Das Vaterunser - Klaus Berger - E-Book

Das Vaterunser E-Book

Klaus Berger

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Beschreibung

Das Vaterunser ist ein bedeutender Text der christlichen Tradition, täglich millionenfach gebetet. Einerseits ganz einfach, hat es andererseits überraschende, manchmal auch sperrige Tiefendimensionen, die sich erst in der ernsthaften Auseinandersetzung zeigen. Klaus Berger gelingt es, das Vaterunser religionsgeschichtlich zu verorten, theologisch zu deuten und geistlich zu erschließen. Die Bitten des Vaterunser appellieren an die Initiative Gottes. Kenntnisreich und provokativ reflektiert diese theologische Meditation hingegen, wie das "Gebet des Herrn" seinerseits die Initiative des Menschen voraussetzt. Für die, die sich darauf einlassen, kann das Vaterunser zum Schlüssel für Mitmenschlichkeit und inneren Frieden werden.

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Seitenzahl: 191

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Klaus Berger

Das Vaterunser

Mit Herz und Verstand beten

Impressum

Die orientalischen Liturgien werden zitiert nach:

E. Renaudot, Liturgiarum orientalum collectio I–II, Paris 1716.

Die römische Liturgie wird zitiert nach:

Schott, Das vollständige römische Messbuch, Freiburg 1957.

Teresa von Avila wird zitiert nach:

Weg der Vollkommenheit. Sämtliche Schriften der

hl. Theresia von Jesus VI, hg. von A. Alkofer, München 1963.

