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Thriller-Hochspannung vom Allerfeinsten: ein weiterer atemloser Bestseller von Megan Miranda!
Ein idyllischer Ferienort am Meer. Der letzte Abend des Sommers. Ein lebloser Körper am Fuß der Klippen …
Es ist das letzte Wochenende des Sommers, bevor die wohlhabenden Feriengäste das Küstenstädtchen Littleport wieder verlassen und der Ort in seinen düsteren Winterschlaf fällt. Die Freundinnen Sadie und Avery wollen zusammen auf eine Party gehen – doch Sadie taucht nie dort auf. Noch in der gleichen Nacht wird ihre Leiche an die rauen Klippen gespült. Für Avery bricht eine Welt zusammen. Sadie war ihr Anker, als sie ihre Eltern und kurz darauf ihre Großmutter verlor. Die Polizei legt den Fall bald als Selbstmord zu den Akten. Doch Avery stößt auf Beweise, dass Sadie umgebracht wurde – nur deuten sie alle auf sie selbst als Täterin hin. Versucht ihr jemand die Schuld an Sadies Tod anzuhängen? Der Sommer ist vorbei, und ein Sturm zieht auf über Littleport, Maine …
»Der ultimative Thriller! Spannung bis zur letzten Seite.« Reese Witherspoon (»Reese's Book Club«)
Megan Mirandas packender Thriller »Das Sommerhaus« ist zuvor im Paperback unter dem Titel »Perfect Secret« erschienen.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 447
MEGAN MIRANDA zählt in ihrem Heimatland USA zu den erfolgreichsten Thriller-Autorinnen. Auch in Deutschland ist sie regelmäßig auf den Bestsellerlisten zu finden. Ihr Markenzeichen sind clevere Plottwists, die selbst ihre größten Fans nicht kommen sehen – bis zur letzten Seite. So garantiert auch Das Sommerhaus atemlose Spannung mit Gänsehautfaktor. Megan Miranda lebt mit ihrer Familie in North Carolina.
Begeisterte Stimmen über Megan Mirandas Thriller:
»Der ultimative Thriller! Spannung bis zur letzten Seite.« Reese Witherspoon (»Reese’s Book Club«) über Das Sommerhaus
»Eine Geschichte so verschlungen und düster wie der titelgebende Pfad selbst. Mit dem tiefsten Unbehagen als Wegbegleiter … Ich verpasse kein Buch von Megan Miranda, und Sie sollten das auch nicht tun. Das ist richtig hohe Thriller-Kunst.« Romy Hausmann über Der Pfad
»Megan Miranda steht für atemraubende Twists und überraschende Wendungen.« New York Times
Außerdem von Megan Miranda lieferbar:
TICK TACK. Wie lange kannst du lügen?
LITTLE LIES. Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht
BAD DREAMS. Deine Träume lügen nicht
DER PFAD
www.penguin-verlag.de
Megan Miranda
DAS SOMMERHAUS
Thriller
Aus dem Amerikanischen von Cathrin Claußen
Das Sommerhaus ist zuvor unter dem Titel Perfect Secret im Penguin Verlag erschienen.
Die Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel The Last House Guest bei Simon & Schuster, New York.
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Copyright © 2019 by Megan Miranda
Copyright © 2020 der deutschsprachigen Ausgabe by Penguin Verlag
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Redaktion: Barbara Raschig
Umschlaggestaltung: Favoritbuero
Umschlagabbildung: Trevillion/Yolande De Kort
Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln
ISBN 978-3-641-32071-3V001
www.penguin-verlag.de
Für Rachel
Sommer 2017
Fast wäre ich noch einmal umgekehrt wegen ihr. Als sie nicht auftauchte. Nicht ans Handy ging. Nicht auf meine Nachricht antwortete.
Aber ich hatte schon etwas getrunken, und mein Auto war zugeparkt, und es war mein Job, ein Auge auf alles zu haben. Ich hatte dafür zu sorgen, dass die Nacht glattlief.
Und überhaupt hätte sie mich ausgelacht, wenn ich zurückgekommen wäre. Hätte die Augen verdreht. Gesagt Ich hab schon eine Mutter, Avery.
Alles Ausreden, ich weiß.
Ich war als Erste auf der Aussichtsfläche angekommen.
Die Party fand dieses Jahr in einem Ferienhaus dort in der Sackgasse statt, in einem Drei-Zimmer-Haus am Ende einer langen mit Bäumen gesäumten Straße, kaum genug Platz, dass zwei Autos aneinander vorbeifahren konnten. Die Lomans hatten es Blue Robin genannt, wegen der blassblauen Schindelverkleidung und weil das quadratische Dach aussah wie das Oberteil eines Vogelhäuschens. Auch wenn ich fand, dass es eher passte, weil es ein wenig zurück zwischen den Bäumen lag, wie ein Farbblitz aus dem Abseits, den man nicht richtig sehen konnte, bis man direkt davorstand.
Es war nicht die schönste Lage oder die mit dem besten Ausblick – zu weit weg, um das Meer zu sehen, gerade nah genug, um es zu hören –, aber es lag am entferntesten von der Frühstückspension weiter unten an der Straße, und die Terrasse war umgeben von dicht an dicht gepflanzten immergrünen Sträuchern, sodass hoffentlich niemand etwas bemerken oder sich beschweren würde.
Die Sommerhäuser der Lomans sahen von innen sowieso alle gleich aus, von Besichtigungstouren kam ich manchmal ganz desorientiert zurück: eine Verandaschaukel statt der Steinstufen; das Meer statt der Berge. Jedes Haus hatte den gleichen Fliesenboden, den gleichen Granitton, den gleichen hochwertig-rustikalen Stil. Und alle Wände waren geschmückt mit Szenen aus Littleport: der Leuchtturm, die im Hafen tanzenden weißen Masten, die schaumgekrönten Wellen, die auf beiden Seiten an die Klippen schlugen. Eine untergegangene Küste wurde sie genannt – aus dem Ozean ragende Landzungen, die felsige Küstenlinie im Versuch, der Brandung standzuhalten, mit den Gezeiten in der Ferne auftauchende und wieder verschwindende Inseln.
Ich verstand es, wirklich. Wozu die langen Wochenendfahrten aus den Städten oder die zeitweiligen Umzüge während der Sommersaison; woher kam die Exklusivität eines Ortes, der so klein und bescheiden wirkte? Er war aus der unberührten Wildnis geschnitten, Berge auf der einen Seite, das Meer auf der anderen, nur zugänglich über eine einzige Küstenstraße und mit Geduld. Littleport existierte aus purer Sturheit, wehrte sich von beiden Seiten gegen die Natur.
Hier aufzuwachsen gab dir das Gefühl, du seist aus genau diesem Eisen geschmiedet.
Ich leerte die Kiste mit den übrig gebliebenen Alkoholika aus dem Haupthaus und stellte alles auf die Granitkücheninsel, räumte zerbrechliche Deko weg, schaltete die Poolbeleuchtung an. Dann schenkte ich mir einen Drink ein, setzte mich auf die hintere Terrasse und lauschte den Klängen des Ozeans. Ein kühle Herbstbrise huschte durch die Bäume, und ich zitterte, wickelte meine Jacke fester um mich.
Diese jährliche Party stand immer auf der Kippe von irgendetwas – ein letzter Kampf gegen den Wechsel der Jahreszeiten. Der Winter setzte sich einem hier in den Knochen fest, dunkel und endlos. Er kam, sobald die Gäste abgereist waren.
Aber zuerst noch das hier.
Eine weitere Welle barst in der Ferne. Ich schloss die Augen, zählte die Sekunden. Wartete.
Heute Nacht waren wir hier, um die Sommersaison auszuläuten, doch sie war bereits ins Meer hinausgespült worden, ohne uns um Erlaubnis zu bitten.
Luciana tauchte auf, gerade als die Party so richtig in Schwung war. Ich hatte sie nicht hereinkommen sehen, aber da stand sie, allein in der Küche, unsicher. Sie stach heraus, groß und unbeweglich mitten in der ganzen Action, nahm alles auf. Ihre erste Plus-One-Party. So anders, das wusste ich, als die Partys, zu denen sie während der ganzen Saison gegangen war, ihre Einführung in die Welt der Sommer in Littleport, Maine.
Ich berührte sie am Ellbogen, mir war immer noch irgendwie kalt. Sie zuckte zusammen und drehte sich zu mir um, atmete dann aus, als wäre sie froh, mich zu sehen. »Das ist nicht ganz, was ich erwartet hatte«, sagte sie.
