Das Seminar als Denkschule - Anja Centeno Garcia - E-Book

Das Seminar als Denkschule E-Book

Anja Centeno Garcia

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Beschreibung

Diskursorientierte Lehre Seminare gehören zum Kerngeschäft der Hochschullehre, besonders in geistes-, kultur- oder sozialwissenschaftlichen Studiengängen. Und wie kein anderes Lehrformat sind sie von der aktiven Beteiligung der Studierenden abhängig. Das Seminar ist der Ort, an dem der wissenschaftliche Diskurs erlebbar wird. Hier kann man verstehen, was es bedeutet, gemeinsam zu denken, professionelle Wissensarbeit zu leisten. Der Band stellt den Diskurs ins Rampenlicht und entwickelt daraus eine diskursbasierte Seminardidaktik. Denn das Format des geistes- und sozialwissenschaftlichen Seminars ist ein Erprobungsraum par excellence für wissenschaftliche Denk- und Handlungsmuster. Ein Buch für alle, die sich in Ihren Seminaren lebhafte Debatten wünschen.

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Seitenzahl: 125

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Kompetent lehrenHerausgegeben von Sabine Brendel

Band XAnja Centeno GarcíaDas Seminar als Denkschule

Anja Centeno García

Das Seminar als Denkschule

Eine diskursbasierte Didaktik für dieHochschule

Verlag Barbara BudrichOpladen & Toronto 2019

Die Autorin:Dr. Anja Centeno García, freiberufliche Dozentin und Trainerin, Dresden, www.anjacenteno.de

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten.

© 2019 Verlag Barbara Budrich, Opladen & Toronto www.budrich.de

utb-Bandnr.    5265utb-ISBN978-3-8252-5265-6E-Book978-3-8463-5265-6

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Online-Angebote oder elektronische Ausgaben sind erhältlich unterwww.utb-shop.de.

Satz: Susanne Albrecht, LeverkusenUmschlaggestaltung: Atelier Reichert, StuttgartTitelbildnachweis: Raffael, La scuola di Atene,

https://commons.wikimedia.org

Inhalt

Vorwort

1 Einleitung

2 Die Kunst der Auseinandersetzung

2.1 Der Diskurs – Bedeutung und Herausforderung

2.2 Diskurs und Wissenschaft

2.3 Diskurs und Lernen

2.4 Diskurs und Lehre

2.5 Diskurs und Gesellschaft

3 Lernort Seminar

3.1 Das Seminar – Einheit von Forschung und Lehre in neuem Licht?

3.2 Entwicklung der Studierenden oder: Worüber wir uns nicht wundern sollten

3.3 Herausforderung für Lehrende

3.4 Den Charakter des Seminars bestimmen

4 Gerüst einer Seminardidaktik

4.1 Ziele setzen, die steuern helfen und Flexibilität erlauben

4.2 Denkkultur entwickeln

4.3 Themen erschließen

4.4 Textarbeit als Dreh- und Angelpunkt

4.5 Selbstwirksamkeitsüberzeugungen der Studierenden stärken

4.6 Kooperatives Lernen ist nicht einfach nur Gruppenarbeit

4.7 Selbständigkeit ermöglichen und einfordern

4.8 Feedback und immer wieder Feedback

5 Ideenbörse

5.1 Mit Wikis den Diskurs erproben

5.2 Lesen, Sprechen, Schreiben gestuft trainieren

5.3 Mit eigenen Studien wissenschaftlich denken lernen

5.4 Durch Reflexion zu professioneller Beratungsfähigkeit

5.5 Durch wissenschaftliches Arbeiten einen Leitfaden erarbeiten

6 Zum Abschluss

7 Literatur

[7] Vorwort

Das geistes-und sozialwissenschaftliche Seminar ist ein Erprobungsraum par excellence für wissenschaftliche Denk- und Handlungsmuster – das ist die grundlegende These der Autorin des vorliegenden Bandes.

Eine „steile These“, die hier aufgestellt wird, werden Sie vielleicht denken. Und Sie denken vielleicht auch: Wie soll das gehen in Veranstaltungen mit Studienanfängerinnen und -anfängern? D.h. mit Studierenden, die gar nicht wissen, wie das Fach „tickt“, die nicht lesen wollen und können (oder zumindest keine umfangreichen und komplexen Texte), mit größeren Studierendenkohorten? Mit Studierenden, die (noch) nicht gelernt haben, wie Wissenschaft und wie wissenschaftliches Denken und Arbeiten geht? Und die noch viel weniger Ahnung vom Fach, seiner Kultur, seinen Routinen an Arbeits- und Denkweisen und seinen Methoden haben?