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2014

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlaggestaltung: agenturIDee

Umschlagfoto:© shutterstock

E-Book-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

ISBN (E-Book) 978-3-451-80170-9

ISBN (Buch) 978-3-451-33458-0

Inhalt

Teil IDie Frage nach dem Sinn des ganzen Gebets

1 Worum geht es in dieser Auslegung?

2 Zur Orientierung

3 Fremdheit verstehen

4 Das Vaterunser ist ein Gebet

5 Ein Gebet Jesu

6 Was fehlt im Vaterunser?

7 Verschiedene Modelle, das Vaterunser zu verstehen

7.1. Im Rahmen der apokalyptischen Botschaft Jesu

7.2. Als liturgisches Gebet

7.3. Im Rahmen des Trinitätsglaubens

7.4. Als Botschaft der Vergebung

7.5. Theologie der Vergebung

7.6. Als Testament Jesu an seine Jünger

7.7. Im Rahmen der Kreuz- und Sühnetheologie

7.8. Angesichts der Theodizeefrage

7.9. Als Teil des Kampfes gegen das Böse

7.10. Das Vaterunser und die Reichsbotschaft Jesu

7.11. Als Gebet vor dem Tod

7.12. Als Gebet bei einer Eheschließung

7.13. Gott in der Mitte (Theozentrik)

Teil IIAuslegung der einzelnen Bitten

1 Vorausgehende Gebete

1.1. Umsetzung als Gebet

2 Gebet der Gotteskinder an ihren Vater

2.1. Die Anrede »Vater«

2.2. Die Vater-Anrede in nicht-christlichen Gebeten

2.3. »Vater« als Metapher

2.4. Umsetzung als Gebet

2.5. Die Vater-Anrede weist auf eine neue Qualität der Religion

2.6. Muss es immer der Vater sein?

3 »Der du bist im Himmel«

3.1. Grundlegende Informationen

3.2. Umsetzung als Gebet

4 Heiligung des Namens

4.1. Grundlegende Informationen

4.2. Die Heiligkeit des Namens Gottes in der Verkündigung Jesu

4.3. Wie kommt der Name Gottes zu seiner Bedeutung?

4.4. Umsetzung als Gebet

5 Gottes Reich

5.1. Was oder wo ist Gottes Reich?

5.2. Christus König und Gottes Reich

5.3. Die politischen Implikationen der Reichsbitte

5.4 Die Reichsbitte im Zusammenhang des Vaterunsers

5.4.1 Die Heiligung des Namens und das Reich

5.4.2 Das Reich und das Tun des Willens

5.5. Wie soll das Reich kommen?

5.5.1 Grundlegende Informationen

5.5.2 Die jüdische Rede vom Offenbarwerden des Reiches

5.5.3 Ende der Welt?

5.5.4 Die Sehnsucht der frühen Christen nach Gottes Reich

5.5.5 Umsetzung als Gebet

6 Luka,3: Dein heiliger Geist komme

6.1. Grundlegende Informationen

6.2. Umsetzung als Gebet

6.3. Lukas-Vaterunser und Epiklese

7 Die unterschiedlichen Fassungen des Vaterunsers

8 Gottes Wille soll geschehen

8.1. Grundlegende Informationen

8.2. Wie im Himmel, so auf Erden

8.3. Umsetzung als Gebet

9 Gott gibt uns Brot

9.1. Grundlegende Informationen

9.2. Über die Hochschätzung irdischer Güter und menschlicher Wünsche bei Jesus

9.3. Umsetzung als Gebet

10 Wann Gott unsere Schuld vergeben kann

10.1. Grundlegende Informationen

10.2. Was Sünde und Schuld heute bedeuten

10.3. Zuerst müssen wir Schuld vergeben

10.4. Theologischer Hintergrund

10.5. Eine andere Lösung

10.6. Ein Stück neutestamentlicher Systematik

11 Was heißt: Nicht in Versuchung führen?

11.1. Praktische Probleme der Auslegung

11.2. Was sind Versuchungen?

11.3. Der Ort der Versuchungsbitte im Vaterunser

11.4. Umsetzung als Gebet

11.5. Versuchungsbitte und der Tod Jesu

11.6. Traditions- und Theologiegeschichte der biblischen Versuchung

11.7. Phänomenologie der biblischen Versuchung

11.8. Versuchung und Heiliger Geist

11.9. Klarheit bei Dogmatikern?

11.10. Zusammenfassende Deutung von M.,13a

12 Befreiung von dem Bösen

12.1. Der Böse oder das Böse?

12.2. Ist der Teufel eine Person?

12.3. Die Befreiungsbitte

12.3.1 Exorzistisches Gebet

12.3.2 Zum Teufelsbild

12.3.3 Gott und der Teufel

12.3.4 Reich Gottes und der Böse

12.4. Erlösung

12.5 Nicht Versuchung, sondern Befreiung

13 Vaterunser und jüdische Gebete

13.1. Umsetzung als Gebet

14 Wie vollständig ist das Vaterunser?

14.1. Die Erweiterungen des Vaterunsers

Schlusswort

Gewidmet den Teilnehmern des alljährlichen Pastoralkollegs (Pfarrerfortbildung) in der Landeskirche Brandenburg-Ost seit 1985, gehalten in Templin und Uenze (Prignitz)

Hölzernes gotisches Sakramentshäuschen im Altarraum des evangelischen Doms von Uenze. © privat

Teil I

Die Frage nach dem Sinn des ganzen Gebets

1 Worum geht es in dieser Auslegung?

Wussten Sie schon, dass das Vaterunser ein exorzistisches Gebet ist? Dass es speziell auf die Situation der Jünger bezogen ist? Dass es immer wieder zu Kommentierungen gereizt hat, auch schon Jesus selbst? Dass ein Unterschied besteht zwischen »Versuchen« und »in die Versuchung führen«? Haben Sie einmal darauf geachtet, dass im Vaterunser nahezu alle »wichtigen« Themen fehlen? Und in seinem Mittelpunkt steht das Thema Vergeben. Aber Gott vergibt nur, wenn wir zuvor einander vergeben haben. Widerspricht das nicht der Rechtfertigungslehre, macht Gott nicht den Anfang? – Weil das Vaterunser in allen eucharistischen Liturgien steht, wurde die Brotbitte eucharistisch verstanden. Und überhaupt – warum fällt gerade diese Bitte, wo es endlich einmal um die Erde geht, so kurz aus? Und müsste man nicht im Zeitalter der Gender-Ideologien sagen »Mutter unsere«?

