Das Tier - Sandra Busch - E-Book

Das Tier E-Book

Sandra Busch

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Beschreibung

Kurzbeschreibung: Schreckliche Morde sind in Hockenbruck geschehen. Doch der Mörder ist gefasst und sitzt im Kerker ein. Es ist das Tier. Nach sieben Monaten Einzelhaft trifft es ausgerechnet in den Verliesen auf seinen Engel, der ihm die Kraft gibt seine Fesseln zu sprengen und in die Freiheit zu entfliehen – verfolgt von jenen, die es zu dem machten, was es nun ist. Ca. 47.000 Wörter Im Taschenbuchformat hätte dieses Buch ca. 225 Seiten.

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von

 

Sandra Gernt & Sandra Busch

Kurzbeschreibung:

Schreckliche Morde sind in Hockenbruck geschehen. Doch der Mörder ist gefasst und sitzt im Kerker ein. Es ist das Tier.

Nach sieben Monaten Einzelhaft trifft es ausgerechnet in den Verliesen auf seinen Engel, der ihm die Kraft gibt seine Fesseln zu sprengen und in die Freiheit zu entfliehen– verfolgt von jenen, die es zu dem machten, was es nun ist.

 

Ca. 47.000 Wörter

Im Taschenbuchformat hätte dieses Buch ca. 225 Seiten.

 

 

 

Inhalt

 

Kapitel 1: Angst

Kapitel 2: Hunger

Kapitel 3: Vertrauen

Kapitel 4: Frieden

Kapitel 5: Zorn

Kapitel 6: Neid

Kapitel 7: Hoffnung

Kapitel 8: Monster

Kapitel 9: Wandel

Kapitel 10: Bedrängnis

Kapitel 11: Angriff

Kapitel 12: Gier

Kapitel 13: Wahnsinn

Kapitel 14: Eliminierung

Epilog

 

 

 

Es war eine Nacht wie jede andere. Oder zumindest hätte es eine Nacht wie jede andere werden sollen. Cyrian stand an seinem Platz in der von Gaslaternen schummrig beleuchteten Straße und bot sich mit einem strahlenden Lächeln den Freiern an. Obwohl er bereits zwanzig Jahre alt war, wirkte er weit jünger, mit dem lockigen blonden Haar und seinen großen braunen Augen traf er den Geschmack der Lustsuchenden und der ewige Hunger in seiner Kindheit hatte ihm eine schmächtige Statur verpasst. Nachdem er sich als Dieb nicht geschickt genug angestellt und Meister Flinkfinger ihn fortgeprügelt hatte, hatte ihn seine Mutter – Brudfor habe sie selig – kurzerhand zum Anschaffen an die Straße gestellt. Nun nutzte er seine jugendliche Erscheinung schamlos aus, um den Preis nach oben zu treiben. Schließlich gab es einen gewissen Kundenkreis, der umso mehr zahlte, je jünger der sich Anbietende war.

Ein Mann näherte sich ihm. Er war einer von der Stadtwache, was nicht ungewöhnlich war. Die Wachen kamen oft in die Rotenbachstraße, selten dienstlich, manchmal privat, manchmal um Schweigegeld zu erpressen, da das Treiben in dieser Straße eigentlich unter Strafe stand. Cyrian setzte sein einstudiertes Lächeln auf und als der Mann zustimmend nickte, winkte Cyrian ihn in eine dunkle Gasse. Hier pflegte er seine Kunden zu bedienen. Ein Zimmer konnte er sich nicht leisten, denn er sparte eisern. Schließlich würde er nicht ewig jung bleiben und sein Auskommen mit seinem blanken Hintern verdienen können. Und die Herbergsväter nahmen horrende Preise, damit die leichten Herren für eine halbe Stunde auf dem Rücken liegen konnten.

„Wie kann ich zu Diensten sein?“, fragte Cyrian und wandte sich dem Freier zu.

„Es geht nicht um mich, du Wicht. Aber du bist bestimmt ein nettes Geschenk.“

Verwirrt blinzelte er. „Was?“

Plötzlich tauchten zwei weitere Wachen aus dem Dunkel auf. Ehe Cyrian reagieren konnte, wurde er von starken Händen gepackt und festgehalten. Ein Knebel fand den Weg zwischen seine Zähne und seine Arme wurden ihm auf den Rücken gebogen und dort fest verschnürt. Angstvoll brüllte er auf. Er hatte von Privatorgien gehört, an denen Schicksalsgenossen unfreiwillig hatten teilhaben dürfen. Sollte ihm ein ähnliches Los blühen?

