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Die Vergangenheit birgt manchmal mehr Geheimnisse, als wir uns je vorstellen können ...
1946. Die junge Künstlerin Rebecca hat den verheerenden Krieg überlebt, der so viele Leben gekostet hat. Der Krieg ist nun vorbei, doch Rebecca muss zu Hause weiterkämpfen. Ihre Mutter setzt alles daran, Rebecca davon abzuhalten Malerin zu werden und so ihren Traum zu verwirklichen. Doch dann lernt Rebecca den charmanten jungen Piloten Edward kennen, der ihre Rettung zu sein scheint. Edward gibt ihr nicht nur das Gefühl, geliebt zu werden und wieder lebendig zu sein, er begeistert sich auch für ihre Kunst und plant eine gemeinsame Zukunft.
Als Edward mit Rebecca aufbricht, um das Haus seiner Kindheit an der Küste zu besuchen, endet die Reise in einer Tragödie und Edward steht vor einer schrecklichen Entscheidung: Liebe oder Familie?
Völlig verzweifelt geht Rebecca eines Nachts bei Mondschein an die Küste, um zu malen. Am nächsten Morgen ist sie spurlos verschwunden. Gefunden wird nur einen Bleistift im Sand.
Die Suche nach der Wahrheit wird für die Zurückbleibenden alles verändern ...
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Seitenzahl: 455
Die Vergangenheit birgt manchmal mehr Geheimnisse, als wir uns je vorstellen können ...
1946. Die junge Künstlerin Rebecca hat den verheerenden Krieg überlebt, der so viele Leben gekostet hat. Der Krieg ist nun vorbei, doch Rebecca muss zu Hause weiterkämpfen. Ihre Mutter setzt alles daran, Rebecca davon abzuhalten Malerin zu werden und so ihren Traum zu verwirklichen. Doch dann lernt Rebecca den charmanten jungen Piloten Edward kennen, der ihre Rettung zu sein scheint. Edward gibt ihr nicht nur das Gefühl, geliebt zu werden und wieder lebendig zu sein, er begeistert sich auch für ihre Kunst und plant eine gemeinsame Zukunft.
Als Edward mit Rebecca aufbricht, um das Haus seiner Kindheit an der Küste zu besuchen, endet die Reise in einer Tragödie und Edward steht vor einer schrecklichen Entscheidung: Liebe oder Familie?
Völlig verzweifelt geht Rebecca eines Nachts bei Mondschein an die Küste, um zu malen. Am nächsten Morgen ist sie spurlos verschwunden. Gefunden wird nur einen Bleistift im Sand.
Die Suche nach der Wahrheit wird für die Zurückbleibenden alles verändern ...
Über Ella Carey
Ella Carey wurde in Adelaide, Australien, geboren, studierte Klavier am Konservatorium sowie Kunst, Geschichte und Literatur. Heute lebt und schreibt sie in Melbourne mit ihrer Familie und zwei in die Jahre gekommenen Italienischen Windspielen. Schon immer haben sie die mutigen Frauenfiguren der Geschichte fasziniert, weswegen sie es liebt, ihre Romane nach wahren Begebenheiten zu erzählen. Ihre Bücher sind internationale Bestseller und erscheinen in vierzehn Sprachen.
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Ella Carey
Das verborgene Ufer
Übersetzt von Kerstin Winter aus dem amerikanischen Englisch
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Anmerkung der Autorin
Danksagungen
Impressum
In Erinnerung an meine Mutter
South Australia, 1946
Es war eine Nacht für Anfänge, nicht für Enden. Eine Nacht für die Liebe und nicht den Tod. Zitternd hob Rebecca die Hand, um ihre Augen vor dem Mondlicht abzuschirmen, das sich wie eine Pulsader vom Horizont über das Meer zog und genau bis zu der Stelle am Strand reichte, an der sie stand. Es war, als wolle das silberne Gleißen sich über sie und ihre zerschlagenen Hoffnungen lustig machen. Inzwischen wusste sie, dass sie naiv gewesen war. Und doch schwirrten die Fragen nach dem, was im Leben wirklich zählte, hell wie Glühwürmchen in ihrem Herzen und setzten sich mit hartnäckiger Gewissheit in ihrem Verstand fest: Liebe, die Kunst, Stärke. Güte. Das zumindest hatte sie geglaubt.
Rebecca stand stocksteif da und umklammerte ihre wenigen Habseligkeiten, als warte sie darauf, in einen Bus einzusteigen. Sie wusste nicht, wo ihre Reise begonnen hatte, noch weniger, wo sie enden würde, doch mit der Entschlossenheit, die in den vergangenen Stunden immer weiter erstarkt war, zerrte sie schließlich das hölzerne Ruderboot ins Wasser. Einen Moment lang sah sie zu, wie sich die kleinen Wellen auf der spiegelglatten Wasseroberfläche ausbreiteten. Das Boot war nun nur noch ein Behältnis für Erinnerungen – Erinnerungen an gestern.
Sie deponierte ihre Sachen auf der Sitzbank im Boot – ihre Malutensilien, die aus Kohlstiften, Papier und der kleinen zusammenklappbaren Staffelei bestanden, die sie aus Melbourne mitgebracht hatte, und den Korb mit ihrer Geldbörse, dem Lippenstift und den Wechselsachen sowie einem Apfel und einer Tafel Schokolade, die sie noch rasch eingepackt hatte, ehe sie geflohen war.
Rebecca schob das Boot ein Stück hinaus, stieg ein und wandte sich um, um einen letzten Blick auf das verdunkelte Strandhaus zu werfen, das sich in der Bucht erhob. Dort hätte alles zusammenlaufen sollen. Und dort war alles auseinandergebrochen.