Sie war zu sehr herausgeputzt für diesen Anlass. Das Haar gelockt, enge Hose, hohe Absätze.
Ich lächelte. »Ist Sadie mit dir gekommen?« Ich sah mich im Zimmer um nach dem vertrauten dunkelblonden, in der Mitte gescheitelten Haar, den dünnen Zöpfen, von den Schläfen geflochten und hinten mit einer Spange zusammengehalten, Kind einer anderen Ära. Ich stellte mich auf die Zehenspitzen und horchte nach dem Klang ihres Lachens.
Luce schüttelte den Kopf, dunkle Locken wellten sich über ihre Schultern. »Nein, ich glaube, sie war immer noch am Packen. Parker hat mich abgesetzt. Er wollte das Auto an der Pension stehen lassen, damit wir später besser rauskommen.« Sie zeigte in die grobe Richtung der Point-Frühstückspension, eines umgebauten viktorianischen Acht-Zimmer-Hauses an der Spitze der Aussichtsfläche, inklusive einer Menge Türmchen und einer umlaufenden Dachterrasse. Von dort aus konnte man fast ganz Littleport sehen – zumindest alles, was wichtig war –, vom Hafen bis zu dem sandigen Streifen von Breaker Beach, dessen Klippen ins Meer ragten, und wo die Lomans am nördlichen Ende des Ortes lebten.
»Er sollte da nicht parken«, sagte ich und hatte schon mein Telefon in der Hand. So viel dazu, dass die Besitzer der Pension nichts mitkriegen sollten – wenn Leute jetzt anfingen, ihre Autos auf deren Parkplatz abzustellen.
Luce zuckte die Achseln. Parker Loman tat, was Parker Loman tun wollte, er kümmerte sich nie um irgendwelche Konsequenzen.
Ich horchte in mein Handy und verdeckte mit einer Hand mein freies Ohr. Über die Musik hinweg konnte ich es kaum klingeln hören.
Hi, das ist der Anschluss von Sadie Loman …
Ich drückte auf Auflegen und steckte das Telefon wieder in die Tasche, dann reichte ich Luce einen roten Plastikbecher. »Hier«, sagte ich. Was ich eigentlich meinte war: Mein Gott, atme mal tief durch und entspann dich, aber das überstieg schon meinen normalen Gesprächsumfang mit Luciana Suarez. Vorsichtig hielt sie den Becher, während ich die halb leeren Flaschen herumschob und nach Whiskey suchte – ihrem Lieblingsgetränk. Eine Sache, die ich wirklich an ihr mochte.
Nachdem ich ihr eingeschenkt hatte, runzelte sie die Stirn und sagte: »Danke.«
»Kein Problem.«
Eine ganze Saison zusammen, und sie wusste immer noch nicht, was sie von mir halten sollte, der Frau, die in dem Gästehaus neben der Sommerresidenz ihres Freundes wohnte. Freundin oder Feindin. Verbündete oder Gegnerin.
Dann schien sie sich für etwas entschieden zu haben, denn sie beugte sich ein bisschen näher zu mir, als wäre sie bereit, mich in ein Geheimnis einzuweihen. »Ich versteh es immer noch nicht wirklich.«
Ich grinste. »Wirst schon sehen.« Sie hatte die Plus-One-Party schon infrage gestellt, seit Parker und Sadie ihr davon erzählt und ihr mitgeteilt hatten, dass sie nicht mit ihren Eltern zusammen am Labour Day abreisen, sondern noch die Woche nach Ende der Saison bleiben würden – wegen einer letzten Nacht für diejenigen, die während der gesamten Sommersaison hier gewesen waren. Einer Nacht, die überschwappte in das Leben der Menschen, die hier das ganze Jahr über wohnten.
Anders als die Partys, zu der die Lomans Luce den ganzen Sommer über mitgenommen hatten, würde es auf dieser Party keine Caterer, keine Hostessen, keine Barkeeper geben. Stattdessen würde man eine Mixtur aus den übrig gebliebenen Drinks der Gäste trinken, die ihre Kühlschränke und Vorratskammern geleert hatten. Nichts passte zusammen. Nichts hatte einen festen Platz. Es war eine Nacht der Exzesse, ein langer Abschied, neun Monate, um zu vergessen und zu hoffen, dass auch andere vergaßen.
Die Plus-One-Party war sowohl exklusiv als auch nicht. Es gab keine Gästeliste. Wenn du davon gehört hattest, warst du dabei. Die Erwachsenen mit echter Verantwortung waren bis dahin alle in ihren normalen Alltag zurückgekehrt. Die jüngeren Kinder mussten wieder zur Schule, und deren Eltern waren zusammen mit ihnen abgereist. Diejenigen, die zurückblieben, waren also im Collegealter und darüber, noch zogen die Verpflichtungen des Lebens sie nicht fort oder waren sie Partys wie diesen hier entwachsen.
Heute Nacht machten die Umstände uns gleich, und man konnte vom bloßen Hinsehen nicht sagen, wer hier wohnte und wer Tourist war.
Luce sah wiederholt auf ihre edle Goldarmbanduhr, die sie dabei jedes Mal über ihr Handgelenk vor- und zurückschob. »Mein Gott«, sagte sie, »er braucht echt ewig.«
Irgendwann traf Parker ein, er erblickte uns schon von der Türschwelle aus. Alle Köpfe wandten sich ihm zu, wie es oft passierte, wenn Parker Loman einen Raum betrat. Es lag an seiner perfektionierten Körperhaltung, dieser Abgehobenheit, die er entwickelt hatte, damit alle auf den Zehenspitzen stehen blieben.
»Sie werden das Auto bemerken«, sagte ich, als er zu uns kam.
Er beugte sich herunter und legte einen Arm um Luce. »Du machst dir zu viele Sorgen, Avery.«
Das tat ich, aber nur, weil er sich nie Gedanken darüber machte, wie er auf die andere Seite wirkte – auf die Menschen, die hier lebten und Leute wie ihn sowohl brauchten als auch verabscheuten.
»Wo ist Sadie?«, fragte ich über die Musik hinweg.
»Ich dachte, du nimmst sie mit.« Er zuckte die Achseln und sah dann über meine Schulter irgendwohin. »Sie hat mir vorhin gesagt, ich solle nicht auf sie warten. Ich nehme an, das war Sadie-Sprache für Ich komme nicht.«
Ich schüttelte den Kopf. Sadie hatte noch nie eine Plus-One verpasst, in all den Jahren nicht, seit wir zusammen hingingen, seit dem Sommer, als wir achtzehn waren.
Heute früh hatte sie die Tür zum Gästehaus ohne zu Klopfen aufgerissen, aus dem vorderen Zimmer meinen Namen gerufen, dann noch einmal, als sie in mein Schlafzimmer kam, wo ich mit dem geöffneten Laptop auf der weißen Überdecke saß, in meiner Pyjamahose und einem langärmeligen Thermoshirt, Haare in einem Knoten auf dem Kopf.
Sie war bereits für den großen Tag angezogen – blaues Slip-Dress und goldene Riemchensandalen –, während ich meinen Pflichten für die Grant-Loman-Hausverwaltungsgesellschaft nachging. Sadie hatte eine Hand auf die Hüfte gestützt, sodass ich ihre vorspringenden Knochen sehen konnte, und gesagt: Was halten wir davon? Das Kleid schmiegte sich an jede Linie und Kurve.
Ich rutschte weiter in meine Kissen zurück, zog die Knie an, dachte, sie würde bleiben. Du wirst erfrieren, das weißt du, oder?, sagte ich. Die Temperatur war die letzten Abende gesunken – ein Vorbote des Verlassenwerdens, wie die Einwohner es nannten. In einer Woche würden die Restaurants und Geschäfte am Harbor Drive die Öffnungszeiten ändern, während die Landschaftsgärtner zu Schulhausmeistern und Busfahrern wurden und die Jugendlichen, die sich als Kellnerinnen und Deckarbeiter verdingt hatten, sich zu den Hängen von New Hampshire aufmachten, um Skiunterricht zu geben. Der Rest von uns war daran gewöhnt, den Sommer auszusaugen, als wollten wir vor einer Dürre Wasservorräte sammeln.