„Zappel ruhig. Du wist noch mehr zappeln, wenn dich das Tier in seinen Fängen hat.“ Amüsiertes Gelächter erscholl um ihn her, ehe er grob mitgezerrt wurde.

Das Tier?

Cyrian wurde ganz steif, was die Wachen nicht davon abhielt, ihn einfach mitzuschleifen. Jeder hatte von dem Tier gehört, dem gnadenlosen Serienmörder, der seit geraumer Zeit in der finstersten Kerkerzelle des Gefängnisses saß. Grausam hatte er seine Opfer zur Strecke gebracht und sie in seiner Wut regelrecht in Stücke zerhackt und zerrissen. Allesamt waren sie Angehörige der gehobenen Schicht gewesen und es ging ein deutliches Aufatmen durch ihre Reihen, nachdem man das Tier endlich gefasst hatte. Für Cyrian und viele andere war es allerdings ein unerklärliches Phänomen, warum man den Mörder nicht längst hingerichtet hatte.

„Das wird ein Spaß!“ Die Wächter lachten.

„Ob er das zu würdigen weiß, wie wir uns um seine Bedürfnisse kümmern?“, fragte einer feixend.

„Und gleichzeitig räumen wir den Abschaum von der Straße“, fügte ein weiterer hinzu. Cyrian trat ihm gegen das Schienbein. Er war kein Abschaum! Prompt kassierte er eine Backpfeife.

„Tritt ruhig“, wurde ihm hämisch ins Ohr geflüstert. „Du wirst noch früh genug um dich schlagen, beißen und treten. Wenn du nämlich in den Klauen des Tieres befindest. Dann kannst du heulen und jammern soviel du willst. Da unten in den Kerkerzellen wird dich keiner hören.“

Angstvoll starrte er die Wachen an, die ihn mit sich zerrten. In seinem Magen bildete sich ein dicker, fester Klumpen, der ihm die Kehle hochwanderte und die Luft abdrückte. Schweiß bildete sich auf seiner Stirn und tropfte ihm in die Augen. Mit aller Kraft versuchte er sich zu wehren, sich loszureißen und zu befreien. Doch er fing sich weitere schmerzhafte Hiebe und Knüffe ein.

„Es soll niemand sagen, dass wir unserem besonderen Insassen nicht alle Wünsche erfüllen.“

Cyrian wurde angegrinst. Leider konnte er den Humor überhaupt nicht teilen.

 

Unter anzüglichen Witzen und viel Gelächter hatten sie ihm die Kleider vom Leib gerissen, in den Hintern gekniffen und ihre derben Scherze mit ihm getrieben. Der Knebel war fort und auch die Fesseln hatten die Wachen ihm gelöst. Nur einen Fluchtweg gab es nicht, selbst wenn er die kräftigen Männer hätte abschütteln können. Sie waren in die Tiefen des Gefängnisses hinabgestiegen, hatten die letzten düsteren Zellen mit ihren armseligen Bewohnern hinter sich gelassen, um sich dem letzten und wohl erbärmlichsten Loch zu nähern, das es hier gab. Gewaltige Riegel und zahlreiche Schlösser sicherten eine armdicke Tür aus versteinert wirkendem Eichenholz. Cyrians Herz schlug immer wilder, je weiter sie sich diesem Ziel näherten und sein Mut sank auf den Nullpunkt. Mittlerweile fürchtete er, vor Angst ohnmächtig zu werden.

Einer der Wächter entriegelte die zahlreichen Schlösser und öffnete die Zelle. Das finstere Loch, das sich auftat, erschien Cyrian wie ein Zugang in den Abgrund des Diabolischen. Ein grober Stoß, begleitet von einem zynischen „Viel Vergnügen!“, ließ ihn hilflos in das Dunkel taumeln. Den Schatten, der auf ihn zuschoss, fühlte er mehr, als dass er ihn sah. In dem Moment, in dem die Tür zufiel, tat er einen wilden Satz zurück. Er spürte noch Finger, die sein Gesicht und seinen Hals streiften, dann prallte er schmerzhaft gegen eine Wand. Ketten klirrten, als sich das Tier irgendwo vor ihm in der Dunkelheit bewegte. Keuchend kauerte sich Cyrian mit wie verrückt pochendem Herzen an der Wand nieder und schlang die Arme um seinen nackten Leib. Stroh raschelte, es stank nach einem ungewaschenen Körper und Exkrementen. Was für eine Schreckensgestalt mochte da in der Finsternis hocken? Und wie lang waren die Ketten, die das Tier hielten? Würden sie das Monster davon abhalten, ihn umzubringen? Er hörte, wie sich das Tier bewegte, nervös, unruhig … gierig? Tränen der Verzweiflung stiegen in seinen Augen auf.

