Inhaltsverzeichnis
Widmung
Das erste Gesetz der Magie
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27 Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
Der Schatten des Magiers
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
DANKSAGUNG
Copyright
Das Schwert der Wahrheit bei Blanvalet in der ungesplitteten, dem Original entsprechenden Taschenbuchausgabe:
Erstes Buch: Das Gesetz der Magie (36967) Zweites Buch: Die Schwestern des Lichts (36968) Drittes Buch: Die Günstlinge der Unterwelt (36969) Viertes Buch: Der Tempel der vier Winde (37104) Fünftes Buch: Die Seele des Feuers (37105) Sechstes Buch: Schwester der Finsternis (37106) Siebtes Buch: Die Säulen der Schöpfung (37288) Achtes Buch: Das Reich des dunklen Herrschers (37289) Neuntes Buch: Die Magie der Erinnerung (37290) Zehntes Buch: Am Ende der Welten (37389) Elftes Buch: Konfessor (37390)
Für Jeri
Das erste Gesetz der Magie
1. Kapitel
Die Schlingpflanze sah merkwürdig aus. Düstere, vielgestaltige Blätter wucherten um einen Stengel, der sich in einem Würgegriff um den glatten Stamm einer Balsamtanne wand. Harz sickerte aus der geschundenen Borke, und trockenes Geäst hing schlaff herab, so daß der Eindruck entstand, der Baum versuche, in der feuchtkühlen Morgenluft einen Klagelaut anzustimmen. Entlang der Schlingpflanze ragten hier und dort Schoten heraus, die beinahe argwöhnisch nach Zeugen Ausschau zu halten schienen.
Der Geruch war es, der zuerst seine Aufmerksamkeit erregt hatte, ein Geruch, als würde etwas verwesen, das selbst in lebendigem Zustand vollkommen ungenießbar gewesen wäre. Richard fuhr sich mit dem Fingerkamm durch sein dichtes Haar, während seine Gedanken aus dem Dunst der Verzweiflung aufstiegen und angesichts der Schlingpflanze an Schärfe gewannen. Er sah sich nach weiteren um, entdeckte jedoch keine. Alles andere sah normal aus. Die Ahornbäume des oberen Ven Forest hatten bereits den ersten Anflug von Karminrot angenommen und protzten im leichten Wind stolz mit ihrem neuen Kleid. Bei den kälter werdenden Nächten würde es nicht mehr lange dauern, bis ihre Vettern unten in den Wäldern Kernlands es ihnen gleichtun würden. Die Eichen, die als letzte vor der Jahreszeit kapitulierten, trugen noch immer unerschütterlich ihr dunkelgrünes Blätterkleid.
Richard hatte den größten Teil seines Lebens in den Wäldern verbracht und kannte alle Pflanzen, wenn nicht beim Namen, so doch vom Aussehen her. Von Jugend an hatte sein Freund Zedd ihn auf die Suche nach besonderen Kräutern mitgenommen. Er hatte Richard gezeigt, nach welchen man suchen mußte, wo sie wuchsen und warum, und die beiden hatten allem, was sie sahen, Namen gegeben. Oft hatten sie sich auf ihren Wanderungen nur unterhalten. Der Alte hatte ihn immer wie seinesgleichen behandelt und ebenso viele Fragen gestellt wie beantwortet. Zedd war es, der Richards Wissensdurst und Lerneifer geschürt hatte.
Diese Schlingpflanze hatte er jedoch erst ein einziges Mal zuvor gesehen, und das war nicht in den Wäldern gewesen. Einen Zweig davon hatte er im Haus seines Vaters gefunden, in der blauen Tonvase, die Richard ihm als kleiner Junge getöpfert hatte. Sein Vater war Händler gewesen und auf der Suche nach exotischen und seltenen Dingen viel gereist. Begüterte Leute hatten ihn oft aufgesucht, interessiert, was er zutage gefördert haben mochte. Es schien, als hätte ihm das Suchen mehr gelegen als das Finden, denn immer hatte er sich freudig von seiner neuesten Entdeckung getrennt und sich gleich auf die Suche nach der nächsten gemacht.
Von klein auf hatte Richard seine Zeit gerne in Zedds Gesellschaft verbracht, wenn sein Vater unterwegs war. Richards Bruder Michael war ein paar Jahre älter und zog es vor, seine Zeit mit den Reichen zu verbringen, da er sich weder für die Wälder noch für Zedds weitschweifige Vorträge interessierte. Vor ungefähr fünf Jahren war Richard fortgezogen, um allein zu leben. Dennoch besuchte er seinen Vater häufig zu Hause, im Gegensatz zu Michael, der ständig beschäftigt war und dem selten Zeit dafür blieb. War sein Vater fortgegangen, so hinterließ er Richard in der blauen Vase eine Nachricht, um ihm die neuesten Neuigkeiten und den neuesten Tratsch über irgend etwas mitzuteilen.
Auf den Tag vor drei Wochen war Michael gekommen und hatte ihm mitgeteilt, daß man ihren Vater ermordet hätte. Michael hatte beteuert, es gäbe keinen Grund, zum Hause seines Vaters zu gehen, er könne ohnehin nichts tun, trotzdem hatte Richard es getan. Er war längst aus dem Alter raus, in dem er machte, was sein Bruder sagte. Die Leute dort wollten ihm den Anblick ersparen und weigerten sich, ihm die Leiche zu zeigen. Trotzdem sah er überall auf dem Dielenboden die großen, braunen, getrockneten und ekelerregenden Blutspritzer und -lachen. Als Richard hinzutrat, verstummten die Stimmen, es sei denn, um ihr Beileid auszusprechen, was den reißenden Schmerz nur noch vertiefte. Dennoch hatte er mitbekommen, wie sie sich mit gedämpfter Stimme die Geschichten und wilden Gerüchte über das erzählten, was aus dem Grenzgebiet kam.
Über Magie.
Richard war schockiert, als er sah, in welchem Zustand sich das kleine Haus seines Vaters befand, ganz so, als hätte drinnen ein Sturm getobt. Nur wenig war verschont geblieben, doch die blaue Nachrichtenvase stand immer noch auf dem Bord, und darin fand er den Zweig der Schlingpflanze. Er hatte ihn immer noch in der Tasche. Was sein Vater ihm damit hatte sagen wollen, wußte er nicht.
Gram und Niedergeschlagenheit überwältigten ihn, und er fühlte sich verlassen, obwohl er noch seinen Bruder hatte. Er war zwar zum Mann herangereift, aber auch das half ihm nicht gegen die Verlorenheit des Waisenkindes, das ganz allein auf der Welt war. Dieses Gefühl hatte er bereits als kleiner Junge beim Tod seiner Mutter kennengelernt. Auch wenn sein Vater häufig, manchmal wochenlang unterwegs war, so wußte Richard doch immer, daß es ihn gab und daß er wiederkommen würde. Jetzt nicht mehr.
Auf keinen Fall wollte Michael, daß er sich in die Suche nach dem Mörder einmischte. Er sagte, er hätte die besten Spurenleser der Armee ausgeschickt, und es sei nur zu Richards Bestem, wenn er sich raushalte. Also hatte Richard Michael den Zweig einfach nicht gezeigt und war jeden Tag allein losgezogen, um die Schlingpflanze zu suchen. Drei Wochen lang war er die Pfade der Wälder Kernlands abgewandert, über jeden einzelnen, selbst die, von denen kaum jemand anders wußte. Aber gesehen hatte er sie nie.
Schließlich gab er wider besseres Wissen dem Raunen in seinem Kopf nach und stieg in den oberen Ven Forest nahe der Grenze hinauf. Das Raunen verfolgte ihn mit dem Gefühl, daß er etwas über den Grund für die Ermordung seines Vaters wußte. Es lag ihm in den Ohren, quälte ihn mit Gedanken, die sich seinem Zugriff zu entziehen schienen, und verlachte ihn, weil er es nicht sah. Richard redete sich ein, es sei bloß sein Kummer, der ihm einen Streich spiele, und nichts Wirkliches.
Er hatte geglaubt, die Schlingpflanze würde ihm irgendeine Antwort bieten, wenn er sie fand. Jetzt hatte er sie gefunden und wußte auch nicht weiter. Das Raunen lag ihm nicht mehr in den Ohren, es lastete schwer auf ihm. Er wußte, es waren nur seine eigenen Gedanken, und er verbot sich, dem Raunen ein Eigenleben zuzugestehen. Zedd hatte ihn schließlich eines Besseren belehrt.
