Das Talent - John Grisham - E-Book

Das Talent E-Book

John Grisham

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Beschreibung

Das 17jährige Basketballtalent Samuel Sooleyman stammt aus dem Südsudan, einem vom Bürgerkrieg zerrissenen Land. Eines Tages erhält er die Chance seines Lebens: Mit einem nationalen Jugendteam darf er in die USA reisen und an einem Showturnier teilnehmen. Talentscouts werden auf ihn aufmerksam, doch dann erhält er schreckliche Nachrichten von daheim. Sein Dorf wurde überfallen, seine Familie ist auf der Flucht. Nur wenn er den Erfolg in Amerika erzwingt, kann er sie retten.

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Seitenzahl: 520

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DASBUCH

Samuel Sooleymon ist siebzehn und nutzt jede freie Minute zum Basketballspielen. Längst schon ist er der beste Spieler im Dorf. Alle sind stolz auf ihn und fiebern mit, als ihm eine große Ehre widerfährt: Der Coach der südsudanesischen Juniorenmannschaft ist auf Samuel aufmerksam geworden und wählt ihn für Try-outs in der Hauptstadt Juba aus. Wenn er sich dort durchsetzt, darf er für ein Showturnier in die USA reisen und sich für die stärkste Basketballliga der Welt empfehlen. Ein riesiger Sprung für einen Jungen aus dem bürgerkriegszerrissenen Land.

Doch kaum erzielt Samuel erste Erfolge in den Staaten, erreichen ihn niederschmetternde Nachrichten aus der Heimat: Sein Dorf wurde überfallen, zahllose Menschen ermordet, seine Mutter und Geschwister mussten fliehen und befinden sich in höchster Gefahr. Am liebsten würde Samuel sofort heimreisen, um ihnen zu helfen, aber es wird schnell klar: Er kann sie nur retten, wenn er all die anderen hochtalentierten Spieler hinter sich lässt und in Amerika zur Legende wird …

DERAUTOR

John Grisham hat über dreißig Romane geschrieben, die ausnahmslos Bestseller sind. Zudem hat er ein Sachbuch, drei Sportromane, einen Erzählband und sieben Jugendbücher veröffentlicht. Seine Werke wurden in fünfundvierzig Sprachen übersetzt. Er lebt in Virginia.

JOHN

GRISHAM

DAS TALENT

ROMAN

Aus dem Amerikanischen

von Imke Walsh-Araya

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel Sooley bei Doubleday, New York

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Copyright © 2021 by Belfry Holdings, Inc.

Copyright © 2021 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Oliver Neumann

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München,

unter Verwendung von Bildern von shutterstock/EFKS/Olesya Kuznetsova

Herstellung: Mariam En Nazer

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-28628-6V001

www.heyne.de

In Erinnerung an

MICHAELRUDELL

(1943–2021)

Nicht nur der beste Anwalt, der mir je begegnet ist,

sondern auch ein perfekter Gentleman und treuer Freund.

TEIL I

1

Als Samuel Sooleymon im April zu den Try-outs für die Nationalmannschaft eingeladen wurde, war er siebzehn Jahre alt, 1,88 Meter groß und galt als vielversprechender Point Guard. Er war für seine Schnelligkeit und Sprungkraft bekannt, aber auch für sein unberechenbares Passspiel und mittelmäßige Würfe.

Im Juli, als das Team Juba – die Hauptstadt des Südsudans – verließ, um in die USA zu reisen, war Samuel 1,93 Meter groß und immer noch genauso schnell. Sein Ballhandling allerdings war unzuverlässiger geworden, und von der Dreierlinie aus traf er nach wie vor nicht. Wie schnell er wuchs, war ihm selbst kaum bewusst, für einen Jungen seines Alters nicht ungewöhnlich. Ihm fiel nur auf, dass seine abgetragenen Basketballschuhe immer enger wurden und seine einzige Hose mittlerweile weit über den Knöcheln endete.

Als die Einladung im April kam, feierte die gesamte Nachbarschaft mit ihm. Er lebte in dem abgelegenen Dorf Lotta bei Rumbek, einer Stadt mit dreißigtausend Einwohnern. Sein gesamtes bisheriges Leben hatte er in Lotta verbracht und hauptsächlich Basketball und Fußball gespielt. Seine Mutter, Beatrice, war Hausfrau und hatte, wie alle Frauen im Dorf, nie eine Schule besucht. Sein Vater, Ayak, unterrichtete in einer offenen Hütte mit zwei Klassenzimmern, die Missionare vor Jahrzehnten errichtet hatten. Wenn Samuel nicht auf den Erdplätzen im Dorf Basketball spielte, kümmerte er sich mit seinen jüngeren Geschwistern um den Garten der Familie oder verkaufte am Straßenrand Gemüse.

Im Augenblick war das Leben im Dorf angenehm und relativ stabil. Es war das zweite Jahr, in dem ein grausamer Bürgerkrieg tobte, dessen Ende nicht abzusehen war. Angesichts der Unsicherheit, die das tägliche Leben bestimmte, schlugen sich die Menschen von Tag zu Tag durch und hofften auf eine bessere Zukunft. Die Kinder verbrachten ihr Leben auf der Straße und prellten oder kickten ständig mit einem Ball. Die Spiele boten eine willkommene Ablenkung.

Schon mit dreizehn war Samuel der beste Basketballer im Dorf gewesen. Wie alle Kinder träumte er davon, in Amerika in einer College-Mannschaft zu spielen oder es gar bis in die NBA zu schaffen. Dort spielten mehrere Südsudanesen, die in ihrer Heimat wie Götter verehrt wurden.

Als sich die Nachricht von seiner Einladung im Dorf verbreitete, versammelten sich die Nachbarn vor der strohgedeckten Hütte der Sooleymons. Jeder wollte die aufregende Nachricht mit Samuel feiern. Die Frauen brachten Krüge von mit Ingwer gewürztem Zimttee und Kannen mit Tamarindensaft. Andere steuerten Platten mit glasierten Keksen und Erdnussmakronen bei. Es war der größte Augenblick in der jüngeren Geschichte des Dorfes, und Samuel wurde von seinen Nachbarn umarmt und bewundert. Die Kleinen wollten ihn ständig anfassen und waren überzeugt, dass er der nächste Nationalheld werden würde.

Er genoss den Moment, stellte aber klar, dass er erst einmal nur zu den Try-outs eingeladen war. Es in die U18-Mannschaft zu schaffen würde schwierig werden, weil es so viele gute Spieler gab, besonders in Juba, wo man richtige Ligen hatte und auf Fliesen- oder sogar Holzboden spielte. Wie in anderen Dörfern und ländlichen Gebieten fanden selbst organisierte Spiele in Lotta oft draußen auf Beton- oder Erdboden statt. Samuel wies darauf hin, dass nur zehn Spieler für die Reise nach Amerika ausgewählt werden würden. Dort sollten fünf weitere Basketballer zu ihnen stoßen, die ebenfalls aus dem Südsudan stammten. Die Mannschaft würde dann an Orten wie Orlando und Las Vegas Showturniere spielen, bei denen Hunderte von College-Scouts anwesend sein würden. Vielleicht sogar ein paar Scouts der NBA.

Allein der Gedanke an Turniere in Amerika trieb die Aufregung auf die Spitze. Samuels Vorbehalte wurden ignoriert. Der Junge würde seinen Weg schon machen. Sie hatten ihn auf den Plätzen im Dorf spielen sehen und wussten, dass er gut genug für jede Mannschaft war und ihre Träume wahr machen würde. Die Feier dauerte bis spät in die Nacht, und als Beatrice ihr schließlich ein Ende setzte, ging Samuel nur widerwillig zu Bett. An Schlaf war nicht zu denken. Eine Stunde lang saß er in seinem winzigen Zimmer, das er sich mit seinen beiden jüngeren Brüdern Chol und James teilte, auf seinem schmalen Bett und flüsterte aufgeregt mit den beiden. Über ihren Betten hing ein großes Poster von Niollo, dem größten aller südsudanesischen Spieler. Im Trikot der Boston Celtics, in dem sich Samuel in seinen Tagträumen oft selbst sah, stieg Niollo hoch über den Ring auf, um den Ball in den Korb zu stopfen.

Am nächsten Morgen stand Samuel früh auf und sammelte die Eier der Hühner ein, die die Familie hielt, jeden Morgen seine erste Aufgabe. Nach einem schnellen Frühstück machte er sich mit Rucksack und Basketball auf den Weg zur Schule. James und Chol folgten ihm zum nächsten Basketballplatz, wo er eine Stunde lang Korbwürfe übte, während sie den Ball holten und ihm wieder zuwarfen. Andere Jugendliche schlossen sich ihnen an, und der vertraute Lärm abprallender Bälle und freundschaftlichen Geplänkels durchbrach die morgendliche Stille.

Um acht Uhr beendeten sie das Spiel, weil Samuel und seine Brüder zum Unterricht mussten. Er besuchte die letzte Klasse einer weiterführenden Schule und war in einem Monat fertig. In dieser Hinsicht konnte er sich glücklich schätzen, das wusste er. Nicht einmal die Hälfte seiner Klassenkameraden würde die Mittelstufe abschließen, und lediglich ein Bruchteil von ihnen wagte es, von einem Studium auch nur zu träumen. Für Mädchen gab es gar keinen Unterricht.

Während Samuel den Ball zur Schule dribbelte, wanderten seine Gedanken zu den Colleges in einem fernen Land.

