind tritt höflich näher, und eh es sich versieht, wird es in den Wagen gezerrt, und der fremde Kerl braust mit ihm davon. Zum Glück ereignet sich so etwas selten, der Zufall wollte es aber, daß von so einer Sache die Zeitungen gerade berichteten.

Ich betrachtete das Ehepaar noch einmal eingehend: Bettina Hainsbach war ein bißchen füllig, das heißt, ihre Figur wies runde, weiche Wohlgeformtheit auf, und wie bei Frauen dieses Typs nicht selten, hatte sie einen klaren, hellen Teint, alles in allem war sie sehr ansehnlich für fünfzig Jahre. Große, schimmernde Augen beherrschten das Gesicht. Nicht einmal Lachfältchen umzogen die Augen, das konnte ein schlechtes Zeichen sein. Zu ernst fürs Leben im allgemeinen, zuwenig Humor für die unvermeidlichen Pannen und Peinlichkeiten. Dieser grundsätzliche Mangel würde sie wahrscheinlich in nächster Zeit sehr leiden lassen, mich beschlich unversehens ein Packen düsterer Ahnungen, dabei war jetzt, um halb neun, doch noch alles offen.

Gerd Hainsbach würde leichter mit der Situation fertig werden, auch bei dramatischeren Wendungen. Ich bezog diese Überzeugung komischerweise aus dem Anblick seiner sportlichen Figur, des dichten braunen Haars mit nicht mehr als einer Spur Grau, der trotz der Hitze korrekten, gepflegten Kleidung. Unauffällig zupfte ich meine Bluse etwas glatter, die schlapp an mir herabhing.

Die Katze hatte sich unterdessen wieder selbständig gemacht und schärfte ihre Krallen an einer Sofaecke. Augenscheinlich war den Hainsbachs die Domestizierung ihres Haustiers weniger geglückt als die der Tochter.

»Haben Sie ein oder zwei Fotos von Caroline?«

Mit den Fotos in der Hand habe ich mich dann sehr schnell verabschiedet. Eins zeigte Caroline ganz, beim anderen handelte es sich um eine Portraitaufnahme, ein flüchtiger Blick genügte mir, um die Ähnlichkeit mit meinen Töchtern zu erfassen. Natürlich nur eine rein typmäßige. Blondes, gelocktes Haar, blaue Augen, so zierlich wie Laura, nicht stämmig wie Katia. Eigentlich hatten mich Hainsbachs gar nicht weglassen wollen, und ich mußte ihnen versprechen, mich regelmäßig zu melden, die weitere Fahndung nach Caroline – und darum ging es jetzt – würde vom Büro aus erfolgen.

Nach einigem Hin- und Hertelefonieren hielt Rohleff Knolle für entbehrlich genug, um mit mir an der neuen Sache zusammenzuarbeiten, was sich kaum mit dessen Ansichten decken konnte. Als Patrick denn auch in ausgesprochen gereizter Stimmung beinahe die Tür zum Büro einrannte, trug er sehr auffällig seine Dienstwaffe in einem Halfter über einem kurzärmeligen Hemd, das oben ziemlich klaffte und den Blick auf ein spärliches rötliches Gelock freigab.

»Wenn du Rambo spielen willst, bleib bloß weg«, sagte ich kühl, »Kinderkram hab ich gerade genug am Hals.«

Patrick riß sich das Halfter samt Waffe herunter, warf sich in einen Drehstuhl und sauste damit einmal um seine Achse, danach hatte er sich etwas abreagiert.

»Dann fang mal an.«

Ich atmete auf. Eine Weile später rasten wir nach Münster, Patrick hielt den Fuß stetig auf dem Gaspedal. Vorher hatten wir den Leiter der Musikschule in einer Kneipe mit Biergarten aufgespürt, und nachdem er mit Knolle ein bißchen über Computerprogramme gefachsimpelt und in der Hohen Schule, dem Sitz der Musikschule, den PC angeworfen hatte, wußten wir zum Namen des Studenten auch die Adresse und hatten uns telefonisch angekündigt.