Richard blickte an der großen Fichte in ihrer Todesqual hinauf. Er mußte wieder an den Tod seines Vaters denken. Die Schlingpflanze war dabeigewesen. Und jetzt tötete die Schlingpflanze diesen Baum. Sie konnte nichts Gutes bedeuten. Für seinen Vater konnte er zwar nichts mehr tun, trotzdem brauchte er nicht zuzulassen, daß die Schlingpflanze einen weiteren Mord beging. Er packte sie fest, riß mit seinen kräftigen Muskeln daran und zerrte die sehnigen Schlingen vom Stamm.
In diesem Augenblick biß die Schlingpflanze zu.
Eine der Hülsen schlug aus und traf ihn am linken Handrücken; vor Schmerz und Überraschung sprang er zurück. Er untersuchte die Wunde und entdeckte eine Art Dorn, tief im Fleisch des klaffenden Schnitts. Die Sache war entschieden. Die Schlingpflanze bedeutete Ärger. Er griff nach seinem Messer, um den Dorn herauszuschneiden, aber es war nicht da. Erst wunderte er sich, dann fiel ihm ein, warum. Er ärgerte sich, weil er wegen seiner Niedergeschlagenheit etwas so Wichtiges wie das Messer vergessen hatte. Er versuchte, den Dorn mit den Fingernägeln herauszuziehen. Zu seiner wachsenden Besorgnis bohrte sich der Dorn zappelnd tiefer, als wäre er lebendig. Er kratzte mit dem Daumennagel über die Wunde und versuchte, den Dorn herauszufischen. Je kräftiger er kratzte, desto tiefer bohrte er sich hinein. Als er an der Wunde riß, um sie zu weiten, durchflutete ihn eine heiße Welle der Übelkeit, und er ließ es sein. Der Dorn war im hervorsickernden Blut verschwunden.
Richard sah sich um und entdeckte die herbstlich violettroten Blätter eines kleinen Holunderbaumes, der schwer an der Last seiner dunkelblauen Beeren trug. Unter dem Baum, eingebettet in einer Wurzelhöhle, fand er, was er suchte: eine blutstillende Pflanze. Erleichtert rupfte er den zarten Stiel dicht über seinem unteren Ende ab und drückte vorsichtig die klebrige, klare Flüssigkeit auf den Einstich. Lächelnd dachte er an den alten Zedd, der ihm die Heilpflanze gezeigt hatte. Jedesmal beim Anblick dieser weichen, pelzigen Blätter mußte Richard an Zedd denken. Der Saft der Pflanze betäubte die Wunde, beruhigte jedoch nicht seine Besorgnis darüber, daß er den Stachel nicht herausziehen konnte. Er spürte, wie der sich immer tiefer in sein Fleisch arbeitete.
Richard hockte sich hin und bohrte mit dem Finger ein Loch in den Boden, steckte die Pflanze hinein und befestigte rings um den Stengel Moos, damit sie nachwachsen konnte.
Die Geräusche des Waldes wichen völliger Stille. Richard sah auf und zuckte zusammen. Ein dunkler Schatten huschte über den Boden, sprang über Blätter und Äste hinweg. Oben in der Luft ertönte ein pfeifendes Rauschen. Die Größe des Schattens war beängstigend. Vögel wurden aus dem Schutz der Bäume aufgeschreckt und stießen Warnschreie aus, während sie in alle Richtungen davonstoben. Richard hob den Kopf und versuchte, unter dem Himmel aus Grün und Gold den Ursprung des Schattens auszumachen. Einen Augenblick lang sah er etwas Großes. Etwas Großes und Rotes. Er hatte keine Vorstellung, was das sein mochte, doch dann erinnerte er sich an all die Gerüchte und Geschichten über das Grenzgebiet, und die ließen ihn bis ins Mark erstarren.
Wenn die Schlingpflanze Ärger bedeutete, dann erst recht dieses Ding am Himmel. Er mußte an das Sprichwort denken: »Aller Ärger zeugt drei Kinder«, und augenblicklich wußte er, dem dritten wollte er auf keinen Fall begegnen.
Er schüttelte seine Angst ab und fing an zu rennen. Alles müßiges Geschwätz abergläubischer Menschen, redete er sich ein. Er versuchte, sich vorzustellen, was so groß, so groß und rot sein konnte. Unmöglich; nichts, was flog, war so gewaltig. Vielleicht war es eine Wolke, oder das Licht spielte ihm einen Streich. Aber er konnte sich nichts weismachen. Das war keine Wolke.
Im Laufen sah er hoch, wollte noch einen Blick darauf werfen. Er hielt auf den Pfad zu, der die Flanke des Hügels säumte. Auf der anderen Seite des Pfades fiel das Gelände schroff ab, und von dort hatte er einen ungehinderten Blick auf den Himmel. Äste, regennaß vom Vorabend, peitschten ihm ins Gesicht, während er durch den Wald hastete, über gefallene Bäume und schmale, steinige Bäche hinweg. Gestrüpp zerrte an seinen Hosenbeinen. Das Sonnenlicht bildete scheckige Muster auf dem Boden, und er sah auf, doch das Blätterwerk versperrte ihm die Sicht. Sein Atem ging schnell, abgehackt, kalter Schweiß lief ihm übers Gesicht. Das Herz schlug ihm bis zum Hals, als er achtlos den Hügel hinabhastete. Endlich stolperte er zwischen den Bäumen hervor auf den Pfad und wäre beinahe gestürzt.
Er suchte den Himmel ab und entdeckte das Ding. Es war zu weit entfernt und zu klein. Unmöglich zu sagen, was es war, aber er meinte, Flügel zu erkennen. Er blinzelte in den strahlend blauen Himmel, schirmte die Augen mit der Hand ab und versuchte, sich zu vergewissern, ob sich dort tatsächlich Flügel bewegten. Es glitt hinter einen Hügel und war verschwunden. Er hatte nicht einmal feststellen können, ob es wirklich rot war.
Außer Atem ließ sich Richard auf einen Granitbrocken am Wegesrand fallen und japste nach Luft. Gedankenverloren brach er tote Zweige von einem jungen Bäumchen neben sich ab und starrte hinunter zum Trunt Lake. Vielleicht sollte er zu Michael gehen und ihm erzählen, was er gesehen hatte, von der Schlingpflanze und diesem roten Ding am Himmel. Über letzteres würde Michael nur lachen, das wußte er. Er hatte selbst schon über diese Geschichten gelacht.
Nein, wahrscheinlich wäre Michael nur verärgert, weil er sich so nahe ans Grenzgebiet herangewagt und gegen die Anordnung verstoßen hatte, sich aus der Suche nach dem Mörder seines Vaters herauszuhalten. Sein Bruder sorgte sich um ihn, sonst hätte er nicht ständig etwas an ihm auszusetzen. Jetzt, als Erwachsener, konnte er die ständigen Ermahnungen mit einem Lachen abtun. Die mißbilligenden Blicke ersparte ihm das allerdings nicht.
Richard brach einen weiteren Zweig ab und warf damit niedergeschlagen nach einem flachen Stein. Eigentlich brauchte er sich nicht ausgeschlossen zu fühlen. Schließlich sagte sein Bruder Michael ständig allen, was sie zu tun hatten, sogar seinem Vater.
Er verwarf das harte Urteil über seinen Bruder. Heute war Michaels großer Tag. Heute übernahm er das Amt als Oberster Rat. Damit übernahm er für alles die Verantwortung, nicht mehr nur über die Stadt Kernland, sondern über alle Orte und Dörfer in Westland und sogar die Menschen auf dem Land. Er war für alles und jeden verantwortlich. Michael hatte Richards Unterstützung verdient, er brauchte sie. Auch Michael hatte seinen Vater verloren.
An diesem Nachmittag sollte in Michaels Haus eine Zeremonie und ein großes Fest abgehalten werden. Wichtige Leute würden aus den entferntesten Winkeln Westlands angereist kommen. Auch Richard wurde erwartet. Wenigstens gab es dort reichlich und gut zu essen. Er merkte, wie ausgehungert er war.
Während er dasaß und nachdachte, ließ er seinen Blick über das andere Ufer des Trunt Lake weit unten schweifen. Im klaren Wasser konnte er aus dieser Höhe das Nebeneinander von felsigem Grund und grünem Unkraut rings um die tiefen Stellen sehen. Entlang des Ufers wand sich der Händlerpfad durch die Bäume, lag an manchen Stellen offen da, an anderen war er dem Auge verborgen. Richard war diesen Abschnitt des Pfades oft entlanggegangen. Im Frühjahr war es unten am See feucht und schlammig, aber so spät im Jahr dürfte es trocken sein. An bestimmten Stellen weiter südlich und nördlich führte der Weg auf seinem verschlungenen Pfad durch den Ven Forest unangenehm nah an der Grenze vorbei. Aus diesem Grund mieden ihn die meisten Reisenden und wählten statt dessen die Wege durch die Wälder Kernlands. Richard war Waldführer und geleitete Reisende sicher durch diese Wälder. Meist handelte es sich um umherreisende Würdenträger, denen das Ansehen eines örtlichen Führers wichtiger war als dessen Arbeit.