Wenn jemand bittet, Gottes Wille möge geschehen – bedeutet dies nicht ein passives Abwarten? Oder möchte er sagen »inschallah«? Ist am Ende mit dem Bösen wirklich der Teufel gemeint, von dem Gott befreien soll – steht der Teufel nicht doch irgendwie in Gottes Diensten? Ist das »tägliche Brot« nun das himmlische Brot (supersubstantialis, so Hieronymus für die Vulgata), wie die Scholastik meinte? Ist Gott nicht aus dem Himmel zu befreien, in den wir ihn gerne versetzen?

Und schließlich: Kann man am Vaterunser, wenn man es vielleicht ein wenig besser versteht, auch heute noch beten lernen?

2 Zur Orientierung

Von den zahlreichen Auslegungen dieses zentralen Gebets beziehe ich mich zur geistlichen Stütze des eigenen Kommentars insbesondere auf Teresa von Avila († 1582), die sich über das Vaterunser folgendermaßen äußerte: »Ich muss staunen, wie in so wenigen Worten die ganze Kontemplation und alle Vollkommenheit inbegriffen ist, sodass es scheint, wir bedürften keines andren Buches und brauchten nur dieses Gebet zu studieren.«

Wir gehen im Folgenden hauptsächlich von der Fassung bei Matthäus aus.

3 Fremdheit verstehen

»Kein Gebet ist uns vertrauter … Kaum ein Gebet ist uns fremder, wenn wir auf seinen Wortlaut hören« (J. Werbick). Oder »wollen wir es gar nicht mehr darauf ankommen lassen, was denn genau damit gesagt sein soll«? (ders.).

Von einem neutestamentlichen Theologen erwarte ich beides: Information und Theologie. Der Schwerpunkt meiner Auseinandersetzung liegt demzufolge auf einer Fragestellung, die man heute üblicherweise als Meditation, Theologie oder Spiritualität bezeichnet. Deshalb nenne ich diese Auslegung (auch) »geistlich«. Im Vordergrund steht hier also nicht die historische und religionsgeschichtliche Information (von der die Kommentare genug leisten), sondern ebendas, was in der Regel im Studium zu kurz kommt: das Überschreiten der historischen Auslegung des Textes, wie wir sie seit Nicolaus von Lyra im Westen kennen, hin zu einem Nachdenken über dessen Stellenwert im Hinblick auf das christliche Leben des Einzelnen und der Gemeinde – denn es könnte sein, dass man einen Text erst dann angemessen verstanden hat, wenn man diese wichtigen Fragen mitbedenkt. Aus meiner langjährigen Arbeit mit meinen 60 Doktoranden weiß ich, dass eine derartige Vorgehensweise für beide Seiten stets sehr fruchtbar und anregend ist. Denn unter dieser Voraussetzung rückt zunehmend das Bestreben in den Mittelpunkt, das Wort Gottes nicht in den Grenzen eines wissenschaftlichen Objektes zu belassen, sondern ihm die Chance zu geben, sich im Miteinander neugieriger Menschen zu offenbaren und dabei auf kritisch-produktive Weise selbst die Gesprächsführung zu übernehmen. So wird aus der »Sache« lebendiges Wort, das nicht länger im Dienst einer gleichsam gewaltsam ideologisierenden »Verwendung« steht.

Diesbezüglich stellt die oben zitierte Proklamation, die einem Vortrag von J. Werbick entnommen ist, stets der notwendige zweite Schritt der Annäherung an einen Text dar. Dies zeigt sich beim Vaterunser besonders eindrücklich: Jegliche neue Einsicht ist das Resultat einer nunmehr angenäherten und verstandenen Fremdheit. Ein Text kann nämlich nur dann wirksam werden, wenn er in der Lage ist, Veränderungen anzustoßen, wenn er nicht repetiert, sondern immer wieder neu gelesen wird. Der Maßstab ist dabei nicht die Originalitätssucht des Auslegers und ihre Befriedigung, sondern das verborgene und bislang nicht genutzte Potenzial eines Textes. Möglicherweise hängt diese Haltung auch damit zusammen, dass ich in Sichtweite (und Riechweite) eines Bergwerks – überdies einzige Förderstätte für Gold in Westeuropa – aufgewachsen bin. Grundbedingung für diese Entwicklung war, dass man im 19. Jahrhundert das »neue Lager« entdeckt hatte. So hat im Bergbau ausnahmsweise das Wort »Ausbeute« eine positive Bedeutung erhalten.