Das Steinhaus mit seinen breiten Veranden starrte auf sie herab, als sei es zufrieden mit dem Verlauf der Ereignisse – war im Grunde jetzt nicht wieder alles so, wie es sein sollte? Sogar das Meer war still, als Rebecca auf die kleine Insel in der Bucht hinausruderte. Es war nicht so, als hätte sie das noch nie getan – sie hatte sich schließlich schon unzählige Male selbst gerettet. Aber diesmal war es schlimmer. Viel schlimmer. Untermalt vom Rhythmus der Riemen, verfestigten ihre Gedanken sich zu der bitteren Wahrheit: eintauchen … schlimmer … durchziehen … viel schlimmer … eintauchen …
Sie erreichte das Eiland und hievte das Boot ans felsige Ufer. Alles war still. Sie sammelte ihre Malsachen ein, klemmte sich den Korb unter den Arm wie eine ganz normale Hausfrau auf dem Weg zum Einkaufen und setzte sich in Bewegung. Zielstrebig wanderte sie den Strand hinauf und vorbei an den Büscheln von dichtem, im Wind wogendem Seegras, das den steilen Anstieg säumte. Ihre Füße in den Espadrilles kannten jeden Zentimeter des Pfads in- und auswendig. Der im Dunkeln hell hervortretende Kiesweg, der am Meer zu ihrer Rechten entlangführte, wurde für die Touristen stets sorgfältig geharkt.
Zu ihrer Linken ragten verwitterte Felsen aus der grasbewachsenen Höhe. Das gedämpfte Klopfen der Kängurus war der einzige Laut in der dunklen Stille, bis sie die Kuppe zur Seeseite der Insel umrundete. Augenblicklich peitschte ihr der Wind entgegen und wirbelte ihr Haar in konzentrischer Kreisbewegung um ihr Gesicht, als sie ins tosende Meer hinabblickte, das wie durch glitzernde Drachenschwänze aufgepeitscht gegen die Granitbrocken krachte und das Seegras unter der Oberfläche hin und her wehen ließ.
Wild und unzugänglich.
Rebecca liebte es.
Sie blickte zu ihrem Felsen, der über das Meer hinausragte. Hier saß sie am liebsten, um zu zeichnen – nicht, was sie vor sich sah, sondern das, was sie im Kopf hatte und zu dem sie nur Zugang bekam, wenn sie allein war. Dort auf ihrem Felsen konnte sie alles andere ausblenden und Wahrhaftiges zu Papier bringen.
Rebecca setzte sich, steckte ihr dünnes weißes Kleid mit den winzigen roten Blümchen um ihre Knie fest und legte sich das Zeichenpapier und den Karton als Unterlage auf den Schoß. Dann griff sie nach dem Stift, den sie direkt vor ihrem rechten Fuß auf den Felsen gelegt hatte. Doch als sie sich bückte, rollte der Stift ein Stück weg, sodass er sich gerade außerhalb ihrer Reichweite befand. Nun, sie musste sich bloß ein wenig mehr strecken …
Ihr Lieblingsstift schien ihr genauso zu entschlüpfen wie alles andere. Als Rebecca sich noch ein wenig vorbeugte, erkannte sie im selben Moment, dass sie einen Fehler begangen hatte. Sie hätte den Stift davonrollen lassen sollen.
Und schon stürzte – oder flog? – sie kopfüber von der Klippe, drehte und überschlug sich und tauchte hinein in die tiefe, geheimnisvolle tintenschwarze See.
New York, 1987
Für schlechte Nachrichten gab es keinen guten Zeitpunkt. Aber ein Freitag hätte es nun wirklich nicht sein müssen. Während sich Tess’ Chef Leon zweifellos über das Wochenende in sein Zuhause in den Hamptons zurückziehen würde, blieb Tess nur, irgendwie mit dem Schock zurechtzukommen, dass sie von jetzt auf gleich praktisch alles verloren hatte. Noch immer wie vom Donner gerührt, starrte sie auf die Überreste auf dem Konferenztisch. Leon hatte für ihre Besprechung Kaffee und Gebäck bestellt – vermutlich, um die Wucht seiner »Neuigkeiten« abzumildern.
Krümel eines kaum angerührten Croissants lagen auf Tess’ Porzellanteller, der Kaffee in ihrer Tasse dampfte noch. Zunächst hatte Leon ihr für alles, was sie für den Verlag getan hatte, gedankt. Sie hatte ihren Autor, den brillanten Alec Burgess, in drei wundervollen Jahren dreimal weit oben auf die Bestsellerlisten gebracht, und Leon lobte Tess’ akribische Lektoratsarbeit, ihre Beharrlichkeit und all die Mühe und Energie, die sie in Alecs Karriere gesteckt hatte.
Tess hatte angenommen, dass Leon sie befördern wollte. Doch genau das Gegenteil war eingetreten, denn er hatte sie praktisch gefeuert.
Leon Moss blickte an die Decke, als geschehe dort etwas überaus Interessantes. Tess musste sich zusammenreißen, um ihm nicht den Inhalt ihrer Tasse über seine akkurate Frisur zu gießen. Stattdessen konzentrierte sie sich auf die gepunktete Fliege ihres Chefs. Seine Fliegen hatten sie von Anfang an gestört. Brachte es etwas, an einen Mann zu appellieren, der so etwas trug? Männer mit Fliege hatten immer etwas Selbstherrliches, fand Tess, und Leon trug seine, als hielte er sich für Gottes Geschenk an die Welt.
Tess ließ sich gegen die Lehne zurücksinken. Ihr schwirrte der Kopf. Warum? Was hatte sie falsch gemacht? Was war hier los? Wieso wurden solche Entscheidungen über ihren Kopf hinweg getroffen?
»Ich bin der Ansicht, dass James Cooper ab jetzt Alec Burgess betreuen sollte«, sagte Leon.
Eine weitere Schockwelle erfasste Tess. Sie setzte sich kerzengerade auf und verschränkte die Hände in ihrem Schoß.
James Cooper? James war Campbell and Blacks Neuzugang – eine angesehene Persönlichkeit im Literaturbetrieb, die sich nur um die hochrangigsten Werke kümmerte. Für einen Autor bedeutete James’ Interesse den Ritterschlag; ihn an Bord zu haben war ein Erfolgsgarant. Alles, was er anfasste, wurde zu Gold, doch in Anbetracht seiner intellektuellen Herkunft war das kein Wunder. Als einziger Sohn von Sean Cooper, wichtigster Literaturkritiker der New York Times, und einer prominenten Society-Schönheit, die in Harvard sage und schreibe siebenundzwanzig akademische Titel erlangt hatte, war James der Erfolg sozusagen in die Wiege gelegt worden. Außer für seine erstklassige Arbeit war er berühmt für sein blendendes Aussehen, seine Schlagfertigkeit und seine tadellosen Manieren.