Aus den Augenwinkeln bemerkte er eine Bewegung. Vielleicht sein Freund Chase. Wer außer einem Grenzposten sollte hier oben herumwandern?
Er sprang von dem Felsen, schleuderte die Äste zur Seite und trat ein paar Schritte vor. Das war nicht Chase, das war eine Frau. Eine Frau in einem Kleid. Welche Frau würde so weit ab von allem durch den Ven Forest laufen, noch dazu in einem Kleid? Richard beobachtete, wie sie am Seeufer entlanglief und immer wieder zwischen den Bäumen verschwand. Sie schien es nicht eilig zu haben, aber Schlendern konnte man das auch nicht gerade nennen. Eher bewegte sie sich im wohlbedachten Tempo eines erfahrenen Reisenden. Das machte Sinn. In der Nähe des Trunt Lake lebte niemand.
Eine weitere Bewegung erregte seine Aufmerksamkeit. Richard suchte die im Schatten liegenden Stellen ab. Hinter ihr folgte noch jemand. Drei, nein, vier Männer in Waldgewändern mit Kapuzen verfolgten sie, blieben jedoch auf Distanz. Sie bewegten sich verstohlen, sprangen von Fels zu Baum. Schauten. Warteten ab. Gingen weiter. Richard reckte den Hals, die Augen aufgerissen, seine Aufmerksamkeit gefesselt.
Die Männer verfolgten sie.
Sofort wußte er: Das war das dritte Kind des Ärgers.
2. Kapitel
Zuerst blieb Richard wie erstarrt stehen und wußte nicht, was er tun sollte. Er konnte nicht sicher sein, ob die vier Männer tatsächlich hinter der Frau her waren. Oder doch erst, wenn es zu spät war. Was ging es ihn überhaupt an? Außerdem hatte er sein Messer nicht bei sich. Welche Chance hatte ein Unbewaffneter gegen vier andere? Er beobachtete, wie die Frau den Pfad entlangging und die Männer ihr folgten.
Welche Chance hatte die Frau?
Er ging in die Hocke. Sein Herz klopfte, während er überlegte, was er tun konnte. Die Morgensonne brannte auf sein Gesicht, sein Atem raste vor Angst. Irgendwo vor der Frau zweigte eine kleine Abkürzung vom Händlerpfad ab. Gehetzt dachte er nach, wo genau. Der Hauptweg führte um den See herum und den Hügel zu seiner Linken hinauf, von wo aus er sie beobachtete. Blieb sie auf dem Hauptweg, konnte er auf sie warten und sie vor den Männern warnen. Und dann? Außerdem war der Weg zu weit. Die Männer hätten sie vorher eingeholt. In seinem Kopf nahm eine Idee Gestalt an. Er sprang auf und rannte den Hügel hinab.
Wenn er sie vor der Abkürzung abfing, konnte er mit ihr an der Gabelung rechts hinaufgehen. Dieser Pfad führte aus dem Wald hinaus auf offene Felsgesimse, fort von der Grenze und hin zum Ort Kernland, wo es Hilfe gab. Wenn sie sich beeilten, konnte er ihre Spuren verwischen. Die Männer würden nicht wissen, daß die beiden den Nebenweg genommen hatten. Sie würden glauben, die Frau befände sich noch immer auf dem Hauptweg, zumindest eine Zeitlang, lange genug, um sie in die Irre zu führen und die Frau in Sicherheit zu bringen.
Immer noch außer Atem von seinem vorherigen Gehetze, rannte Richard keuchend, nach Luft ringend, den Pfad hinab, so schnell er konnte. Der Pfad war sofort wieder zwischen den Bäumen verschwunden, er brauchte sich also nicht zu sorgen, daß die Männer ihn sahen. Sonnenstrahlen blitzten durch das grüne Dach über ihm. Alte Fichten säumten den Pfad, deren Nadeln einen weichen, die Schritte dämpfenden Bodenbelag bildeten. Er hörte das Blut in seinen Ohren pochen.
Nachdem er eine Weile Hals über Kopf den Pfad hinuntergestürzt war, begann er nach der Gabelung zu suchen. Er war nicht sicher, wie weit er gelaufen war. Der Wald bot keine Anhaltspunkte, und er wußte nicht mehr, wo sich die Abzweigung genau befand. Sie war schmal und leicht zu verfehlen. Hinter jeder Biegung keimte neue Hoffnung auf, hier mußte es sein. Er zwang sich, weiterzulaufen. Er überlegte, was er der Frau erzählen sollte, wenn er sie erreicht hatte. Seine Gedanken rasten ebenso schnell wie seine Beine. Vielleicht dachte sie, er gehörte zu den Männern, vielleicht hatte sie Angst vor ihm oder glaubte ihm nicht. Viel Zeit würde er nicht haben.
Er erreichte den Kamm einer kleinen Erhebung, suchte von neuem nach der Abzweigung, fand sie nicht und rannte weiter. Er keuchte unregelmäßig. Wenn er die Gabelung nicht vor ihr erreichte, säßen sie in der Falle, und ihre einzige Alternative bestünde darin, den Männern davonzulaufen oder zu kämpfen. Für beides war er zu sehr außer Atem. Der Gedanke daran trieb ihn noch schneller voran. Schweiß rann ihm über den Rücken, das Hemd klebte an seiner Haut. Die Kühle des Morgens schien sich in stickige Hitze verwandelt zu haben, doch das lag nur an seiner Anstrengung. Der Wald rechts und links verschwamm undeutlich.
Kurz vor einem scharfen Knick nach rechts erreichte er endlich die Gabelung. Fast hätte er sie verfehlt. Rasch suchte er nach Spuren, um zu sehen, ob sie bereits dagewesen und den Seitenweg gegangen war. Es gab keine. Ein Gefühl der Erleichterung überkam ihn. Er ließ sich auf die Knie fallen, setzte sich erschöpft auf die Hacken und versuchte, wieder zu Atem zu kommen. Das hatte schon mal geklappt. Er war vor ihr hier. Jetzt mußte er sie noch dazu bringen, ihm zu glauben, bevor es zu spät war.
Er rang immer noch nach Atem und stemmte seine Rechte in die schmerzhaften Seitenstiche, als ihn plötzlich die Sorge überkam, er könnte sich lächerlich machen. Was, wenn sie nur ein Spiel mit ihren Brüdern spielte? Er wäre blamiert. Alle außer ihm hätten was zu lachen.
Er betrachtete den Einstich auf seinem Handrücken. Er leuchtete rot und pochte schmerzhaft. Das Ding am Himmel fiel ihm wieder ein: Er mußte an ihre Art zu gehen denken: zielstrebig, nicht wie ein Kind, das spielt. Er erinnerte sich an die nackte Angst, die er beim Anblick der Männer verspürt hatte. Vier Männer, die verstohlen eine Frau verfolgten: das dritte seltsame Geschehen dieses Morgens. Das dritte Kind des Ärgers. Nein. Er schüttelte den Kopf. Ein Spiel war das nicht. Er wußte, was er gesehen hatte. Ein Spiel war das nicht. Sie verfolgten die Frau.
Richard richtete sich halb auf. Sein Körper verströmte Hitzewellen. Die Hände auf die Knie gestützt, atmete er ein paarmal tief durch, bevor er sich wieder zur vollen Größe aufrichtete.
Sein Blick fiel auf die junge Frau, die vor ihm um die Biegung kam. Einen Augenblick lang stockte ihm der Atem. Ihr volles, braunes Haar, üppig und lang, betonte die Umrisse ihres Körpers. Sie war groß, fast so groß wie er, und ungefähr im gleichen Alter. Ihr Kleid glich nichts, was er je zuvor gesehen hatte. Es war fast weiß, am Hals viereckig ausgeschnitten. Der kleine, braune Lederbeutel, den sie trug, wirkte fast wie ein Fleck. Der Stoff des Kleides war fein und glatt gewebt, schimmerte beinahe. Es hatte keine Spitzen oder Rüschen, wie man es gewohnt war, keine Muster oder Farben, die davon ablenkten, wie es ihren Körper umschmeichelte. Es wirkte elegant in seiner Schlichtheit. Die langen, anmutigen Falten, die ihr wie einer Königin hinterherwehten, sammelten sich um ihre Beine, als sie stehenblieb.