Somit erkläre ich unumwunden: Ich möchte in diesen Studien im Wesentlichen nur das mitteilen, was für mich selbst neu und anregend ist. Also das, was mir nach meinem Kommentar zum Neuen Testament (2011) und nach den langen Jahren des Verfassens von »Sonntagsmeditationen« für die »Tagespost« ein- und aufgefallen ist. Die meisten neuen Einsichten verdanke ich in diesem Zusammenhang der Lektüre alter und entfernter Texte (zum Beispiel der ostkirchlichen Liturgien oder westkirchlicher Mystiker) – und damit dem Rückgriff auf Überlegungen und Gedankengänge, die ich noch nicht angestellt hatte, zumindest nicht in dieser Verbindung mit dem neutestamentlichen Text.

4 Das Vaterunser ist ein Gebet

Zu den Themen, die unbedingt theologisch wiederentdeckt werden müssen, gehört das Gebet. An keiner Stelle wird das Auseinanderdriften von kirchlicher Frömmigkeit und wissenschaftlicher Theologie so deutlich sichtbar wie hier. Denn selbst die wissenschaftliche Beschäftigung mit Formen der Frömmigkeit fällt unter das Verdikt, dass Wissenschaft und Frömmigkeit unvereinbar seien. Der grassierende Mangel an Darstellungen über das frühchristliche Gebet belegt dies deutlich genug. Dabei gibt es viele bewegende Beispiele dafür, wie die altorientalischen Liturgien aus dem Vaterunser gelebt haben. Andererseits habe ich jedoch noch nie erlebt, dass in einer Darstellung der Bibel oder ihrer Wirkungsgeschichte auch nur eines der zehntausend Gebete zitiert worden wäre, die im Corpus Orationum seit Jahrzehnten gesammelt gut zugänglich vorliegen, ganz zu schweigen vom Corpus Praefationum und vom Corpus Benedictionum Pontificalium. Nein, als Theologe betet man nicht und beschäftigt sich auch nicht einmal wissenschaftlich mit diesem Thema; das eine gilt als so verheerend wie das andere. Erst in den beiden letzten Jahren deutet sich zaghaft ein Wandel an (vgl. K. Haacker: Was Jesus lehrte. Die Verkündigung Jesu – vom Vaterunser aus entfaltet. Neukirchen 2010). Dieses Versäumnis ist umso bedauerlicher, als unter den abrahamitischen Religionen besonders herausragend das Christentum eine Religion des Gebets ist.

Darüber hinaus stellt das Gebet die Antwort des Menschen auf das Wort Gottes dar (vgl. meinen Artikel Gebet IV in TRE 12, 1987, S. 47–60) – eine Antwort, die zeitlich gesehen vor und nach allen anderen Äußerungen des Glaubens steht. Der Vorrang des Gebetes rührt diesbezüglich daher, dass sich Offenbarung und Gebet des gleichen Mediums bedienen: der Sprache.

5 Ein Gebet Jesu

Das Vaterunser ist im ältesten Christentum stets als »das« Gebet Jesu überliefert – und zwar in Mt 6,9–13, in Lk 11,2–4 und außerhalb des Kanons in der Lehre der Zwölf Apostel (Didache) Kapitel 8 (deutsch bei Berger-Nord, S. 307). Während wir bei vielen Jesus-Texten meinen, sie verstanden zu haben, kann das im Hinblick auf das Vaterunser niemand im Ernst von sich behaupten. Diese Beobachtung ist kein Grund zur Resignation, sondern ein Anreiz, auf der Basis eines fundierten historischen Wissens nachzudenken und gerade in der Auseinandersetzung mit dem ureigensten Gebet Jesu (natürlich gibt es auch Leute, die selbst das bestreiten) die verschiedenen Interpretationsmöglichkeiten bis in die letzte praktische Konsequenz durchzuspielen.

6 Was fehlt im Vaterunser?

Es gibt Themen oder Stichworte, die man vergeblich im Vaterunser sucht. Die legitime Gegenfrage zu den vielfältigen Auslegungsmöglichkeiten des Textes bezieht sich demnach auf jene Dimensionen, die hier nicht oder kaum thematisiert werden: Was kommt zu kurz? Warum hat Jesus aus vielen Möglichkeiten gerade diese Auswahl getroffen (die bei Lukas noch weniger umfangreich ausfällt als bei Matthäus)?