Sadie verdrehte die Augen. Ich hab schon eine Mutter, sagte sie, aber dann ging sie meinen Schrank durch und warf sich einen schokoladenbraunen Pulli über, der sowieso ihr gehörte. Er machte ihr Outfit zu einer perfekten Mischung aus elegant und lässig. Ohne Aufwand. Sie drehte sich zur Tür um, fuhr sich mit den Fingern durch die Haarspitzen, schäumte über vor Energie.
Wofür sonst hätte sie sich fertig machen sollen, wenn nicht für das hier?
Durch die offenen Terrassentüren sah ich Connor am Poolrand sitzen, die Jeans hochgekrempelt und die nackten Füße im Wasser baumelnd, blau leuchtend vom Licht darunter. Fast wäre ich zu ihm gegangen und hätte ihn gefragt, ob er sie gesehen hat, aber das war nur, weil der Alkohol mich sentimental werden ließ. Doch ich besann mich eines Besseren. Er erwischte mich, wie ich ihn anstarrte, und ich drehte mich weg. Ich hatte einfach nicht erwartet, ihn hier zu sehen, das war alles.
Ich zog mein Telefon hervor, schickte Sadie eine Nachricht: Wo bist du?
Ich betrachtete immer noch das Display als ich plötzlich die Punkte sah, die bedeuteten, dass sie eine Antwort schrieb. Dann hörten sie auf, aber keine Nachricht erschien.
Ich schickte noch eine:???
Keine Antwort. Ich starrte noch eine weitere Minute auf das Display, bevor ich das Telefon wegsteckte und annahm, dass sie auf dem Weg war, trotz Parkers Behauptung.
In der Küche tanzte jemand. Parker warf den Kopf zurück und lachte. Die Magie begann.
Eine Hand berührte meinen Rücken, ich schloss die Augen und lehnte mich dagegen, wurde eine andere.
So laufen diese Dinge eben.
Bis Mitternacht war alles bruchstückhaft und nebelig geworden, trotz der geöffneten Terrassentüren stand die Luft im Raum vor Hitze und Gelächter. Parker fing meinen Blick über die Köpfe der Menge hinweg auf und nickte leicht in Richtung Vordereingang. Warnte mich.
Ich folgte seinem Blick. Zwei Polizisten standen in der offenen Tür, die kalte Luft ließ uns nüchtern werden, als ein Windstoß vom Vorder- bis zum Hintereingang strömte. Keiner der Männer hatte eine Mütze auf, als versuchten sie, sich unter die Leute zu mischen. Ich ahnte schon, dass das an mir hängen bleiben würde.
Das Haus lief auf den Namen Loman, aber ich war als Immobilienmanagerin angegeben. Noch wichtiger war, dass ich diejenige war, von der erwartet wurde, die zwei Welten hier zu steuern, als würde ich beiden angehören, obwohl ich in Wahrheit nirgendwohin gehörte.
Ich kannte die beiden Männer, aber nicht gut genug, um mich an ihre Namen zu erinnern. Ohne die Sommergäste hatte Littleport eine Einwohnerzahl von unter dreitausend. Es war offensichtlich, dass auch sie mich erkannten. Als ich achtzehn, neunzehn gewesen war, hatte ich ständig in Schwierigkeiten gesteckt, und die Polizisten waren alt genug, um sich daran zu erinnern.
Ich wartete ihre Beschwerde nicht ab. »Es tut mir leid«, sagte ich und bemühte mich, meine Stimme fest und sicher klingen zu lassen. »Ich sorge dafür, dass der Lärmpegel reduziert wird.« Ich machte bereits Zeichen, dass jemand die Lautstärke drosseln solle.
Aber die Polizisten interessierten sich nicht für meine Entschuldigung. »Wir suchen Parker Loman«, sagte der kleinere der beiden und blickte in die Menge. Ich drehte mich zu Parker um, der sich bereits zu uns durchdrängte.
»Parker Loman?«, fragte der größere Polizist, als er in Hörweite war. Natürlich wussten sie, dass er es war.
Parker nickte, der Rücken gerade. »Was kann ich für Sie tun, Gentlemen«, sagte er und verwandelte sich in den Geschäftsmann Parker, sogar als eine Strähne seines dunklen Haars ihm ins Auge fiel; der Schweißfilm ließ sein Gesicht heller leuchten.
»Wir müssen draußen mit Ihnen reden«, sagte der größere Mann, und Parker, immer zuvorkommend, wusste, was er zu tun hatte.
»Natürlich«, sagte er, kam aber nicht näher. »Können Sie mir zuerst sagen, worum es geht?« Er wusste auch, wann er sprechen und wann er nach einem Anwalt verlangen musste. Sein Telefon hatte er bereits in der Hand.
»Um Ihre Schwester«, sagte der Polizist, und der Blick des kleineren Mannes glitt zur Seite. »Sadie.« Er winkte Parker näher heran, senkte die Stimme, sodass ich nicht verstehen konnte, was sie sagten, aber alles veränderte sich. Die Art wie Parker stand, sein Ausdruck, das Handy, das er schlaff an seiner Seite herunterhängen ließ. Ich trat dichter heran, etwas flatterte in meiner Brust. Das Ende des Gesprächs bekam ich mit. »Was hatte sie an, als Sie sie zuletzt gesehen haben?«, fragte der Beamte.
Parker verengte die Augen. »Ich weiß nicht …« Er sah sich im Zimmer hinter sich um, als erwartete er, dass sie hereingeschlüpft war, ohne dass es jemand von uns bemerkt hatte.
Ich verstand die Frage nicht, aber ich wusste die Antwort. »Ein blaues Kleid«, sagte ich. »Brauner Pullover. Goldene Sandalen.«
Die Männer in Uniform tauschten einen schnellen Blick, traten dann zur Seite und ließen mich in ihren Kreis. »Irgendwelche besonderen Kennzeichen?«
Parker kniff die Augen zu. »Warten Sie«, sagte er, als könne er dem Gespräch eine andere Wendung geben, den unvermeidbaren Kurs der folgenden Ereignisse ändern.
»Ja, das hat sie, oder?«, sagte Luce. Ich hatte nicht bemerkt, dass sie da stand; Parkers Schulter verdeckte sie. Ihr Haar war zurückgebunden, und ihr Make-up war etwas verlaufen, bildete schwache Ringe unter ihren Augen. Luce trat vor, ihr Blick huschte zwischen Parker und mir hin und her. Sie nickte, mehr zu sich selbst. »Ein Tattoo«, sagte sie. »Genau hier.« Sie zeigte auf die Stelle an ihrem eigenen Körper, etwas oberhalb der linken Leiste. Sie zog mit dem Finger die Umrisse einer liegenden Acht – das Symbol der Unendlichkeit.
Der Polizist spannte den Kiefer an, und in dem Moment verschwand der Boden unter unseren Füßen wie in einem Strudel.
Wir hatten den Anker verloren, waren kleine Boote im Ozean, und ich hatte wieder so ein Gefühl, als sei ich seekrank, ich hatte es nie so ganz überwinden können, nachts auf dem Wasser, obwohl ich so nah an der Küste aufgewachsen war. Eine orientierungslose Dunkelheit ohne Bezugsrahmen.
Der größere Polizist legte Parker eine Hand auf den Arm. »Ihre Schwester wurde am Breaker Beach gefunden …«
Der Raum summte, und Luce hielt sich die Hand vor den Mund, aber ich war immer noch nicht sicher, was sie sagten. Was Sadie am Breaker Beach gemacht hatte. Ich sah sie vor mir, barfuß tanzend. Nackt badend im eiskalten Wasser als Mutprobe. Ihr Gesicht erleuchtet von einem Lagerfeuer, das wir mit Treibholz errichtet hatten.
Hinter uns ging die halbe Party weiter, aber die Geräusche wurden leiser. Die Musik – gekappt.
»Rufen Sie bitte Ihre Eltern an«, fuhr der Polizist fort. »Sie müssen alle auf die Wache kommen.«
»Nein«, sagte ich, »sie …« … packt … macht sich fertig … ist auf dem Weg. Die Augen des Polizisten weiteten sich, und er sah auf meine Hände hinunter. Ich hatte ihn am Ärmel seines Hemdes gepackt, meine Fingerspitzen waren bleich.
Ich ließ los, trat einen Schritt zurück, stieß gegen jemanden. Die Punkte auf meinem Telefon – sie hatte mir geschrieben. Die Polizisten mussten sich täuschen. Ich zog mein Telefon heraus, um nachzusehen. Aber meine Fragezeichen an Sadie waren unbeantwortet geblieben.