Richard trat auf sie zu und blieb drei Schritte vor ihr stehen, um nicht bedrohlich zu wirken. Aufrecht und regungslos stand sie da, die Arme an den Seiten. Ihre Brauen schwangen sich anmutig wie ein Raubvogel im Flug. Sie sah ihn furchtlos aus ihren grünen Augen an. Das Zusammentreffen schien ihm jedes Selbstgefühl zu rauben. Es kam ihm vor, als hätte er sie schon immer gekannt, als sei sie immer ein Teil von ihm gewesen, als seien ihre Bedürfnisse die seinen. Sie hielt ihn mit ihrem Blick so fest wie mit eisenhartem Griff, schien in seinen Augen nach seiner Seele oder einer Antwort auf etwas zu suchen. In ihrer Gegenwart fühlte er sich einsamer als je zuvor. Ich bin hier, um dir zu helfen, sagte er in Gedanken. Er meinte es mehr als jeden anderen Gedanken, den er je gehabt hatte.
Die Spannung ihres Blickes löste sich und lockerte den Griff, mit dem sie ihn hielt. In ihren Augen entdeckte er etwas, das ihn mehr anzog als alles andere. Intelligenz. Er sah sie dort aufleuchten, in ihr glühen, und durch alles hindurch spürte er ein alles beherrschendes Gefühl der Wahrheit. Richard fühlte sich geborgen.
In seinen Gedanken blitzte eine Warnung auf, die ihn daran erinnerte, weshalb er hier war: Zeit war kostbar.
»Ich war dort oben«, damit zeigte er auf den Hügel, von dem aus er sie das erste Mal erblickt hatte, »und hab’ dich gesehen.« Sie blickte in die angegebene Richtung. Er tat es ebenfalls und bemerkte, wie er auf ein Dickicht aus Ästen zeigte. Der Hügel war von hier aus nicht zu erkennen. Die Bäume versperrten die Sicht. Stumm senkte er den Arm und versuchte, den Fehler zu überspielen. Sie sah ihm in die Augen und wartete.
Richard setzte erneut an und hielt seine Stimme gesenkt. »Ich war dort oben auf dem Hügel oberhalb des Sees. Ich habe gesehen, wie du den Pfad am Seeufer entlanggegangen bist. Ein paar Männer verfolgen dich.«
Sie verriet keine Regung, sah ihm nur weiter in die Augen. »Wie viele?«
Er fand ihre Frage seltsam, beantwortete sie aber. »Vier.«
Sie wurde blaß.
Sie drehte den Kopf, suchte den Wald hinter sich ab und ließ den Blick kurz über die Schatten gleiten, bevor sie ihn wieder ansah und seine Augen suchte. »Möchtest du mir helfen?« Abgesehen von der Blässe, verrieten ihre feinen Gesichtszüge keine Regung.
Bevor er einen klaren Gedanken fassen konnte, hörte er sich sagen: »Ja.«
Die Anspannung auf ihrem Gesicht löste sich. »Was sollen wir deiner Meinung nach tun?«
»Es gibt einen kleinen Pfad, der hier abzweigt. Wenn wir ihn nehmen und die Männer auf dem anderen bleiben, können wir entkommen.«
»Und wenn nicht? Wenn sie unserem Pfad folgen?«
»Ich werde unsere Spuren verwischen.« Er schüttelte den Kopf, um sie zu beruhigen. »Sie werden uns nicht folgen. Hör zu, wir haben keine Zeit...«
»Und wenn doch?« schnitt sie ihm das Wort ab. »Was sollen wir deiner Meinung nach tun?«
Einen Augenblick lang betrachtete er ihr Gesicht. »Sind sie gefährlich?«
Sie erstarrte. »Sehr.«
So, wie sie das Wort aussprach, lief es ihm eiskalt den Rücken runter. Für einen kurzen Augenblick sah er einen Ausdruck blanken Entsetzens in ihren Augen.
Richard strich sich das Haar zurück. »Also schön, der kleine Pfad ist schmal und steil. Sie können uns nicht einkreisen.«
»Bist du bewaffnet?«
Er schüttelte nur den Kopf und ärgerte sich viel zu sehr über sich selbst, um es laut auszusprechen.
Sie nickte. »Dann sollten wir uns beeilen.«
Sie sprachen kein Wort mehr, nachdem der Entschluß gefallen war. Sie wollten ihren Standort nicht verraten. Richard verwischte hastig ihre Spuren und gab ihr ein Zeichen, sie solle vorgehen, damit er sich zwischen ihr und den Männern befand. Sie zögerte keinen Augenblick. Die Falten ihres Kleides wehten ihr nach, als sie auf seinen Wink in raschem Schritt losging. Das üppige, junge Immergrün des Ven Forest machte den Pfad zu einem schmalen, dunklen, aus Gestrüpp und Asten gehauenen grünen Hohlweg. Ringsum war nichts zu erkennen.
Richard schaute sich im Gehen um, obwohl er nicht weit sehen konnte. Zumindest in dem Abschnitt, den er überblicken konnte, war die Luft rein. Sie ging zügig, auch ohne daß er sie dazu auffordern mußte.
Nach einer Weile wurde das Gelände steiler und felsiger, der Baumbestand lichter und bot freiere Sicht. Der Pfad wand sich durch tiefe, schattige Einschnitte im Gelände und durch laubübersäte Schluchten. Trockenes Laub wirbelte unter ihren Schritten auf. Pinien und Fichten wichen Laubhölzern, größtenteils Birken, deren Geäst über ihren Köpfen schwankte und das karge Sonnenlicht auf dem Boden zum Tanzen brachte. Die dunklen Flecken auf den weißen Birkenstämmen erweckten den Eindruck, als verfolgten Hunderte von Augen den Vorbeimarsch der beiden. Bis auf zwei Raben war es an diesem Ort sehr still und friedlich.
Am Fuß einer Granitwand, der der Pfad folgte, gab er ihr ein Zeichen. Er legte die Finger an die Lippen und gab ihr zu verstehen, daß sie vorsichtig auftreten mußten, um Geräusche zu vermeiden, deren Echo ihren Standort verraten könnte. Jeder Schrei der Raben war als Widerhall zwischen den Hügeln zu hören. Richard kannte diesen Ort. Die Form der Felswand trug jedes Geräusch meilenweit. Er zeigte auf die moosbedeckten, runden Steine, die über den flachen Waldboden verstreut lagen. Er wollte, daß sie über diese Steine gingen, um auf keine unter dem Laub verborgenen Äste zu treten. Er wischte ein paar Blätter zur Seite, um ihr die dort verborgenen Äste zu zeigen, tat, als zerbreche er einen, hielt dann die hohle Hand an sein Ohr. Sie verstand und nickte, hob ihren Rock mit einer Hand und begann, auf die Steine zu steigen. Durch eine Berührung am Arm brachte er sie dazu, sich noch einmal umzudrehen, und tat, als gleite er aus und stürze, damit sie wußte, sie müsse auf das schlüpfrige Moos achtgeben. Lächelnd nickte sie und eilte weiter. Das Lächeln überraschte ihn. Es wärmte ihn, nahm seiner Angst die Schärfe. Richard schöpfte neue Hoffnung, was ihr Entkommen betraf, während er von einem moosbewachsenen Stein zum nächsten sprang.
Mit dem steten Ansteigen des Pfades lichtete sich zunehmend der Baumbestand. Der Wechsel von Waldboden zu Fels bot den Bäumen immer seltener Gelegenheit, Wurzeln zu schlagen. Bald wuchsen die einzigen Bäume in Felsspalten, knorrige, verdrehte kleine Dinger, als wollten sie dem Wind, der sie aus ihrer spärlichen Verankerung reißen konnte, keinen Halt bieten.
Geräuschlos traten sie zwischen den Bäumen hervor und gelangten auf die Felsvorsprünge. Nicht immer war der Pfad eindeutig gekennzeichnet, und es gab zahlreiche Möglichkeiten, sich zu verlaufen. Oft mußte sie sich zu ihm umdrehen, damit er ihr durch einen Fingerzeig oder ein Nicken den Weg weisen konnte. Richard hätte gerne ihren Namen gewußt, doch aus Angst, die vier Männer könnten ihn hören, schwieg er. Obwohl der Pfad steil und schwierig war, brauchte er ihretwegen nicht langsamer zu gehen. Sie war eine kräftige Kletterin und schnell obendrein. Er bemerkte ihre guten Stiefel aus weichem Leder, wie sie von erfahrenen Reisenden getragen wurden.