2

Zwei Wochen später trat die gesamte Familie früh am Freitagmorgen den langen Marsch nach Rumbek an. Von dort sollte Samuel mit dem Bus nach Juba fahren, zu einem Wochenende harter Wettkämpfe. Sie winkten ihm lange nach, und seine Mutter und seine Schwester waren in Tränen aufgelöst. Dabei sollte er am Montag wieder zurück sein.

Der Bus fuhr eine Stunde zu spät los, was für den Südsudan durchaus pünktlich war. Wegen der schlechten Straßen und überfüllten Busse waren die Fahrpläne flexibel. Oft kam der Bus gar nicht, und immer wieder gab es Pannen. Es war keine Seltenheit, dass ein Bus auf offener Strecke den Geist aufgab und die Fahrgäste sich zu Fuß auf den Weg ins nächste Dorf machen mussten.

Samuel hatte sich vorn auf eine enge Bank zwischen zwei Männer gezwängt, die erzählten, sie seien schon seit drei Stunden unterwegs. Offenbar wollten sie sich in Juba nach Arbeit umsehen oder etwas in der Art. Samuel war nicht sicher, weil sie nur gebrochen Englisch sprachen, in das sich immer wieder ihre Stammessprache Nuer mischte. Samuel gehörte zu den Dinka, der größten ethnischen Gruppe des Landes, und Dinka war seine Muttersprache. Seine zweite Sprache war Englisch. Die Mutter beherrschte sogar vier Sprachen.

Auf der anderen Seite des schmalen Gangs saß eine Frau mit drei Kindern, die die Augen weit aufgerissen hatten und keinen Laut von sich gaben. Samuel sagte etwas auf Englisch zu ihnen, aber sie antworteten nicht. Als die Mutter mit dem ältesten Kind sprach, verstand er kein Wort.

Der Bus hatte keine Klimaanlage, und der Staub der Schotterpiste wehte durch die offenen Fenster herein und setzte sich überall fest – auf der Kleidung, dem Gepäck, den Sitzbänken, dem Boden. Das Gefährt rumpelte und holperte über die unbefestigte Hauptverbindungsstraße nach Juba und hielt gelegentlich an, um einen Anhalter aufzunehmen oder einen Passagier abzusetzen.

Als seine Mitfahrer erfuhren, dass Samuel Basketballspieler war und vielleicht nach Amerika reisen würde, stand er plötzlich im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Basketball war der neue Stolz des Südsudans, eine leuchtende Verheißung, über der die Menschen sogar die gewalttätige Geschichte ihrer ethnischen Konflikte vergaßen. Die Spieler waren zumeist groß und schlank und spielten mit einer Leidenschaft, die amerikanische Trainer erstaunte.

Das Gespräch drehte sich also um Basketball, und Samuel genoss die Bewunderung. Sie stoppten in jedem Dorf, um Fahrgäste an Bord zu nehmen. Ob ein Bus voll war oder nicht, wurde nach Lust und Laune entschieden, und es dauerte nicht lange, bis der Fahrer die jüngeren Männer, unter ihnen Samuel, anwies, oben auf den Bus zu klettern und dafür zu sorgen, dass keine Taschen und Kisten herunterfielen. Als sie sich Juba näherten, wich der Schotter Asphalt, und das ständige Geholpere ließ nach. Die Fahrgäste wurden immer stiller, als sie an kilometerlangen Slums vorbeifuhren, auf die solider gebaute Häuser folgten. Sechs Stunden nachdem er in Lotta aufgebrochen war, stieg Samuel am zentralen Busbahnhof aus, wo Heerscharen von Menschen kamen und gingen. Er fragte nach dem Weg und lief eine Stunde lang, bis er die Universität von Juba erreichte.

Er war schon einmal in Juba gewesen und trotzdem von den modernen Anlagen, den asphaltierten Straßen, dem hektischen Verkehr, den hohen Gebäuden, dem quirligen Leben und den gut gekleideten Menschen beeindruckt. Wenn er es nicht in die Mannschaft schaffte, wollte er auf jeden Fall hier studieren und später wenn möglich auch arbeiten.

Als er die Sporthalle auf dem Campus betrat, packte ihn die Nervosität. Die Halle war neu, sehr hoch und bot Platz für drei Basketballfelder in voller Größe, aber nur für wenige Zuschauerbänke. Hochschulsport gab es im Südsudan nicht, keine Collegemannschaften mit Spielplänen und Logos, keine Fans, die mitfieberten. Die Halle wurde für verschiedene Hallensportarten, aber auch für Veranstaltungen und Versammlungen genutzt.

Am hinteren Ende sah er einen Mann mit Klemmbrett und Trillerpfeife um den Hals, der ein Vier-gegen-Vier-Übungsspiel beobachtete. Samuel ging um das Spielfeld herum in seine Richtung.

Ecko Lam war vierzig und hatte die ersten fünf Jahre seines Lebens im Südsudan verbracht. Seine Familie war einem Rebellenangriff auf ihr Dorf gerade noch entkommen und nach Kenia geflohen. Am Ende hatte sie sich in Ohio niedergelassen und den amerikanischen Lebensstil übernommen. Als Teenager entdeckte Ecko Basketball für sich und spielte vier Jahre an der Kent State University. Später heiratete er eine Amerikanerin mit sudanesischen Wurzeln und arbeitete an seinem Traum, Trainer in der Division I zu werden. Er wechselte von einem Job zum anderen und brachte es bis zum Assistenztrainer an der Texas Tech University, bevor er von einer gemeinnützigen Organisation als Talentscout für Afrika engagiert wurde. Vor zwei Jahren war er damit beauftragt worden, im Südsudan Basketballligen zu gründen und in der Sommerpause All-Star-Mannschaften zu trainieren. Er liebte seine Arbeit und glaubte fest daran, dass Basketball das Leben der südsudanesischen Sportlerinnen und Sportler verändern konnte. Mit seiner U18-Mannschaft zu den Showturnieren in den USA zu fliegen war mit Abstand seine schönste Aufgabe.

Er hatte Samuel nie persönlich spielen sehen, kannte aber Videoaufnahmen des Jungen. Ein südsudanesischer Coach hatte ihn wärmstens empfohlen, weil er mit Füßen und Händen schneller sei als jeder andere, ganz zu schweigen von seiner erstaunlichen Sprungkraft. Seine Mutter, Beatrice, sei über 1,80 Meter groß, und der Scoutingbericht ging davon aus, dass Samuel noch wachsen würde. Mit 1,88 Meter war er der Kleinste der eingeladenen Sportler.

Im Film, einem Video auf einem Smartphone, dominierte Samuel die Verteidigung, hatte aber mit dem Ball zu kämpfen. Da er in einem Dorf lebte, war seine Erfahrung begrenzt, und Ecko befürchtete, dass er es gegen die Jugendlichen aus den großen Städten schwer haben würde.

Zwanzig Spieler aus dem gesamten Land waren zu den Try-outs eingeladen und trafen im Laufe des Nachmittags ein. Samuel war Ecko schon aufgefallen, als er sich am Rand eines Spielfelds herumdrückte – ein Junge vom Land, der von dieser Umgebung überwältigt war. Schließlich kam er auf den Trainer zu und sprach ihn schüchtern an.

»Entschuldigung, sind Sie Coach Lam?«

Ecko grinste breit. »Allerdings, und du bist bestimmt Mr. Sooleymon.«

»Stimmt.« Samuel streckte die Hand aus.

Sie schüttelten sich energisch die Hände und berührten einander an den Schultern, die übliche Begrüßung im Sudan.

»Freut mich sehr, dich kennenzulernen«, sagte Ecko. »Wie war die Fahrt?«

Samuel zuckte mit den Schultern. »Ganz okay. Wenn man gern Bus fährt.«

»Ich nicht. Bist du schon mal geflogen?«

»Nein«, gab Samuel unumwunden zu.

Von den zwanzig Eingeladenen hatte vermutlich keiner je ein Flugzeug von innen gesehen, da war sich Ecko fast sicher. »Wenn du es in meine Mannschaft schaffst, fliegen wir um die halbe Welt. Was hältst du davon?«

Samuel strahlte über das ganze Gesicht. »Klingt fantastisch.«

»Das wird eine tolle Sache. Die Umkleide ist da drüben. Zieh dich schnell um und fang mit dem Werfen an.«

Samuel ging in einen kleinen Raum mit Drahtgeflechtspinden. Er suchte sich einen freien Spind und zog rasch Shorts, T-Shirt und seine abgetragenen Schuhe an. Fünf Minuten später war er wieder auf dem Spielfeld. Ecko warf ihm einen Ball zu und deutete auf einen freien Korb am anderen Ende der Halle.

»Wenn du dich gedehnt und aufgewärmt hast, übst du Werfen von der Dreierlinie.«

»Alles klar.« Samuel dribbelte davon, wobei er nur die rechte Hand benutzte, dehnte sich kurz und ziemlich oberflächlich, bevor er mit dem Werfen begann. Ecko stellte belustigt fest, dass Samuel Dehnen genauso langweilig fand wie die meisten Siebzehnjährigen.

Ecko behielt das Übungsspiel im Auge, während er jede Bewegung von Samuel genau verfolgte. Seine Treffsicherheit ließ zu wünschen übrig. Andererseits warf er von oben, mit einer eindrucksvoll fließenden Bewegung. Aber er setzte niedrig an, in Stirnhöhe, und sein rechter Ellbogen war nicht, wo er sein sollte. Für einen Jungen mit derart wenig Training nicht ungewöhnlich.