Parker drängte sich an den Männern vorbei, raste zur Vordertür hinaus, verschwand hinter dem Haus, lief den Weg zur Pension entlang. In dem Tumult konnte man uns nicht aufhalten. Luce und ich rannten ihm nach durch die Bäume, holten ihn auf dem Schotterparkplatz schließlich ein und sprangen in sein Auto.
Als wir an den dunklen Ladenfenstern vorbeifuhren, die den Harbour Drive säumten, war das einzige Geräusch das periodische Hicksen in Luces Atmen. Ich lehnte mich dichter ans Fenster, als wir in die Kurve bogen, die nach Breaker Beach führte, vor uns blinkten Lichter, Streifenwagen blockierten die Einfahrt zum Parkplatz. Aber ein Polizist, der hinter den Dünen Wache stand, bedeutete uns mit einem Leuchtstab weiterzufahren.
Parker wurde noch nicht einmal langsamer. Er fuhr die Steigung der Landing Lane bis zum Haus am Ende der Straße hinauf, das dunkel hinter der von Steinen gesäumten Auffahrt stand.
Er hielt das Auto an und ging sofort ins Haus – entweder, um nach Sadie zu suchen, weil er es ebenfalls nicht glauben konnte, oder um seine Eltern ungestört anzurufen. Luce folgte ihm langsam die Vordertreppe hinauf, aber zuerst blickte sie über ihre Schulter zu mir.
Ich stolperte um die Ecke des Hauses, eine Hand an der Verkleidung, um mich abzustützen, ging am schwarzen Zaun vorbei, der den Pool umgab, direkt zum Küstenweg darunter. Der Pfad führte am Rand der Klippen entlang, bis diese abrupt an der nördlichen Spitze von Breaker Beach endeten. Aber es gab ein paar Stufen, die dort in den Stein gehauen waren und in den Sand hinunterführten.
Ich wollte den Strand selbst sehen, um es zu glauben. Sehen, was die Polizei da unten machte. Sehen, ob Sadie mit ihnen stritt. Ob wir etwas missverstanden hatten. Auch wenn ich es da schon besser wusste. Dieser Ort – er nahm mir die Menschen. Und ich war so leichtfertig gewesen, das zu vergessen.
Links hörte ich die Wellen an die Klippen schlagen, konnte vor mir sehen, wie das Wasser im Tageslicht voller Kraft schäumte. Aber jetzt war alles dunkel, und ich bewegte mich nur mithilfe von Geräuschen. In der Ferne hinter dem Point blinkte regelmäßig der Leuchtturm, in dem sich das Licht drehte, und ich lief darauf zu wie benommen.
Direkt vor mir in der Dunkelheit war Bewegung, weiter unten auf dem Klippenpfad. Eine Taschenlampe leuchtete in meine Richtung, sodass ich einen Arm heben musste, um meine Augen abzuschirmen. Der Schatten eines Mannes kam auf mich zu, sein Walkie-Talkie knisterte. »Ma’am, Sie dürfen nicht hier draußen sein«, sagte er.
Die Taschenlampe schwenkte zurück, und da sah ich sie, ein Funkeln, in einem Lichtstrahl gefangen. Es war, als kippte der Erdboden zur Seite.
Ein bekanntes Paar goldener Riemchensandalen, ausgezogen direkt an der Felskante.
Sommer 2018
Im Morgengrauen braute sich vor der Küste ein Sturm zusammen. Ich sah ihn in den dicht über dem Horizont hängenden dunklen Wolkenbergen kommen. Fühlte ihn im Wind, der aus Norden blies, kälter als die Abendluft. In der Wettervorhersage hatte ich nichts gehört, aber bei einer Sommernacht in Littleport hatte das nichts zu bedeuten.
Ich trat vom Steilufer zurück, stellte mir wie so oft vor, Sadie stünde hier. Ihr blaues Kleid flatternd im Wind, das blonde Haar über ihr Gesicht geweht, den Blick starr in die Ferne gerichtet. Die Zehen um die Kante gekrallt, eine leichte Gewichtsverlagerung. Dieser Moment – der Angelpunkt, an dem ihr Leben die Balance verlor.
Was hätte sie mir wohl gesagt, da am Abgrund? Es gibt Dinge, die sogar du nicht weißt.
Ich kann das nicht mehr.
Behalte mich in Erinnerung.
Aber eigentlich war die Stille auf perfekte und tragische Weise typisch für Sadie Loman, sie ließ alle mit dem Wunsch nach mehr zurück.
Das weitläufige Anwesen der Lomans hatte sich einmal wie ein Zuhause angefühlt, warm und tröstlich – das Steinfundament, die blaugraue Schindelverkleidung, Türen und Fensterrahmen weiß gestrichen und an Sommerabenden jedes Fenster erleuchtet, als wäre das Haus lebendig. Jetzt reduziert auf eine dunkle und leere Hülle.
Im Winter war es leichter gewesen, sich etwas vorzumachen: sich um die Instandhaltung der Grundstücke im Ort kümmern, die zukünftigen Buchungen verwalten, den Neubau überwachen. Die Stille der Nebensaison war ich gewohnt, die schwelende Ruhe. Aber in der Sommerhektik, mit den Besuchern, wenn ich immer auf Abruf stand, ein Lächeln im Gesicht, die Stimme zuvorkommend – dann bot das Haus einen krassen Kontrast. Eine Abwesenheit, die spürbar war, wie ein Geist.
Wenn ich nun abends auf dem Weg zum Gästehaus daran vorbeiging, ließ irgendetwas mich immer zweimal hinschauen – eine verschwommene Bewegung. Für einen schrecklichen, schönen Moment dachte ich: Sadie. Aber das Einzige, was ich je in den dunklen Fenstern erblickte, war mein verzerrtes Spiegelbild, das mich ansah. Mein ganz persönlicher Spuk.
In den Tagen nach Sadies Tod blieb ich hier draußen am Ortsrand und kam nur, wenn ich aufgefordert wurde, sprach nur, wenn ich angesprochen wurde. Alles spielte eine Rolle, und nichts.
Ich machte bei den beiden Männern, die am nächsten Morgen an meine Tür klopften, meine gestelzte Aussage über jene Nacht. Der zuständige Detective war der gleiche Mann, der mich in der Nacht zuvor bei den Klippen entdeckt hatte. Sein Name war Detective Collins, und jede gezielte Frage kam von ihm. Er wollte wissen, wann ich Sadie zuletzt gesehen hatte (hier im Gästehaus, um Mittag herum), ob sie mir ihre Pläne für den Abend mitgeteilt hatte (hatte sie nicht), wie sie sich an dem Tag verhalten hatte (wie Sadie).
Aber meine Antworten hinkten unnatürlich hinterher, als wäre eine Verbindung beschädigt. Ich hörte mich selbst wie von fern, während die Befragung stattfand.
Sie, Luciana und Parker sind alle getrennt auf der Party eingetroffen. Wie lief das noch mal ab?
Ich war zuerst da. Luciana kam als Nächste. Parker zuletzt.
Hier eine Pause. Und Connor Harlow? Wir haben gehört, er war auch auf der Party.
Ein Nicken. Eine Lücke. Connor war auch da.
Ich erzählte ihnen von der Nachricht, zeigte ihnen mein Handy, versicherte, dass sie mir geschrieben hatte, als wir alle schon zusammen auf der Party waren. Wie viel hatten Sie bis dahin schon getrunken?, fragte Detective Collins. Und ich sagte zwei Drinks und meinte drei.
Er riss ein Blatt liniertes Papier aus seinem Notizblock, listete unsere Namen auf und bat mich, die Ankunftszeiten einzutragen, so gut ich konnte. Ich schätzte Luces Ankunftszeit danach, wann ich Sadie angerufen hatte, und Parkers danach, wann ich die Nachricht verschickt hatte, in der ich sie fragte, wo sie blieb.
Avery Greer – 18 Uhr 40
Luciana Suarez – 20 Uhr
Parker Loman – 20 Uhr 30
Connor Harlow –?
Ich hatte Connor nicht reinkommen sehen und runzelte die Stirn über dem Zettel. Connor war vor Parker da gewesen. Wann genau, weiß ich nicht, sagte ich.
Detective Collins drehte den Zettel zu sich und überflog die Liste. Zwischen Ihnen und der nächsten Person ist eine große Lücke.
Ich erzählte ihm, dass ich alles vorbereitet hatte. Sagte ihm, die Neulinge kämen immer früh.