Vor gut einer Stunde hatten sie die Bäume hinter sich gelassen, waren steil aufwärts gestiegen, der Sonne entgegen. Sie hielten sich östlich auf dem Felsvorsprung, erst später knickte der Pfad nach Westen ab. Wenn die Männer ihnen folgten, mußten sie in die Sonne blicken, um sie zu sehen. Sie gingen so geduckt wie möglich, und Richard sah während des Anstiegs oft über die Schulter, um nach den Männern Ausschau zu halten. In der Nähe des Trunt Lake waren sie gut verborgen gewesen, hier draußen jedoch war das Gelände zu offen, um sich zu verstecken. Er entdeckte nichts und fühlte sich allmählich besser. Niemand verfolgte sie. Die Männer waren nirgends zu sehen und befanden sich wahrscheinlich mittlerweile meilenweit entfernt auf dem Händlerpfad. Je weiter sie sich von der Grenze entfernten, je mehr sie sich der Stadt näherten, desto besser fühlte er sich. Sein Plan hatte funktioniert.
Richard hätte gerne angehalten und Rast gemacht. Nichts deutete darauf hin, daß sie verfolgt wurden, und seine Hand pochte. Die Frau schien jedoch eine Pause weder zu brauchen noch zu wollen. Sie drängte weiter, als wären ihnen die Männer dicht auf den Fersen. Richard mußte an ihren Gesichtsausdruck denken, als er gefragt hatte, ob sie gefährlich wären, und verwarf jeden Gedanken an eine Rast.
Im Verlauf des Vormittages wurde es für die späte Jahreszeit recht warm. Im klaren, strahlenden Blau des Himmels zogen nur ein paar weiße Federwölkchen vorüber. Eine der Wolken hatte die Gestalt einer sich windenden Schlange angenommen, mit dem Kopf nach unten und dem Schwanz nach oben. Das war ungewöhnlich. Diese Wolke hatte Richard bereits früher am selben Tag gesehen – oder war es gestern gewesen? Er durfte nicht vergessen, Zedd davon zu berichten, wenn er ihn das nächste Mal sah. Zedd konnte Wolken lesen, und wenn Richard es versäumte, von seiner Beobachtung zu berichten, würde er einen stundenlangen Vortrag über die Bedeutung von Wolken über sich ergehen lassen müssen. Vermutlich sah Zedd sie jetzt auch, genau in diesem Augenblick, und fragte sich besorgt, ob Richard achtgab.
Der Pfad führte sie zur Südwand des kleinen Schartenbergs, wo er an einer nackten Felswand entlangging, nach der der Berg benannt worden war. Der Pfad verlief auf halber Höhe in der Wand und bot einen Panoramablick über den südlichen Ven Forest und zu ihrer Linken, in Wolken und Dunst halb verdeckt hinter der Felswand, auf die hohen, zerklüfteten Gipfel, die zum Grenzgebiet gehörten. Richard entdeckte braune, sterbende Bäume, die aus dem grünen Teppich herausragten. Weiter oben, dichter an der Grenze, standen die toten Bäume dicht an dicht. Die Schlingpflanze, wie er erkannte.
Die beiden kamen gut voran. Sie hatten allerdings im Moment keine Chance, sich zu verstecken, und jeder hätte sie leicht sehen können. Auf der anderen Seite der Felswand jedoch würde der Pfad sich in die Wälder Kernlands senken und später hinab in die Stadt. Selbst wenn die Männer ihren Fehler erkannten und ihnen noch folgten, hatten Richard und die Frau einen sicheren Vorsprung.
Als sie sich dem Ende der Felswand näherten, wurde der trügerische, schmale Pfad breiter, und man konnte nebeneinander gehen. Richard tastete zur Sicherheit mit der Rechten an der Felswand entlang, während er in den Abgrund blickte, auf das gut hundert Meter tieferliegende Felsenmeer. Er sah sich um. Immer noch nichts.
Er drehte sich wieder nach vorn; die Frau erstarrte mitten im Schritt. Die Falten ihres Kleides wogten um ihre Beine.
Vor ihnen auf dem Pfad, der eben noch leer gewesen war, standen zwei Männer. Richard war größer als die meisten Männer, diese beiden jedoch überragten ihn noch um einiges. Ihre dunkelgrünen Kapuzengewänder ließen ihre Gesichter im Schatten verschwinden, ihre massigen, muskulösen Körper konnten sie nicht verhüllen. Richard war verwirrt, er konnte nicht begreifen, wie die Männer sie überholt haben konnten.
Er und die Frau wirbelten herum und wollten fliehen. Vom Felsen oben fielen zwei Seile. Die beiden anderen Männer ließen sich auf den Pfad herab. Sie versperrten den Rückzug. Sie waren ebenso groß wie die beiden ersten. An Schnallen und Lederriemen unter ihren Umhängen hing ein ganzes Arsenal Waffen, die in der Sonne blinkten.
Richard wirbelte zu den ersten beiden herum. In aller Ruhe schoben sie ihre Kapuzen zurück. Beide hatten dichtes, blondes Haar und einen kräftigen Nacken. Ihre Gesichter waren gerötet, gutaussehend.
»Du kannst passieren, Junge, uns interessiert nur das Mädchen.« Der Mann hatte eine tiefe, fast freundliche Stimme. Nichtsdestotrotz klang die Drohung scharf wie eine Klinge. Beim Sprechen zog er die Lederhandschuhe aus und stopfte sie in seinen Gürtel, ohne Richard auch nur eines Blickes zu würdigen. Richard stellte für ihn offenbar kein Hindernis dar. Der Kerl hatte eindeutig das Sagen, denn die drei anderen warteten still, während er sprach.
Noch nie war Richard in einer solchen Lage gewesen. Bislang hatte er Ärger immer aus dem Weg gehen können. Niemals verlor er die Beherrschung, und gewöhnlich gelang es ihm mit seiner lockeren Art, eine finstere Miene in ein Lächeln zu verwandeln. Wenn Reden nichts nutzte, war er flink und kräftig genug, um zu verhindern, daß jemand zu Schaden kam, und wenn nötig, machte er sich einfach davon. Er wußte, diese Männer hatten mit Reden nichts im Sinn und fürchteten sich ganz offensichtlich nicht vor ihm. Wenn er doch einfach nur gehen könnte.
Richard warf einen Blick in ihre grünen Augen und sah das Gesicht einer stolzen Frau, die ihn um Hilfe anflehte.
Er beugte sich zu ihr hinüber und sagte mit gesenkter, aber fester Stimme: »Ich werde dich nicht im Stich lassen.«
Ihre Miene wirkte erleichtert.
Sie nickte leicht und legte ihm die Hand auf den Unterarm. »Du mußt sie trennen und verhindern, daß sie mich alle gleichzeitig angreifen«, flüsterte sie ihm zu. »Und faß mich auf keinen Fall an, wenn sie kommen.« Sie packte seinen Arm fester, blickte ihm in die Augen und wartete auf eine Bestätigung. Zwar verstand er ihre Beweggründe nicht, trotzdem nickte er. »Mögen die guten Seelen mit uns sein.«
Sie ließ ihre Hände an die Seiten fallen und wandte sich den beiden hinter ihr zu. Ihr Gesicht war tödlich ruhig, bar jeder Regung.
»Geh jetzt, Junge.« Die Stimme des Anführers hatte an Härte gewonnen. Seine wilden blauen Augen funkelten. Er knirschte mit den Zähnen. »Mein letztes Angebot.«
Richard schluckte trocken.
Er versuchte, selbstsicher zu klingen. »Wir werden beide passieren.« Sein Herz schien bis zum Hals hinauf zu schlagen.
»Heute nicht«, sagte der Anführer entschieden. Er zückte sein häßliches, gebogenes Messer.
Der Mann neben ihm zog ein Kurzschwert aus der Scheide, die auf seinem Rücken hing. Mit einem ekelerregenden Grinsen zog er es über die Innenseite seines muskulösen Unterarms und färbte die Klinge rot. Hinter sich hörte Richard das Geräusch von Stahl, der gezückt wird. Er war starr vor Angst. Das ging alles viel zu schnell. Sie hatten keine Chance. Keine.
Einen kurzen Augenblick lang rührte sich niemand. Dann zuckte Richard unter dem Schlachtgeheul der Männer zusammen, Männer, die bereit waren, im Kampf zu sterben. Sie griffen mit beängstigender Wucht an. Der mit dem Kurzschwert holte aus und ging auf Richard los. Währenddessen hörte er, wie einer der Männer hinter ihm die Frau packte.
Doch dann, kurz bevor der Mann ihn erreicht hatte, wirkte eine mächtige Kraft auf die Luft ein, ein Donner ohne Hall. Die gewaltige Wucht ließ jedes Gelenk in seinem Körper stechend schmerzen. Ringsum wurde Staub aufgewirbelt, der sich ringförmig ausbreitete.