Natürlich würde Alec Burgess von James’ Einstieg bei Campbell and Black profitieren wollen. Was hatte sie denn erwartet?
Tess biss sich auf die Unterlippe. »Aha«, sagte sie eisig.
»Tess, du hast bisher mit Alex hervorragend zusammengearbeitet. Das weißt du.«
Was sollte sie darauf groß sagen? Gleichzeitig wurde das Bedürfnis, aus Leons holzgetäfeltem Büro zu stürmen und ihre Freundin Flora anzurufen, beinahe unbezwingbar. Flora wusste über alles Bescheid, was im New Yorker Verlagswesen vor sich ging. Sie würde ihr sagen können, ob James Cooper nicht nur ein Literaturgenie war, sondern auch ein gemeiner Autorendieb, der ohne Bedenken im Revier seiner Kollegen wilderte.
Leon redete weiter, als sei alles völlig in Ordnung. »Da Alecs neues Buch etwas vollkommen anderes als seine bisherigen Thriller sein wird, wird ihn ein Lektor betreuen, der auf andere Genres spezialisiert ist. Alecs nächster Roman ist ein literarisches Werk, also ideal für James.«
Oder fürchtest du vielleicht, dass das Werk mit mir als Lektorin weniger leicht an vorteilhafte Rezensionen kommt?
»Du wirst natürlich weiterhin für unser Unterhaltungsprogramm arbeiten«, sagte Leon gelassen.
Tess musste sich ein Schnauben verkneifen. Hatte Leon seine kleine Rede eigentlich geprobt? Wahrscheinlich heute Morgen, während ihm seine Frau die alberne Fliege gerichtet hatte.
»Wir haben eine neue Stelle geschaffen, sobald wir erfahren haben, dass James sich beruflich verändern wollte. Nun müssen wir dafür sorgen, dass er mit den besten Autoren arbeiten kann.« Leon warf Tess einen Seitenblick zu. »Alles andere wäre jetzt wirklich unangemessen.«
Tess sagte nichts. Ihr Herz hämmerte wild.
Wieder richtete Leon seinen Blick auf sie. Wenn es nach ihm ginge, hätte Tess in Würde den Rückzug antreten müssen, das wusste sie. Aber wer hatte Alec Burgess denn groß gemacht? Wer hatte ihn innerhalb von nur drei Jahren von einem mäßig bekannten Autor auf die Bestsellerlisten gebracht? Wer hatte sich abends und am Wochenende durch seine Manuskripte geackert, sich mit ihm in Cafés, zwielichtigen Absteigen und mehr als fragwürdigen Restaurants in der Stadt getroffen? Wer hatte mit ihm bei grausigem Kaffee aus Pappbechern über seinen Erstentwürfen gebrütet, während er in seiner alten, schäbigen Lederjacke geschwitzt hatte – nicht das neue handschuhweiche Ding, das so elegante Falten schlug, wenn er in den schicken Bistros, die er inzwischen bevorzugte, die Hand hob, um sich das dünne Haar zurückzustreichen? Sie hatte neben ihm ausgeharrt, während er kettenrauchend ihre Klamotten eingeräuchert hatte, und jeden seiner Schritte zum Ruhm begleitet. Wenn sie eines konnte, dann unverbrauchtes Talent erkennen. Dafür hatte sie schon immer ein Auge gehabt. Und nun, da Alec wirklich erfolgreich wurde und sich seine Romane auch im Ausland verkauften, sollte sie einfach aussortiert werden? Das war echt das Allerletzte.
Gehobene Literatur lag ihr genauso wie Unterhaltung. Darum ging es überhaupt nicht. Sie kannte Alec Burgess. Kannte seine Launen, seine Unsicherheiten, seine Ängste. Sie wusste, wie sie mit ihm umgehen musste, wenn er unter Druck stand, wie sie ihn beruhigen und ermutigen konnte. Sie hatte gelernt, dass er nicht kritisiert, sondern gefördert werden wollte. James Cooper mochte eine Koryphäe unter den Lektoren sein, aber machte ihn das automatisch zum richtigen Betreuer für ihren Autor?
»Leon«, sagte sie, »du hast diese Entscheidung ganz offensichtlich über meinen Kopf hinweg gefällt.«
Ärgerlicherweise blitzte vor ihrem geistigen Auge Coopers berühmtes jungenhaftes Lächeln auf – das, was immer in der Boulevardpresse zu sehen war. Für Tess wirkte es mit einem Mal wie ein triumphierendes Grinsen.
Als sie weitersprach, klang ihre Stimme fast wie ein Knurren. »Mir ist ehrlich gesagt nicht klar, wie du das tun konntest, ohne darüber mit den betroffenen Parteien ausgiebig zu reden – und das schließt mich mit ein. Ich bin Alecs Lektorin, ich hätte an jeder Entscheidung, die seine Karriere betrifft, beteiligt sein müssen. Tut mir leid, aber das ist unprofessionell. Und ich würde es normalerweise nicht so formulieren, doch das riecht nach Vetternwirtschaft. Ich habe einen Master in Englischer Literatur, James ebenso, wenn ich richtig informiert bin. Wir haben dasselbe Alter, sind beide in der Branche erfahren. Allerdings bin ich diejenige, die seit Jahren mit Alec arbeitet, und du weißt genau, was ich für ihn getan habe. Wie er das ohne Protest zulassen kann, ist mir übrigens ein Rätsel. Um ehrlich zu sein, Leon, bin ich entsetzt.«
»Tess«, sagte er in versöhnlichem Ton.
»Ja, Leon.«
Er beugte sich vor und legte seine Fingerspitzen zu einer Pyramide zusammen.