„Bitte“, wimmerte er voller Panik. „Bitte, ich habe nichts getan.“

Die Geräusche vor ihm verstummten.

Es wartete.

Lauerte.

Cyrian schmiegte sich bibbernd gegen die Wand. Stumm verfluchte er seine Mutter, die ihn auf die Straße geschickt hatte. Er verfluchte auch die Wachen und das Tier, das Schicksal im Allgemeinen und die ganze restliche Welt gleich mit. Irgendwann schlief er ein, geistig und seelisch erschöpft, von Albträumen gepeinigt. Aber der Schlaf war die einzige Flucht, die er ergreifen konnte.

Etwas krabbelte an seinen Zehen. Schlaftrunken trat er danach und drehte sich auf die andere Seite.

Kühl ist es hier, ging es ihm träge durch den Kopf, als er sich zusammenrollte. Erneut berührte ihn etwas am Fuß. Schlagartig war er hellwach und fuhr auf.

Zu spät!

Eiserne Finger umklammerten seinen Knöchel und begannen an ihm zu ziehen.

Das Tier! Das Tier hatte ihn gepackt!

Cyrian begann hilflos zu kreischen, als er bäuchlings durch den Kerkerdreck gezogen wurde, näher und näher an den grausamen Massenmörder heran. Seine Finger krallten sich in das stinkende Stroh, bemühten sich verzweifelt um einen Halt. Er versuchte nach dem Tier zu treten und strampelte wie verrückt.

Eine zweite Hand glitt über seinen Körper und verursachte ihm eine Gänsehaut. Sie packte ihn am Arm, riss ihn rücklings in die Höhe und dann herum. Jetzt rutschte er seitlich auf das Tier zu.

„Neeeeeeiiiiiiiiiin!“, heulte er wie ein erbärmliches Kleinkind. Er war längst nicht mehr Herr seiner Angst. Zu viele Geschichten hatte er über das Tier gehört, eine schauriger als die andere. Und nun befand er sich in dem unnachgiebigen Griff dieser erbarmungslosen Kreatur. Hatte er nicht ebenfalls gehört, dass das Tier seine Opfer gefressen hatte? Würde es seine Zähne auch in sein Fleisch schlagen? Hatten die Wachen es hungern lassen? Himmel! Was von den zahlreichen Gerüchten war wirklich wahr?

Er wurde an einen harten Körper gepresst. Haare streiften kitzelnd seine Haut, als sich ein Gesicht gegen seine Schulter drückte. Cyrian verkrampfte sich, als ihm bewusst wurde, dass das Tier an ihm roch. Die schnüffelnde Nase wanderte über seine Brust und über seinen Bauch bis hin zu seinem Schritt, glitt wieder höher und bohrte sich in seine Haare.

„Ich rieche Sonne an dir“, krächzte eine heisere Stimme. „Und den Frühling.“

Das Tier sprach mit ihm!

„Wer bist du? Was hast du getan, dass man dich zu mir in dieses Loch steckt?“

Cyrian würgte an seiner Angst. Was würde das Tier mit ihm anstellen? Und … und würde es sehr wehtun?

„Rede!“, wurde er von der rauen Stimme angeherrscht. „Rede mit mir!“

Hände schüttelten ihn voller Nachdruck, während das Tier auf ihn einschrie:

„Rede! Verdammt, rede!“

 

Er ließ lockerer, als der junge Mann zu weinen begann. Wenn er wollte, dass der Kleine sprach, würde er geduldiger sein müssen. Gewiss hatten die Wärter ihn mit abscheulichen Geschichten in den Wahnsinn getrieben. Lügen, alles Lügen!

Thars strich über die weiche Haut seines Leidensgefährten. Er musste selbst ruhiger werden. Seine Gabe nutzen, auch wenn er sie lange unterdrückt hatte und sehr geschwächt war von Hunger und Schmerz und der Sehnsucht nach Freiheit.