So fehlt im Vaterunser jeder Bezug auf Israel (inklusive Gesetz, Beschneidung, Verhältnis zwischen Israel und Heiden, Väter und Geschichte Israels); es fehlt die Auseinandersetzung mit den Themen Arm/Reich, Heiliger Geist (inklusive Charismen, Heilungen, Exorzismen), Obrigkeit, Kirche, Taufe, Eucharistie, Sexualität, Frauen, Kinder, Fremde, Leid und Kreuz (konsequenterweise vollzieht sich nach dem Vaterunser Sündenvergebung auf andere Weise als durch Christi Blut). Auch von der Naherwartung ist nicht die Rede, denn wann und wie Gottes Reich kommen soll, bleibt dahingestellt. Zudem werden die Dimensionen von Martyrium und Zeugnis der Christen unberücksichtigt gelassen. Vor allem jedoch ist von (tätiger Nächsten-)Liebe jedenfalls dem Wortlaut nach nicht die Rede – thematisiert wird lediglich das Vergeben, das aber doch offenbar nicht ausreicht, sondern allenfalls einen schüchternen Ansatz darstellt. Ebenso bleibt die aus der Bergpredigt geläufige Ethik der Gewaltvermeidung unerwähnt – auch hier erscheint der Hinweis auf die Vergebung als ein in moralischer Hinsicht eher dürftiger Ersatz. Es ist möglich, sich diese Dimensionen jeweils hinzuzudenken, besonders dann, wenn man – wie K. Haacker es tut – Verbindungsbrücken zu allen möglichen Themen herstellt. Nichtsdestotrotz gebietet die exegetische Redlichkeit das Eingeständnis, dass hier aus den möglichen und – wie das Neue Testament zeigt – ja auch wirklichen Themen nur eine kleine Auswahl getroffen wurde.

Diese jedoch bietet ausreichend Potenzial für eine intensivere Auseinandersetzung, die sich gemäß der oben skizzierten Herangehensweise vollziehen soll. Dabei handelt es sich, wieder in der Bergmannssprache ausgedrückt, nicht um eine Armerzaufbereitung, sondern um das Nutzen jeder sich bietenden Möglichkeit, mit den Mitteln des Historikers die Tiefendimension der Worte Jesu zu ergründen und nicht etwa auf unrechtmäßige Art und Weise etwas in sie hineinzulesen. Das Vaterunser bietet nicht Armerz oder Schlacke, sondern eine so reiche und kompakte Verbindung edelster Metalle, dass man verschiedene Methoden des Flutens anwenden muss, um sie einzeln bewundern zu können.

7 Verschiedene Modelle, das Vaterunser zuverstehen

Es gibt verschiedene mögliche Lesarten des Vaterunsers, die sich insbesondere hinsichtlich der zugrunde gelegten Fragestellungen voneinander unterscheiden. Der alte hermeneutische Leitsatz, dass jede Fragestellung zu andersartigen Lösungen führt, bewahrheitet sich beim Vaterunser besonders eindrücklich, weil es sich hier um einen überschaubaren Grundtext handelt. Der Exeget stellt infolgedessen nicht definitiv und letztmalig den »Sinn« eines Satzes fest, sondern er rechnet damit, dass mit jeder neuen Fragestellung der Text bislang verborgene Geheimnisse preisgibt. Damit enthüllt nicht nur jede Lesart ehemals »Unbekanntes«; vielmehr wird darüber hinausgehend auch ein immer wieder neuer Zugang zu Teilen der Botschaft Jesu eröffnet, die außerhalb dieses Gebetes liegen.