Auch der Mann mit dem Schwert spürte den Schmerz, und für einen Augenblick wurde seine Aufmerksamkeit an Richard vorbei auf die Frau gelenkt. Richard ließ sich nach hinten gegen die Wand fallen und stieß dem voranpreschenden Mann beide Füße so fest er konnte vor die Brust. Es hob ihn glatt vom Pfad, in die Luft. Der Mann riß überrascht die Augen auf, als er rücklings auf die Felsen tief unten stürzte, das Schwert immer noch mit beiden Händen über den Kopf erhoben.
Schockiert verfolgte Richard, wie einer der beiden hinteren Männer mit aufgeschlitzter, blutender Brust ebenfalls ins Nichts stürzte. Bevor er einen Gedanken daran verschwenden konnte, stürmte der Anführer zielstrebig mit dem Krummschwert an ihm vorbei auf die Frau los. Dabei hieb er Richard mit dem Ballen seiner freien Hand unter das Brustbein. Der Aufprall nahm dem Jungen die Luft und schleuderte ihn mit Wucht gegen die Wand, und sein Kopf prallte an die Felsen. Er kämpfte dagegen an, das Bewußtsein zu verlieren, und hatte nur einen Gedanken: Er mußte den Mann daran hindern, sie anzugreifen. Kräfte sammelnd, von deren Existenz er nichts geahnt hatte, packte Richard den Anführer an seinem stämmigen Handgelenk und wirbelte ihn herum. Das Messer kam in weitem Bogen auf ihn zu. Die Klinge blitzte im Sonnenlicht. In den blauen Augen des Mannes herrschte wilde Gier. Noch nie in seinem Leben hatte Richard solche Angst gehabt.
In diesem Augenblick war er sich sicher, er müsse sterben.
Scheinbar aus dem Nichts tauchte der letzte Mann mit blutverschmiertem Schwert auf, hieb dem Anführer sein Metall in den Unterleib und rammte ihm den Atem aus dem Körper. Der Zusammenprall war derart grimmig, daß er beide über den Felsrand warf. Bis ganz nach unten stieß der letzte Mann ein Wutgeheul aus, das erst mit dem Aufprall auf den Felsen tief unten endete.
Richard blieb wie gelähmt stehen und starrte über den Felsrand. Widerstrebend wandte er sich der Frau zu. Er hatte Angst, hinzusehen, fürchtete, er würde sie aufgeschlitzt und leblos vorfinden. Statt dessen saß sie an die Felswand gelehnt auf dem Boden. Sie wirkte erschöpft, war aber unverletzt. Ihr Gesicht hatte etwas Abwesendes. Es war alles so schnell gegangen, und er begriff eigentlich nicht, was geschehen war, oder wie. Richard und die Frau waren in der plötzlichen Stille allein.
Er ließ sich neben ihr auf den von der Sonne warmen Felsen sacken. Vom Schlag gegen die Felswand hatte er heftige Kopfschmerzen. Es ging ihr gut, wie Richard sah, und er fragte nicht nach. Er war zu überwältigt, um etwas zu sagen, und spürte, daß es ihr ebenso ging. Sie bemerkte das Blut auf ihrem Handrücken und wischte es an der Felswand neben den dort bereits vorhandenen Spritzern ab. Richard meinte, sich übergeben zu müssen.
Unfaßbar, sie lebten noch. Es schien nicht möglich. Was war dieser Donner ohne Hall gewesen? Und diese Schmerzen, die er dabei verspürt hatte? Nie hatte er etwas Ähnliches erlebt. Die Erinnerung ließ ihn erschaudern. Was es auch war, sie hatte etwas damit zu tun, und sie hatte ihm das Leben gerettet. Etwas Unerhörtes war geschehen, und er war alles andere als sicher, ob er wissen wollte, was.
Sie legte ihren Kopf nach hinten gegen den Fels und neigte ihn in seine Richtung zur Seite. »Ich weiß nicht einmal deinen Namen. Ich wollte dich schon vorher fragen, hatte aber Angst, etwas zu sagen.« Mit einer vagen Geste deutete sie auf den Abgrund. »Ich hatte solche Angst vor ihnen... ich wollte nicht, daß sie uns finden.«
Er dachte, sie würde anfangen zu weinen, und sah zu ihr hinüber. Noch nicht, aber möglicherweise gleich. Er nickte. Er hatte verstanden, was sie über die Männer gesagt hatte.
»Mein Name ist Richard Cypher.«
Sie betrachtete ihn mit ihren grünen Augen, während er zu ihr hinübersah. Die Brise wehte ihr einige Haarsträhnen ins Gesicht.
Sie lächelte. »Es gibt nicht viele, die mir so beigestanden hätten.« Er fand ihre Stimme ebenso attraktiv wie alles andere an ihr. Sie paßte zu dem intelligenten Funken ihrer Augen. Fast raubte sie ihm den Atem. »Es gibt nicht viele wie dich, Richard Cypher.«
Zu seinem großen Unbehagen spürte Richard, wie er rot wurde. Sie sah weg, wischte sich die Haare aus dem Gesicht und tat, als bemerke sie sein Erröten nicht.
»Ich bin...« Es klang, als wollte sie etwas sagen und hätte es sich dann anders überlegt. Sie drehte ihm den Rücken zu. »Ich bin Kahlan. Mein Familienname lautet Amnell.«
Er sah ihr lange in die Augen. »Wie dich gibt es auch nicht viele, Kahlan Amnell. Nur wenige hätten so durchgehalten wie du.«
Sie wurde nicht rot, sondern lächelte ihn nur an. Ein seltsames Lächeln, ein besonderes, bei dem man die Zähne nicht sah, mit zusammengepreßten Lippen, wie man es tut, wenn man jemanden ins Vertrauen ziehen will. Gleichzeitig funkelten ihre Augen. Es war ein Lächeln voller Anteilnahme.
Richard befühlte die schmerzhafte Beule an seinem Hinterkopf und suchte seine Finger nach Blut ab. Es gab keins, dabei war er überzeugt, da hätte welches sein müssen. Er sah sie an und fragte sich, was geschehen war, was sie getan hatte und wie. Erst dieser Donner ohne Hall, dann hatte er einen Mann vom Felsvorsprung gestoßen, einer der beiden hinter ihnen hatte den anderen getötet und schließlich den Anführer und sich selbst.
»Also, Kahlan, meine Freundin, kannst du mir sagen, wie es kommt, daß wir leben und diese vier nicht?«
Sie sah ihn überrascht an. »Meinst du das im Ernst?«
»Meinen? Was?«
Sie zögerte. »Die ›Freundin‹.«
Richard zuckte mit den Achseln. »Klar. Du hast gerade selbst gesagt, ich hätte dir beigestanden. Das tut man doch als Freund, oder?« Er lächelte sie an.
Kahlan drehte sich weg. »Ich weiß es nicht.« Sie spielte mit dem Ärmel ihres Kleides und sah zu Boden. »Ich war noch nie mit jemandem befreundet. Außer vielleicht mit meiner Schwester...«
Er spürte, wie schwer ihr das Sprechen fiel. »Nun, jetzt bist du es jedenfalls«, sagte er so gut gelaunt es ging. »Schließlich haben wir gerade zusammen etwas ziemlich Beängstigendes durchgemacht. Wir haben einander geholfen und überlebt.«
Sie nickte stumm. Richard ließ den Blick über den Ven Forest schweifen, sein Zuhause. Im Sonnenlicht wirkte das Grün der Bäume lebendig, üppig. Sein Blick wurde nach links gezogen, hin zu den braunen Flecken, wo die toten und sterbenden Bäume inmitten ihrer gesunden Nachbarn standen. Bis heute morgen, als er die Schlingpflanze gefunden und sie ihn gestochen hatte, hatte er keine Ahnung gehabt, daß sie hier oben an der Grenze gedieh und den ganzen Wald durchzog. Ältere Leute hielten sich meilenweit von ihr entfernt. Andere gingen näher ran, wenn sie auf dem Händlerpfad reisten oder um zu jagen, niemand jedoch kam ihr zu nahe. Die Grenze bedeutete den Tod. Es hieß, wer an die Grenze ging, starb nicht nur, sondern büßte auch seine Seele ein. Die Grenzer sorgten dafür, daß die Menschen sich von ihr fernhielten.
Er sah sie von der Seite her an. »Und was ist mit dem anderen? Wir haben überlebt. Wie kam das?«
Kahlan wich seinem Blick aus. »Ich glaube, die guten Seelen haben uns beschützt.«
Richard glaubte ihr kein Wort. Aber sosehr er auch die Antwort wissen wollte, es war nicht seine Art, Menschen zu zwingen, etwas zu sagen, was sie nicht sagen wollten. Sein Vater hatte ihn dazu erzogen, die Geheimnisse anderer zu respektieren. Wenn sie wollte, würde sie ihm ihre Geheimnisse schon noch verraten. Zwingen würde er sie nicht.