Die Autorin erläutert, wie das gehen kann, und bietet dafür verschiedene Zugänge an: Zunächst beleuchtet sie den Begriff und die Vorstellungen von „Diskurs“ als Kunst der Auseinandersetzung zwischen Peers eines Fachs zu einem spezifischen Thema oder einer Fragestellung. Im zweiten Zugang nähert sie sich dem Seminar als Lernort. Dabei betrachtet sie vor allem die Herausforderungen, die dieses Lehrformat an die Studierenden, aber auch an Sie als Lehrperson stellt. In den darauffolgenden Zugängen wird es noch konkreter: Nachdem die Autorin das Gerüst einer Seminardidaktik mit ihren verschiedenen Elementen eingeführt hat, arbeitet sie heraus, durch welche Interventionen der Lehrperson sich die Elemente einer guten Seminardidaktik umsetzen lassen und was dabei zu beachten ist. Als letzten Zugang nimmt uns Anja Centeno García mit zu einer „Ideenbörse“, bei der sie [8] anhand fünf konkreter Beispiele von Lehrenden verschiedener geistes-, kultur- und sozialwissenschaftlicher Fächer Einblicke in kreativ gelöste und innovativ umgesetzte Formen der Gestaltung einer diskursiven Seminardidaktik präsentiert.

Damit wird der Band „rund“ und die zugrunde liegende These theoretisch fundiert dargelegt sowie praktisch anhand didaktisch konzeptioneller und konkreter Hinweise beschrieben und mit Beispielen illustriert.

So zeigt die Autorin auf, wie das Veranstaltungsformat Seminar zu einem wirklichen Lern-Raum für die Studierenden werden kann, in dem wissenschaftliches Arbeiten, d.h. wissenschaftlich Denken, Sprechen und Schreiben geübt wird. Und das besonders Motivierende ist, dass es dabei zu einem wirklichen Austausch nicht nur der Studierenden untereinander, sondern auch mit der Lehrperson – also Ihnen – kommen kann, ja wird.

Ich wünsche Ihnen viel Freude bei der Lektüre, neue Erkenntnisse und kreative Geistesblitze, wie Sie die vielfältigen Zugänge und Hinweise für Ihre Lehre/Ihre Seminargestaltung umsetzen können!

Dr. Sabine BrendelBerlin, im August 2019

[9] 1     Einleitung

Liebe Leserin, lieber Leser,

Sie unterrichten an der Hochschule und geben regelmäßig Seminare, vorzugsweise in geistes-, kultur- oder sozialwissenschaftlichen Studiengängen. Sie möchten Ihrer Lehrveranstaltung neuen Schwung verleihen und Substanz geben, die Studierenden als aktiv Beteiligte erleben, kurz: das Potenzial dieser diskursiven Lehrveranstaltungsform ausschöpfen. Denn das Seminar ist der Ort, an dem der wissenschaftliche Diskurs erlebbar wird. Hier kann man verstehen, was es bedeutet, gemeinsam zu denken, professionelle Wissensarbeit zu leisten. Doch nicht immer gelingt es, mit den Studierenden produktiv in den vielstimmigen wissenschaftlichen Diskurs einzutauchen, Themen zu erschließen und eigene Fragestellungen zu entwickeln.