Dieser Zugang zum Vaterunser unterscheidet sich sehr stark von jenem, den K. Haacker anwendet: Während jener versucht, jeden Satz des Gebets mit analogen Themen und der Gesamtbotschaft Jesu zu verbinden, bemühen wir uns hier um einen Ansatz, der sich eines oszillierenden Perspektivenwechsels bedient. Demnach wird beispielsweise die Frage aufgeworfen, wie es wäre, wenn man das Vaterunser als jüdischer Pharisäer lesen und deuten würde. Im Licht dieser wechselnden Blickwinkel besagen die einzelnen Sätze etwas anderes, als wenn ich sie vom konsequent heidenchristlichen Standpunkt her deuten oder versuchen würde, die Perspektive eines christlichen Bischofs aus dem 2. Jh. n. Chr. einzunehmen. Denn jede dieser Gruppen konnte das Vaterunser anders lesen und verstehen – und genau darin liegt sein Reichtum. Dabei ist mein Interesse allerdings nicht vorrangig historisch ausgerichtet, weshalb es weniger um die Auseinandersetzung mit der Frage gehen soll, wie ein Pharisäer des 2. Jh. n. Chr. das Vaterunser gelesen haben könnte. Mich interessieren vielmehr Modelle, die eine Hilfestellung für eine angemessene Lektüre in der heutigen Zeit liefern (zum Beispiel im Todesfall oder bei einer Taufe). Aber nicht die Kasualien, sondern bestimmte Arten, theologisch zu denken, stehen hier im Zentrum der Betrachtung. Diesbezüglich sollen vor allem folgende Modelle bzw. Lesarten näher beleuchtet werden: Zum einen wird das Vaterunser sowohl vor dem Hintergrund der apokalyptischen Botschaft Jesu als auch im Rahmen der christlichen Besonderheit der Trinitätslehre betrachtet; zum anderen soll es als liturgisches Gebet interpretiert oder von der Botschaft der Vergebung her ausgedeutet werden, der hier offensichtlich – im Gegensatz zu den anderen Texten der Evangelien – eine zentrale Bedeutung zukommt. Weiterhin wird der Frage nachgegangen, wie sich das Vaterunser von einer Kreuz- und Sühnetheologie her liest – denn wir beten es oft vor dem Kreuz. Auch eine Untersuchung des Gebets in Anbetracht der Reichsbotschaft Jesu (wie sie besonders in der ersten Hälfte des 20. Jhs. geleistet wurde) oder der Theodizeefrage (was in der Praxis oft geschieht) erhält einen wichtigen Stellenwert. Letztlich stellt sich auch die Frage, welche Funktion das Vaterunser dem Gebet beimisst oder welche Aufgabe dem Bösen zukommt. Wie bereits erwähnt, sollen diesbezüglich auch jene Dimensionen erläutert werden, die im Vaterunser eine nur untergeordnete Rolle spielen oder gar nicht enthalten sind.

Dieses Vorgehen unterscheidet sich auch erheblich von dem Ansatz Jürgen Werbicks, der in seinem Buch Das Vaterunser jeden Teil des Gebets als Baustein zur Etablierung einer eigenen systematischen Theologie nutzt. Systematisch denken möchte ich auch, im Unterschied zu Werbick jedoch nicht linear, indem nur ein einziger Pfad verfolgt wird. Im Übrigen verurteile ich die Darstellungen von K. Haacker und J. Werbick nicht; es soll lediglich eine Abgrenzung vorgenommen werden, um die eigene Vorgehensweise klarer und deutlicher profilieren zu können.

7.1 Im Rahmen der apokalyptischen Botschaft Jesu

»Vater«: Nach der zentralen Verheißung des Alten Testamentes und des Judentums (Bundesformel) soll und wird Gott der Vater sein, sein Volk aber die Kinder. So kann der Bund am Ende in der Beziehung zwischen Vater und Kindern erfüllt werden (vgl. Apk 21,3).

»Reich«: In einer »Offenbarung des Reiches Gottes« besteht das Ende aller Dinge. Bis dahin ist Gottes Reich verborgen, es beginnt mit der Erfüllung der Gebote, liturgisch mit dem Beten des Hauptgebotes dreimal am Tag. Das »tausendjährige Reich« ist die endgültige Erfüllung aller irdischen (!) Verheißungen Gottes.

»Kommen«: Das apokalyptische Judentum versteht das Ende wie die Ankunft eines Herrschers. In dem Gebetsruf »Maranatha« (Unser Herr, komm) ist diese Sehnsucht erhalten.