Sehr untypisch für einen Münsteraner unter dreißig und für einen Studenten sowieso, saß dieser bei dem Wetter nicht in einem Biergarten. Julius Steiner wohnte in der Altstadt, in einem Haus mit Schnörkelfassade, die vielen Namen an jeder Klingel machten deutlich, wie die Verteilung des Wohnraums geregelt war. Wie die Leute miteinander auskamen, ließ sich ansatzweise davon ableiten, daß aus fast jedem offenstehenden Fenster ungedämpft eine andere Musik plärrte. Darunter ein Gefiedel, das ein paarmal abbrach und neu einsetzte.

Als wir die Stockwerke zum Dachgeschoß hochstiegen, wurde es lauter. Patrick trapste vor mir die Stiegen hoch und kratzte sich ungeniert unter den Achseln, wahrscheinlich verschaffte ihm die zunehmende Wärme das gleiche Unbehagen wie mir. Mein BH klebte auf der Haut, der Verschluß scheuerte.

Steiner trug eine flattriges Satinhöschen unterhalb seines Waschbrettbauchs und ansonsten nur eine feingliedrige Goldkette um den Hals, er hatte überhaupt etwas von Hochglanzbildreklame an sich. Er starrte Patrick an, mich nahm er gar nicht wahr. Daraus schloß ich, daß er nicht unbedingt auf Mädchen stand. Obwohl mein Kollege hier und da hatte vermuten lassen, daß er was gegen Schwule hat, war ihm bei dieser Gelegenheit überhaupt nichts anzumerken. Er riß zwei weitere Knöpfe seines Hemdes auf und ließ ahnen, daß er in puncto wohlgeformte Muskulatur anstandslos mithalten konnte. Ich war versucht, in meinem Rücken nach dem BH-Verschluß zu angeln, um mir wenigstens ein bißchen Erleichterung zu verschaffen und etwas gegen ein Gefühl von Benachteiligung zu tun.

Vom frischen Schweißgeruch und übermäßigem After-Shave-Duft wurde mir beinahe schlecht. Ich kam zur Sache.

»Caroline Hainsbach ist seit ein paar Wochen Ihre Schülerin an der Musikschule in Steinfurt. Wann haben Sie sie heute aus dem Unterricht entlassen?«

»Caroline?« fragte der Schönling und lockerte mit langgliedrigen Fingern seine dunkle Schmachtmähne auf.

Um Zeit zu sparen, hielt ich ihm die Fotos unter die Nase. Er nahm sie mir aus der Hand.

»Die kleine Caro? Armes Huhn, total unbegabt.«

»Wann hast du die Kleine mit ihren Spatenfingern und der Fiedel vor die Tür gesetzt?« mischte sich Patrick ein.

»Die hat keine Spatenfinger. Die hat kein Gehör. Zumindest reicht es nicht für Geige. Typisches Opfer ehrgeiziger Eltern.«

»Immerhin spielt sie im Schulorchester«, warf ich ein.

»Tut sie das?« Julius Steiner lächelte überlegen.

»Mal Klartext«, forderte Patrick.

Der Wohnraum wies zwei Erker auf, die weit in die Dachschräge einschnitten. In einem der Erker lehnte die Geige an einem Notenständer. Steiner betrachtete konzentriert das Instrument und wandte den Kopf dann langsam dem Fenster zu. Der Himmel war noch hell über Münster, und recht schmerzlich wurde ich mir der lauen Sommerluft draußen bewußt, unversehens klebte mir die Zunge am Gaumen. Jetzt ein kaltes Bier.

»Was zu trinken?« fragte Julius und erhob sich bereits, er schritt lässig hinaus, kam mit einem beladenen Tablett zurück, einen Taschenkalender zwischen den Zähnen.

Mir wurde ein bißchen schwindlig vor Erleichterung, als mir das eisgekühlte Mineralwasser die Kehle hinablief. Patrick trank Bier mit Limonade.