Tess atmete bebend ein. Sie durfte sich jetzt nicht bremsen lassen. »Weißt du, wenn ich für jedes Mal, das ich in meinem Arbeitsleben herablassend behandelt worden bin, zehn Cent bekommen hätte, wäre ich jetzt eine reiche Frau.« Ihre Stimme war leise und drohend. »Hätte ich reich werden wollen, wäre ich aber nicht Lektorin geworden, sondern Schriftsteller wie Alec. Stattdessen habe ich viel Zeit und Energie in die Arbeit mit Autoren investiert, weil das genau das ist, was ich gut kann. Und als Gegenleistung verlange ich nichts. Aber es gibt Grenzen, und was du machen willst, überschreitet jede einzelne, Herrgott noch mal. Du weißt genau, wie hart ich arbeite. Du weißt, dass ich nicht ständig nach einer Gehaltserhöhung frage, da ich nämlich in einem von New Yorks renommiertesten Verlagen arbeite und darauf vertraut habe, dass es hier anständig zugeht.« Sie warf einen Blick zu den Bücherregalen, in denen die in Leder gebundenen, goldgeprägten Erstausgaben in staubfreien Reihen standen. Hemingway, Steinbeck, Faulkner. Tradition und Qualität bestimmten den Ruf des Unternehmens. Schon auf dem College hatte Tess davon geträumt, hier arbeiten zu können.
»Tess …«
Tess’ Atmung beschleunigte sich. Wie oft hatte sie bis spätabends geschuftet, während ihre Freundinnen ausgegangen und ihre jetzigen Partner kennengelernt hatten. Die meisten hatten inzwischen Kinder. Plötzlich kam es ihr vor, als erwache eine seit langer Zeit in ihr schlummernde Lebenskraft und mache sich bereit, ihren rechtmäßigen Platz in ihr zurückzuerobern. Da rackerte man sich buchstäblich für einen Autor ab, nur um fallen gelassen zu werden, sobald Bezeichnungen wie »gefeierter Literaturkenner« und »James Cooper« im Raum standen.
Sie erhob sich und nahm ihre Mappe mit den Notizen zu Alecs neuer Romanidee, die sie im guten Glauben für diese Besprechung mit Leon vorbereitet hatte.
Leon lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und streckte die Beine aus. In diesem Moment wünschte Tess sich nichts mehr, als ihn anschreien zu können. James Cooper hatte jede Chance dieser Welt, hätte sie ihm am liebsten gesagt. Ihm fiel alles zu, er konnte alles erreichen. Warum musste man ihm ausgerechnet den Autor, den sie so mühsam aufgebaut hatte, auf einem Silbertablett servieren?
Doch das alles würde Tess sich nicht gefallen lassen. Wenn sie nicht gut genug war, dann sollten sie ihren Kram doch alleine machen – Leon, Alec und der hinterhältige James Cooper. Viel Glück damit!
Nur hier lag natürlich die Crux. Denn James Cooper würde seine Arbeit mit Bravour erledigen und Alecs Buch zum Erfolg verhelfen. Tja. Was bedeutete das nun für Tess? Es spielte keine Rolle. Sie war ein Kollateralschaden.
»Anscheinend habe ich keine Wahl«, sagte sie. »Ich schätze, du weißt gar nicht, wie das ist, Leon. Gute Entscheidung. Aus deiner Warte. Bitte entschuldige mich. Ich gehe jetzt.«
Tess’ Hände zitterten, als sie den Stuhl zurückschob. Sie hatte ihren besten Autor verloren und lief vermutlich Gefahr, auch ihre Stelle zu verlieren. Trotzdem würde sie nicht einfach aufgeben.
Auch Leon erhob sich, zupfte sein Jackett zurecht, sagte aber nichts. Er würde professionell bleiben, das wusste Tess. Auf keinen Fall würde er auf ihre beißenden Worte reagieren. Immer schön nach den Regeln spielen. Und wenn sich eine Frau beschwerte, war sie ja sowieso nur hysterisch.
Tess ballte die Hände zu Fäusten und bohrte die Nägel in ihre Handflächen. Der Drang, etwas über James Cooper herauszufinden, das ihr bestätigte, wie mies er war, war kaum noch zu unterdrücken. Wie hatte er das gemacht? Nachdem das Gespräch beendet war, würde sie gleich Flora anrufen.
»Tess, nimm dir den Nachmittag frei«, sagte Leon. »Wir sehen uns Montagmorgen in meinem Büro. Wir müssen reden.« Er klang immer noch nett und freundlich. Und herablassend.
Tess musste gegen jede Regung in ihrem Inneren ankämpfen. Wenn sie ihre Würde wahren wollte, blieb ihr im Augenblick tatsächlich nichts, als den Rückzug anzutreten.
Sobald sie in ihrem eigenen Büro war, ließ Tess sich auf ihren Stuhl fallen und wählte Floras Nummer. Flora würde nicht zulassen, dass man ihr das antat, nicht bei ihrem Standing in der Verlagsbranche.
»Flora«, sagte sie atemlos ins Telefon, »wir treffen uns im Caffè Reggio. Sofort.«
»Alles klar.« Flora hielt sich nie mit lästigen Fragen auf. »Komme.«
Tess hätte ihre Freundin niemals von der Arbeit weggerufen, wenn es nicht wirklich dringend gewesen wäre, und da Flora das wusste, zögerte sie nie, augenblicklich alles stehen und liegen zu lassen und Tess zur Hilfe zu eilen.
Tess sprang in die U-Bahn. Das Caffè Reggio befand sich unterhalb ihrer Wohnung und lag außerdem nicht weit von Floras Arbeitsplatz entfernt. Tess musste dringend Schadensbegrenzung betreiben. Ein Cappuccino und ein paar von Floras flotten Sprüchen konnten jede Krisensituation ins rechte Licht rücken.
Als Tess nach der Fahrt mit zahllosen anderen erschöpft wirkenden Pendlern aus der U-Bahn kam und zur West Third Street zurückging, fühlte sie sich schon ein wenig ruhiger. Die Mechaniker in der Werkstatt neben ihrem Haus grüßten sie auf ihre typisch gönnerhafte Macho-Art. Manchmal pfiffen sie ihr auch hinterher, wenn sie morgens zu ihrer Joggingrunde im Washington Square Park aufbrach – aber wehe, ein Fremder wagte es!
Im Vorbeigehen erhaschte Tess einen Blick auf ihr Spiegelbild im Schaufenster: kurzer blonder Bob, schwarzes Kostüm, Blazer mit Schulterpolstern, den roten Mantel über dem Arm. Mochte sie auch aussehen wie die erfolgsverwöhnte Geschäftsfrau, die Realität sah anscheinend anders aus. Heute bekamen die Mechaniker ihr Grübchen nicht zu sehen.