»Dein Wille geschehe«: Die Träger des Kommenden gibt es jetzt schon, es sind die Gerechten und um der Gerechtigkeit willen Leidenden. Stichworte: Bergpredigt und Gethsemane. Im Judentum wird der »Wille Gottes« etwa in den Mahnreden Henochs präzisiert (äthiopisches Henochbuch K. 96–99).

»Tägliches Brot«: In den Hungersnöten der Endzeit bricht eine Not an, in deren Verlauf das Tägliche nicht mehr gesichert ist (vgl. Mk 13,9).

»Vergebungsbitte«: Gott wird nach Jer 31,31 den Neuen Bund verwirklichen. In diesem wird er der Sünden seines Volkes »nicht mehr gedenken«.

»Versuchung«: Der Teufel ist der Widersacher, der mithilfe der Versuchung vor allem die Menschen zum Abfallen verführen möchte. So wird der Unglaube der Endzeit entstehen. Denn die Menschen haben die Orientierung verloren; sie können zwischen Gut und Böse nicht mehr unterscheiden.

»Befreiung vom Bösen«: Das Böse und seine Folgen werden besiegt.

»Denn dein ist das Reich«: Am Ende aller Dinge steht unangefochten Gottes Herrlichkeit. An dieser soll der Mensch teilhaben.

7.2 Als liturgisches Gebet

Der Kult, die Liturgie, bedeutet jedes Mal ein Stück des Kommens Gottes. Daher blicken im romanischen Kirchbau die zum Gottesdienst versammelten Menschen dem kommenden Herrn (oft ausweislich der Freskomalerei) entgegen. In der Offenbarung des Johannes werden die Strafgerichte auf Erden als Teil und Folge des himmlischen Gottesdienstes gesehen. Denn Weihrauchkohle wird vom himmlischen Altar genommen und auf die Erde geworfen (vgl. Apk 8,1ff.). Die Anbetung Gottes im Kult ist Teil des himmlischen Sieges (vgl. Apk 11,15). Die irdische Liturgie ist immer wieder neu der Anfang der auf das Ende hin notwendigen Verwandlung.

7.3 Im Rahmen des Trinitätsglaubens

»Unser Vater«: Die Rede vom Vater setzt eine Kindschaft der Betenden voraus. Diese Kindschaft ist nicht schon mit der Schöpfung gegeben, sondern wird stets mit der gestifteten Verbindung durch den Heiligen Geist begründet: Weil der Heilige Geist die intensivste Beziehung zwischen Gott und Mensch ist, kann er als Initiator der Gotteskindschaft betrachtet werden (wie bei Jesus nach Mk 1,10f.). Hierher gehört auch Eph 2,18: In der Person Jesu Christi haben sowohl Juden- als auch Heidenchristen den Zugang zum Vater durch den einen Geist. – Die Stichworte »Vater« (was Kinder impliziert) und »Geist« weisen darauf, wie dieser Zugang, diese Nähe zustande kommt, nämlich durch Anteilhabe am Geist. Das heißt: Wer den Geist Gottes empfängt, wird Kind Gottes und darf als Kind freien Zugang zum Vater haben. – Dieses Thema wird auch in Röm 5,2 (Zugang) und 5,5 (Liebe Gottes durch den Heiligen Geist) behandelt. Nur wird hier die Liebe speziell in dem Sterben Jesu Christi für die Gottlosen erwiesen (5,8b).

Insofern der freie Zugang zu Gott immer zugleich auch Redefreiheit (gr.: parrhesia) bedeutet, wird auch die Einleitung zum Vaterunser (»Wagen wir zu sprechen …«) verständlich (vgl. z.B. auch Hebr 4,16: »Lasst uns also mit Zuversicht zum Thron der Gnade hintreten«). Folglich ist der freie Zugang zum Vater gleichzusetzen mit der Freiheit, sagen zu dürfen, was einem am Herzen liegt. Oft wird diese Nähe und Freiheit durch den Heiligen Geist gewährt, ebenso aber auch durch den stellvertretenden Sühnetod Jesu.