Julius blätterte den Kalender auf. »Ist sowieso ein mieser Job. Erst die Fahrerei in das Kaff Steinfurt, wobei meine Schrottmühle die dreißig Kilometer grad mal so schafft, danach die unbegabten Rotznasen. Wollen Sie mir irgendwas anhängen wegen der kleinen Caro?«

»Ganz sachte«, Patrick winkte leutselig ab, »es ist nur so, daß wir in Steinfurt ein strenges Auge auf unsere Blagen haben.«

»Caroline Hainsbach, da ist sie. Unterricht von Viertel vor drei bis halb vier. Fünfundvierzig Minuten mit einer schwitzenden Göre, die Fis nicht von F unterscheiden kann.«

»Und keine Orchesterprobe danach?«

»Ich bin nur für Geige zuständig, wüßte aber nicht, was die in einem Orchester zu suchen hätte. Wenn’s nicht zu indiskret ist, möchte ich jetzt wissen, was die Fragerei soll. Oder geben Sie prinzipiell keine Auskunft?« Er hatte sich an mich gewandt.

Nachdem wir ihn über unser Anliegen aufgeklärt hatten, fragten wir weiter. Hatte er das Mädchen nach dem Unterricht noch einmal gesehen? Er schlug den Kalender wieder auf.

»Von halb vier bis Viertel nach war Christian Schröder an der Reihe, anschließend hab ich zwei Blagen bis kurz vor sechs unterrichtet. Danach bin ich in meine Kiste gesprungen und nach Hause gefahren. Und wenn ich nicht Samstagabend ein Konzert im Schloßgarten hätte, säße ich jetzt auf der Wiese am Aasee und würde hier nicht üben.« Er schielte wieder zu seiner Geige und den Notenblättern auf dem Ständer.

Wahrscheinlich hätten wir hartnäckiger nach Einzelheiten geforscht, wenn wir nicht im stillen damit gerechnet hätten, daß sich der ganze Fall unspektakulär aufklärte. Ohne Ende mit Schrecken, nur mit einem heftigeren Familienkrach, der die Hainsbachs dem wahren Leben näherbrächte.

Als ich schließlich darum bat, das Klo aufsuchen zu dürfen, wies mir Julius mit einer eleganten Handbewegung den Weg, Patrick stand schon ungeduldig an der Tür.

Das Badezimmer strahlte eine kühle, antikangehauchte Eleganz aus, die man nur in renovierten Altbauten findet. Über der ausladenden Badewanne auf Klauenfüßen hing das großformatige Schwarzweiß-Foto eines nackten, fast knabenhaft schlanken Mädchens. Es saß auf dem Boden und schöpfte mit beiden Händen Wasser aus einer Emailschüssel, die zwischen seinen Schenkeln stand. Wahrscheinlich handelte es sich um Kunst, um Erotik allemal. Nachdenklich kam ich aus dem Badezimmer.

»Sie leben hier allein?« fragte ich möglichst beiläufig.

»Nee.« Julius grinste freundlich. »Meine Freundin ist gerade auf Ibiza, Urlaub machen.«

Ich überlegte, ob wir es mit einer klaren Falschaussage zu tun hätten und ob ich nicht besser zusätzlich die Fächer im Spiegelschrank überprüft und nicht nur die Ablage über dem Waschbecken inspiziert hätte, denn ich konnte mir nicht vorstellen, daß eine Frau, selbst bei zweiwöchiger Abwesenheit, im Badezimmer gar nichts hinterließ.

Der zweite Name auf der Klingel lautete P. Sutthoff, Wohnung und Telefon liefen wahrscheinlich auf Sutthoff, es war aber fraglich, für was das P stand.

»Ich hätte bei dem mehr auf Freund als auf Freundin getippt«, teilte ich Patrick als Resümee unserer Recherche auf der Rückfahrt mit. Mein Kollege lachte herzlich und klopfte mir aufs Knie.

»Falsche Indizienauswertung, kann passieren. Goldkettchen tragen auch Machos.«

Flüchtig dachte ich daran, daß Patrick unseren Teamkollegen Harry noch vor ein paar Monaten für schwul gehalten hatte, weil er sich zu Hause in Seidenkimonos hüllte.

»Würdest du Julius deinen Sohn anvertrauen?«

»Kann er Windeln wechseln?«

Rohleff hatte gleich drei Kerle dingfest gemacht. Bei allen dreien handelte es sich um nachweislich echt deutsches Gewächs mit Glatze und Tätowierungen am Unterarm. Die ethnische Zugehörigkeit ergab sich bereits aus den Namen, wurde uns aber extra von einem Kollegen erläutert, den es vielleicht verwunderte, daß die Bösen in Steinfurt nicht die anderen waren, die Zugewanderten oder Zugewiesenen.