»Alles okay, Schätzchen?«, rief einer der Männer ihr zu. »Sonst sieht man dich um diese Zeit noch nicht hier.«
»Danke, alles in Ordnung«, antwortete Tess. Aber sie bemerkte, dass alle Männer aufblickten und sie beinahe misstrauisch betrachteten, ehe sie sich wieder ihren jeweiligen Aufgaben zuwandten.
Die Verspannung, die Tess zwischen ihren Schulterblättern spürte, ließ ein ganz klein wenig nach, sobald sie unter das grüne Vordach des Cafés trat. Sie schlüpfte ins vertraute Innere, ließ sich an einem der runden Tischchen nieder und blickte über die Drucke der alten Meister, die an den terracottafarbenen Wänden hingen. Menschliche Dramen. Italienische Leidenschaft. Normalerweise erfreute sie sich an den Gemälden. Tja. Sie bestellte einen Cappuccino.
Als Nico, der von allen Angestellten am längsten hier kellnerte, ihr den Kaffee brachte, blieb er einen Moment an ihrem Tisch stehen. »Einen solchen Ausdruck im Gesicht meiner schönsten und liebsten Kundin zu sehen gefällt mir überhaupt nicht, Tess Miller.«
Tess stieß einen Seufzer aus. Nicos Schmeicheleien störten sie nicht; sie wusste, dass sie harmlos und absichtlich überzogen waren. Tess kannte Nico, seit sie in dieser Straße wohnte, und eigentlich war sie verdammt froh, dass ausgerechnet er heute Dienst hatte.
»Du wirkst frustriert«, fuhr Nico fort, »was bedeutet, dass dich etwas belastet und du nichts dagegen tun kannst.«
Tess nippte an ihrer Tasse und ließ sich den Hauch Schokolade auf dem Milchschaum auf der Zunge zergehen. Sie blickte auf, als sich die Tür öffnete und das Energiebündel, das Flora war, hereinrauschte.
»Tess.« Zielstrebig kam ihre Freundin auf sie zu und wich dabei mit meisterhaftem Hüftschwung den anderen Tischen aus. Wie immer trug sie Vintage-Mode – diesmal ein kanariengelbes Kostüm aus den Fünfzigern, das sie mit einer Perlenkette kombiniert hatte. Ihr rotes Haar war in dicke weiche Retrolocken gelegt, doch ihre Miene drückte zähe Entschlossenheit aus.
Nachdem Tess’ Freundin Nico auf die Wange geküsst hatte, ließ sie sich schwungvoll auf dem Stuhl ihr gegenüber nieder.
»Erzähl«, sagte sie. »In einer halben Stunde habe ich eine nervige Vorstandssitzung. Was ist passiert?«
»Ich kann es immer noch kaum glauben«, begann Tess. »Also, Leon gibt Alec Burgess’ nächstes Projekt unserem Neuzugang. Rate mal, wem.«
»James Cooper.« Flora sprach den Namen sehr abschätzig aus. »Mein lieber Schwan, Tess«, fügte sie hinzu, wobei ihr britischer Akzent deutlich herauszuhören war. Auch wenn Flora schon einige Jahre in den USA arbeitete, waren ihre London-Vibes unverkennbar, und Tess musste an ihren kometenhaften Aufstieg in der Verlagsbranche dies- und jenseits des großen Teichs denken. Flora war immer eine Inspiration, und Tess spürte, wie frische Energie durch ihren Körper strömte.
Nico, der nach wie vor neben ihrem Tisch stand, blickte von einer zur anderen.
Tess begann so energisch in ihrem Kaffee zu rühren, dass die Flüssigkeit zu wirbeln begann. »Drei Jahre lang war ich für Alec Burgess zuständig, habe unglaublich viel Zeit und Mühe investiert und aus jedem seiner Bücher einen Bestseller gemacht. Ich habe mehr geschuftet als sonst jemand im Verlag, ich habe alles gegeben und mich nie geschont – und wofür das Ganze?«
Nico zog eine Serviette aus dem Gürtel seiner Schürze und wischte sich über das Gesicht.
Tess blickte zu ihm auf. Nicos Haar war bereits grau, seine Bartstoppeln ebenfalls, doch seine Augen funkelten lebhaft.
»Tess, du weißt, was du zu tun hast, nicht wahr?«, fragte er.
»Sag du’s mir.«
»Wenn einem Unrecht geschieht und man nichts dagegen unternehmen kann, bleibt einem nur, das Beste aus der Situation zu machen.« Er lächelte. »Sieh dir an, welche Möglichkeiten dir bleiben, und nutze diese. Es hat keinen Sinn, gegen das Schicksal zu wettern.«
»Ach Quatsch«, sagte Flora, lehnte sich jedoch zur Seite und schlang einen Arm um den Kellner, der prompt rot wurde. »Tess muss sich wehren. Sie kann nicht zulassen, dass man ihr einfach sang- und klanglos den wichtigsten Autor wegnimmt. Mit welchem Argument denn?«
»James hat mehr Ahnung von gehobener Literatur als ich.«
Einen Moment lang hing der Satz zwischen ihnen in der Luft. Dann verdrehte Flora die Augen.