Ein Liebesdiener, erkannte er, als er die Witterung des Jungen auf sich wirken ließ. Zu deutlich war der Geruch nach rauen Händen, Schweiß und Sperma. Warum hatten die Wärter ihm so jemanden geschickt? Glaubten sie, es würde ihm nach dem Körper eines Kindes gelüsten? Obwohl – der Kleine war älter als er aussah. Viel erkennen konnte Thars selbstverständlich nicht, auch seine übermenschlich scharfen Augen versagten größtenteils in der lichtlosen Finsternis. Dennoch, dank seines Geruchssinns nahm Thars deutlich wahr, dass der Junge beinahe das Ende des Wachstums erreicht hatte, er musste neunzehn oder zwanzig Jahre zählen.

Wie alt war er selbst noch mal? Während er durch die weichen Haare wühlte, die in sachten Wellen bis an die Schultern des jungen Mannes reichten – schnupperte er da einen Honigblondton? – dachte Thars kurz nach. Mehr als zwanzig Jahre waren es bestimmt. Weniger als dreißig, wenn er sich nicht irrte. Hier unten im Kerker verlor sich alles Denken und Erinnern.

Gleichgültig.

Er musste sich stark konzentrieren. An vielen Händen, durch die der Junge gereicht worden war, hatte Blut geklebt. Schuld. Thars sah flüchtig die Gesichter, alte, junge, grausame, freundliche. Unzählige Menschen, denen der Gestank von Schuld anhaftete. Es war schwierig, all diese Gerüche auszublenden und bis zu dem ureigenen Duft des Jungen vorzudringen. Er gefiel ihm. Süß und unschuldig. Oh, der Kleine hatte gestohlen. Seine Freier ausgetrickst. Einiges getan, um nicht verhungern zu müssen. Er war noch immer sehr kindlich, nicht bloß äußerlich, sondern auch im Inneren. Ein Kind, das tat, was die Erwachsenen ihm befahlen. Das sich freiwillig der Gewalt von Männern auslieferte, weil seine Mutter es ihm befohlen hatte. Thars schnupperte weiter über den schlanken Körper, der mittlerweile still in seinen Armen lag. Über dem Herzen verharrte er, lauschte dem kräftigen Schlag, erkundete mit allen Sinnen diese jugendliche Seele.

„Du hast großes Talent in dir“, flüsterte er. „Der Schöpfer erwartet mehr von dir, als nur ein Gefäß zu sein, in das Männer abspritzen können. Lass mich deine Stimme hören. Sprich mit mir.“

Einzig die hektischen Atemzüge des Jungen antworteten ihm.

„Bist du plötzlich stumm geworden? Komm, rede mit mir. Du hast ja keine Ahnung, wie lange es her ist, dass ich mit jemandem sprechen konnte.“

Angst! Da war viel zu viel Angst in diesem furchterstarrtem Körper. Befürchtete der Bursche etwa, dass er ihm etwas antun wollte? Vielleicht sollte er ihn besser loslassen? Vorsichtig ließ er den Jungen aus seinen Armen gleiten, hielt ihn allerdings am Handgelenk fest.

„Sprich doch“, flehte er, begierig endlich eine andere Stimme zu hören, als die des Kerkermeisters, wenn der irgendeinen Fraß brachte oder in einem Anflug von Großmut den Jaucheeimer leerte.

„Was … was wollen Sie hören?“

Kaum mehr als ein Hauch, aber es war menschliche Sprache! Thars wischte sich mit der freien Hand über das Gesicht, als seine Augen plötzlich feucht wurden.

„Fangen wir mit deinem Namen an, mein Süßer.“

„Ich heiße …“ Der Junge räusperte sich und fuhr dann etwas lauter fort: „Ich heiße Cyrian.“

Ein großer Name, ein starker Name. Ja, Brudfor hatte ohne Zweifel noch Großes mit dem Jungen vor. Cyrian versuchte zaghaft sein Handgelenk zu befreien, woraufhin er den Griff festigte. Sofort stellte der Junge die Bemühungen ein. Der Geruch nach Angst verstärkte sich wieder.

„Fürchte dich nicht, Junge. Ich werde dir kein Leid zufügen. Welche Jahreszeit haben wir da draußen?“, fragte Thars weiter.

„Frühling, Herr. Es ist Frühling draußen. Sie müssen jetzt seit sieben Monaten hier sein.“

Er hörte, wie Cyrian erschrocken nach Luft schnappte. Sicherlich hatte ihn der Junge nicht an sein Schicksal erinnern und damit verärgern wollen.