Die folgende Untersuchung verlief zügig und zielgerichtet, was die Lomans zu schätzen gewusst haben mussten, in Anbetracht aller Tatsachen. Das Haus war dunkel geblieben, seit Grant und Bianca mitten in der Nacht mit der Nachricht von Sadies Tod zurückgerufen worden waren. Als die Reinigungsfirma und der Poolwartungswagen vor Memorial Day auftauchten – die Spinnweben entfernen, die Tresen polieren, den Pool öffnen –, sah ich von hinter den Vorhängen des Gästehauses aus zu und dachte, vielleicht kommen die Lomans zurück. Sie waren keine gefühlsbetonten Menschen, die sich in ihrem Unglück suhlten. Sie waren von der zuverlässigen Art, sie schätzten Fakten, egal in welche Richtung diese sich entwickelten.
Also, die Fakten: Es gab keine Anzeichen von Fremdeinwirkung. Weder Drogen noch Alkohol in ihrem Organismus. Keine Ungereimtheiten in den Befragungen. Es schien, als hätte weder jemand ein Motiv gehabt, Sadie Loman etwas anzutun, noch die Gelegenheit. Alle, die in Beziehung zu ihr standen, waren nachweislich auf der Plus-One-Party gewesen.
Es war schwer, gleichzeitig zu trauern und dein eigenes Alibi zu rekonstruieren. Jemand anderes zu beschuldigen, nur um dich selbst zu entlasten, war verführerisch. Es wäre so leicht gewesen. Aber niemand von uns hatte es getan, und ich fand, das sprach für Sadie selbst. Dass niemand sich vorstellen konnte, sich ihren Tod zu wünschen.
Die offizielle Todesursache war Ertrinken, aber auch den Sturz hätte man nicht überleben können – die Felsen und die Strömung, die Kälte.
Sie könnte ausgerutscht sein, sagte ich den Detectives. Das wollte ich unbedingt glauben. Dass es nichts gab, was ich übersehen hatte. Kein Zeichen, das ich hätte erkennen, keinen Moment, in dem ich hätte einschreiten können. Doch zunächst waren es die Schuhe, die sie an etwas anderes denken ließen. Ein freiwilliger Akt. Die zurückgelassenen goldenen Sandalen. Als hätte sie angehalten, um sie auszuziehen, auf dem Weg bis zur Kante. Ein Moment des Innehaltens, bevor sie weiterging.
Ich kämpfte sogar noch dagegen an, als ihre Familie es akzeptiert hatte. Sadie war mein Anker, meine Mitverschwörerin, die Kraft, die mein Leben für so viele Jahre geerdet hatte. Bei der Vorstellung, sie könnte gesprungen sein, geriet alles bedrohlich ins Wanken, genau wie in jener Nacht.
Aber später an dem Abend, nach den Verhören, fanden sie die Nachricht im Abfalleimer in der Küche. Wahrscheinlich entsorgt, im Zuge des Leerens der Speisekammer, aus der sämtlicher Kram auf allen Flächen ausgebreitet worden war – das Resultat von Luces Versuchen zu putzen, ein wenig Ordnung zu schaffen, bevor Grant und Bianca mitten in der Nacht ankamen. Aber wenn man Sadie kannte, war es eher ein Entwurf, gegen den sie sich entschieden hatte; ein Zugeständnis an die Tatsache, dass keine Worte reichen würden.
Ich hatte die Warnzeichen nicht gesehen. Den Grund und die Folge, die Sadie bis zu diesem Punkt geführt hatten. Aber ich wusste, wie schnell man in einer Spirale gefangen sein, wie weit weg das Licht von unten erscheinen konnte.
Ich wusste genau, wozu Littleport imstande war.
Jetzt war ich allein hier oben.
Lebte und arbeitete immer noch im Gästehaus.
Innen war das Ein-Zimmer-Appartement wie eine Puppenhausversion des Haupthauses eingerichtet, mit der gleichen Vertäfelung und dem dunklen Holzfußboden. Die Wände standen jedoch enger, die Decken waren niedriger, die Fenster dünn genug, dass der Wind nachts in ihren Winkeln rüttelte. Der Meerblick war durch die Bäume teilweise verborgen.
Ich saß am Tisch im Wohnzimmer und beendete den letzten Papierkram, bevor ich ins Bett ging. Es hatte Anfang der Woche einen Schaden in einem der Ferienhäuser gegeben – ein kaputter Flachbildfernseher, die Oberfläche gesprungen, das ganze Dinge hing schief von der Wand; und eine zerbrochene Keramikvase darunter. Die Mieter schworen, dass sie es nicht waren, beschuldigten einen Einbrecher, der während ihrer Abwesenheit da gewesen sein sollte, auch wenn nichts fehlte und es keine Zeichen gewaltsamen Eindringens gab.
Ich war direkt hingefahren, nachdem sie in Panik angerufen hatten. Begutachtete die Szene, während sie mit zitternden Händen auf den Schaden zeigten. Ein schmales, verwittertes Haus am Rand des Ortszentrums, das wir Trail’s End nannten und dessen verblichene Verkleidung und der überwachsene Pfad zur Küste seinen Charme nur noch verstärkten. Nun zeigten die Mieter auf den unbeleuchteten Pfad und die Entfernung zu den Nachbarn, als wäre das ein Sicherheitsmanko, eine mögliche Gefahr.
Sie beteuerten, sie hätten abgeschlossen, bevor sie den Tag über unterwegs gewesen waren. Sie seien sich absolut sicher und unterstellten mir, dass ich irgendwie Schuld hatte. Die Art, wie sie diese Tatsache mehrfach wiederholten – Wir haben abgeschlossen, das tun wir immer –, reichte mir, um ihnen nicht zu glauben. Oder um mich zu fragen, ob sie etwas Ernsteres vertuschen wollten: einen Streit, jemanden, der die Vase geworfen hatte, die sich dann überschlagen und den Fernseher getroffen hatte.
Wie auch immer, der Schaden war angerichtet. Er war nicht hoch genug, dass es sich für die Firma lohnte, ihn zu untersuchen, schon gar nicht bei einer Familie, die seit drei Jahren immer den ganzen August hier verbrachte, vollkommen egal, was zwischen diesen Wänden passierte.
Ich streckte mich auf der Couch aus und griff nach der Fernbedienung, bevor ich ins Schlafzimmer ging. Ich hatte mir angewöhnt, bei laufendem Fernseher einzuschlafen. Das leise Gewirr von Stimmen aus dem Nachbarraum, neben dem Geräusch des sanft klappernden Fensterrahmens.
Ich wusste genug von Verlust, um zu akzeptieren, dass die Trauer mit der Zeit ihre Schärfe verliert, die Erinnerung sich aber nur noch verstärkt. Einzelne Momente wiederholten sich immer wieder.
In der Stille war alles, was ich hören konnte, Sadies Stimme, die meinen Namen rief, als sie das Haus betrat. Das letzte Mal, dass ich sie sah.
Manchmal bleibt sie in meiner Erinnerung dort stehen, im Eingang zu meinem Zimmer, als würde sie darauf warten, dass ich etwas bemerkte.
Ich erwachte, und es war still.
Es war immer noch dunkel, aber die Geräusche des Fernsehers waren verstummt. Nur das Fensterrütteln, als eine kräftige Böe von irgendwo vor der Küste heranwehte. Ich legte den Schalter der Nachttischlampe um, aber nichts geschah. Schon wieder kein Strom.
Das passierte immer öfter, immer nachts, immer dann, wenn ich erst eine Taschenlampe suchen musste, um die Sicherung im Kasten neben der Garage wieder einzuschalten. Es war ein Zugeständnis an das Leben in einem Ort wie diesem. Exklusiv, ja. Aber zu weit von der Stadt entfernt und zu anfällig für die Umgebung. Die Infrastruktur an der Küste war nicht an die Bedürfnisse angepasst worden, Geld hin oder her. Die meisten Häuser hatten Notgeneratoren für den Winter, nur für alle Fälle; ein ordentlicher Sturm konnte uns für eine Woche oder mehr aus dem Versorgungsnetz katapultieren. Sommerstromausfälle waren das andere Extrem – zu viele Leute, die Bevölkerung verdreifachte sich. Alles wurde zu stark ausgereizt. Das Netz überlastet.
Aber soweit ich das beurteilen konnte, war das hier lokal – betraf nur mich. Ein Problem, das sich ein Elektriker anschauen sollte.