Patrick und ich schauten durch die Trennscheibe in den Verhörraum, in dem sich Rohleff gerade mit den dreien abmühte, ein Mikrofon übertrug die etwas schleppende Konversation zu uns in den Nebenraum.

Die Glatzen gaben zwar halbwegs bereitwillig Auskunft über die Tätigkeit, bei der sie unterbrochen worden waren, schwiegen aber zu ihrem garantiert knasttauglichen Vorleben. Patrick kribbelte es sichtlich in den Fingern, sie sich vorzunehmen. Unentwegt schlug er die linke Faust in die offene rechte.

Rohleff registrierte uns mit einem Nicken und wechselte ein paar Minuten später zu uns herüber, ein anderer hatte seinen Part übernommen. Patrick versuchte, sich an Rohleff vorbei ins Nebenzimmer zu drängen, aber Karl hielt ihn am Arm fest.

»Der Kollege kommt ohne dich aus, der macht das sehr schön. Was ist mit dem Mädchen?«

»Kein Anruf von den Eltern?« fragte ich zurück.

»Drei, der letzte vor zehn Minuten.«

Hoffnungsvoll schaute ich Rohleff an, er schüttelte den Kopf. »Wie war’s bei euch?«

Ungeduldig gab Patrick eine kommentierte Zusammenfassung unseres Gesprächs mit dem schönen Julius, er vergaß auch nicht, das Foto im Badezimmer zu erwähnen, um damit die sexuellen Präferenzen des Geigers glasklar herauszustellen. Ich beharrte im stillen auf meinen Zweifeln, mußte mich aber fragen, ob Schwule zur Not mit unausgereiften, sehr jungen Mädchen vorliebnehmen. So oder so paßte da wohl was nicht zusammen.

»Höchstwahrscheinlich läuft gerade in Köln oder Dortmund ein irre geiles Popkonzert für Teenies, und die Kleine ist mit dem Bummelzug bis Münster und dort in den Interregio gestiegen. Mit zwölf ist die doch kein Baby mehr«, schloß Patrick.

Groß unterbrach uns, indem er mit schwerer Tasche hereinschnaufte. Offensichtlich kam er gerade von der Untersuchung der letzten aufgebrochenen Wohnung wieder. Wir sahen zu, wie er seine Tasche abstellte und sich vorsichtig auf einen abgewetzten Bürostuhl niederließ, dem er vielleicht nicht zutraute, sein Gewicht auszuhalten. Wie gar nicht anders bei Harry denkbar, ließ sein silbergraues T-Shirt keinen Schwitzfleck erkennen, und die Designerjeans saßen tadellos, ohne Beulen an den Knien. Naturgemäß kam ich mir bei seinem Anblick noch etwas weniger frisch vor. Harry wedelte mit der Hand um die Aufmerksamkeit, die er sowieso schon hatte.

»Haste dich bereits in unserem neuen Bahnhofsservicecenter umgehört?«

Patrick quittierte den Einwurf mit einem giftigen Blick und schielte wieder durch die Trennscheibe.

»Mach du deine Arbeit«, fuhr Rohleff den Kollegen von der Spurensicherung an und deutete auf Harrys Tasche. »Mit ein paar passenden Fingerabdrücken kämen wir bei den drei Knilchen weiter und bräuchten ihnen nicht so umständlich das Maul aufzustemmen. Kleine Mädchen sind nicht dein Fachgebiet.«

Harry hat sehr schöne Augen mit langen gebogenen Wimpern, nicht schweinchenrosafarbene wie Patrick, sondern dunkle, die zusammen mit den eher dunklen Brauen einen frappierenden Kontrast zu den Karottenhaaren ergeben, die sich üppiger locken als bei Knolle. Meine jüngeren Teamkollegen waren ein ansehnliches Duo, mir fiel wohl mehr die Rolle der häßlichen Ente zu. Harry starrte Rohleff sehr gerade in die Augen, und ich dachte wieder an das Bürogetratsche über den Seidenkimono. Gerüchte halten sich manchmal hartnäckiger als Tatsachen.