Die ersten zehn Würfe gingen daneben. Die Nerven, dachte Ecko.

Bis zum späten Nachmittag waren alle zwanzig Spieler eingetroffen. Ecko versammelte sie in einer Ecke der Zuschauerbänke und ließ jeden von ihnen aufstehen, sich vorstellen und seinen Herkunftsort nennen. Die Hälfte von ihnen war aus Juba. Zwei stammten aus Malakal, einer vom Krieg verwüsteten Stadt in knapp vierhundert Kilometer Entfernung. Ein paar andere kamen vom Land, aus dem Busch.

Eckos nächster Punkt auf der Tagesordnung war der heikelste. »Wir sind alle Südsudanesen«, sagte er. »Unser Land wird von einem Bürgerkrieg zerrissen, bei dem Warlords um die Macht kämpfen und die Bevölkerung leidet. Aber diese Mannschaft wird zusammenstehen. Unser Land wird euch genau im Auge behalten. Ihr werdet die neuen Helden sein. Wenn jemand aus der Mannschaft fliegt, dann nicht, weil er nicht genug Talent hat oder zu wenig Einsatzbereitschaft, sondern weil er sich mit anderen Spielern wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit anlegt. Verstanden?«

Alle nickten. Ecko Lam war in ihren Kreisen eine Legende, und sie wollten ihn unbedingt beeindrucken. Er und er allein konnte ihnen die Reise nach Amerika ermöglichen. Sie beneideten ihn, weil er so cool war, perfekt Englisch sprach und vor allem, weil er die neuesten Air Jordans trug.

Er griff nach einem Outfit und sprach weiter. »Das werden wir tragen.« Er hielt das Trikot in die Höhe. »Wie ihr seht, ist es ein ganz einfaches Wendeshirt, das auch im Sportunterricht hier in Juba getragen werden könnte. Grau, keine Farbe, keine auffälligen Logos. Wir tragen dieses Trikot, um uns daran zu erinnern, wo wir herkommen und wo unsere Wurzeln sind. Ich würde dieses Outfit gern allen zwanzig geben, aber das kann ich nicht. Nur die Hälfte von euch wird es in die Mannschaft schaffen, und mir graut jetzt schon davor, der anderen Hälfte die schlechte Nachricht überbringen zu müssen. Aber zehn sind genug; dazu kommen noch fünf Südsudanesen, die im Augenblick in den USA leben. Mein Assistenztrainer, Frankie Moka, organisiert in Chicago ähnliche Try-outs. Wir treffen seine Spieler in Orlando, um ein paar Tage zu trainieren, bevor die Spiele anfangen. Insgesamt nehmen sechzehn Mannschaften teil, vier aus den USA, die anderen aus Ländern wie Brasilien, Großbritannien, Spanien, Kroatien, Senegal, Italien, Russland … Ich kann sie gar nicht alle aufzählen. In Orlando werden es acht Mannschaften sein, wir spielen gegen jede davon. Die anderen acht nehmen an einem ähnlichen Turnier in Las Vegas teil. Die besten vier treten dann beim Nationalen Showturnier in St. Louis gegeneinander an. Noch Fragen?«

Nein. Die Jungen waren zu schüchtern, um sich zu Wort zu melden, und keiner wollte übereifrig wirken.

»Nur zu eurer Information: Die Reise wird von den großen Schuhherstellern gesponsert. Ihr kennt die Namen. Sie waren äußerst großzügig. Ein Teil des Geldes kommt von der Manute-Bol-Stiftung, und andere NBA-Spieler aus dem Südsudan haben ebenfalls gespendet. Irgendwann, wenn wir drüben sind, werden wir ihnen schreiben, um uns zu bedanken, und Fotos machen. Es besteht die Möglichkeit, dass wir Niollo treffen, aber versprechen kann ich nichts.«

Sie waren zu beeindruckt, um etwas zu sagen.

Er teilte sie in vier Mannschaften auf, wies ihnen ihre Positionen zu und nahm die Match-ups vor, warnte vor überzogenem Foulspiel und startete zwei Übungsmatchs. Da es keine Schiedsrichter gab, die hätten eingreifen können, ging es heftig zur Sache, aber Ecko fand das ganz in Ordnung. Er pfiff ein paar besonders brutale Fouls, ließ aber zumeist das Spiel weiterlaufen. Nach zwanzig Minuten ununterbrochener Spielzeit legte er eine Trinkpause ein. Während die Jungen völlig verschwitzt auf den Zuschauerbänken hingen und versuchten, wieder zu Atem zu kommen, tigerte er mit seinem Klemmbrett vor ihnen auf und ab. »Gute Arbeit, Jungs«, lobte er. »Guter Einsatz. Ich erwarte, dass das so bleibt, weil wir Südsudanesen sind und mit dem Herzen spielen. Keiner gibt auf, keiner ist faul, keiner baut auf dem Platz Mist. In ungefähr einer Stunde gehen wir zu einem Studentenwohnheim gleich um die Ecke. Da essen wir zu Abend, sehen uns einen Film an und gehen dann ins Bett. Seht zu, dass ihr genügend Schlaf bekommt, morgen wird ein langer Tag.«

3

Am Samstagmorgen marschierten sie unter Eckos Führung zurück zur Sporthalle, die mittlerweile zur Hälfte von einer Jugendliga der Stadt mit Beschlag belegt worden war. Die erste halbe Stunde lang herrschte allgemeine Verwirrung, während sich Ecko mit einem Beauftragten für Freizeiteinrichtungen herumstritt und drohte, seine Kontakte spielen zu lassen. Schließlich wurde ein fragiler Waffenstillstand geschlossen, und die U18-Spieler bekamen zwei der drei Spielfelder für ihr Training. Als die Trainer der Jugendliga begriffen, wer Ecko war, zeigten sie sich plötzlich sehr entgegenkommend. Die jüngeren Spieler beobachteten Samuel und die anderen voller Bewunderung.

Zwei Assistenztrainer trafen ein, die Ecko bei seinem Programm unterstützen sollten. Sie organisierten die erste Aktivität, Liniensprints, bei denen die Jugendlichen zwischen Mittelfeld und Grundlinie, die rund fünfzehn Meter voneinander entfernt waren, hin- und hersprinten mussten. Die Läufer waren in die drei Gruppen Guard, Forward und Center eingeteilt. Die Sieger traten gegeneinander an und mussten zwei von drei Runden für sich entscheiden, um zu gewinnen. Alle Spieler waren schnell und agil, aber keiner konnte sich mit Samuel messen. Er gewann jeden einzelnen Sprint mit Abstand.

Dann zog sich ein Coach mit den vier Centerspielern zu einem Korb zurück und übte mit ihnen Rebounds und Ausboxen. Ecko nahm sich der Guards und Forwards an und filmte mit zwei Kameras ihren Sprungwurf. Samuel hatte noch nie erlebt, dass ein Trainer seinen Wurf analysierte, und es war ein sehr unangenehmes Erlebnis. »Chaotisch«, lautete Eckos Beschreibung, aber er lächelte dabei. Sie fingen ganz am Anfang an, mit den Grundlagen. »Überleg mal, wie viele Würfe du schon gemacht hast, Samuel. Wahrscheinlich eine Million, oder?«

»Mindestens.«

»Und jeder einzelne davon war falsch. Du hast immer wieder schlechte Angewohnheiten verstärkt. Wenn du auf höherem Niveau spielen willst, musst du neu anfangen, und zwar jetzt.«

Sie sahen sich das Video wieder und wieder an. Ecko hatte in seinem letzten Jahr an der Kent State University durchschnittlich fünfzehn Punkte pro Spiel erzielt und wusste, wie ein perfekter Sprungwurf aussah. »Jeder ist anders«, erklärte er Samuel, »aber ein richtig guter hat immer dieselben Grundelemente. Drei Dinge. Du setzt knapp über deinem Kopf an, zielst mit dem Ellbogen in Richtung Korb und nimmst den Druck von der linken Hand.«

Samuel war lernwillig und versuchte, seine falschen Gewohnheiten abzulegen, aber so schnell ging das nicht. Ecko schickte ihn zur Freiwurflinie, wo er zehn Minuten lang mit beiden Füßen auf dem Boden werfen sollte. Vor jedem Wurf sollte er laut sagen »Ellbogen zum Ring«.

Das Training ging den ganzen Vormittag weiter, und gegen Mittag fingen die Jungen an, sich zu langweilen. Ecko teilte sie endlich in vier Mannschaften auf und pfiff zum freien Spiel an. Wieder warnte er vor groben Fouls und teilte zur Sicherheit einen Assistenztrainer als Schiedsrichter ein. Er selbst setzte sich auf die Tribüne und beobachtete die einzelnen Spieler.

Mit Abstand der beste Point Guard war Alek Garang, ein bekannter Spieler aus Juba und schon mit zwölf Star jeder Turniermannschaft. Ein Scout hatte seinen Namen an mehrere amerikanische Trainer weitergegeben, von denen ihn einige bereits angeschrieben hatten. Die Reise in die USA würde über seine Zukunft entscheiden.