Das Geräusch des Windes draußen führte fast dazu, dass ich beschloss, bis zum Morgen zu warten, aber der Akku meines Telefons war so gut wie leer, und die Vorstellung, hier oben allein zu sein, ohne Strom und ohne Telefon, gefiel mir nicht.
Die Nacht war kälter als erwartet, als ich, die Taschenlampe in der Hand, den Pfad zur Garage entlanglief. Die Metalltür zum Sicherungskasten fühlte sich kühl an und stand ein Stück offen. Sie hatte ein Schloss, aber das hatte ich selbst Anfang des Monats aufgebrochen, als dies hier zum ersten Mal passierte.
Ich legte den Hauptschalter um und schlug die Metalltür wieder zu, wobei ich diesmal darauf achtete, dass sie einrastete.
Auf dem Rückweg blies eine weitere Windböe, und das Geräusch einer zuknallenden Tür, das durch die Nacht hallte, ließ mich erstarren. Es war vom Haupthaus gekommen, auf der anderen Seite der Garage.
Ich ging die Möglichkeiten durch: ein Poolliegestuhl, der vom Wind erfasst worden war, ein Stück Schutt, gegen die Hausverkleidung geweht. Oder etwas, was ich selbst vergessen hatte zu sichern – die Hintertür, die nicht richtig verschlossen war vielleicht.
Das Schließfach für den Ersatzschlüssel war unter dem Steinüberbau der Veranda versteckt, ich fummelte daran herum und brauchte im Dunkeln zwei Versuche für den Code, bis der Deckel aufsprang.
Noch eine Windböe, noch ein Geräusch, diesmal näher – die Scharniere eines Tores hallten durch die Nacht, als ich die Stufen der vorderen Veranda hochlief.
Ich wusste, dass etwas nicht stimmte, sobald ich den Schlüssel ins Schloss gesteckt hatte – die Tür war bereits entriegelt. Sie öffnete sich knarrend, und ich strich mit der Hand über die Wand innen, bis ich den Lichtschalter für das Foyer gefunden hatte und der leere Raum von dem Kronleuchter über mir erleuchtet wurde.
Und da sah ich ihn. Durchs Foyer, hinter dem Flur, am anderen Ende des Hauses. Den Schatten eines Mannes, der vor den gläsernen Terrassentüren stand, seine Silhouette im Mondlicht.
»Oh«, sagte ich und trat einen Schritt zurück, als er näher kam.
Seine Gestalt hätte ich überall erkannt. Parker Loman.
»Mein Gott«, sagte ich und tastete nach den restlichen Lichtschaltern. »Du hast mich zu Tode erschreckt. Was machst du hier?«
»Das ist mein Haus«, antwortete Parker. »Was machst du hier?«
Jetzt war alles hell. Das große Untergeschoss, die gewölbte Decke, der Flur, der die Entfernung zwischen mir und ihm umfasste.
»Ich hab etwas gehört.« Ich hielt die Taschenlampe wie zum Beweis hoch.
Er neigte den Kopf zur Seite, eine vertraute Geste, als würde er etwas gewähren. Sein Haar war länger geworden, oder er stylte es nun anders. Aber es machte die Kanten seines Gesichts weicher, rundete die Wangenknochen ab, und eine Sekunde lang, als er sich umdrehte, sah ich Sadie in ihm.
Dann änderte er seine Haltung, und sie war verschwunden. »Es wundert mich, dass du noch hier bist«, sagte er. Als wäre ihr lokales Unternehmen das letzte Jahr von allein weitergelaufen. Ich antwortete fast: Wo sollte ich sonst hingehen? Aber dann grinste er, und ich konnte mir vorstellen, dass ich ihm einen ganz schönen Schrecken eingejagt hatte, als ich so unangekündigt durch seine Tür spazierte.
In Wahrheit hatte ich schon viele Male daran gedacht zu gehen. Nicht nur weg von hier, sondern aus diesem Ort. Ich war zu der Auffassung gelangt, dass in seinem Kern etwas Giftiges versteckt war, das sonst niemand zu bemerken schien. Aber es gab mehr als das Geschäft, mehr als den Job, ich hatte mir selbst ein Leben hier aufgebaut. Ich war zu sehr an diesen Ort gebunden.
Und doch, manchmal hatte ich das Gefühl, dass zu bleiben nichts weiter war als ein Durchhaltetest, der an Masochismus grenzte. Ich war mir nicht mehr sicher, was ich beweisen wollte.
Ich spürte, wie mein Herzschlag sich verlangsamte. »Ich hab gar kein Auto gesehen«, sagte ich und blickte mich im Untergeschoss um, nahm die Veränderungen wahr: zwei Ledertaschen unten vor der breiten Treppe, ein Schlüsselring auf dem Tisch im Eingangsbereich; eine offene Flasche auf der Granitkücheninsel, daneben ein Glas; und Parker, die Ärmel seines Hemdes hochgekrempelt und der Kragen gelockert, als wäre er gerade von der Arbeit gekommen und es wäre nicht mitten in der Nacht.
»Es ist in der Garage. Ich bin erst heute Abend angekommen.«
Ich räusperte mich, nickte in Richtung der Taschen. »Ist Luce mit?« Ich hatte ihren Namen lange nicht mehr gehört, aber Grant beschränkte sich in unseren Gesprächen auf das Geschäft, und Sadie war nicht mehr da, um mich auf dem Laufenden zu halten, was das Privatleben der Lomans betraf. Es gab Gerüchte, aber das musste nichts zu bedeuten haben. Ich war selbst Objekt jeder Menge unbegründeter Gerüchte.
Parker blieb an der Kücheninsel stehen, viel Abstand zwischen uns, und nahm das Glas in die Hand, trank einen großen Schluck. »Nur ich. Wir nehmen eine Auszeit«, sagte er.
Eine Auszeit. Das war etwas, was Sadie sagen würde, inkonsequent und vage optimistisch. Aber sein Griff um das Glas, der Blick zur Seite sagten etwas anderes.
»Komm doch ein bisschen rein. Trink einen mit mir, Avery.«
»Ich muss morgen ziemlich früh auf einem Grundstück sein«, sagte ich. Aber meine Worte erstarben bei dem Blick, den er mir zuwarf. Er grinste, holte ein zweites Glas und schenkte ein.
Parkers Gesichtsausdruck sagte, dass er genau wusste, wer ich war und es keinen Sinn hatte, etwas vorzutäuschen. Ganz egal, ob ich gerade sämtlichen Besitz seiner Familie in Littleport betreute – sechs Sommer und man kennt die Angewohnheiten eines Menschen ganz gut.
Ich kannte ihn schon länger. So war das, wenn man hier aufgewachsen war: die Randolphs auf Hawks Ridge; die Shores, die einen alten Gasthof an einer Seite des Parks renoviert, dann jeweils eine Reihe von Affären hatten und ihr riesiges Grundstück nun teilten wie ein Scheidungskind, nie zur selben Zeit gesehen wurden; und die Lomans, die oben auf dem Steilufer wohnten, ganz Littleport überblickten und sich dann weiter ausgebreitet, ihre Fühler im ganzen Ort ausgestreckt hatten, bis ihr Name zu einem Synonym für Sommer geworden war. Die Ferienhäuser, die Familie, die Feste. Ein Versprechen.
Die Einheimischen bezeichneten die Loman-Residenz als Breakers, ein subtiler Stich, der den Rest von uns früher miteinander verbunden hatte. Teilweise hatte der Name mit der Nähe ihres Zuhauses zum Breaker Beach zu tun und teilweise war er ein Verweis auf das Vanderbilt-Anwesen in Newport – dieses Level an Reichtum konnten auch die Lomans nicht erhoffen. Immer im Spaß geflüstert, ein Witz, den alle außer ihnen kannten.
Parker schob mir den Drink zu, Flüssigkeit schwappte an der Seite über. So nachlässig war er nur, wenn er schon fast betrunken war. Ich drehte das Glas auf dem Tresen hin und her.
Er seufzte und schaute sich um, betrachtete das Wohnzimmer. »Mein Gott, dieses Haus«, sagte er und nahm dann den Drink in die Hand. Weil ich ihn elf Monate nicht gesehen hatte, weil ich wusste, was er meinte: dieses Haus. Jetzt. Ohne Sadie. Ihr vergrößertes Familienfoto von vor Jahren hing immer noch über dem Sofa. Alle vier lächelten, in beige und weiß gekleidet, die Dünen von Breaker Beach unscharf im Hintergrund. Ich konnte das Vorher und Nachher sehen, genau wie Parker.