„Ja“, flüsterte er. „Sieben Monate. Monate ohne frische Luft, dem Wind in den Haaren und ohne ein freundliches Gesicht. Und warum? Weil sie sich nicht trauen, mich hinzurichten.“

Thars spürte regelrecht, wie sich der Junge bei seinen Worten verkrampfte. Verdammt! Er hätte nicht anfangen sollen, über seine Hinrichtung zu reden.

„Hab keine Furcht, Cyrian. Dir droht von mir keine Gefahr. Rück ein Stück näher, mein Süßer, und lass mich ein wenig an deiner Unschuld teilhaben.“

Cyrian lachte verbittert auf. „Unschuldig bin ich wohl kaum.“

„Du hast eine reine Seele. Das ist selten“, flüsterte Thars. Der Junge schwieg dazu, schien sich jedoch ein Herz zu fassen und näherte sich tatsächlich etwas an. Erst in diesem Moment wagte Thars, sein Handgelenk freizugeben. Unbeschreiblich, wie sehr er die Nähe dieses Jungen genoss.

„Wie … wie kann ich Ihnen zu Diensten sein, Herr?“, wollte Cyrian zaghaft wissen. Nun bot sich ihm dieses Unschuldslamm auch noch an. Thars schüttelte den Kopf. Zottiges Haar fiel ihm dabei ins Gesicht, er strich es ärgerlich fort. Vor sieben Monaten war er ein gepflegter Mann gewesen. Heute begeisterte er sich an einem Stück schimmligen Brotes. Es war schon erstaunlich wie sich Prioritäten verschieben konnten.

„Du bist nicht hier, um mich zu erfreuen, Cyrian. Oder magst du von einem ungewaschenen, stinkenden und verlausten Kerl bestiegen werden? Bah! Ich kann selbst riechen, was für Dreck an mir klebt.“

„Weswegen haben sie mich denn dann geholt?“

„Es hat mal eine Zeit gegeben, in der ich in aller Bequemlichkeit gelebt habe. In der mir Schönheiten, wie du eine bist, hinterhergelaufen sind. Sorgenfreie Tage …“ Thars verstummte, würgte an der Bitterkeit, die in ihm aufstieg und versuchte, nicht an seinem Hass zu ersticken. Hass gegenüber denjenigen, die ihn hier wie ein wildes Tier eingesperrt hatten. Er schnaubte wütend. Wahrlich! Zu einem Tier hatten sie ihn gemacht.

„Sie wollen mich mit der Erinnerung an diese Zeiten quälen. Deswegen bist du hier, Süßer.“ Er streckte die Hand aus und ließ sie über Cyrians weiche Haut gleiten. Der Junge zuckte zusammen und sein Atem beschleunigte sich. Er hatte noch immer Angst, war aber zumindest nicht mehr panisch.

„Kannst du singen, Cyrian?“, fragte er leise. „Ich würde dich gern singen hören. Du hast eine angenehme, warme Stimme. Bestimmt singst du wie ein Himmelsgeschöpf.“

„Singen? Oh nein, Herr, das wollen Sie nicht wirklich. Ich kenne keine anständigen Lieder.“

Thars’ Finger streichelten über eine bloße Schulter des Jungen.

Gesellschaft, dachte er wehmütig, ist doch ein kostbares Gut.

„Du kannst ruhig Gossenlieder singen, Süßer. Ich bin nicht zimperlich. Hauptsache, ich darf deine Stimme hören. Sing für mich.“

 

 

Cyrians Hals fühlte sich wund an. Stundenlang hatte er gesungen. Immer wieder dieselben schlüpfrigen Lieder, bis seine Stimme versagt hatte und er erschöpft gegen die Wand gesunken war. Das Tier hatte ihn nicht einmal unterbrochen und sich nicht weiter gerührt. Ihm schien es beinahe, als hätte er es mit seinem Gesang gezähmt. Tiefe, gleichmäßige Atemzüge sagten ihm nun, dass der Mörder neben ihm eingeschlafen war. Vorsichtig kroch er von ihm fort und an das andere Ende der winzigen Zelle. Dieses Mal zog er die Beine an. Nicht noch einmal wollte er am Fuß gepackt werden. Der Schreck darüber saß ihm noch in allen Knochen. Und womöglich wollte das Tier nach dem Aufwachen doch noch seinen Tod.