»Geheiligt werde dein Name«: Manche der alten Exegeten deuten diese Aussage folgendermaßen: Gott legt durch den heiligen Geist seinen Namen in uns hinein (vgl. Phil 2,9f.) und macht uns dadurch zu Heiligtümern. Die Heiligung des Namens geschieht auch dann, wenn Menschen im Gebet den Namen Gottes anrufen. Das Gebet aber ereignet sich, wann immer darüber nachgedacht wird, aus der Kraft des Heiligen Geistes.

»Dein Reich komme«: In den älteren Versionen (Markion; Syro-Sinaiticus) von Lk 11,3 ist die Reichsbitte durch die Geistbitte ersetzt: »Dein Heiliger Geist komme auf uns und reinige uns.« Analog hierzu kann die Tatsache, dass Jesus mithilfe des Heiligen Geistes Dämonen und unreine Geister vertreibt, auch als Kommen des Reiches verstanden werden (Lk 11,20: »Wenn ich aber die Dämonen mit Gottes Finger austreibe, dann ist Gottes Reich zu euch gekommen.« Bei Mt ist in 12,28 statt vom Finger Gottes vom Heiligen Geist die Rede).

»Dein Wille geschehe«: Nach jüdischer Erwartung kann der Mensch dann nach Gottes Willen handeln und die Gebote erfüllen, wenn Gott seine Gebote und seinen Geist in die Herzen der Menschen legt (vgl. Ez 36,26).

»Vergebung der Schuld«: Nach Joh 20 haucht Jesus die Jünger an (mit Heiligem Geist) und gibt ihnen dadurch die Vollmacht, anderen Menschen ihre Sünden zu vergeben. Denn Sündenvergebung ist eine Art Neuschöpfung durch den Heiligen Geist.

»Versuchung«: Gemäß der Aussage der Gethsemane-Geschichte erhalten die Menschen die Kraft, den Versuchungen zu widerstehen, durch den Heiligen Geist (vgl. Mk 14,38). Demnach wird die Schwäche des »Fleisches« (Verführbarkeit, Bereitschaft zur Sünde) durch den Geist besiegt. Die Bitte, in der Versuchung standhaft zu bleiben, kann somit als Bitte um den Heiligen Geist gedeutet werden (vgl. Mk 14,38).

7.4 Als Botschaft der Vergebung

Schon in der lateinischen Übersetzung des Vaterunsers wird etwas unberücksichtigt gelassen, das doch nach Jesu Verständnis dieses Gebetes offenbar vorrangig und grundlegend ist. In der lateinischen Version der Vergebungsbitte heißt es: »et dimitte nobis … sicut et nos dimittimus« (»Vergib uns, … wie auch wir vergeben«); diese Übersetzung wurde im Deutschen konfessionsübergreifend übernommen. Im Griechischen heißt es dagegen: »Und vergib uns … wie auch wir vergeben haben«. Hier wird das griechische Verb aphekamen verwendet, das der grammatikalischen Form nach ein Resultativ-Perfekt darstellt. Analog hierzu äußert sich bereits Jesus selbst nach Mt 6,14f.: »Wenn ihr nämlich den Menschen ihre Verfehlungen vergebt, wird euer himmlischer Vater auch euch vergeben. Wenn ihr aber den Menschen nicht vergebt, dann wird euer Vater auch euere Verfehlungen nicht vergeben.« Ganz eindeutig bindet Jesus daher die Vergebung durch Gott an die vorgängige Vergebung, die Menschen anderen Menschen gewähren. Das ist schon im Buch Sirach 27,30–28,5 der Fall: »Vergib deinem Nächsten das Unrecht, dann werden dir auf dein Gebet hin auch deine Sünden erlassen. Einer hält gegen den anderen am Zorn fest, und doch will er beim Herrn Heilung suchen? Mit seinesgleichen hat er kein Erbarmen und bittet doch wegen seiner eigenen Sünden? Er selbst ist nur Fleisch und hält am Groll fest, wer wird da seine Sünden vergeben?« Und das Gleichnis vom unbarmherzigen Sklaven in Mt 18,23–35 lässt sogar verlauten: Wenn der Mensch seinem Nächsten nicht wenigstens nachher vergibt, war alle Vergebung umsonst.