Er hob sein Glas, stieß es mit genug Kraft gegen meines, dass deutlich wurde, es war nicht sein erster Drink – nur falls mir das entgangen sein sollte.
»Hört, hört«, sagte er stirnrunzelnd. Das hatte Sadie immer gesagt, wenn wir uns fertig machten, um auszugehen. Ein paar Gläser in einer Reihe füllen, unaufmerksames Einschenken – hört, hört. Sie stärkte sich, während es bei mir genau andersherum war. Den Alkohol hinunterkippen und dann das Brennen in meinem Hals, glühende Lippen.
Ich schloss die Augen beim ersten Schluck, fühlte die Entspannung, die Wärme. »Ruhig, ruhig«, antwortete ich leise, aus Gewohnheit.
»Also«, sagte Parker und schenkte sich selbst noch etwas mehr ein. »Da sind wir.«
Ich setzte mich auf den Barhocker neben ihm, umfasste meinen Drink. »Wie lange bleibst du?« Ich fragte mich, ob das mit Luce zu tun hatte, ob sie zusammenlebten und er nun einen Ort brauchte, an den er fliehen konnte.
»Nur bis zur Gedenkfeier.«
Ich nahm noch einen Schluck, größer als ich vorhatte. Die Ehrung von Sadie hatte ich gemieden. Das Denkmal würde eine Bronzeglocke sein, die nicht funktionierte und die am Eingang zum Breaker Beach stehen sollte. Mögen alle Seelen ihren Weg nach Hause finden, würde darauf stehen, die Worte handgraviert. Es war abgestimmt worden.
Littleport war voll von Denkmälern, und ich hatte schon lange meine ausreichende Dosis davon abbekommen. Von den Bänken, die die Fußwege säumten, zu den Statuen der Fischer vor dem Rathaus – wir wurden zu einem Ort, der nicht nur den Besuchern diente, sondern auch den Toten. Mein Vater hatte eine Klasse in der Grundschule. Meine Mutter eine Wand in der Galerie am Harbour Drive. Eine Goldplakette für deinen Verlust.
Ich rutschte auf dem Hocker herum. »Kommen deine Eltern?«
Er schüttelte den Kopf. »Dad ist beschäftigt. Sehr beschäftigt. Und Bee, naja, es würde ihr wahrscheinlich nicht so guttun.« Das hatte ich ganz vergessen, Parker und Sadie sprachen von Bianca als Bee – nannten sie aber nie in ihrer Anwesenheit so. Immer auf eine distanzierte Art, als wäre da eine große Entfernung zwischen ihnen. Ich hielt es für eine exzentrische Laune der Wohlhabenden. Gott weiß, ich habe viel an ihnen entdeckt über die Jahre.
»Wie geht’s dir, Parker?«
Er drehte sich auf seinem Stuhl um und sah mich an. Als wäre ihm gerade erst klar geworden, dass ich da war. Aufmerksam studierte er mein Gesicht.
»Nicht so toll«, sagte er und lehnte sich auf seinem Hocker zurück. Es war der Alkohol, der ihn so ehrlich machte, das wusste ich.
Sadie war meine beste Freundin gewesen, seit dem Sommer, in dem wir uns kennengelernt hatten. Ihre Eltern hatten mich praktisch bei sich aufgenommen – mir Kurse bezahlt, mir Arbeit versprochen, wenn ich mich als dafür wert erwies. Seit Jahren lebte ich in ihrem Gästehaus und arbeitete von dort aus, seit Grant Loman das Haus meiner Großmutter gekauft hatte. Und in all der Zeit, die wir am gleichen Ort existiert hatten, hatte Parker kaum je etwas Tiefsinniges von sich gegeben.
Er griff nach einer meiner Haarsträhnen und zog sanft daran, bevor er sie wieder fallen ließ. »Dein Haar ist anders.«
»Oh.« Ich fuhr mit der Handfläche darüber, strich es zurück. Es war weniger eine aktive Veränderung als der Weg des geringsten Widerstands. Ich hatte die Strähnen über die Jahre herauswachsen lassen, die Farbe war nun wieder ein dunkleres Braun, und dann hatte ich es bis zu den Schultern abgeschnitten, die Seiten aber lang gelassen. Das war eine der Konsequenzen, wenn man Leute nur im Sommer sah – Veränderungen waren nie schleichend. Wir wuchsen in Sprüngen. Wir verwandelten uns abrupt.
»Du siehst älter aus«, fügte er hinzu. Und dann: »Das ist aber nichts Schlechtes.«
Ich spürte, wie meine Wangen heiß wurden und neigte mein Glas, um es zu verstecken. Es war der Alkohol und die Sentimentalität und dieses Haus. Als wäre alles immer kurz davor zu bersten. Sommerspannung hatte Connor es immer genannt.
»Wir sind älter«, sagte ich, was Parker zum Lächeln brachte.
»Sollten wir uns dann ins Wohnzimmer begeben?«, fragte er, und ich konnte nicht sagen, ob er sich über sich selbst oder über mich lustig machte.
»Ich muss mal aufs Klo«, sagte ich. Ich brauchte Zeit. Parker hatte so eine Art einen anzusehen, als sei man das Einzige auf der Welt, das es sich zu kennen lohnte. Vor Luces Zeit hatte ich ihn diesen Blick ein Dutzend Mal an ein Dutzend verschiedener Mädchen anwenden sehen. Was nicht hieß, dass er auf mich keine Wirkung gehabt hätte.
Ich ging den Flur entlang, wo sich der Hauswirtschaftsraum und die Seitentür nach draußen befanden. Das Bad hier hatte ein Fenster über der Toilette, unverhüllt, mit Blick aufs Meer. Alle Fenster, die zum Wasser hinausgingen, waren wegen des Ausblicks ohne Vorhänge. Als könnte man je die Anwesenheit des Ozeans vergessen. Den Sand, der hier alles zu durchdringen schien, und das Salz, das sich auf der Straße ablagerte und die Autos rosten ließ und unablässig an den hölzernen Ladenfronten am Harbour Drive nagte. Wenn ich mit den Fingern durch mein Haar fuhr, konnte ich die salzige Luft riechen.
Ich spritzte mir Wasser ins Gesicht, dachte, ich hätte einen vorbeigehenden Schatten unter der Tür gesehen. Ich drehte den Wasserhahn ab und starrte auf den Türknauf, hielt die Luft an, aber nichts passierte.
Nur ein Produkt meiner Fantasie. Die Hoffnung auf eine lang vergangene Erinnerung.
Es war eine Eigenart des Loman-Hauses, dass keine der Innentüren Schlösser hatte. Ich hatte nie herausgefunden, ob das ein Bruch im Design war – eine Antwort auf die glatten Knäufe im antiken Stil – oder ob es einen elitären Status kennzeichnen sollte. Dass man vor einer geschlossenen Tür immer stehen blieb, um zu klopfen. Ob es in den Menschen eine Art Zurückhaltung hervorrief.
Wie auch immer, das war der Grund, warum ich Sadie Loman kennenlernte. Hier, in genau diesem Zimmer.
Ich sah sie nicht zum ersten Mal. Es war der Sommer nach meinem Uniabschluss, fast sechs Monate nach dem Tod meiner Großmutter. Eine vereiste Stelle, eine Gehirnerschütterung gefolgt von einem Schlaganfall, der mich zur letzten Greer in Littleport machte.
Ich war durch den Winter geflippt, ungebunden und wild. Hatte meinen Abschluss mit mehr Glück als Verstand geschafft, hatte mich treiben lassen und war unzuverlässig geworden. Und doch gab es Leute wie Evelyn, die Nachbarin meiner Großmutter, die mich mit merkwürdigen Arbeiten beauftragten und versuchten dafür zu sorgen, dass ich klarkam.
Es bewirkte allerdings nur, dass ich noch mehr Dinge direkt vor der Nase hatte, die mir selbst fehlten.
Das war das Problem an einem Ort wie diesem: Alles lag ganz und gar öffentlich vor dir, einschließlich des Lebens, das du nie haben konntest.