Es hat geweint, fuhr es ihm durch den Sinn. Es hat geweint, als ich gesungen habe. Und es hält mich für unschuldig. Beinahe hätte er laut herausgelacht. Was für ein Unsinn! Dabei hatte er jede heruntergelassene Hose genutzt, um mit dem Münzbeutel eines durchreisenden Freiers zu verschwinden. Er hatte ein Messer gebraucht, um andere Liebesdiener so lange zu bedrohen, bis er einen der besten Plätze in der Rotenbachstraße ergattert hatte. Um in dieser Straße anschaffen zu können, hatte er sich mühselig eine gepflegtere Sprache angewöhnen müssen. Mit dem Gossenslang, der in seinem Heimatviertel gesprochen wurde, wäre er schnell wieder verjagt worden. Und er war sich für keinen Dienst zu schade gewesen, solange er klingende Münzen dafür erhalten hatte. Geld … um nichts anderes ging es ihm. Ohne diese winzigen runden Metallscheiben war man ein Nichts, ein Niemand. Sie allein bestimmten sein Leben. Was sollte denn aus ihm werden, wenn er älter und nicht mehr begehrt wurde? Oder wenn ihn ein anderer, neiderfüllter Liebesdiener überfiel und verstümmelte? Nicht auszudenken. Er brauchte die Münzen und hortete sie in einem Versteck.

Vielleicht könnte ich mich mit dem Ersparten freikaufen. Wenn ich den Wächtern sage, dass ich dafür bezahle, dass sie mich hier heraus lassen … Brudfor, zeige dich gnädig! Ich kann hier doch nicht verrotten oder mich von dem Tier töten lassen.

Als hätte Brudfor seine stumme Bitte vernommen, öffnete sich die schwere Tür und zwei Wachen traten ein. Eine Fackel, die in einen eisernen Halter gesteckt wurde, erhellte die kleine Zelle. Ihm gegenüber rührte sich das Tier. Es presste mit einem leisen Knurren die Hände gegen seine Augen. Bestimmt schmerzte es das ungewohnte Licht.

Fasziniert schaute Cyrian zu dem Mörder hinüber. Er war in Fetzen gehüllt, die vor Schmutz starrten. Um seinen Hals befand sich ein eiserner Ring, von dem eine schwere Kette zur Wand führte. Ansonsten sah Cyrian nur zottiges, strähniges, dunkles Haar und einen wild verfilzten Bart.

„Ist eure kleine Feier bereits vorbei?“, fragte einer der Wächter hämisch. „Schade, wo wir doch gerade in der Stimmung waren, mitzumachen.“

„Vielleicht sollten wir ihm zeigen, was man mit einem Bürschchen wie ihm anstellt. Zum Singen haben wir ihn wohl kaum hierher gebracht.“ Der zweite Wächter fasste sich provokant in den Schritt. Cyrian rutschte in die allerhinterste Ecke. Er ahnte, worauf das Spotten hinauslaufen würde.

„Ich habe Geld“, rief er mit piepsiger Stimme. „Wenn ihr mich gehen lasst, könnt ihr es haben.“

„Na klar hast du Geld. Bestimmt ist es versteckt. Und wenn du ganz brav die Arschbacken spreizt, werden wir es garantiert schnell finden.“ Die Wächter wieherten vor Vergnügen. Der erste öffnete die Verschnürung seiner Hose und trat großspurig auf ihn zu. Solche Kerle kannte Cyrian zu Genüge. Die hatten immer ein größeres Ego als der Zahnstocher in ihrer Hose lang war.

„Komm her, Kleiner, und lass uns dem Tier mal zeigen, welche Töne ich dir entlocken kann.“

Brudfor, du Idiot! So war das nicht geplant, fluchte er stumm, während er sich verzweifelt nach einem Fluchtweg umschaute. Doch auf der einen Seite war das Tier angekettet und vor der Tür stand der andere Wächter. Und Schreien würde ihm nicht viel nützen.

Er entschied sich dennoch für die letztere Variante, als sich der lüsterne Wächter auf ihn stürzte, ihn an den Hüften packte und zu fixieren versuchte. Mit aller Kraft setzte sich Cyrian zur Wehr, schlug, kratzte und biss um sich. Ganz so wie es die Männer ihm noch in der Rotenbachstraße prophezeit hatten. Mit dem feinen Unterschied, dass er wider Erwarten nicht gegen das Tier ankämpfte.

„Hilf mir doch mal“, forderte sein Widersacher seinen Kumpel keuchend auf. Gleich darauf donnerte eine Faust mitten in Cyrians Gesicht. Benommen sackte er zurück, spürte nur noch wie in Trance, wie er auf den Bauch gedreht wurde. Dann krachte ein schwerer Körper auf ihn nieder.