Wenn sich Referat an Referat reiht und als Prüfungsleistung abgearbeitet wird, wenn die Diskussion verhalten bleibt und der vorzubereitende Text nicht als Einladung zur kollektiven Auseinandersetzung gesehen wird, verliert das Seminar als Ort der Fachsozialisation seine Kraft. Die wöchentlichen 90 Minuten, sofern Sie keinem anderen Rhythmus folgen, sollten für alle Beteiligten, also auch für Sie als Lehrende, ertragreich sein und für die Studierenden eine gelungene Verbindung zur mindestens genauso umfangreichen Zeit des Selbststudiums herstellen. Spätestens da tauchen sie auf, die Begriffe „Motivation“ und „Selbstmotivation“, also: die Frage „Wie motiviere ich meine Studierenden?“ Das lateinische movere bedeutet „in Bewegung setzen“. Wer motiviert, will also [10] sich oder andere in Bewegung bringen. Motivation speist sich aus Interesse und Neugier, aber auch zu einem Großteil aus dem Gefühl, sich weiterzuentwickeln, die eigenen Kompetenzen zu erweitern. Zudem stärkt es die Motivation, wenn wir uns als Teil einer Gemeinschaft erleben und mitgestalten können. Die Motivationspsychologie spricht hier von sozialer Eingebundenheit und Selbstwirksamkeit. Interesse und Neugier fördern, Entwicklung transparent machen, echte Kooperation und Perspektivenabgleich – darin liegen die wichtigsten Ansatzpunkte nicht nur für eine gelungene Seminargestaltung. Die Ausgangslage für die Seminargestaltung ist denkbar positiv. Ein vertieftes Verständnis von Texten zu entwickeln oder besser zu verstehen, wie gesellschaftliche Prozesse funktionieren, und sich kritisch in die Gesellschaft einzubringen, sind für viele Studierende zentrale Motive, um ein geistesoder sozialwissenschaftliches Studium aufzunehmen. Das Studium ist in seinem Kern eine Schulung des Denkens und ein Trainingsraum für die Auseinandersetzung mit fachlichen Handlungsfeldern und Problemen. Gleichzeitig werden die anfänglichen Novizinnen und Novizen im Laufe des Studiums Teil der Fachgemeinschaft. Lehrende fungieren dabei als Reiseleitung, die sie dabei unterstützen, Orientierung in unbekanntem Gelände zu finden, Sitten und Gebräuche zu verstehen, in die (Fach-)Kultur einzutauchen und zunehmend an der Kommunikation selbständig teilzuhaben. Das setzt Fachwissen, Ortskenntnis und vor allem Kulturbewusstheit voraus.

Mit dem vorliegenden Band möchte ich mit Ihnen einen Blick hinter die Kulissen des wissenschaftlichen Diskurses und auf die mit ihm einhergehenden Formen des Denkens sowie seiner Vermittlung werfen. Gleichzeitig möchte ich Ihnen Anregungen geben, um das Seminar als einen Raum produktiver Wissensarbeit zu gestalten. Denn das Format des geistes- und sozialwissenschaftlichen Seminars ist ein Erprobungsraum par excellence für wissenschaftliche Denk- und Handlungsmuster. Lassen Sie uns also das Seminar vom [11] Diskurs aus betrachten. Das 2. Kapitel lotet daher den Diskursbegriff in Bezug auf Wissenschaft, Lernen, Lehren und Gesellschaft aus, und fragt, warum es sich lohnt, die Diskursfähigkeit sowohl für die wissenschaftliche als auch für die außerwissenschaftliche Praxis zu fördern und zu fordern. Anschließend betrachten wir im 3. Kapitel den Lernort Seminar mit seinen Besonderheiten für Studierende und Lehrende sowie seine unterschiedlichen Ausprägungen. Welchen Charakter hat Ihr Seminar? Kapitel 4 stellt Ihnen das Gerüst einer Seminardidaktik vor. Worauf sollten Sie achten, um hart an der Sache, aber gut im Kontakt mit den Studierenden zu bleiben? Abschließend bietet in Kapitel 5 eine Ideenbörse Beispiele aus der Praxis.

Seminare sind so vielfältig wie die Themen, die sie behandeln, und die Menschen, die sie gestalten. Daher finden Sie in allen Kapiteln Fragen, die Sie bei der Vorbereitung Ihrer Seminare unterstützen sollen.

[12] 2     Die Kunst der Auseinandersetzung

„Kritisches Denken ist nicht nur in der Bildung wichtig, sondern ist genauso sehr Grundlage politischer Auseinandersetzung, nachhaltigen Wirtschaftens und individueller Lebensgestaltung.“

(Kruse, 2017, S. 10)

Die Kunst der Auseinandersetzung – oder die Lust am Diskurs. Dass Menschen sich miteinander auseinandersetzen, ist völlig normal. Dass Studierende zusammen mit der Lehrperson im Seminar miteinander diskutieren, na klar?! Bevor wir uns mit dem Seminar als Ort des Lernens und lustvollen gemeinsamen Denkens beschäftigen, soll dieses Kapitel noch einmal in Erinnerung rufen, dass das Diskursive in vielerlei Hinsicht bereichernd und produktiv ist. In ihm verbinden sich Denken, Lernen, Lehren und Handeln. Wer derart positiv gestimmt auf den Diskurs blickt, kann sich durch ihn fachlich und persönlich entwickeln. Das gilt für Gruppen ebenso wie für die Gesellschaft an sich.