»James Cooper?« Sie schnaubte. »Klar, er ist berühmt. Wahrscheinlich hat Daddy das für ihn eingefädelt. Bestimmt ist er im selben Country Club wie dein Chef, Tess. Das kann ich übrigens für dich herausfinden, wenn du willst. Ich kann mir die Szene lebhaft vorstellen: Daddy und der Verlagschef einigen sich bei ein paar Drinks, und James, der brave Sohn, tut, was man ihm sagt. Pass auf, bald heiratet der Spross irgendeine reiche Promi-Schönheit, und die zwei füllen fortan die Klatschspalten. Ehrlich, das ist eine Welt, mit der ich nichts zu tun haben will. Unterhaltsam, wenn man von außen zusieht, aber ein Graus, wenn jemand darunter zu leiden hat, der einem wichtig ist. Und du bist mir wichtig. Was willst du also unternehmen?«
Nico neigte den Kopf. »Tut mir leid, aber – nein. Das ist Schicksal, erkennst du das nicht?«
Tess lachte. »Herrje. Danke euch beiden.«
»Du zeigst dein Grübchen wieder. Ein Lichtblick im grauen Alltag des Caffè Reggio«, sagte Nico. »Mach das Beste aus der Situation. Mehr kann man nicht tun. Aber manchmal ist das Ergebnis besser, als man es sich hätte vorstellen können.«
»Du musst dich wehren.« Flora holte ihr Filofax heraus, als ließe sich darin eine geheime Lösung für Tess’ Problem finden. »Gib nicht kampflos auf.«
Tess stellte ihre Tasse auf den Unterteller ab. »Wunderbar. Ein Philosoph und eine Kriegerin.« Sie stützte den Kopf in die Hände und sah beide von unten her an. »Das Dumme ist, dass ich mit großer Wahrscheinlichkeit wieder von vorne anfangen muss, wenn meine Vorgesetzten ihre Pläne umsetzen, was im Augenblick leider so aussieht.«
Nico stand auf. »Schicksal.«
»Ich muss jetzt los«, sagte Flora. »Sonst kriege ich noch Ärger. Aber, Tess, du musst mir versprechen, dass du das nicht mit dir machen lässt. Du hast so viel Arbeit in Burgess investiert, die Belohnung dafür steht dir zu. Cooper ist bloß ein Charmeur, ein Playboy, ein verwöhnter Oberschicht-Bubi, der sich als Mann verkleidet. Wehr dich, Tess.« Flora erhob sich ebenfalls und wirkte in ihrem Blazer mit den Fledermausärmeln wie ein übergroßer goldgelber Schmetterling.
Tess schob ihren Stuhl zurück und bedachte Nico mit einem resignierten Lächeln. »Danke euch beiden«, murmelte sie. »Aber wie es aussieht, hat Leon mich ausgebootet. Ich glaube, ich bin im Moment einfach nur maßlos enttäuscht. Ich kann nicht klar denken.«
Flora war schon fast an der Tür. »Ruf mich an, sobald du etwas Neues weißt.«
Nico legte Tess eine Hand auf den Rücken. »Das wird sich alles schon wieder einrenken, du wirst sehen«, sagte er. »Oftmals erscheinen einem solche Situationen schlimmer, als sie wirklich sind. Und auch wenn es einfach verdammt schwerfällt, ist es manchmal am besten, nichts zu tun.«
Tess blieb stehen und wandte sich zu ihm um. »Nichts?«
»Nichts«, bestätigte er.
Aber nichts zu tun hatte noch nie zu Tess’ Stärken gehört. Als sie das Café verließ, zog sie ihren roten Mantel eng um den Körper, während sich in ihrer Magengrube ein nervöses Flattern breitmachte. Mit einem Mal war ihr kalt. Was, wenn das heute nur der erste Schritt gewesen war, um sie aus dem Verlag zu drängen? War man vielleicht nicht zufrieden mit ihr?
Sie hatte doch nichts außer ihrem Beruf.
Tess blieb an der roten Tür ihres Hauses stehen, zog ihren Schlüssel aus der Tasche und steckte ihn wieder ein. Nein. Sie würde noch ein Stück im Village spazieren gehen. Sie musste nachdenken. Sie musste ihren Job retten. Sie musste Leon zur Rede stellen. Und James. Und zwar bald.
Und das Schicksal? So gern sie Nico auch hatte, der Vorschlag, sich auf das Schicksal zu verlassen, schien ihr doch wenig hilfreich.
Rom, 1987
Edward streckte den Arm zur anderen Bettseite aus und tastete über die Stelle an seiner Seite, an der Edith über fünfunddreißig Jahre geschlafen hatte. Und dachte an Rebecca.
Vergangene Nacht hatte sie ihm wieder im Traum zugeflüstert. Manchmal will man sich nicht mit der Vergangenheit beschäftigen, aber die Vergangenheit sich mit uns. War das eine kranke neue Form der Trauer? Eine Methode seines Unterbewusstseins, den Schmerz um Ediths Tod zu verdrängen, indem es ihn ins Jahr 1946 zurückkatapultierte und mit Erinnerungen quälte?
Es war, als seien all die Jahre seitdem zu einem einzigen wirren, bedeutungslosen Strudel verschmolzen – Oxford, seine Ehe, die Kinder, seine Laufbahn an der Universität. Nicht einmal die Tatsache, dass er hier in Rom umgeben von den Relikten der alten Welt war, schien etwas gegen den Sog der Vergangenheit ausrichten zu können.
Edward setzte sich im Bett auf. Er fuhr sich mit der Hand durch sein dichtes Haar, durch dessen Grau an manchen Stellen noch das ehemalige Dunkelblond schimmerte. Er stand auf, ging zu den Lamellentüren, öffnete sie und trat auf den Balkon hinaus, ohne sich darum zu kümmern, dass er noch seine Schlafanzughose und das alte graue T-Shirt trug. In Gedanken blickte er auf die belebte Straße unterhalb der Wohnung hinab, die Edith und er vor zehn Jahren gekauft hatten, nachdem Haslemere, sein Familienbesitz, veräußert worden war.
Bei der Versteigerung hatten sich Nachbarn wie Gelegenheitskäufer um alles gerauft, was Edwards Familie seit 1839 lieb und teuer gewesen war. Das gravierte Silber vom Dampfschiff, mit dem seine Großeltern in den Urlaub nach England gefahren waren, die edlen Ballkleider seiner Mutter, das Silberbesteck, das der Butler jeden Abend in seiner mit Zedernholz getäfelten Kammer zählte, wo Edward, damals noch ein Kind, so gern auf der Bank unterm Fenster hockte und dem alten Mann zusah, wie er den Wein dekantierte.
In Edward stieg das altvertraute schlechte Gewissen über seine damalige Haltung zum Vermögen seiner Familie auf. Hatte er sich als Kind noch wenig Gedanken gemacht, war ihm als Erwachsener immer deutlicher geworden, dass der opulente Lebensstil der berühmten Russells nicht nur verschwenderisch und unnötig, sondern auch ungerecht war. Dennoch war es ihm am Ende schwergefallen, das Erbe seiner Familie und die Geister seiner Vorfahren, die angeblich in den Fluren Haslemeres umgingen, loszulassen. Und nun schien es, als weigere sich ein bestimmter Geist seiner Vergangenheit, ihn loszulassen.