Mit einer Hand angelte Harry nach der Tasche und erhob sich sehr langsam. In der Tür wandte er sich noch mal um.

»Dann braucht ihr mich ja nicht.« Es klang nur halb beleidigt.

Ich hatte die Fotos aus der Tasche gezogen und legte sie vor Rohleff auf einen Tisch. »Nach allem, was ich bisher über Caroline weiß, kann ich mir nicht denken, daß sie zu einem Rock- oder Heulkonzert ausgebüxt ist. Schau sie dir doch mal an.«

Auf einem der Fotos trug Caroline ein altmodisch braves Kleid. Allerdings hatten auch meine Töchter im letzten Jahr kurzzeitig eine Vorliebe für diesen Stil entwickelt, nur hatten sie trotzdem nie so artig gewirkt. Der allzu ernste Gesichtsausdruck auf dem Foto machte mir zu schaffen, er ließ das Kleid wie ein Kommunionkleid wirken. Hainsbach hatte die Aufnahme aus seiner Brieftasche hervorgezogen. Gab es keine fröhlichen Bilder von seiner Tochter? Auf dem anderen Foto sah sie ebensowenig glücklich aus, nur zutiefst nachdenklich.

Ganz in die Betrachtung vertieft, hatte ich auf nichts anderes mehr geachtet und wurde erst wieder aufmerksam, als auf einmal die Stimmen aus dem Nebenraum lauter wurden: eine schrie, eine andere schnauzte. Polternd fielen zwei Stühle um. Patrick raste nach nebenan. Durch die Trennscheibe sah ich, wie er einen der Kerle gerade noch zu fassen bekam, ein anderer witschte durch die Tür in den Flur.

»Also Großfahndung«, sagte Rohleff mit Grabesstimme. Ich staunte unverhohlen, er deutete mit einem flüchtigen Grinsen zum Flur. »Nicht nach dem da, der kommt nicht an der Wache vorbei, nach der Kleinen.«

Unser hochmodernes Bahnhofsservicecenter ist nachts geschlossen, wie es sich für eine Kleinstadt gehört. Es kostete vermutlich dreimal soviel Zeit wie in Münster, einen Angestellten zu finden, der eventuell etwas gesehen haben könnte. Als er Rohleff und mich dann endlich aus verschlafenen Augen anstarrte, verließ uns beinahe der Mut, ihn nach Caroline zu fragen. Das Kind auf diesem Foto, beschworen wir ihn, aber er schüttelte trübsinnig und halb benommen den Kopf. Keine Blondgelockte im hellen Kleid, die schüchtern eine Fahrkarte nach Münster, Rheine oder sonstwohin verlangt hatte? legten wir vergeblich nach. Von Bettina Hainsbach wußten wir, daß Caroline das Kleid vom Foto getragen hatte, als sie zur Geigenstunde ging. Vielleicht wollte sie in der engelhaften Aufmachung außer ihrem Vater auch Julius eine Freude bereiten. Ich mußte an das andere Foto denken, das einer Nackten an einer Badezimmerwand. Wenn man die Ästhetik wegließ, blieb ein Mädchen ohne ausgeprägte Geschlechtsmerkmale, ohne Arsch und Titten, hätte Patrick gesagt, wenn er das Kunstwerk gesehen hätte und sich nicht allein auf meine Beschreibung hätte verlassen müssen.

Anschließend haben wir den Leiter der Musikschule ein weiteres Mal belästigt, und eine Auskunft von ihm ersparte es uns, einen Zehnjährigen aus dem Schlaf zu reißen. Der Musikschulleiter, der trotz nächtlicher Stunde reichlich munter klang, hatte Christian Schröder, der nach Caroline mit Geigespielen an der Reihe war, nach dem Unterricht gesehen, diese Stunde hatte also stattgefunden.

»Warum fragen wir den Kurzen nicht trotzdem, der guckt doch bestimmt auch Fußball«, fragte Patrick, als wir im Büro unser Material zusammentrugen. Der kurze Spurt, den er erfolgreich hingelegt hatte, zeigte eine nachhaltige Wirkung, er war jetzt für Kinderkram offen.