Jeder träumte davon, so gut zu spielen, dass ein amerikanischer Trainer auf ihn aufmerksam wurde und seine Kontakte nutzte, um den Neuling in einem Internat unterzubringen, wo er ein Jahr lang an Wettbewerben teilnehmen und schulische Lücken füllen konnte. Das war die große Hoffnung. Ecko kannte jeden College-Trainer, jedes Internat, jede Highschool, die den Basketballnachwuchs förderte, und jede Regel im Handbuch des für die Hochschulmannschaften zuständigen Verbands NCAA. Er kannte die Trickser, ihre Handlanger, die Schulen und Colleges, die man besser vermied, und die Vermittler, die eigentlich vor Gericht gehörten. Er wusste auch, dass jeder einzelne Junge in der Halle in Juba noch einmal ein Jahr Training und Feinarbeit brauchen würde, bevor er der rauen Welt des amerikanischen College-Basketballs gewachsen war.

Nachdem sie geduscht und Pizza gegessen hatten, stiegen die müden Sportler am Abend in zwei Transporter und fuhren durch die Stadtmitte von Juba zu einem modernen Einkaufszentrum in der Nähe des Ministerienkomplexes. Ecko ließ sie allein losgehen, pünktlich um acht Uhr sollten sie sich am Kino im Erdgeschoss treffen.

Die Jungen schlenderten in Gruppen von einem Geschäft zum nächsten, studierten die Auslagen, schüttelten angesichts der Preise die Köpfe und probierten Kappen und Schuhe an, die sie sich nicht leisten konnten. Samuel hatte etwas Kleingeld bei sich und wollte Souvenirs für seine jüngeren Geschwister kaufen, die damit bestimmt nicht rechneten.

Der Film war Focus mit Will Smith in der Hauptrolle, dem populärsten amerikanischen Schauspieler in Afrika. Für Samuel war es der erste Besuch in einem richtigen Kino, aber das behielt er für sich. Es war ein aufregendes Erlebnis, das ihn in seinem Wunsch bestätigte, in der Stadt zu leben. Gleichzeitig musste er daran denken, wie stolz seine Brüder James und Chol und seine Schwester Angelina gewesen wären, ihn in dieser modernen Welt zu sehen.

Er genoss es, Will Smith im Sportwagen mit einer hübschen Frau an der Seite durch die Straßen rasen zu sehen. Wie die anderen neunzehn Spieler war auch Samuel im Grunde seines Herzens überzeugt, dass dies alles mehr als nur ein Traum war. Die Miami Heat zahlten Niollo fünfzehn Millionen Dollar pro Jahr, eine unvorstellbare Summe. Und Niollo war einer von ihnen, ein armer Junge aus dem Buschland des Südsudans, ein Dinka, der jetzt ein NBA-Star war und wahrscheinlich schicke Autos fuhr und das Leben in vollen Zügen genoss.

Zurück im Wohnheim versammelte Ecko die Spieler in einem Fernsehzimmer und bestellte noch einmal Pizza. Jungs im Wachstumsalter, die groß und dünn waren und pro Tag Tausende von Kalorien verbrannten, konnten gar nicht genug essen, und so stürzten sie sich auf die Pizzen. Sie wollten mehr wissen über sein Leben, seine Kindheit und Ausbildung und wie er zum Basketball gekommen war. Warum war er nicht Profi geworden? Warum hatte er sich entschieden, Trainer zu werden? Wusste er jetzt, da er sie hatte spielen sehen, wer für ein College-Stipendium gut genug war? Konnte er schon sagen, wer es bis in die NBA schaffen könnte?

Nein, konnte er nicht. Sie waren noch im Wachstum, ihre Fähigkeiten entwickelten sich erst und mussten in Wettbewerben trainiert werden. Manche besaßen ein großes natürliches Talent, aber sie waren alle ungeschliffen und unerfahren. Mindestens vier von ihnen würde er am nächsten Mittag nach Hause schicken müssen.

Samuel war im Augenblick in der engeren Auswahl. Alek Garang war der beste Point Guard, Samuel mit weitem Abstand der zweitbeste.

Ecko sprach mit ihnen, hörte ihnen zu und beobachtete sie aufmerksam. Die Jugendlichen hatten Krieg, Armut und Gewalt erlebt, aber zumindest im Augenblick sprachen sie lieber über amerikanischen Basketball, Filme, Pizza und Mädchen. Ecko hörte aufmerksam zu und achtete darauf, ob der Konflikt zur Sprache kam. Jeder von ihnen war betroffen. Jeder von ihnen kannte jemanden, der ums Leben gekommen war oder vermisst wurde.

Aber an diesem Samstagabend waren die Jungen in diesem modernen Studentenwohnheim auf dem Hochschulcampus in Sicherheit. Ihre Zukunft drehte sich ausschließlich um Basketball.

4

Obwohl Samuel nur 1,88 Meter groß war, hatte er Mühe, seine Beine nachts in dem Stockbett zu verstauen. Peter Nyamal, der über ihm schlief, war gut zwölf Zentimeter länger und ließ die Füße in der Luft baumeln. Am frühen Sonntagmorgen schlich sich Samuel lautlos aus dem Zimmer und ging nach draußen. Er schlenderte über den Campus und genoss die Einsamkeit, wobei er sich erneut schwor, hier zu studieren. Natürlich nur, falls es mit der NBA doch nicht klappen sollte. Er setzte sich auf eine Bank, beobachtete den Sonnenaufgang und lächelte, als er an seine Familie zu Hause in Lotta dachte. Er war noch nie von ihr getrennt gewesen, und gerade schien sie sehr weit weg. In diesem Augenblick holten James und Chol die Eier für das Frühstück, während Angelina mit einem im Feuer erhitzten Bügeleisen ihr Kleid und die weißen Hemden der Jungen für den sonntäglichen Kirchgang bügelte. Die ganze Familie ging immer zu Fuß zur Neun-Uhr-Messe in der Dorfkirche.

Samuel setzte seinen Streifzug fort und kam zum Studentenzentrum, dem einzigen Gebäude, das um diese Uhrzeit am Sonntagmorgen geöffnet war. Er zahlte fünf Cent für eine Packung Mangosaft und lächelte einem hübschen Mädchen zu, das allein an einem Tisch saß. Sie tippte auf einem Laptop und ignorierte ihn. Ein Jahr zuvor hatte auch er einen Laptop berührt. In der Schule hatte es ein einziges Gerät gegeben, und vorübergehend hatten sie in Lotta tatsächlich Internetverbindung gehabt. Die Rebellen hatten dem bald ein Ende gesetzt, wie auch dem Mobilfunk. Straßen, Brücken, Mobilfunkmasten und Versorgungsleitungen waren ihre bevorzugten Ziele. Sie wurden so oft zerstört, dass die Regierung sie nicht mehr aufbaute.

Seine Mutter hatte keinerlei Schulbildung. Angelina wurde zu Hause vom Vater unterrichtet. Wie war es also möglich, dass eine junge Frau im Südsudan an die Uni gehen konnte? Er fand die Idee gut. Er hatte im Fernsehen mehrere Collegespiele gesehen und war immer überrascht gewesen, wie viele Studentinnen auf der Tribüne die Mannschaften anfeuerten. Noch ein Grund, in Amerika Basketball zu spielen.

Im Lesebereich blätterte er im Juba Monitor, einer der beiden Tageszeitungen des Landes, von denen es keine bis nach Lotta schaffte. Er fand eine Ausgabe von The Citizen, der zweiten Zeitung, und las dieselben Nachrichten noch einmal. Als er seinen Saft ausgetrunken hatte, kamen drei Studenten herein, musterten ihn kurz und beachteten ihn dann nicht mehr. Sie unterhielten sich angeregt in ihrem Großstadtenglisch. Alle drei waren besser angezogen als er und trugen richtige Hemden mit Kragen. Samuel wusste, dass es Zeit war zu gehen.

Er schlenderte zur Sporthalle, aber der Haupteingang war abgeschlossen. Als er schon aufgeben wollte, kam ein Hausmeister aus einer Seitentür. Samuel wartete einen Augenblick, bis der Mann verschwunden war, dann versuchte er es an der Tür. Sie öffnete sich, und er fand sich in der Umkleide wieder, die seine Mannschaft benutzt hatte. In der Halle brannte kein Licht, aber die Morgensonne fiel durch die Fenster am Ende des Gebäudes. Samuel suchte sich ein Netz mit Bällen und fing an zu werfen, ohne sich gedehnt zu haben.

Eine Stunde nach ihm kam Ecko Lam durch dieselbe Seitentür herein, und als er durch die Umkleide ging, hörte er das vertraute Geräusch eines abprallenden Balls. Leise betrat er die dunkle Halle und spähte um die Tribüne herum. Samuels Haut glänzte vom Schweiß, während er immer wieder aus einer Entfernung von sechs Metern warf. Der Ball ging daneben, er sprintete ihm nach, dribbelte ihn zwischen den Beinen, hinter seinem Rücken, machte eine Finte nach rechts, und lief komplett bis zum Mittelfeld zurück, wo er sich umdrehte, ein paar schnelle Schritte machte und erneut warf. Wieder daneben. Und noch einmal. Es sah schon besser aus, und er gab sich größte Mühe, seine alten Gewohnheiten abzulegen, aber der Ellbogen rutschte immer noch zu weit nach außen. Für den Augenblick war das Ecko jedoch völlig egal. Der faszinierende Teil seines Jump Shots war die Ausführung des Wurfs an sich. Aus dem Dribbling richtete Samuel sich auf, stieg in einem Sekundenbruchteil hoch und warf den Ball in einer Höhe, die für die meisten Guards unerreichbar war.