Er lehnte sich an die Balkonbrüstung, als er mit der Erinnerung rang, wie er vor zehn Jahren das letzte Mal die gekieste Auffahrt hinaufgegangen und an der Glocke am Tor zu den Ställen vorbeigekommen war, die jeden Morgen zum Arbeitsbeginn der Angestellten – Scherer, Farmer, Vorarbeiter und Dienstboten – geläutet hatte. Im ausgehenden 19. Jahrhundert hatte die weltberühmte Schaffarm siebzig Festangestellte gehabt. Hunderte von Wanderarbeitern hatten in den riesigen Wollschuppen Schafe geschoren, als Haslemere unter Edwards Großvater zur vollen Blüte gelangte.
Als Edward verkauft hatte, waren bloß noch drei Angestellte übrig geblieben: ein Gärtner, eine Putzfrau und ein Landarbeiter. Edith, die Gute, hatte sich mit weit mehr Begeisterung als er selbst auf die traditionelle Bewirtschaftung gestürzt. Als er mit dem Gedanken gespielt hatte, die Koppeln genossenschaftlich zu nutzen, wollte sie nichts davon wissen. Sie hatte unbedingt alles beim Alten lassen wollen und war ganz in ihrer Rolle als traditionelle Landfrau aufgegangen. Tatsächlich gelang es ihr, aus dem alten Anwesen ein wunderschönes Zuhause für ihre drei Kinder Mary, Jonathon und Peter zu schaffen, die in den zunehmend überwucherten Gärten eine unbeschwerte Kindheit verbrachten.
Edward gab die meiste Zeit Vorlesungen in Melbourne, um sein Erbe zu finanzieren. Doch obwohl er zusätzlich Biografien schrieb und veröffentlichte, reichte sein Einkommen nicht, um ein total abgelegenes Herrenhaus zu unterhalten, und irgendwann wurde ihnen klar, dass es ihnen nicht einmal mit Ediths Familienvermögen gelingen würde, das riesige Unternehmen, das seine Vorfahren aufgebaut hatten, in Betrieb zu halten. Seit sie vor zehn Jahren die Koffer gepackt hatten, war er kein einziges Mal zurückgekehrt.
Dennoch vermisste er, wenn er ehrlich war, das, was dieses Land stets ausgemacht hatte: die alten wispernden Eukalyptusbäume auf den endlosen Weiden links und rechts der Auffahrt, die wiederum von Eichen gesäumt war, die sein Großvater als Reminiszenz an die alte Heimat gepflanzt hatte. Er vermisste die grünen Wiesen, auf denen die gepflegten Schafe grasten. Wann immer er konnte, hatte er im Garten gearbeitet. Und ja, er hatte an dem mächtigen Herrenhaus mit seinem Ballsaal, den Veranden, den vierzehn Schlafzimmern und der großen, rustikalen Bauernküche gehangen. Mit liebevoller Wehmut dachte er an den eigenwilligen Holzofen zurück, der das ganze Haus ausräucherte, wenn er im Herbst zum ersten Mal in Betrieb genommen wurde, sodass jeder, der konnte, nach draußen floh. Das alte Ding schien einen ganz eigenen Charakter zu haben, und wenn man ihn nicht den ganzen Winter über regelmäßig mit Eukalyptusholz füllte, drohte er zu verlöschen.
Das war das Umfeld gewesen, das für ihn selbstverständlich gewesen war, und doch hatte es auf einer totalen Ungleichheit basiert. Er hatte es nie geschafft, sich damit zu arrangieren, am wenigsten nach den Schrecken des Krieges, dem Holocaust. Wie konnte er in all dem Luxus leben, während so viele Menschen grundlos hatten sterben müssen?
Edwards Flucht nach Rom hatte die Lösung sein sollen. Er hatte Edith die Wunder Italiens in den schillerndsten Farben beschrieben, um sie davon zu überzeugen, dass die Alte Welt ihre Rettung sei; regelrecht vorgeschwärmt hatte er ihr von der italienischen Leidenschaft für alles, was im Leben zählte – gutes Essen, Familie, Liebe. Doch nun in seiner hoffnungslosen Trauer um alles, was er verloren hatte, war ihm klar, dass der Umzug nach Rom ihn nur erneut mit seiner Sehnsucht nach jener Zeit im Jahr 1946 verband. In dieser klassischen Umgebung kehrten seine Gedanken immer wieder zurück zu jenem bestimmten Begriff, der ihn direkt nach dem Krieg so unwiderstehlich angezogen hatte: »Modernismus«, die Abkehr von all jenen Grundsätzen, die die Gesellschaft zusammengehalten hatten, bis der Krieg jede Idee von Klassendenken, Stand und Status ad absurdum geführt hatte – Grundsätze, nach denen seine Familie über viele Generationen hinweg gelebt hatte, ohne sie je infrage zu stellen.
Rom hatte ihm nicht helfen können. Rom hatte alles noch schlimmer gemacht. Sich zwischen den Ruinen der Alten Welt zu bewegen ließen die hundertfünfzig Jahre, die seine Familie auf Haslemere geherrscht und an dem ländlichen Systemzwang festgehalten hatte, so belanglos erscheinen wie ein einzelner Regentropfen in einem Gewittersturm. Edward hatte Rom als eine Art gelobtes Land sehen wollen, wo er sich gleichzeitig verlieren und finden konnte. Doch nichts davon war geschehen.
Die hartnäckig wiederkehrenden Gedanken an Rebecca erinnerten ihn an die routinemäßigen Versorgungsflüge, die er während des Krieges hatte unternehmen müssen. Jeden Tag ging es an der Ostküste entlang, immer dieselbe Strecke, ohne Abwechslung. Edward flog mit einer Hand, während er in dem ins Cockpit geklemmte Buch las, das er sich für diesen Tag aus der Bibliothek von Haslemere genommen hatte: Dickens, Milton, Shakespeare, die Romantiker. Damals hatte er sich auf diese Art in eine Fantasiewelt zurückgezogen, um vor der Wirklichkeit, dem Krieg, vor allem zu flüchten. Versuchte sein Verstand das nun auch wieder?