»Weil«, antwortete Rohleff bedächtig, »wir jetzt wissen, daß mit Christians Unterricht auszuschließen ist, daß Steiner das Gebäude mit der Kleinen verlassen haben könnte.«

»Seh ich das richtig«, hakte Harry ein, der kurz wieder zu uns gestoßen war, um auf dem laufenden zu bleiben, »du siehst keine Möglichkeit, daß dieser Steiner das Mädchen schnell mal irgendwohin transportiert und mit dem Versprechen auf eine große Portion Eis und Aufklärungsspielchen vom restlichen Geigengekratze befreit hat?«

»Vielleicht hat er sie in die Besenkammer gesperrt«, schloß Patrick düster.

Noch in der Nacht haben wir die Hohe Schule von der letzten Dachkammer bis zum hintersten Keller durchsucht. In dem weitläufigen Gebäude ist nicht nur die Musik-, sondern auch die Volkshochschule und eine Abteilung der Gemeindeverwaltung untergebracht. Wie stießen auf eine Menge Papier, zwei vergessene Jacken an Haken, schöne neue Rechner, die wir auch gern gehabt hätten, aber weder auf ein lebendes noch ein totes Mädchen, während uns ein verdrossener Hausmeister mit dem Schlüsselbund vorauslief.

Rohleff hatte Verstärkung aus Rheine und Münster angefordert, die erste Hundestaffel war im Einsatz. Dadurch wurde Steinfurt hier und da lange nach der letzten Fußballrunde wieder ziemlich munter, denn es ist ja nicht das übliche, wenn dir eine Hundemeute den Vorgarten durchwühlt. Das Haus der Hainsbachs bildete neben der Musikschule die Ausgangsbasis für die verschiedenen Suchunternehmen.

Hinter dem altehrwürdigen Gebäude, das vor ein paar hundert Jahren eine komplette evangelische Universität beherbergt hatte, woran der Name »Hohe Schule« erinnert, erstreckt sich ein abgeschiedener, halb verwilderter Garten, von einer hohen Mauer umzogen, die keinen Einblick zuläßt. Dicht an der Mauer wurden tatsächlich ein paar Knochen ausgegraben. Wir gingen davon aus, daß sie zu den Resten einer heimlichen Grillparty gehörten. Harry wog den größten abschätzend in der Hand.

»Sag nicht, eine Kalbshaxe, die vor der BSE-Krise verbuddelt worden sein muß«, kam ich ihm zuvor.

Gegen fünf Uhr morgens habe ich mich dann mit Rohleffs Erlaubnis für ein Nickerchen aus der Fahndung verabschiedet, die nächste Besprechung war für acht Uhr angesetzt.

Ich drängte mich an Detlevs Rücken und legte einen Arm um ihn. Als das nichts nützte, schlang ich noch ein Bein um seine Hüfte. Endlich regte er sich und grunzte.

»Warum hast du den Rasen wieder nicht gemäht?« fragte ich freundschaftlich, ich brauchte noch etwas Unterhaltung vor dem Einschlafen.

Detlev drehte sich zu mir um. »Ich war bis nach sieben auf einer Sonderkonferenz, wie du gewußt hättest, wenn wir uns heute mittag gesehen hätten. Da sich deine häuslichen Abwesenheiten zur Zeit ausweiten und ich nicht gleichzeitig den Hausmann spielen und deinen Anteil an der Erziehungsarbeit mit übernehmen kann, habe ich mich danach um unsere Töchter gekümmert.«

Wohl nur ein Lehrer bringt morgens kurz nach fünf halbwach solche Schachtelsätze fehlerfrei heraus, ich war aber zu müde, um das voll zu würdigen, räkelte mich statt dessen und legte den Kopf an seine Schulter.

»Katia hat eine Eins in Mathe nach Hause gebracht, aber deine Tochter Laura nur eine Vier«, fuhr er fort, »mit mir üben will sie nicht, aber da sollte was passieren, bevor sie weiter abrutscht ...«

Mir bewies das Genörgel über unsere Ältere, das noch etwas anhielt, daß bei uns alles in Ordnung war. Beruhigt schlief ich ein.