Wenn er bloß treffen würde.

Nach einigen Minuten betrat Ecko das Spielfeld und wünschte ihm einen guten Morgen.

»Hallo, Coach«, sagte Samuel und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Es war noch nicht einmal acht Uhr morgens, und in der Sporthalle war es drückend heiß und schwül.

»Konntest du nicht schlafen?«, fragte Ecko.

»Doch. Besser gesagt: nein. Ich wollte mich auf dem Campus umsehen, und dann habe ich eine Seitentür gefunden, die nicht abgeschlossen war.«

»Ich habe deine letzten fünfzehn Würfe gesehen, Samuel. Zwölf davon waren daneben. Und du stehst völlig frei.«

»Ja, Coach. Ich arbeite daran.«

Ecko lächelte. »Im Scoutingbericht heißt es, deine Mutter ist über 1,80 Meter groß. Stimmt das?«

»Ja. Bei uns in der Familie sind alle groß.«

»Wann wirst du achtzehn?«

»Am 11. August.«

»Du könntest es nächstes Jahr noch einmal versuchen, Samuel.«

»Danke, Coach. Heißt das, für dieses Jahr bin ich raus?«

»Nein. Willst du weiter werfen üben?«

»Ja.«

»Gut. Geh zur Freiwurflinie. Lass beide Füße auf dem Boden. Wir wissen, dass du springen kannst. Bring den Ball weiter nach oben. Ziel mit dem Ellbogen direkt auf den Ring und zieh langsam ab. Wenn du zehnmal hintereinander getroffen hast, sagst du mir Bescheid.«

»Ja, Coach.«

Das erste Training war ein Wurfwettbewerb, der auf zwei Spielfeldern ausgetragen wurde. Jeder Spieler hatte zwanzig Würfe von der Freiwurflinie, Treffer und Fehlwürfe wurden notiert. Die besten vier traten dann in einem Shoot-out gegeneinander an, was von Geplänkel, Pfiffen, bissigen Kommentaren, Gelächter bei Fehlwürfen und jeder Menge Schimpfwörtern begleitet wurde. »Dieser Druck ist noch gar nichts«, sagte Ecko immer wieder, wenn er scharfe Kritik äußerte. »Stellt euch vor, ihr seid im Finale, das Spiel steht auf der Kippe, und hundert Millionen Menschen sehen euch zu, einschließlich der gesamten Bevölkerung des Südsudans. Dieser Druck hier ist rein gar nichts.«

Alek Garang versenkte neunzig Prozent seiner Würfe und gewann überlegen. Samuel schaffte mit Mühe die Hälfte seiner Würfe.

Sie stellten sich anderthalb Meter weiter hinten an der Dreierlinie auf, in einer Entfernung von gut sechs Metern, und begannen mit den Guards. Jeder warf frei stehend zwanzigmal hintereinander. Garang traf elfmal, Samuel nur viermal. Dann waren die Forwards an der Reihe, und Ecko war mit ihrer Trefferquote sehr unzufrieden. Der Beste versenkte nur ein Drittel seiner Bälle. Da sich jeder große Spieler als Weitwurfkönig sieht, tat Ecko den Centerspielern den Gefallen und ließ jeden von ihnen zehn Würfe ausführen. Den Korb trafen nur die wenigsten.

Dann teilte er sie für Übungsspiele auf dem halben Spielfeld in Dreierteams auf. Sein Ton veränderte sich drastisch, er lächelte nicht mehr, schrie herum, pfiff häufiger und fand immer mehr zu kritisieren. Die Stimmung in der Sporthalle wurde zunehmend angespannter, denn Ecko war offensichtlich auf dem Kriegspfad. Ein schlechter Wurf wurde mit einem Pfiff und heftiger Kritik quittiert.

Samuel ruhte sich auf der Tribüne aus und sah zu. Es war ein schrecklicher Vormittag gewesen, und er wurde nicht besser. Seine Treffsicherheit war erbärmlich, so miserabel, dass er in den Übungsspielen vorsichtshalber kaum noch warf. Er hatte Alek Garang fünfzehn Minuten lang gedeckt, aber der hatte praktisch ungehindert seine Treffer gelandet. Ecko brüllte und pfiff und schien Samuel auf dem Spielfeld nur noch als Störfaktor zu empfinden. Als es Mittag wurde, war Samuel überzeugt davon, dass es für ihn vorbei war.

Nach einer Pause mit kalter Pizza teilte Ecko sie in Vierergruppen auf, und es folgte eine halbe Stunde unglaublich langweiliger Übungen mit dem Ball – Verteidiger blocken, Blocken mit Abrollen und so fort. Einer der Assistenztrainer führte vier Spieler in die Umkleide, wo eine sauber gewischte Schultafel darauf zu warten schien, dass X und O für Verteidiger und Angriffsspieler angezeichnet wurden. Stattdessen kam Ecko herein. »Leute, es fällt mir sehr schwer, aber es muss sein«, sagte er. »Für mich ist es das Schlimmste am Trainerjob, aber ich habe keine Wahl. Ihr seid hervorragende Spieler mit einer großen Zukunft, aber ich kann euch nicht mitnehmen.«

Sie sackten auf ihren Bänken zusammen und sahen zu Boden.

»Ihr bekommt Geld für die Busfahrt«, sagte Ecko. »Ich wünsche euch alles Gute. Passt auf euch auf.« Es war nicht das erste Mal für ihn, aber es war immer herzzerreißend. Die Jungen würden sich mit dem Bus und zu Fuß auf den Heimweg machen in dem Wissen, dass ihr großer Traum geplatzt war. Sie würden weiterhin spielen und besser werden, aber keiner von ihnen würde es nach Amerika schaffen. Und ohne diese Möglichkeit waren ihre Zukunftsaussichten düster.

Sie waren zu niedergeschlagen, um zu sprechen.

»Seht mich an«, sagte Ecko. Einer nach dem anderen hob den Blick.

»Ich wünschte, ich könnte alle zwanzig mitnehmen, aber das geht nicht. Es tut mir leid.«

Peter Nyamal erhob sich langsam und wischte sich mit dem Handrücken über die Wangen. »Danke für die Chance, Coach.«

Sie schüttelten sich die Hände und umarmten sich.

»Ich wünsche euch wirklich von Herzen alles Gute und hoffe, dass wir uns wiedersehen.«

Die anderen drei erhoben sich stolz und umarmten ihren Coach ebenfalls. Ein Assistent führte sie durch die Seitentür nach draußen und brachte sie zum Wohnheim. In aller Eile rafften sie ihre Habseligkeiten zusammen und gingen zum Busbahnhof.

Zwei Stunden danach wiederholte sich die Szene, als Ecko vier weitere Spieler nach Hause schickte. Er hasste diesen Teil seiner Arbeit, aber er hatte gelernt, dass es besser war, es rasch hinter sich zu bringen.

Während sich die Mannschaft im Wohnheim erholte, besprach Ecko mit seinen beiden Assistenztrainern, welche beiden Spieler als letzte gehen mussten. Er wollte mit vier Guards, vier Forwards und zwei Centerspielern aufbrechen, aber Letztere ließen zu wünschen übrig. Das würde er in den USA ausgleichen können, wo Dak Marial, ein Highschool-All-American-Spieler, zu ihnen stoßen würde. Dak war im letzten Jahr einer exklusiven kalifornischen Privatschule und hatte der UCLA, der University of California in Los Angeles, bereits zugesagt. Die meisten Experten zählten ihn zu den drei aussichtsreichsten Nachwuchsspielern in den USA. Er war als Kind mit seiner Familie aus dem Südsudan geflohen.

Ecko wollte eigentlich keinen der beiden Centerspieler, aber schließlich entschieden sie sich für einen. Keiner der Assistenztrainer wollte Samuel mitnehmen, der das ganze Wochenende über im Angriff miserabel und in der Verteidigung bestenfalls mittelmäßig gewesen war. Beide fanden zwei andere Guards besser. Einer nannte ihn »den Guard, der nicht wirft«. Aber Ecko gefielen sein Tempo, seine Schnelligkeit, sein Sprung, und er war sicher, dass der Junge so lange trainieren würde, bis er ein echter Korbjäger war.

Schließlich einigten sie sich darauf, einen Center und einen Forward zu opfern. Samuel Sooleymon war als letzter Spieler ausgewählt worden, doch davon ahnte er nichts.

Die Spieler wussten, dass ihre Zahl drastisch dezimiert werden sollte. Acht ihrer Kameraden waren schon weg, die Spinde und Zimmer ausgeräumt. Wer würden die letzten beiden Opfer von Ecko sein? Während sie Kicker und Billard spielten und den Mädchen im Studentenzentrum nachsahen, lachten und witzelten sie darüber, wer als Nächstes an der Reihe sein würde. Aber es war ein nervöses Lachen.

Coach Lams Lieblingsrestaurant in Juba war das Da Vinci, das für sein gutes Essen und die noch bessere Aussicht bekannt war. Es lag am östlichen Rand der Stadt und praktisch direkt am Nil, und die meisten Tische standen auf einer Terrasse am Wasser. Er traf mit einem Transporter und fünf Spielern zuerst ein. Sie folgten ihm zu einer ruhigen Ecke der Terrasse, wo er ihnen dazu gratulierte, dass sie es in die Mannschaft geschafft hatten. Kurz darauf erschienen die beiden Assistenten mit den anderen fünf Jungen. Als die Jugendlichen begriffen, dass sie es geschafft hatten, wollten sie feiern. Endlich konnten sich ihre strapazierten Nerven erholen.