 

Thars starrte erschöpft auf die Leichen der beiden Wärter nieder. Der wilde Zorn war über ihn hergefallen, der Rausch, der sein Denken, seine Menschlichkeit fortschwemmte. Er riss seine Opfer nicht in Stücke, aber tot waren sie trotzdem. Thars fühlte sich leer, so leer … Dabei hatte er es bloß getan, um seinen Engel zu beschützen. Sie hätten ihn vergewaltigt und totgeprügelt, er hatte es gesehen. Diese Visionen überfielen ihn, wenn er in die Nähe von Mördern geriet und der wilde Zorn kam, wenn er damit den Mord verhindern konnte. Alle seine Opfer waren Mörder gewesen, und in fast jedem Fall hatte Thars ein oder mehrere Menschenleben gerettet. Nur einmal war er zu spät gekommen … Den Tod der kleinen Baroness hatte man ihm ebenfalls angehängt.

Ein heiserer Laut holte Thars aus seinen melancholischen Gedanken. Sein Engel lebte und er brauchte Hilfe! Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass er seine Ketten gesprengt hatte. Ja, wenn der Zorn ihn im Griff hatte, konnte keine Mauer, kein Tor, keine Eisenschellen ihn zurückhalten. Der Weg war frei. Er war frei!

Triumphierend hockte er sich auf die Fersen und brüllte, schrie sich all die Verzweiflung und Leere, die endlosen Stunden im dunklen Nichts, den Hass auf seine Peiniger, die Wut auf jene die ihn verraten hatten, von der Seele. Danach hob er seinen Engel vorsichtig hoch. Die ersten Schritte waren schwer. Zu lange hatte er auf hartem Gestein gekauert, seine Muskeln wollten kaum sein eigenes Gewicht tragen, geschweige denn das des Jungen. Doch der süße Duft der Freiheit lockte ihn voran, darum kämpfte er verbissen.

„Das Tier! Das Tier ist frei!“ Der Ruf erscholl aus allen Verliesen und eilte ihm voraus. Allzu bald schon hörte Thars metallisches Klappern. Er witterte den Gestank der Wärter, die sich zusammenrotteten, um ihn in die Enge zu treiben. Oh, er würde es darauf ankommen lassen, er sehnte sich danach, kämpfend sterben zu dürfen! Aber was würde dann mit seinem Engel geschehen? Cyrian würde in einem solchen Kampf sicherlich verwundet werden und sterben! Außerdem hatte das Schwein, das ihn geschlagen hatte, ihm die Nase gebrochen. Derart verschandelt würde er sich nicht verkaufen können und müsste Hunger leiden. Wenn die Nase anschließend verkrümmt blieb, wäre er womöglich zu entstellt, um mit seinem Körper sein Brot zu verdienen.

Thars hielt an und witterte in alle Richtungen. Gleichgültig, wie sehr die klare Nachtluft ihn verführte, er wollte einen besseren Weg finden …

Er konnte die Kanäle riechen, jene Rohre, die Unrat und Regenwasser unterhalb des Kerkers zum Meer brachten. Und wo war der Einstieg?

Noch bevor er sich entschieden hatte, welche Richtung er nehmen wollte, begann in dem Verlies neben ihm jemand zu schreien.

„Es ist hier! Das Tier, es ist hier, kommt her!“ Der Gefangene schlug mit aller Kraft gegen die Tür. Das Gebrüll wurde in den Nachbarverliesen aufgenommen und schon bald war der Lärm so infernalisch, das er Thars‘ empfindliche Sinne regelrecht betäubte. Er musste raus, sofort, raus!

Gehetzt drehte er sich im Kreis. Überall waren Gänge. Keiner führte zur Kanalisation. Was sollte er tun, wohin sollte er fliehen? Er musste Cyrian in Sicherheit bringen!

Scharfer Schmerz schnitt in seinen rechten Oberschenkel, Thars heulte auf. Er war angeschossen worden! Als er herumwirbelte, seine kostbare Last auf den Schultern balancierend, starrte er in das bleiche Gesicht eines jungen Wärters. Die Hände des Mannes krampften sich um eine Pistole, die er weiterhin erhoben hielt; doch er zitterte derart stark, dass er nicht auf Thars anlegen konnte. Langsam humpelte Thars auf ihn zu.

„Bitte … Bitte …“, wimmerte der Wärter. Thars nahm ihm sanft die Waffe ab und schaute ihn an. Das dort vor ihm war kein Mörder. Seine Seele hatte gerade erst begonnen zu verderben und zu verrohen, so wie es jedem erging, der die absolute Macht über Gefangene erhielt.