Jeder hatte Geheimnisse; er ganz bestimmt auch. Nach dem Tod seines Vaters und den Ereignissen des heutigen Tages spürte er, wie sie sich in seinem Hinterkopf regten.
»Kahlan«, sagte er und versuchte dabei, seiner Stimme einen beruhigenden Unterton zu verleihen, »Freundschaft bedeutet nicht, daß du etwas erzählen mußt, wenn du nicht willst. Ich bin trotzdem dein Freund.«
Sie sah ihn nicht an, nickte aber. Sie war derselben Ansicht.
Richard stand auf. Sein Kopf schmerzte, seine Hand schmerzte, und jetzt stellte er auch noch fest, daß seine Brust weh tat, dort, wo ihn der Mann geschlagen hatte. Zu allem Überfluß fiel ihm auch noch ein, wie hungrig er war. Michael! Er hatte die Feier seines Bruders vollkommen vergessen. Er sah nach der Sonne und wußte, er würde zu spät kommen. Hoffentlich verpaßte er Michaels Ansprache nicht. Er würde Kahlan mitnehmen, Michael von den Männern berichten und jemanden zu ihrem Schutz besorgen.
Er hielt ihr die Hand hin, um ihr aufzuhelfen. Sie sah ihn überrascht an. Er zog sie nicht zurück. Sie schaute in seine Augen und ergriff sie.
Richard lächelte. »Hat dir noch nie ein Freund die Hand gereicht, um dir aufzuhelfen?«
Sie wandte den Blick ab. »Nein.«
Richard spürte ihr Unbehagen und wechselte das Thema.
»Wann hast du das letzte Mal etwas gegessen?«
»Vor zwei Tagen«, sagte sie tonlos.
Er sah sie erstaunt an. »Dann mußt du noch hungriger sein als ich. Ich werde dich zu meinem Bruder mitnehmen.« Er warf einen vorsichtigen Blick über die Felskante. »Wir werden ihm von den Toten erzählen müssen. Er wird wissen, was zu tun ist.« Damit wandte er sich ihr wieder zu. »Kahlan, weißt du, wer diese Männer waren?«
Ihre grünen Augen bekamen etwas Hartes. »Man bezeichnet sie als Quadron. Sie sind, nun, so eine Art Mördertrupp. Man schickt sie aus, um zu töten...« Sie fing sich wieder. »Um Menschen zu töten.« Ihr Gesicht strahlte wieder dieselbe Ruhe aus wie in dem Augenblick, als sie sich zum ersten Mal begegnet waren. »Ich glaube, je weniger Menschen von mir wissen, desto sicherer bin ich.«
Richard war bestürzt. So etwas hatte er noch nie gehört. Er strich sich die Haare zurück und dachte nach. Wieder kreisten finstere, schattengleiche Gedanken. Aus irgendeinem Grund hatte er Angst vor ihrer Antwort. Fragen mußte er trotzdem.
Er sah ihr fest in die Augen. Diesmal erwartete er die Wahrheit. »Kahlan, woher kam das Quadron?«
Einen Augenblick lang betrachtete sie sein Gesicht. »Sie müssen mich seit Verlassen der Midlands bis über die Grenze verfolgt haben.«
Richard fröstelte. Eine Gänsehaut kroch ihm den Nacken hinauf, und die feinen Haare standen ihm zu Berge. Tief in ihm regte sich Wut.
Sie mußte gelogen haben. Niemand konnte die Grenze überqueren.
Niemand.
Niemand war je in die Midlands gegangen oder von dort gekommen. Die Grenze war seit der Zeit vor seiner Geburt abgeriegelt.
Die Midlands, das war ein Land der Magie.
3. Kapitel
Michaels Haus war ein massives Gebäude aus weißem Stein und stand ein ganzes Stück von der Straße entfernt. Schieferdächer in einer Vielfalt von Winkeln und Neigungen trafen sich kompliziert verschachtelt unter einem Bleiglasgiebel, durch den Licht in die zentrale Halle fiel. Hoch aufragende Weißeichen beschatteten den Zufahrtsweg zum Haus vor der strahlenden Nachmittagssonne, der durch ausladende Rasenflächen bis zu den symmetrisch zu beiden Seiten des Hauses angelegten Zierbeeten führte. Die Beete standen in voller Blüte. Die Blumen mußten wegen der späten Jahreszeit extra für diesen Anlaß in Gewächshäusern gezüchtet worden sein.
Elegant gekleidete Menschen schlenderten über den Rasen und durch den Garten. Richard fühlte sich plötzlich fehl am Platz. Sicher, in seinem dreckigen, schweißbefleckten Waldgewand sah er bestimmt gräßlich aus, aber er hatte den Umweg über sein Haus vermieden, wo er sich hätte frischmachen können. Außerdem war seine Stimmung finster und es ihm egal, wie er aussah. Er hatte Wichtigeres im Kopf.
Kahlan dagegen wirkte nicht so sehr fehl am Platz. Das ungewöhnliche und auffällige Kleid, das sie trug, strafte die Behauptung Lügen, sie sei gerade aus dem Wald gekommen. Angesichts des vielen Blutes, das vor kurzem auf dem Kamm des Schartenbergs geflossen war, war überraschenderweise nichts davon an ihr hängengeblieben. Irgendwie hatte sie es geschafft, sich herauszuhalten, während die Männer sich gegenseitig umbrachten.
Sie hatte ihm erzählt, sie sei von jenseits der Grenze aus den Midlands gekommen, hatte seine bestürzte Reaktion gesehen und anschließend zu dem Thema geschwiegen. Richard brauchte Zeit, um darüber nachzudenken, und hatte sie nicht weiter gedrängt. Statt dessen fragte sie ihn nach Westland, wie die Menschen dort waren und wo er lebte. Er erzählte ihr von seinem Haus im Wald, wo er das Leben fern der Stadt genoß und als Führer für Reisende durch den Kernland Forest arbeitete.
»Hat dein Haus eine Feuerstelle?« hatte sie gefragt.
»Aber ja.«
»Benutzt du sie?«
»Aber ja, ich koche ständig darauf«, hatte er erwidert. »Warum?«
Sie hatte lediglich mit den Achseln gezuckt und in die Landschaft geschaut. »Ich vermisse es nur, vor einem offenen Feuer zu sitzen, das ist alles.«
Er erzählte ihr von der Ermordung seines Vaters. Sie hörte einfühlsam zu.
Die Ereignisse des Tages und seine Sorgen hatten Richard aufgewühlt, und es tat ihm gut, jemanden zu haben, mit dem er reden konnte, auch wenn sie es geschickt vermied, von ihren Geheimnissen zu sprechen.
»Ihre Einladung, Sir?« rief jemand mit tiefer Stimme aus dem Schatten neben dem Eingang.
Einladung? Richard fuhr herum und wollte sehen, wer ihn angesprochen hatte; er blickte in ein schelmisches Grinsen. Richard mußte selbst grinsen. Es war sein Freund Chase. Er schüttelte dem Grenzposten in einer herzlichen Begrüßung die Hand.
Chase war groß, glatt rasiert, hatte hellbraunes Haar, das noch keinerlei Anzeichen des Schütterwerdens zeigte, allerdings des Alters wegen an den Schläfen ergraute. Dichte Brauen warfen einen Schatten auf die eindringlichen, braunen Augen, die sich auch beim Sprechen langsam und listig umschauten und denen nichts entging. Diese Angewohnheit hinterließ bei vielen den – irrtümlichen – Eindruck, er höre nicht zu. Richard wußte, trotz seiner Größe konnte Chase im Notfall gefährlich schnell sein. Er trug an der Seite einen Gurt voller Messer, an dem auch eine Schlachtkeule hing. Das Heft eines Kurzschwerts ragte hinter seiner linken Schulter hervor, und seine Armbrust mit einer ganzen Anzahl mit Widerhaken und Stahlspitzen versehener Bolzen hing von einem Lederhalfter an seiner Linken.
Richard zog eine Braue hoch. »Sieht aus, als wolltest du dir deinen Anteil am Festessen abholen.«
Das Grinsen verschwand aus Chases Gesicht. »Ich bin nicht als Gast hier.« Sein Blick ruhte auf Kahlan.
Richard spürte das Unbehagen. Er nahm Kahlan beim Arm und zog sie vor. Sie ließ es ohne Furcht mit sich geschehen.
»Chase, das ist meine Freundin Kahlan.« Er lächelte sie an. »Das ist Dell Brandstone. Alle nennen ihn Chase. Ein alter Freund von mir. Bei ihm sind wir sicher.« Er wandte sich wieder an Chase. »Du kannst ihr vertrauen.«
Sie betrachtete den großen Mann und nickte ihm lächelnd zu.