Samuel hatte sich vorgestellt, wie furchtbar die lange Reise zurück nach Rumbek werden würde. Er hatte sich ausgemalt, wie er seiner Familie und seinen Freunden erklären musste, dass er nicht gut genug gewesen war, und der Gedanke schien ihm unerträglich. Sie würden am Boden zerstört sein, und er würde sich niemals von dieser Enttäuschung erholen. Aber jetzt lag erneut eine rosige Zukunft vor ihm. Er war auf dem Weg in die USA, wo er Basketball gegen die ganze Welt spielen würde, während ihn hundert Cheftrainer aufmerksam beobachteten und deren Assistenten alles filmten. Er würde die Träume seiner Leute stolz auf seinen breiten Schultern tragen und erfolgreich sein wie der große Niollo.

Spieler und Trainer saßen an einem langen Tisch und bestellten Softdrinks und Saft. Die Stimmung war heiter, und jedes Gespräch drehte sich um die Reise, um Flughäfen und Jets, den langen Flug, bis hin zu Hotels und Themenparks, den Spielen und den vielen Scouts. Würden sie wirklich Disney World besuchen?

Es war die dritte U18-Mannschaft, die Ecko in die USA mitnahm, und er genoss ihre Aufregung.

5

Um sieben Uhr am Montagmorgen fuhr ein Transporter am Wohnheim ab – Ecko brachte vier seiner neuen Spieler zum Busbahnhof. Er parkte auf einem Schotterparkplatz vor dem von geschäftigem Leben erfüllten Gebäude und versammelte die Jungs an der Hecktür des Transporters. Dort gab er jedem eine schöne Sporttasche aus Kunststoff, deren Seiten in leuchtenden Farben mit der südsudanesischen Flagge bestickt waren. »Die Tasche enthält einen neuen Basketball, T-Shirts und Shorts für euer Training, Kappen und ein paar andere Extras. Vor unserer Abreise im Juli bekommt ihr passende neue Schuhe, aber das dauert noch.«

Er brachte sie ins Gebäude und verabschiedete sich von jedem Einzelnen mit einer herzlichen Umarmung. Sie bedankten sich wieder und wieder, umarmten einander, verabschiedeten sich erneut und tauchten dann in der Menge unter.

Samuels Bus nach Rumbek fuhr um halb neun, mit nur einer halben Stunde Verspätung. Er war nicht voll, und im Moment hatte er die ganze Sitzbank für sich allein. Neben ihm standen sein alter Seesack und seine brandneue Sporttasche, nach der er immer wieder sah. Es war bereits unangenehm heiß, und der Bus schob sich im Schneckentempo durch den Großstadtverkehr. Wieder stellte Samuel verwundert fest, wie laut es in der Stadt war – ständiges Hupen, wütendes Geschrei, freundliche Begrüßungen, das Rattern und Dröhnen altersschwacher Motoren, das Heulen der Sirenen. Als sie das Stadtzentrum hinter sich ließen, lichtete sich der Verkehr, und der Bus beschleunigte. Auch die Straße durch die Slums war anfangs noch asphaltiert, ging jedoch bald in eine Schotterpiste über.

Plötzlich hielt der Bus an, die Fahrgasttür öffnete sich mit einem Ruck, und drei ordentlich gekleidete, schwer bewaffnete Regierungssoldaten gingen mit einem Sprung an Bord. Sie trugen identische Khakiuniformen, braune Barette, glänzende schwarze Stiefel, und alle setzten dasselbe überhebliche Lächeln auf. Jeder hatte eine Kalaschnikow oder »Kallie«, wie sie in vielen Teilen Afrikas genannt wurde. Samuel erkannte die Waffe sofort, weil es im Südsudan viele davon gab.

Die Soldaten musterten die Passagiere – die übliche bunte Mischung aus harmlosen Bauern, Studenten und Pendlern – und ließen sich ihr Missfallen deutlich anmerken. Sie räumten die ersten beiden Reihen und setzten sich selbst dorthin. Einer blaffte den Fahrer an, er solle losfahren, und dann waren sie wieder unterwegs.

Es war nicht ungewöhnlich, dass Regierungssoldaten in einem Bus mitfuhren. Sie hatten Vorrang, und niemand erhob Einwände. Für sie war immer Platz, schließlich wollte sich niemand mit Bewaffneten anlegen. Aber ihre Anwesenheit verhieß nichts Gutes, denn meist wollten sie nicht nur von A nach B fahren. Immer wieder eskortierte das Militär Busse in die ländlichen Gebiete, wo Banditen ihr Unwesen trieben und Rebellen lauerten.

Nach einer halben Stunde war zumindest Samuel klar, dass die Soldaten nicht als einfache Passagiere mitfuhren. Sie waren äußerst angespannt und ließen den Verkehr, die Siedlungen, die Pfade nicht aus den Augen. Sie flüsterten untereinander. Einer sprach in ein Satellitentelefon. Außerhalb von Juba war die Mobilfunkabdeckung höchst unzureichend und unzuverlässig.

Der Bus hielt in einem Dorf, und vier Passagiere stiegen ein, während einer ausstieg. Minuten später waren sie wieder im Busch auf der ausgedörrten, staubigen Schotterpiste. Unbarmherzig brannte die Sonne auf Felder und Wald herunter.

Der Überfall erfolgte so plötzlich, dass es sich nur um eine routinierte Bande handeln konnte. In einer Kurve fuhr plötzlich ein offener Lastwagen von einem unbefestigten Weg auf die Straße und blockierte sie.

»Es geht los!«, rief der Busfahrer. Er trat auf die Bremse, und der Bus hielt ruckartig.

Die Soldaten zogen die Köpfe ein und entsicherten ihre Kallies. »Kopf runter!«, brüllte einer die Fahrgäste an. »Alle!« Zwei kauerten sich neben den Fahrer. Der Dritte lief nach hinten und legte die Hand auf den Türgriff.

Dann erklang das beängstigende Geräusch, das alle nur zu gut kannten: das Stakkato eines Sturmgewehrs. Samuel duckte sich noch tiefer und spähte vorsichtig aus dem Fenster. Der Anführer der Gang stand mitten auf der Straße und feuerte in die Luft. Bei ihm waren zwei Jungen, die bestenfalls so alt wie Samuel waren. Mit ihrem Sammelsurium von ledernen Munitionsgürteln, Pistolen rechts und links an der Hüfte und Sturmgewehren waren sie ausstaffiert wie eine Karikatur echter Soldaten. Einer trug einen weißen Cowboyhut. Ein anderer hatte Basketballschuhe an den Füßen. Großspurig Drohungen brüllend, kamen sie auf den Bus zu, während zwei andere zur hinteren Tür rannten.

Ein Soldat, der hinter der Vordertür kauerte, rief »Go!«, und die Hölle brach los. Der Fahrer öffnete die Tür, zwei Soldaten rollten heraus, landeten auf den Knien und feuerten ihre Kallies ab. Das brachte die Angreifer völlig aus dem Konzept, und ihr Zögern kostete sie das Leben, da sie von den besser ausgebildeten Soldaten niedergemäht wurden. Gleichzeitig stieß der dritte Soldat die hintere Tür mit dem Fuß auf und erschoss die anderen beiden aus nächster Nähe.

Das Feuergefecht dauerte nur wenige Sekunden, aber es war entsetzlich. Einer der Banditen schaffte es, die Front des Busses zu beschießen und die Windschutzscheibe zu zerstören, bevor er ausgeschaltet wurde. Der Lärm des zerberstenden Glases und der Querschläger hing noch in der Luft, als die Schießerei schon längst zu Ende war. Samuel sah, immer noch mit eingezogenem Kopf, nach den anderen Passagieren. »Niemand verletzt«, rief er dem Fahrer zu. Er ging nach vorn und blickte durch die von den Kugeln durchsiebte Windschutzscheibe. Ihm bot sich eine entsetzliche Szene, die er nie vergessen sollte.

Ein Junge, der höchstens zwölf war, kam vom Lastwagen aus auf die Soldaten zu. Er hielt ein Gewehr mit beiden Händen hoch über dem Kopf, als wollte er sich ergeben. Offenbar hatte er Angst, und es sah aus, als würde er weinen. Ein Soldat befahl ihm, die Waffe auf den Boden zu legen, und er kam der Anweisung nach. Dann fiel er auf die Knie, legte die Fingerspitzen ans Kinn und flehte um sein Leben. Die beiden Soldaten stellten sich über ihn. Einer trat ihn ins Gesicht, sodass er bäuchlings auf den Boden fiel. Der andere hob die Kallie und feuerte Salven auf Rücken und Kopf des Jungen ab. Wieder das gefürchtete Stakkato.