2.1    Der Diskurs – Bedeutung und Herausforderung

Diskurs kann Spaß machen. Ein lebendiger Diskurs ermöglicht neue Zugänge, entfaltet Perspektiven und stabilisiert Bewährtes. Natürlich können Gemeinschaften auch an Diskursen zerbrechen. Welche Dynamik eine solche destruktive Auseinandersetzung entfalten kann, erleben wir gerade in aller Schärfe auf dem politischen Parkett. Umso dringlicher wird es, sich im Diskurs zu schulen, sich zu üben und seinen (Mehr-)Wert jenseits von Selbstprofilierung und Schlagabtausch herauszustellen.

[13] Nun ist der Modebegriff Diskurs recht schillernd im Einsatz, seit er in den 1990er-Jahren seinen Weg über die historische Semantik nach Deutschland gefunden hat. Was ist also darunter zu verstehen? Zum einen richtet sich der Blick auf die konkrete Kommunikationssituation (Bußmann, 2002), in der die Handelnden sich im Gespräch aufeinander beziehen, sich mitteilen, ein Thema entwickeln. Diskurs in diesem Sinne kann aber auch bedeuten, einen Gegenstand in zusammenhängender Rede zu erörtern. Damit sind eine ganze Reihe unterschiedlicher sprachlicher Handlungen verbunden, die situationsabhängig vollzogen werden: informieren, behaupten, schlussfolgern, begründen, einschätzen und beurteilen, um nur einige zu nennen.

Zum anderen lässt sich der Diskursbegriff ausweiten. Dann bezeichnet er „eine Menge von inhaltlich zusammengehörigen Texten oder Äußerungen, die nicht in einer realen Gesprächssituation verknüpft sind“ (ebd., S. 171). Sie bilden gleichsam ein intertextuelles Gespräch einer ganzen Kommunikationsgemeinschaft. Diskurse sind „als Praktiken zu behandeln, die systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen“ (Foucault, 2007, S. 74). Doch kein Diskurs lässt sich darauf beschränken, dass nur ein Thema entfaltet wird. Indem verschiedene Stimmen, Positionen und Geltungsansprüche deutlich werden, bilden Diskurse auch Macht- und Rollenverhältnisse ab, geht es darum, Deutungshoheiten und Geltungsansprüche durchzusetzen. Diese Stimmen beeinflussen sich gegenseitig. Sie können einander stützen, Synergien entwickeln oder entkräften und entlarven. Wo liegt die Wahrheit? Wer hat Recht und/oder Anspruch? Im Rahmen dieser diskursiven Aushandlungsprozesse bilden sich Muster aus, die mehr oder weniger typisch umgesetzt werden. Regeln werden implizit und explizit angewendet. Im Idealfall dominiert die kooperative Wahrheitssuche, bei der „problematisch gewordene Geltungsansprüche zum Thema gemacht und auf ihre Berechtigung hin untersucht werden“ (Habermas, 1995, S. 130) und im Prozess die besten Argumente überzeugen.

[14] In der Realität kommt allerdings kein Diskurs ohne Emotionalität aus, die sich im Übrigen auch in Fachtexten nachweisen lässt (Jahr, 2000). Es ist eine conditio humana, dass alles, was wir tun und erleben, mit emotionalen Markern verknüpft im Gedächtnis verankert wird und unser zukünftiges Denken und Handeln beeinflusst (u.a. Damásio, 1994; Roth, 2015). Sachen, Themen oder Gedanken gewinnen für uns an Bedeutung, weil sie mit Emotionen verbunden sind. Ansonsten blieben wir unberührt und gleichgültig. Emotionen sind folglich wichtig, um Bedeutung und am Ende Motivation zu erzeugen. Alltagssprachlich nennen wir das ‚mit ganzem Herzen bei der Sache sein‘ oder etwas ‚bewegt‘ uns. Im Beruf und in der Wissenschaft im Besonderen betonen wir oft die nüchterne Sachlichkeit. Doch genauer betrachtet ist Wissenschaft ohne Emotionen undenkbar. Wissenschaftler*innen müssen neugierig sein, um Fragen zu stellen. Sie sind frustriert, wenn eine Erhebung ins Stocken gerät oder die Daten unbrauchbar sind. Sie werden von Glück durchflutet, wenn sie die fertige Publikation in der Hand halten, oder können sich für die Schönheit einer Formel begeistern. Wissenschaft ist ein hochgradig emotionales Feld. Nur muss man lernen, mit der emotionalen Seite umzugehen. Das heißt Gefühle wahrzunehmen, zu erkennen, wie sie uns beeinflussen, und sicherzustellen, dass sie das eigene Schlussfolgern oder die Interpretation von Forschungsergebnissen nicht unbewusst lenken. Beispielsweise ringen Studienanfänger*innen in der Literaturwissenschaft damit, einen literarischen Text nüchtern struktur- oder stilanalytisch zu sezieren, ohne dabei ihre persönliche Interpretation und Bewertung ins Spiel zu bringen. Denn obwohl sie ein wichtiger Antrieb sind, reichen Emotionen in der fachlichen bzw. wissenschaftlichen Auseinandersetzung nicht aus, um stichhaltige Begründungen zu liefern.