Chase verneigte sich, und die Angelegenheit war erledigt. Richards Wort genügte ihm. Er ließ den Blick über die Menschenmenge schweifen und ihn bei verschiedenen Leuten verweilen, um zu sehen, ob jemand Interesse an ihnen hatte. Er zog die beiden von der offenen, sonnenbeschienenen Treppe zur Seite.
»Dein Bruder hat sämtliche Grenzposten zusammengerufen.« Er wartete, sah sich erneut um. »Um sie zu seinen persönlichen Wachen zu machen.«
»Was? Das gibt doch keinen Sinn!« Richard konnte es nicht fassen. »Er hat die Hofwache und die Armee. Wozu braucht er dann noch die paar Grenzposten?«
Chase legte seine Linke auf einen der Messergriffe. »Genau. Wozu eigentlich.« Sein Gesicht verriet keine Regung. Tat es selten. »Vielleicht nur des Effekts wegen. Die Leute fürchten sich vor den Posten. Du warst seit der Ermordung deines Vaters im Wald. Nicht, daß ich an deiner Stelle nicht das gleiche getan hätte. Ich will bloß sagen, du warst eben nicht hier. Hier sind seltsame Dinge passiert, Richard. Mitten in der Nacht kommen und gehen irgendwelche Leute. Michael bezeichnet sie als ›besorgte Bürger‹. Ständig redet er irgendwelchen Unsinn über Verschwörungen gegen die Regierung. Er hat auf dem gesamten Gelände Posten verteilt.«
Richard sah sich um, konnte aber keine entdecken. Das hatte nicht viel zu sagen. Wenn ein Grenzposten nicht gesehen werden wollte, konnte er einem auf den Füßen stehen, und man wäre nicht in der Lage, ihn zu entdecken.
Chase beobachtete Richard, wie er seinen Blick schweifen ließ, und trommelte mit den Fingern auf einen Messerknauf. »Meine Männer sind da draußen, glaube mir.«
»Schön. Und woher weißt du, daß Michael nicht recht hat? Schließlich wurden der Vater des neuen Obersten Rates und wer sonst noch alles ermordet.«
Chase setzte seine subtilste Miene des Ekels auf. »In Westland kenne ich jeden kleinen Schleimer. Es gibt keine Verschwörung. Vielleicht gäbe es ein bißchen Spaß, wenn es so wäre. Ich halte mich jedoch nur für einen Teil der Dekoration. Michael meinte, ich sollte mich ›ein bißchen zeigen‹.« Sein Gesicht nahm schärfere Züge an. »Und was den Mord an deinem Vater anbelangt, nun, George Cypher und ich kannten uns sehr lange, schon lange vor deiner Geburt und vor der Entstehung der Grenze. Er war ein guter Mann. Ich war stolz, ihn meinen Freund nennen zu dürfen.« In seinen Augen kochte Wut. »Ich bin ein paar Leuten auf die Füße getreten.« Er wechselte auf sein anderes Bein und sah sich noch einmal um, bevor er sein grimmiges Gesicht wieder Richard zuwandte. »Und zwar fest. Die hätten den Namen ihrer Mutter verraten, wenn ich das gewollt hätte. Kein Mensch weiß etwas. Und glaub mir, hätten sie etwas gewußt, sie wären froh gewesen, die Unterhaltung mit mir so kurz wie möglich zu gestalten. Zum ersten Mal bin ich hinter jemandem her und kann nicht die geringste Spur finden.« Er verschränkte die Arme und lächelte wieder, als er Richard von Kopf bis Fuß musterte. »Wo wir gerade von Schleimern sprechen, wo hast du dich eigentlich rumgetrieben? Du siehst aus, als könntest du einer meiner Kunden sein.«
Richard sah zu Kahlan hinüber, dann zurück zu Chase. »Wir waren oben im Ven Forest.« Richard senkte die Stimme. »Uns haben vier Männer angegriffen.«
Chase wirkte leicht überrascht. »Kenne ich die Männer?«
Richard schüttelte den Kopf.
Chase runzelte die Stirn. »Und wo sind die vier hin, nachdem sie euch überfallen haben?«
»Du kennst doch den Pfad über den Schartenbergfelsen?«
»Sicher.«
»Sie liegen tief unten auf den Felsen. Wir müssen darüber reden.«
Chase starrte die beiden an. »Ich werde es mir ansehen.« Er zog die Brauen ungläubig zusammen. »Wie habt ihr das angestellt?«
Richard und Kahlan wechselten einen kurzen Blick, dann sah Richard wieder den Grenzposten an. »Ich glaube, die guten Seelen haben uns beschützt.«
Chase sah argwöhnisch von einem zum anderen. »Tatsächlich? Nun, Michael solltest du im Augenblick besser nichts davon erzählen. Ich fürchte, er glaubt nicht an gute Seelen.« Er blickte den beiden fest in die Augen. »Wenn ihr meint, es sei nötig, könnt ihr bei mir bleiben. Dort seid ihr sicher.«
Richard mußte an Chases viele Kinder denken. Er wollte sie auf keinen Fall gefährden. Darüber streiten wollte er aber auch nicht, also nickte er bloß.
»Wir gehen besser rein. Michael wird mich vermissen.«
»Noch eins«, meinte Chase. »Zedd will dich sehen. Er war ganz aufgebracht. Er meint, es sei wirklich wichtig.«
Richard warf einen Blick über die Schulter und sah die wimmelnde Menschenmenge. »Ich glaube, ich muß ihn ebenfalls treffen.« Er machte kehrt und wollte gehen.
»Richard«, sagte Chase mit einem Blick, der jeden anderen vernichtet hätte, »was hast du im oberen Ven Forest gemacht?«
Richard scheute sich nicht. »Das gleiche wie du. Ich habe versucht, eine Spur aufzunehmen.«
Chases hartes Gesicht entspannte sich, und er lächelte wieder knapp. »Mit Erfolg?«
Richard nickte und hielt seine rote, entzündete Hand in die Höhe. »Sie beißt sogar.«
Kahlan und er drehten sich um und mischten sich unter die ins Haus strömende Menschenmenge, passierten den Eingang, überquerten den weißen Marmorboden und gingen zum eleganten, zentralen Versammlungssaal. Wo das von oben hereinfallende Sonnenlicht sie erfaßte, bekamen die Marmorwände und -säulen einen unheimlichen, goldenen Glanz. Richard hatte immer die Wärme von Holz vorgezogen. Michael jedoch hatte gemeint, aus Holz könne jeder machen, was er wolle. Wenn man dagegen Marmor wollte, mußte man eine Menge Leute anheuern, die in Holzhäusern lebten und die Arbeit für einen taten. Richard erinnerte sich an die Zeit vor dem Tod ihrer Mutter, als er und Michael im Sand gespielt und Häuser und Forts aus Stöckchen gebastelt hatten. Damals hatte Michael ihm geholfen. Hoffentlich tat er es auch jetzt.
Einige Leute erkannten Richard. Sie begrüßten ihn und erhielten dafür nur ein steifes Lächeln oder einen flüchtigen Händedruck. Richard war überrascht, wie wohl sich Kahlan zwischen all den wichtigen Leuten fühlte, obwohl sie aus einem fremden Land stammte. Er war längst auf die Idee gekommen, auch sie könnte jemand Wichtiges sein. Mordbanden verfolgen nicht irgend jemanden.
Es fiel Richard schwer, jedem zuzulächeln. Wenn die Gerüchte von der Grenze stimmten, war ganz Westland in Gefahr. Die Menschen in den an das Kernland angrenzenden Gebieten hatten bereits jetzt Angst, nachts das Haus zu verlassen; Geschichten von halb aufgefressenen Leichenfunden machten die Runde. Richard hatte gemeint, sie seien lediglich eines normalen Todes gestorben, und wilde Tiere hätten ihre Leichen gefunden. So was passierte ständig. Die Leute behaupteten, sie kämen aus der Luft. Er tat es als abergläubischen Unsinn ab.
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Wizard’s First Rule« bei Tor Books, New York.
Der vorliegende Roman ist bei Blanvalet bereits in zwei Bänden unter den Titeln »Das erste Gesetz der Magie« und »Der Schatten des Magiers« erschienen.
8. Auflage
Taschenbuchausgabe Mai 2008 bei Blanvalet, einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH, München.
Copyright © der Originalausgabe 1994 by Terry Goodkind Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 1995 by Verlagsgruppe Random House GmbH, München
Published in agreement with the author c/o Baror International, Inc., Armonk, New York, USA
Redaktion: Andreas Helweg
Lektorat: Urban Hofstetter
Satz: deutsch-türkischer fotosatz, Berlin
eISBN 978-3-641-04953-9
www.blanvalet.de
www.randomhouse.de