Als alles ruhig war, hoben die Fahrgäste vorsichtig die Köpfe und beobachteten, wie die Soldaten die Straße räumten, die sechs Leichen zu dem Lastwagen schleiften und in der Nähe des Tanks, der sich unter dem Fahrersitz befand, aufeinanderstapelten. Seelenruhig durchsuchten sie alle Taschen und steckten Geld und Wertgegenstände ein. Die Waffen und zwei Satellitentelefone aus der Fahrerkabine nahmen sie ebenfalls an sich. Dann öffneten sie ein Ventil und ließen Diesel aus dem Tank über die Leichen laufen. Ein Soldat riss einem der Toten das T-Shirt vom Leib, tränkte es mit Feuerzeugbenzin und wickelte es um einen großen Stein. Er trat zurück, zündete das T-Shirt an und warf es auf den Lastwagen. Das Feuer loderte so heftig auf, dass sogar die Soldaten überrascht zurückwichen. Die tosenden Flammen verschlangen den Lastwagen und ließen dicken schwarzen Qualm aufsteigen. Flammen schossen aus den Kadavern, als die Kleidung Feuer fing, dann fing das Fleisch an zu brutzeln.

Die Soldaten lachten und ergötzten sich an ihrer Glanzleistung.

Der Busfahrer fegte die Glasscherben vom Armaturenbrett und nahm wieder Platz. Zusammen mit seinen Passagieren beobachtete er das Feuer und wartete auf die Soldaten. In der Reihe vor Samuel weinte eine Frau mit einem kleinen Kind. Samuel wechselte einen Blick mit einem Mann auf der anderen Seite des Gangs, aber beide standen zu sehr unter Schock, um etwas zu sagen.

Schließlich zogen sich die Soldaten zum Bus zurück und stiegen ein. Niemand nahm Blickkontakt mit ihnen auf. Der Fahrer wartete, bis ihm gesagt wurde, er solle losfahren. Während sie davonrollten, schaute Samuel durch das Fenster auf die furchtbare Szenerie. Der Anblick der brennenden Leichen prägte sich ihm für immer ein.

Die Straße verlief einen Kilometer lang geradeaus. Als sie eine Biegung nach rechts beschrieb, bemerkte er eine dicke Wolke grauen Qualms. Was würden die Passagiere des nächsten Busses sehen, der sich dem Schauplatz näherte? Wer würde die Überreste beseitigen? Die Leichen wegbringen? Den Vorfall den Behörden melden?

Im Südsudan gab es auf viele offensichtliche Fragen keine Antworten, und die Überlebenden hielten wohlweislich den Mund.

Die Soldaten lachten und redeten miteinander, ohne sich um die Passagiere zu kümmern. Der Fahrer deutete auf die Löcher in der Windschutzscheibe und machte einen Scherz, über den die Soldaten ebenfalls lachten. Nach einer halben Stunde stand einer von ihnen auf und ging durch den Gang, wobei er die Fahrgäste sowie ihre Taschen und Tüten eingehend musterte. Samuels neue Sporttasche erregte seine Aufmerksamkeit. »Was ist da drin?«

Samuel lächelte. »Basketballzeug.«

»Aufmachen.«

Der Soldat war Dinka wie die beiden anderen und Samuel selbst, und angesichts der endlosen ethnischen Konflikte, die im Land tobten, fühlte er sich bei seinen eigenen Leuten halbwegs sicher. Ihn würden sie hoffentlich nicht bestehlen. Er öffnete die Tasche und zeigte sie dem Soldaten.

»Basketball?«, fragte der.

»Ja. Ich gehöre zur Nationalmannschaft. Wir spielen im Juli in den Vereinigten Staaten.«

Der Soldat griff sich die Tasche und nahm sie mit nach vorn, um sie seinen Kameraden zu zeigen. Sie holten den neuen Ball heraus, zwei Trainings-T-Shirts, zwei Sportshorts, zwei Paar weiße Socken und drei Kappen mit einem südsudanesischen U18-Logo an der Vorderseite. Nachdem sie alles inspiziert hatten, nahmen sie ihre braunen Barette ab und setzten die Kappen auf.

Einer von ihnen drehte sich um und sah Samuel an. »Komm vor.«

Samuel gehorchte und setzte sich hinter sie. Sie wollten alles über die Mannschaft, die Turniere und die Reise in die USA wissen. Einer war ein Fan von Niollo und behauptete, sich sehr für die Miami Heat zu interessieren. Sie wollten wissen, ob Samuel für ein amerikanisches College spielen würde. Was mit der NBA sei.

Der Bus hielt in einem weiteren Dorf, und zwei Passagiere stiegen ein. Als sie wieder unterwegs waren, fasste sich Samuel, der immer noch bei den Soldaten saß, ein Herz. »Kann ich etwas fragen?«

»Na klar«, sagte der Gesprächigste von ihnen, der eindeutig der Anführer der Gruppe war. Alle drei trugen immer noch die U18-Kappen.

»Wer waren diese Männer?«

»Eine Diebesbande, ein paar üble Gestalten, die hier Ärger gemacht haben.«

»Jetzt nicht mehr«, sagte ein anderer und lachte.

»Woher wussten Sie, dass sie den Bus anhalten würden?«, fragte Samuel.

Einer griff nach einem Satellitentelefon und grinste. »Die benutzen die gleichen wie wir, und wir hören mit. So schlau sind die nicht.«

»Das waren also keine Rebellen?«

»Nein, nur eine Bande Verbrecher, die stehlen, vergewaltigen und morden.«

»Sie hätten uns umgebracht?«

»Das weiß man bei diesen Gangstern nie. Letzte Woche haben sie auf der Fernstraße westlich von Juba einen Bus angehalten, in der Nacht. Alle mussten aussteigen und sich am Straßenrand aufstellen. Der Busfahrer musste sich hinknien und um sein Leben betteln, dann haben sie ihn erschossen. Sie haben alle ausgeraubt, ihnen ihre Taschen und ihr Gepäck abgenommen. Zwei junge Frauen waren dabei, eine mit einem Kind. Sie haben sie wieder in den Bus geschleift und eine Stunde lang vergewaltigt, während die anderen Passagiere zuhören mussten. Zwei Jungs haben sich in der Dunkelheit davongeschlichen und sind entkommen.«

Samuel warf einen Blick nach links, wo eine Bäuerin saß, die vielleicht vierzig Jahre alt sein mochte. Ihre Tochter im Teenageralter saß neben ihr. Waren sie um Haaresbreite einer Katastrophe entkommen?

»Und du?«, fragte der Anführer. »Ein gesunder junger Mann von – wie alt bist du?«

»Siebzehn.«

»Ich bin mit siebzehn zur Armee gegangen. Vor drei Jahren. Dich hätten sie wahrscheinlich nicht umgebracht, sondern mitgenommen und gezwungen, dich ihrer Gang anzuschließen. Wenn du Widerstand geleistet hättest, hätten sie dich erschossen.« Er senkte die Stimme und sah das Mädchen an. »Sie hätte keine Chance gehabt. Und der Fahrer? Den Fahrer töten sie immer.«

»Routine«, ergänzte ein anderer.

»Dann können wir Ihnen nur dankbar sein«, sagte Samuel.

»Es ist unser Job.«

Sie nahmen die Kappen ab und legten sie zusammen mit Ball, T-Shirts, Shorts und Socken wieder in die Sporttasche.

»Wenn du in der NBA eine Million Dollar verdienst, kommst du wieder und gibst uns ein Bier aus, okay?«

»So viel Bier, wie Sie trinken können!«

»Das merken wir uns.«

Sie gaben ihm die Sporttasche zurück, und Samuel ging wieder zu seinem Platz. Noch vier Stunden bis nach Hause.

6

Am Busbahnhof in Rumbek erwartete ihn kein Begrüßungskomitee. Er sah kein einziges bekanntes Gesicht. Der Bus hatte mehrere Stunden Verspätung, und er hatte nicht damit gerechnet, dass jemand auf ihn wartete. Also hielt er ein Motorradtaxi an und sprang auf den Soziussitz, wobei er seine beiden Taschen fest umklammert hielt. Der Fahrer, der höchstens fünfzehn war, ging mit seinem Motorrad um wie alle anderen auch: rücksichtslos und tollkühn und fest entschlossen, seinem Fahrgast Todesangst einzujagen. Samuel hielt sich verzweifelt fest, verkniff sich aber wohlweislich jeden Kommentar über die halsbrecherischen Manöver. Lotta lag fünf Kilometer entfernt, ein Fußmarsch von einer Stunde in der brennenden Sonne. Die Taxifahrt kostete zwanzig Cent. Samuel musste im Stillen darüber lachen, wie er mit Geld um sich warf, wo er jetzt doch ein Star war.

Beatrice bewässerte hinter dem Haus das Gemüse, als sie Angelinas aufgeregtes Kreischen hörte. Sie lief nach drinnen und sah Samuel in einem Trainings-T-Shirt der südsudanesischen Nationalmannschaft in der Küche stehen, in einer Pose, als gehörte ihm die ganze Welt. »Ich bin in der Mannschaft, Mom!«, brüllte er, nahm seine Mutter in die Arme und hob sie hoch. Beatrice umarmte ihn ihrerseits und fing an zu weinen, während Angelina auf der Suche nach irgendwem, der die große Neuigkeit hören wollte, durch das Haus hüpfte. Da keiner da war, lief sie auf die Straße, und binnen Sekunden wusste die Nachbarschaft, dass ihr Traum wahr geworden war. Samuel Sooleymon würde in Amerika Basketball spielen!

Innerhalb einer Stunde war eine zweite Feier im Gang, und das ganze Dorf versammelte sich auf der Straße vor dem Haus. Als Ayak mit James und Chol von der Schule nach Hause kam, lief Samuel ihnen unter lauten Beifallsrufen entgegen, um sie zu begrüßen. Die Nachbarn brachten gekochte Erdnüsse, Sesamsnacks, Zimttee und Mandazi, ein beliebtes Schmalzgebäck.