Zurück zum Diskursbegriff: Diskurs umfasst also ebenso ein kurzes Gespräch wie ein ganzes Netz von Aussagen zu einer Thematik über einen längeren Zeitraum. Zwischen diesen beiden Polen erstreckt sich ein ganzes Spektrum an Komplexität. Die zentrale Kenngröße in jedem Diskurs sind Gedanken, [15] die entwickelt und sprechend oder schreibend in Austausch gebracht werden. Gedanken haben als Ergebnis geistiger Prozesse sowohl eine kognitiv-psychologische als auch bezogen auf den Austausch eine soziale Dimension. Gedanken sind, solange sie implizit bleiben, schwer zu fassen. Aus dem Blitzlichtgewitter unseres verkürzten, unausgesprochenen Denkens müssen wir einen klaren Gedanken formen, den wir zunächst nur für uns auf seinen Wahrheitsgehalt und seine Bedeutung hin überprüfen. Die Quelle des Gedankens liegt jedoch weniger im Individuum, sondern im sozialen Umfeld (Ammon, 2009; Kern, 2006; Riethmüller, 2012), das uns und unsere Vorstellungen prägt. Mit dem kommunikativen Akt des Kundtuns wird der Gedanke wiederum Teil eines Diskurses, im engeren Sinne eines Fachgesprächs, später vielleicht im weiteren Sinne Teil kollektiver Wissensentwicklung. Im Alltag vollzieht sich das Formen und gelegentlich das Ausdrücken von Gedanken durchaus in Sekundenbruchteilen – was nicht immer vorteilhaft ist. Gelegentlich denken wir länger nach, bevor wir uns äußern oder handeln. Spätestens wenn wir an Texten arbeiten, spüren wir, dass es manchmal ein langer Weg von dem im Kopf bewegten Gedanken bis zum niedergeschriebenen Satz ist. Schreiben ist daher das wichtigste, allerdings nicht das einzige Denktraining. Auf dem Bildschirm sichtbar gemacht, können wir unsere Argumente in Ruhe schreibdenkend ausformen. Schreibdenken ist ein produktives Mittel in vielerlei Hinsicht, wie Ulrike Scheuermann (2016) darlegt. Gleichzeitig ist das Schreiben eng an das Lesen gekoppelt und verhilft dabei sowohl zu einem besseren Verständnis als auch zu weiterführenden Gedanken in entsprechender Anschlusskommunikation. Davon profitieren wir auch, wenn wir uns in Gespräch oder Diskussion aus der Dynamik der Situation heraus zu Wort melden.

Im Diskurs entfaltet der Gedanke seine soziale Dimension, wenn er von anderen nachvollzogen, eingeordnet und bewertet wird, wenn er den Ausgangs- oder Reibungspunkt für neue Gedanken bildet. Zwar ist das Mündliche in der konkreten Kommunikationssituation flüchtig, aber die persönliche [16] Präsenz – und sei sie auch eingeschränkt medial per Telefon oder Videokonferenz vermittelt – ermöglicht eine direkte Rückkopplung zwischen den Sprechenden. Abhängig vom Kontext bedienen wir beim Sprechen unterschiedliche kommunikative Register. Im Freundeskreis diskutiert man anders als mit einem Fachpublikum auf einer Tagung oder mit der Dozentin im Seminar. Weder das Reden noch das Schreiben kann ohne Klarheit im Denken, ohne kritische Analyse und Reflexion im professionellen Kontext seine volle Reichweite entfalten. Beide Fertigkeiten können nur im Tun erlernt werden. Das ist für die direkte Kommunikation genauso wichtig wie für die Teilhabe am Diskurs im weiteren Sinne.