„Gib mir die Schlüssel“, sagte Thars leise.

„Wa… wa… was?“

„Die Schlüssel. Jetzt.“

Angstschlotternd löste der Wärter das Schlüsselbund von seinem Gürtel und reichte es Thars an. Seit dem Schuss war es selig ruhig geworden. Er spürte die Blicke der Gefangenen, die durch jede Ritze starrten. Sie warteten darauf, dass er den Jungen dort in Fetzen riss, er konnte ihre lüsterne Gier nach blutigem Schauspiel wittern. Grollend schubste er den Wärter zu Boden und humpelte auf eine Kammer in der Nähe zu. Der Moment der Stille hatte gereicht, sich zu orientieren. In dieser Kammer gab es eine Luke, die hinab in die Kanalisation führte. Leider konnte er nicht wittern, welcher der zahllosen Schlüssel die Tür öffnete. Ihm entglitt von neuem die notwendige Konzentration, denn mittlerweile hatten die Gefangenen wieder zu Lärmen begonnen, offenkundig enttäuscht darüber, dass er ein Leben verschont hatte. Der Wärter kroch winselnd umher, zumindest er würde Thars keinen Kummer mehr machen.

Cyrians bewusstloser Körper lastete schwer auf seinen Schultern und er wusste, die anderen Wächter würden ihn bald finden. In fliegender Hast stieß er einen Schlüssel nach dem anderen in das Schloss. Verdammt, irgendeiner musste passen!

Diesmal warnten ihn seine Sinne rechtzeitig. Der Gestank eines Mörders drang beißend in seine Nase. Thars schaffte es nicht mehr, Cyrian zu Boden gleiten zu lassen, da verengte sich bereits sein Sichtfeld, alles wurde rot – der wilde Zorn ...

Cyrian erwachte, als er in kaltes, erbärmlich stinkendes Wasser eintauchte. Er konnte nicht atmen! Das Gefühl zu ersticken wurde noch stärker, als er zurück an die Oberfläche gelangte und feststellen musste, dass man seine Nase anscheinend zu Matsch geprügelt hatte und sein Mund mit Wasser gefüllt war. Hustend und spuckend zappelte er, bis er endlich durchatmen konnte. Luft! Gleichgültig wie sehr sie stank, es war Luft. Luft war Leben. Und er … Er hing quer über breite Schultern und wurde fest umklammert. Jetzt begriff er wenigstens, warum die Welt so grausam schaukelte und ruckte. Ihm war schlecht. Alles schmerzte, Schlamm spritzte in sein zerschlagenes Gesicht. Dazu war es stockdunkel. Wo war er? Cyrian schaffte es, den Kopf ein wenig zu heben. Vor ihm, in weiter Ferne, erblickte er einen Lichtfleck. Oder Moment … Dieser Lichtfleck kam in beängstigender Geschwindigkeit näher. Und näher. Und – war vorbei. Wer immer ihn trug, er rannte schneller als ein Pferd. Schneller als eine achtspännige Kutsche.

Das Tier!, dachte er. Cyrian erinnerte sich. Er hatte für das Tier gesungen. Dann waren die Wärter erschienen. Anscheinend hatte das Tier sich befreien können und beschlossen, ihn mitzunehmen. Als gemütliches Nachtmahl vielleicht?

Entkräftet ließ er sich wieder hängen. Gleichgültig, was als nächstes geschah, er würde es nicht verhindern können.

 

 

Stunden schienen vergangen zu sein, als das Geschaukel plötzlich nachließ. Cyrian wurde sanft zu Boden gebettet. Es roch nach Seetang und Meereswasser. Mit etwas Überwindung wagte er es, die Augen zu öffnen. Sie befanden sich in einer Höhle, erkannte er, oder wohl eher eine Vertiefung in einem Felsen. Der Mond schien hell auf das Meer, das nahebei seine Wellen an den Strand spülte. Das Geräusch hatte etwas zutiefst Beruhigendes. Cyrian war erst einmal in seinem Leben am Meer gewesen. Seine Mutter – Brudfor habe sie selig – hatte ihn damals aus einer Laune heraus all die vielen Meilen hergeschickt, um Krabben zu fangen. Die halbe Nacht war er am Strand geblieben, hatte der Brandung gelauscht, sich lauwarmes Wasser über die Füße plätschern lassen, bis er schließlich mit einem Eimer voller Krabben heimgekehrt war.

---ENDE DER LESEPROBE---