17. Juni

Detlev rüttelte mich wach und hielt mir eine Tasse vors Gesicht. Mit geschlossenen Augen ließ ich mich vom Kaffeeduft in eine halbwegs aufrechte Lage locken und wartete, bis mir mein Mann mit der freien Hand fürsorglich ein Kissen ins Kreuz gestopft hatte, erst dann griff ich nach der Tasse.

»Halb acht durch, wir hauen jetzt ab, denk dran, daß du heute mit Kochen dran bist, sei endlich mal wieder pünktlich«, knurrte er.

Die nächtliche Suchaktion hatte nichts eingebracht außer ein paar Anrufe irritierter Bürger. Im Garten hinter der Hohen Schule war neben anderem Müll eine Plastikhaarspange aufgelesen worden, ein glitzerndes, grellbuntes Ding. Bei seinem Anblick stellte ich mir das Heim der Hainsbachs vor, all das Glas, den Chrom und das schwarze Leder in ihrem Wohnzimmer, das die Mutmaßung, das Glitzerding könnte Caroline gehören, gleich absurd erscheinen ließ. Fragen würde ich trotzdem.

Harry fehlte in der Runde. Leicht verlegen erklärte Rohleff, daß er ihn gebeten hatte, auf dem Weg ins Büro bei ihm zu Hause vorbeizufahren, er selbst sei pausenlos im Einsatz gewesen – eine unnötige Erklärung, wir sahen es ihm an.

Wenig später traf Harry ein, äußerst gut gelaunt, den Duft von »cool water« verbreitend. Eine Plastiktüte wanderte von Hand zu Hand, Rohleff verzog sich damit für eine Viertelstunde und tauchte dann ohne Bartstoppeln in einem frischen Hemd wieder auf.

Mittags waren wir kaum vorangekommen. Allerdings flog jetzt ein Hubschrauber methodisch Kreisbahnen ab, das Gedröhn des Motors und der Rotorblätter würde uns den Tag über und vielleicht den folgenden begleiten.

Steinfurt besteht aus zwei ehemals selbständigen Städten. Zwischen beiden Ortsteilen erstrecken sich auf der einen Seite der fünf Kilometer langen Verbindungsstraße Wiesen und waldbestandene Hügelchen und auf der anderen Seite der »Bagno«, der nun öffentliche Schloßpark der Bentheimer Fürsten. Den Schloßpark hatte ein Suchtrupp bereits in der Nacht durchkämmt, über den Buchenbergen kreiste der Hubschrauber.

Ich war wieder zur Musikschule nach Burgsteinfurt gefahren und mußte eine Weile warten, bis der Leiter Zeit für mich hatte, daher schaute ich mich im Gebäude noch einmal um, auf der Suche nach einer Eingebung. Von zwei Treppenhäusern endet eins bereits im Hochparterre, wo an einem kurzen Flur die Räume der »Anlaufstelle« liegen, die als Ableger der Stadtverwaltung in Borghorst dient.

Das zweite Treppenhaus führt zu den Räumen der Volkshochschule, die sich über zwei Stockwerke verteilen, und ins oberste Geschoß, zur Musikschule. Auf dem zweiten Treppenabsatz kam mir jemand, die Stufen herabspringend, entgegen, er hielt inne, als er mich sah.

»Suchen Sie jemanden?« Eine freundliche Stimme mit einem mitfühlenden Unterton, wer weiß, was der Mann mir vom Gesicht abgelesen hatte.

»Ich bin mit dem Leiter der Musikschule verabredet, ich warte darauf, daß er Zeit für mich hat«, antwortete ich steif.

Der andere streckte mir mit einem Lächeln die Hand entgegen. »Raphael Lemmers, ich bin der Stellvertreter. Kommen Sie wegen der kleinen Caro?«

So genau ist mir die Polizistin sonst nicht anzusehen, vielleicht hatte Lemmers auch einen besonders scharfen Blick. Bescheid wußte er offensichtlich.