Wenn du alles im Gleichgewicht, in Ordnung hieltest, dann konntest du einen Laden eröffnen und hausgemachte Seife verkaufen oder eine Catering-Firma von der Küche des Gasthofes aus leiten. Du konntest deinen Lebensunterhalt verdienen, mehr oder weniger, draußen am Wasser, wenn du es nur genug wolltest. Du konntest Eis oder Kaffee in einem Laden verkaufen, der vier Monate im Jahr so gut lief, dass er dich durch den Rest bringen würde. Du konntest einen Traum haben, solange du bereit warst, etwas dafür aufzugeben.
Solange du unsichtbar bliebst, wie es vorgesehen war.
Evelyn hatte mich für die Saisoneröffnungsparty der Lomans gebucht. Ich trug die Uniform – schwarze Hose, weißes Shirt, Haar zurückgebunden –, die dazu diente, nicht aufzufallen. Ich saß auf dem geschlossenen Toilettendeckel, hatte meine Hand mit Klopapier umwickelt, fluchte still vor mich hin und versuchte, die Blutung zu stoppen, als die Tür aufging und sich dann leise wieder schloss. Da stand Sadie Loman, von mir abgewandt, die Handflächen an die Tür gepresst, mit hängendem Kopf.
Wenn du einer Person allein in einem Badezimmer begegnest, die sich versteckt, weißt du sofort etwas über sie.
Abrupt stand ich auf und räusperte mich. »Tut mir leid, ich …« Ich versuchte, mich an ihr vorbeizudrängen, bewegte mich dicht an der Wand entlang, vermied es, sie anzusehen.
Sie musterte mich ungeniert. »Ich wusste nicht, dass jemand hier drin ist«, sagte sie. Keine Entschuldigung, denn Sadie Loman musste sich bei niemandem entschuldigen. Das war ihr Haus.
Die Röte stieg in ihrem Gesicht auf, so, wie ich es noch gut kennenlernen sollte. Als hätte ich sie erwischt statt umgekehrt. Der Fluch der Hellhäutigen, würde sie später erklären. Das und die schwachen Sommersprossen über ihrer Nase bewirkten, dass sie jünger aussah, als sie war, was sie auf andere Art wieder ausglich.
»Alles okay?«, fragte sie und betrachtete stirnrunzelnd das Blut, das durch das Toilettenpapier um meine Hand sickerte.
»Ja, ich hab mich nur gerade geschnitten.« Ich presste stärker, aber es half nicht. »Und du?«
»Ach, du weißt schon«, sagte sie und wedelte leicht mit ihrer Hand herum. Aber das tat ich nicht. Da noch nicht. Ich würde es bald besser verstehen, dieses leichte Handwedeln: All das hier, die Lomans.
Sie griff nach meiner Hand, bedeutete mir, näher zu kommen, und ich konnte nichts tun, als es zu dulden. Sie wickelte das Papier ab, beugte sich vor, presste dann ihre Lippen zusammen. »Ich hoffe, du bist gegen Tetanus geimpft«, sagte sie. »Das erste Anzeichen ist Kiefersperre.« Sie ließ ihre Zähne aufeinanderschlagen, ein Geräusch wie ein brechender Knochen. »Fieber. Kopfschmerzen. Muskelzuckungen. Bis du schließlich nicht mehr schlucken oder atmen kannst. Keine schöne Art zu sterben, wenn du mich fragst.« Sie sah mich mit ihren haselnussbraunen Augen an. Sie war so nah, dass ich den Rand ihres Make-ups darunter erkennen konnte, die leichte Unvollkommenheit, wo ihr Finger ausgerutscht war.
»Es war ein Messer«, sagte ich, »in der Küche.« Kein dreckiger Nagel. Ich nahm an, dass man eher von so etwas Tetanus bekam.
»Oh, na ja, trotzdem. Sei vorsichtig. Jede Infektion, die in deinen Blutkreislauf gelangt, kann zu einer Blutvergiftung führen. Auch kein guter Weg, um sich zu verabschieden, wenn wir schon dabei sind.«
Ich konnte nicht sagen, ob sie es ernst meinte. Aber ich lächelte, und sie tat es auch.
»Studierst du Medizin?«, fragte ich.
Sie lachte kurz auf. »Finanzen. Das ist zumindest der Plan. Faszinierend, oder? Der Pfad zum Tod ist nur persönliches Interesse.«
Das war, bevor sie von meinen Eltern wusste. Bevor sie wissen konnte, dass ich mich selbst oft fragte, wie schnell oder langsam sie gestorben waren, und so konnte ich ihr die Leichtfertigkeit, mit der sie über den Tod redete, verzeihen. Die Wahrheit war jedoch, dass es auch etwas fast Verführerisches hatte – diese Person, die mich nicht kannte und vor mir einen Witz über den Tod reißen konnte, ohne danach zusammenzuzucken.
»Ich mach nur Spaß«, sagte sie, als sie meine Hand im Waschbecken unter kaltes Wasser hielt, um den Schnitt zu betäuben. In meinem Magen regte sich eine Erinnerung, die ich nicht fassen konnte – ein plötzliches schmerzliches Verlangen. »Das hier ist mein liebster Platz auf der Welt. Nichts Schlimmes darf hier passieren. Das verbiete ich.« Dann wühlte sie im Unterschrank und zog einen Verband hervor. Unter dem Waschbecken war ein Sortiment von Salben, Verbänden, Näh-etuis und Pflegeprodukten.
»Wow, du bist hier ja auf alles vorbereitet«, sagte ich.
»Außer auf Voyeure.« Sie sah hoch zu dem unverdeckten Fenster und lächelte kurz. »Du hast Glück gehabt«, sagte sie und strich den Verband glatt. »Du hast knapp die Vene verfehlt.«
»Oh, da ist Blut auf deinem Pulli«, sagte ich, erschrocken darüber, dass ein Teil von mir sie befleckt hatte. Den perfekten Pulli über dem perfekten Kleid in dieser perfekten Sommernacht. Sie zog den Pulli aus, knüllte ihn zusammen und warf ihn in den Porzellanmülleimer. Etwas, was mehr kostete, als ich an diesem ganzen Tag verdienen würde, da war ich sicher.
Sie schlich sich so leise hinaus, wie sie hereingekommen war, ließ mich dort zurück. Eine Zufallsbegegnung nahm ich an.
Aber das war nur der Anfang. Das Abrutschen eines Messers hatte mir eine Welt eröffnet. Eine Welt unerreichbarer Dinge.
Nun, wo ich mich in eben jenem Spiegel sah, mir Wasser ins Gesicht spritzte, um meine Wangen abzukühlen, konnte ich fast ihr dunkles Lachen hören. Wie sie mich ansehen würde, wenn sie wüsste, dass ihr Bruder und ich allein in einem Haus waren und mitten in der Nacht einen zusammen tranken. Ich starrte mein Spiegelbild an, die Ringe unter meinen Augen, erinnerte mich. »Tu es nicht.« Ich flüsterte es laut, um mich meiner selbst zu vergewissern. Der Akt des Sprechens aktivierte meinen Verstand, verschloss etwas anderes in mir.
Manchmal half es, mir vorzustellen, dass Sadie es sagte. Wie eine Glocke, die in meiner Brust schlug, mich zurückgeleitete.
Parker lag ausgestreckt auf der Couch unter dem alten Familienporträt, starrte durch die vorhanglosen Fenster in die Dunkelheit, der Blick leer. Ich war nicht sicher, ob es so eine gute Idee war, ihn allein zu lassen. Ich war jetzt vorsichtiger. Suchte nach dem, was unter der Oberfläche eines Worts oder einer Geste versteckt war.
»Du willst gehen, oder«, sagte er, immer noch aus dem Fenster starrend.
Ein Regentropfen schlug gegen die Scheibe, dann noch einer – ein gegabelter Blitz in der Ferne, vor der Küste. »Ich sollte zurück sein, bevor der Sturm hier ist«, sagte ich, aber er winkte ab.
»Ich kann nicht fassen, dass sie diese Party wieder machen«, sagte er, als wäre es ihm gerade eingefallen. »Eine Gedenkfeier und dann die Plus-One.« Er trank einen Schluck. »Sieht diesem Ort hier ähnlich.« Drehte sich zu mir. »Gehst du hin?«
»Nein«, sagte ich, als wäre das meine eigene Entscheidung. Ich konnte ihm nicht sagen, dass ich nichts von einer Plus-One-Party dieses Jahr wusste, ob sie wieder stattfinden würde oder wo. Es waren noch ein paar Wochen übrig in dieser Saison, und ich hatte kein Wort davon gehört. Aber er war erst ein paar Stunden hier und wusste es bereits.