Stolz zeigte Samuel allen sein neues Arbeitsmittel, einen Spalding NBA Streetball, der, wie er erklärte, aus haltbarem Gummi und für Spiele im Freien gedacht war. Er warf ihn James zu, der ihn einem Freund zupasste, und bald flog der glänzende neue Ball im Zickzack von einem der älteren Jungen zum anderen, wobei jeder ihn kurz festhielt, um ihn zu bewundern. Ein Radio fing an, Musik zu spielen, während sich der Tag dem Ende zuneigte und die Schatten länger wurden.

Als die Sonne unterging, endete einer der glorreichsten Tage in der Geschichte Lottas. Alle Bewohner waren ebenso aufgeregt wie hoffnungsvoll. Ein Sohn ihres Dorfes machte seinen Weg.

Bis spät in die Nacht saß die Familie im dunklen Haus, lachte und plauderte und träumte von den Dingen, die in Amerika passieren würden. Schon im Bus hatte Samuel beschlossen, seiner Familie nichts von den Banditen, den Soldaten, dem Überfall und den brennenden Leichen zu erzählen. Anfang Juli würde er erneut mit dem Bus nach Juba fahren müssen, und er wollte nicht, dass sie sich Sorgen machten.

Als er später im Bett lag, verfolgte ihn der Gedanke an den Jungen, der ohne jeden Grund getötet worden war. Er war etwa so groß und so alt gewesen wie der zwölfjährige Chol. Wer war er? Woher kam er? Hatte er Familie? Wie kam es, dass er mit einer Räuberbande Reisende überfiel? Würde jemand um seinen Tod trauern? Würde überhaupt jemand davon erfahren?

Auch wenn die Soldaten ihre Pflicht getan und wahrscheinlich Menschenleben gerettet hatten, fand Samuel es verstörend, wie leichtfertig sie töteten und dass sie überhaupt kein Bedauern kannten. Sie hatten gelacht, als sie die Toten verbrannten. Dann waren sie in den Bus gestiegen, als wäre nichts passiert. War es möglich, so viele Menschen und so oft zu töten, dass man abstumpfte und nichts mehr empfand? Aber sie waren jung, so alt wie Samuel. Ihre Väter und Großväter hatten vermutlich in den Bürgerkriegen gegen den Norden gekämpft, die fünfzig Jahre gedauert hatten. Sie waren mit Gewalt und Blutvergießen aufgewachsen. Es war ihnen egal. Jetzt, wo der Südsudan erneut von einem Bürgerkrieg zerrissen wurde, waren Blutvergießen und Gräueltaten schlimmer denn je.

Beatrice hatte einen Cousin, der bei einem Massaker in seinem nur eine Stunde entfernten Dorf ums Leben gekommen war. Jeder im Südsudan kannte solche Geschichten.

Von den brennenden Leichen bis zu seiner ruhmreichen Zukunft im Basketball: Samuels Gedanken überschlugen sich, obwohl er eigentlich dringend schlafen musste.

Als er im Morgengrauen erwachte, fühlte er sich müde, aber sein Leben hatte einen neuen Sinn, und es gab Wichtiges zu tun. Er zog sich an, sammelte die Eier ein, schlang sein Frühstück mit drei Bissen hinunter, küsste seine Mutter zum Abschied und ging los, mit dem Rucksack über der Schulter und dem neuen Streetball, den er vor sich herdribbelte. Ganz allein auf dem Erdplatz, auf dem er seine halbe Kindheit verbracht hatte, schwor Samuel, seinen Sprungwurf zu perfektionieren, egal wie viele Stunden er dafür üben musste. In gut zwei Monaten würde er Coach Ecko Lam und seine neuen Mannschaftskameraden zu einer Trainingswoche in Juba treffen, und er war fest entschlossen, den Ball zu kontrollieren wie Stephen Curry, zu werfen wie Kobe Bryant und an beiden Enden des Felds so gut zu sein wie LeBron James. Niemand würde so hart arbeiten wie er. Keiner würde mehr Zeit auf dem Spielfeld verbringen als er.

Um sieben tauchten James und Chol mit ihrem alten Basketball auf. Drei andere Jungen erschienen mit einem eigenen Ball. Alle fünf waren bald nur noch damit beschäftigt, die Rebounds zu holen und Samuel den Ball zuzuwerfen.

Ball hoch, Ellbogen zum Ring, Schultern zurück, ein leichter Sprung. Samuel wiederholte vor jedem Sprung die Anweisungen, die Coach Lam ihm gegeben hatte. Und er zählte, warum auch immer. Bei zweihundert wurde er allmählich müde. Bei dreihundert war es Zeit für die Schule.

Er hatte gelesen, dass Kobe als Teenager fünfhundertmal pro Tag geworfen hatte. Und dass Stephen Curry einmal im Training siebenundsiebzig Dreier hintereinander erzielt hatte. Die Zahlen gefielen ihm.

Ende Mai beendete Samuel sein letztes Jahr an der weiterführenden Schule und erhielt bei einer Zeremonie, die unter freiem Himmel stattfand, sein Zeugnis. In seiner Klasse waren zehn andere Mitschüler, alles Jungen, und ihr Schulleiter erinnerte sie daran, wie glücklich sie sich schätzen konnten, dass sie die Schule zu Ende gebracht hatten. In ihrer jungen, von Unruhen heimgesuchten Nation schaffte nur ein Drittel aller Jungen einen Abschluss. Bei den Mädchen war es eines von zehn, und auch nur in den großen Städten.

Samuel hatte sich bei der Universität in Juba beworben und war angenommen worden. Er wollte sich dort im Herbst auf jeden Fall einschreiben, obwohl er nicht genug Geld für die bescheidenen Studiengebühren und den Lebensunterhalt hatte. Falls es mit den USA nicht klappte, würde er nach Hause zurückkehren, nach Juba ziehen, sich eine Teilzeitstelle besorgen, ein Studiendarlehen beantragen und sich irgendwie durchschlagen wie so viele hungerleidende Studenten. Er hatte einen Blick auf das aufregende Leben in der Stadt erhascht und würde bald noch mehr von der Welt sehen, und er hatte sich geschworen, sich fern der Armut und Gewalt im Busch ein besseres Leben zu suchen.

Das alles war weit weg, als er stolz sein Zeugnis in die Höhe hielt und der Schulleiter endlos über die jungen Führungskräfte redete, die das Land so dringend brauche. Er gab sich Mühe zuzuhören, aber seine Gedanken waren bei der Reise seines Lebens, die im Juli stattfinden sollte, die unglaubliche Chance, vor den Augen der College-Scouts zu spielen. Eigentlich wollte er das nächste Jahr gar nicht damit verbringen, an der Universität in Juba Wirtschaft oder Medizin zu studieren.

Der Abschied war nicht nach dem Geschmack der Nachbarn. Sie hatten sich wieder eine Party für alle Anwohner gewünscht, mit Musik und Tanz bis spät in die Nacht. Beatrice und Ayak wussten das zu schätzen, aber sie hatten andere Pläne. Sie wollten, dass ihr Sohn früh zu Bett ging, sich richtig ausschlief und ohne große Umstände aufbrach.

Das Familienfrühstück verlief sehr ruhig. Sie aßen Eier und Gebäck und tranken Tamarindensaft dazu, für die Erwachsenen gab es Kaffee. Angelina, James und Chol waren hin- und hergerissen zwischen der Freude über das große Abenteuer, das ihr Bruder erleben sollte, und Traurigkeit oder gar Angst. Die Familie war immer zusammen gewesen, und der Gedanke, dass Samuel sie verließ, jetzt oder in einem Monat, wenn die Uni anfing, machte ihnen zu schaffen.

Er witzelte mit seinen Geschwistern herum und versprach ihnen, Ansichtskarten zu schreiben, auch wenn es im ländlichen Südsudan praktisch keine Post gab. Er wollte sich melden, wann immer es möglich war. Coach Lam hatte ein Handy und versprochen, sich etwas einfallen zu lassen, damit Samuel zu Hause anrufen konnte, was schwierig war, weil Lotta so weit von Juba entfernt lag.

Als es Zeit wurde, nahm er seine sorgfältig gepackte Sporttasche und ging nach draußen, wo ein Dutzend Nachbarn vor dem Haus herumlungerten, um sich zu verabschieden. Er bedankte sich dafür, umarmte einige von ihnen und drückte dann seine Geschwister. Angelina wischte sich die Tränen ab. Beatrice gab ihm einen kleinen Pappkarton mit Proviant für die Busfahrt, und er hielt seine Mutter lange ganz fest.

Um dem Anlass gerecht zu werden, hatte ein Cousin, der einen der wenigen Pick-ups im Dorf besaß, sein Fahrzeug von Staub und Dreck befreit und vor dem Haus geparkt. Die Ladeklappe war geöffnet. Er nahm Samuel die Sporttasche ab, warf sie auf die Ladefläche und klopfte mit der Hand auf ein Kissen auf der Klappe. Ein Thron für den Ehrengast. Während sich die Umstehenden näher heranschoben, holte Ayak einen kleinen Umschlag aus seiner Tasche und gab ihn seinem Sohn.

»Was ist das?«, wollte Samuel wissen.

»Bargeld. Von allen deinen Freunden. Jeder hat ein paar Münzen beigesteuert, und die Bank hat sie in Scheine umgetauscht. Etwa zehn.«