»Ich habe mir den Verteilungsplan der Stunden schon mal angeschaut und überlegt, was ich selbst gestern nachmittag gehört und gesehen habe. Kommen Sie doch in mein Büro.«

Im Zimmer lagen Notenstapel auf der Erde, ein paar zusammenfaltbare Notenständer lehnten an einer Wand.

»Unterrichten Sie selbst?«

»Ja, sicher, verschiedene Flöten, Klarinette und Oboe, und ich leite das Schülerorchester. Da fällt mir was ein. Gesehen habe ich Caro gestern nicht, aber gerade, als sie Unterricht hatte, bin ich an der Tür vorbeigekommen und hab mich über das Stück gewundert, das Steiner mit ihr übte.«

»Wieso?« Ich selbst bin ausgesprochen unmusikalisch, und Bachsche Orgelmusik betrachte ich als Zumutung, Lemmers hat mich wohl sofort durchschaut. Er grinste.

»Wissen Sie, daß ein Kind hier Unterricht erhält, heißt nicht unbedingt, daß es eine besondere Begabung hat. Den genauen Ausbildungsstand der kleinen Hainsbach kenne ich nicht, ich weiß aber, sie kommt seit zwei Jahren her, ich hab nachgesehen. Wenn sie so hochbegabt wäre, daß sie das erste Violinkonzert von Max Bruch bewältigt, hätte sich das herumgesprochen.«

»Vielleicht hat ihr Julius Steiner etwas vorgespielt, um sie zu ermutigen oder Lust auf mehr Üben zu machen.«

»Schon möglich.«

Ich erhob mich, da ich mich beim Direktor nicht verspäten wollte. »Könnten Sie mir eine Liste aller Schüler und Lehrer geben, die sich etwa von halb drei bis nach halb vier im Gebäude aufgehalten haben? Wir müssen überprüfen, ob jemand bemerkt hat, wie Caroline das Gebäude betrat oder verließ und wohin sie nach der Stunde gegangen ist.«

»Ich habe damit schon angefangen.«

Leute wie er sind in einer schwierigen Ermittlung wie dieser eine Wohltat, ich erwiderte halbwegs entspannt sein aufmunterndes Lächeln.

»Dann ist ja alles klar«, schloß er, »offengestanden bin ich vom Leiter gebeten worden, mit Ihnen zu reden, die Stundenpläne für den Unterricht mach nämlich meistens ich.« Er grinste breit.

Drauf und dran, mich zu erkundigen, ob er früher den Klassenkasper abgegeben hatte – bei manchen wuchs sich diese Neigung nie ganz aus –, fiel mir etwas anderes ein. »Wenn Sie das Kinderorchester leiten, müssen Sie doch genau wissen, wie gut Caroline spielt.«

Als ich wieder zum Ermittlungsteam stieß, feierten meine Kollegen gerade einen Teilerfolg in der Einbruchserie. Harry summte vergnügt eine Melodie; die mich irgendwie an ein altes Kinderspiel erinnerte und mir auf jeden Fall auf die Nerven ging. Seine Untersuchung der Fingerabdrücke wies einem der drei Glatzköpfe eine Beteiligung an dem Einbruch bei dem Siebzigjährigen recht eindeutig nach. Dumm war nur, daß uns dämmerte, zu der Bande mußten noch mehr als die drei Gefaßten gehören. Also weitere zähe Verhöre. Neben diesem, wenn auch bescheidenen Fortschritt und allen daraus abzuleitenden Konsequenzen wogen meine neuen Erkenntnisse im Fall Hainsbach nicht viel.

»Caroline«, warf ich versuchsweise ein, »hat gar nicht im Orchester mitgespielt.«

Meine Kollegen ließen sich nicht so leicht ablenken.

»Drei haben wir eingelocht, und der Rest der Bande macht weiter«, sagte Patrick düster.

»Ihr solltet die Stellenanzeigen im Auge behalten«, meinte Harry.

»Kräftige, agile Kerle gesucht für lukrative Nebeneinkünfte in den Abend- und Nachtstunden während lautstarker Fußballübertragungen. Etwas in der Art?« erkundigte sich Patrick.

»Wiederhol das mal, Lilli«, sagte Rohleff, bevor die Jungs weiteralbern konnten.