Er zupfte an der Kordel seiner Pyjamahose um seine nach wie vor schlanke Taille. Er würde wie üblich hinausgehen, die Zeitung kaufen, im Caffè Grecco einen Kaffee trinken und die Leute beobachten und dann einen Spaziergang über die Via Condotti mit den hübschen Designerboutiquen zur Spanischen Treppe machen, um anschließend die wunderschöne Parkanlage der Villa Borghese zu genießen. Er würde wie der typische Zugewanderte wirken, und das war ihm recht. Es wusste ja niemand, was ihm im Kopf umherging.
Seit Ediths Beerdigung war Edward immer deutlicher zu Bewusstsein gekommen, dass ihm nur zwei Möglichkeiten blieben. Er konnte so weitermachen und die Vergangenheit in ihm schwelen lassen, bis sie ihn in den Wahnsinn trieb, oder er konnte etwas dagegen unternehmen. Und es gab nur eins, was ihm helfen würde. Bloß hatte er schon jahrzehntelang nicht mehr geschrieben. Er hatte keinerlei Bedürfnis, sich selbst wieder an jene verborgenen Ufer zu versetzen, an die nie zurückzukehren er sich geschworen hatte. Diese Phase seines Lebens war zu schwierig, zu beängstigend und zu … empfindlich, um sich ihr zu stellen. Und doch würde die Erinnerung daran ihn nicht in Ruhe lassen.
Edward durchquerte das Schlafzimmer, betrat das hübsche Bad, das Edith und er renoviert hatten, drehte die Dusche auf, stellte sich vor den Spiegel und blickte in seine grünen Augen. Er hatte bei Edith sein Bestes gegeben; er hatte getan, was er für das Richtige hielt. Aber dadurch hatte er sich seine ganze Ehe über vor seinen wahren Gefühlen verschlossen.
Nach der Dusche nahm er seinen Schlüssel und genügend Geld für Kaffee und ein kleines Frühstück, verließ die Wohnung und ging die Treppe hinunter. Doch seine Gedanken kehrten erneut zu Rebecca zurück.
Hatte jemand sie so gekannt wie er?
Edward trat hinaus in den römischen Sonnenschein. Als er die Via Condotti schließlich erreicht hatte, wurde ihm bewusst, dass er sich die Frage selbst beantworten konnte. Selbst wenn Rebeccas Onkel oder ihre Mutter oder irgendeiner von ihren gemeinsamen Künstlerfreunden aus den Vierzigern noch lebte, war niemand darunter, der Rebecca so gekannt hatte wie er.
Ihm war, als spräche sie nach all den Jahren in einer Sprache zu ihm, die nur sie allein in ihrer kurzen Zeit miteinander verstanden hatten, ehe sie in jener Nacht im Jahr 1946 zu Tode stürzte. Während er weiterging, festigte sich in ihm der Gedanke, dass die Frage, warum sie ihn nun heimsuchte, vielleicht gar nicht so entscheidend war. Doch eines stand fest: Er konnte unmöglich einen weiteren Tag verstreichen lassen, ohne etwas zu unternehmen.
Edward drückte die Tür zum Caffè Greco auf, setzte sich auf eine Lederbank, nippte an seinem Kaffee und aß sein Brötchen mit Marmelade. In den Spiegeln, die an den Wänden hingen, beobachtete er die anderen Gäste, lauschte ihrem schnellen Italienisch und schnappte hier und da ein paar Worte auf.
Er liebte Italien leidenschaftlich, aber nicht einmal hier hatte er schreiben können. Die Worte wollten einfach nicht mehr kommen. Als er jung gewesen war, waren sie nur so aus ihm herausgeflossen, doch damit war es längst vorbei; er hätte sich selbst etwas vorgemacht, wenn er sich eingeredet hätte, seit Rebeccas Tod etwas Substanzielles verfasst zu haben. Er hatte sich auf Biografien anderer beschränkt, um persönlichen Wahrheiten aus dem Weg zu gehen, die, wie er wusste, durchschimmern würden, wenn er etwas Eigenes schrieb.
Edward kehrte auf die Straße zurück. Die Menge war dichter geworden. Er schlenderte hinter einer lärmigen Familie her, und die aufgeregten Kinderstimmen stiegen zwischen maroden Gebäuden auf, um in der Wäsche hängen zu bleiben, die auf den über den Gassen gespannten Leinen trocknete. Alltäglichkeiten – Rebecca hatte damit nichts zu schaffen gehabt. Über Edwards Lippen huschte ein Lächeln, und er stellte sich ihr langes dunkles Haar vor, das unter ihrer kirschroten Baskenmütze um ihre Schultern schwang.
Sie würde sich gut in einer Geschichte machen.
Er konnte hören, wie sie ihn neckte, dann los! Dann mach es doch! Manche Dinge ließen sich noch schwerer vergessen als andere.
Edward blieb vor einem Schreibwarengeschäft stehen. Aber bloß einen kurzen Moment. Schließlich trat er ein und kaufte zum ersten Mal seit Jahren einen Notizblock. Als er dann wieder in die Sonne hinaustrat, war seine Seele so leicht wie seit Langem nicht mehr.
New York, 1987
Tess durchquerte das winzige Ein-Zimmer-Apartment, das ihr Zuhause war. Wenn sie die Augen schloss, konnte sie sich beinahe vormachen, dass alles wie immer war. Normalerweise freute sie sich morgens aufs Büro. Für heute hatte sie geplant, Alec anzurufen, um mit ihm über das neue Buch zu sprechen. Sie hatte den Anruf sogar in ihrem Terminkalender eingetragen und rot unterstrichen. In den vergangenen Jahren hatte sich Tess so sehr an ihren Alltag gewöhnt, dass sie automatisch davon ausgegangen war, es würde immer so weitergehen. Sie hatte geglaubt, sie hätte es geschafft, ihr Job und ihre Autorenliste seien sicher. Doch Annahmen waren etwas, auf das sie sich nie wieder verlassen würde.
Hilflos blickte sie sich in ihrer Wohnung auf der West Third Street um. Die vier Wände blickten zurück, als sei nichts Besonderes. Ihr kleines cremefarbenes Sofa stand da wie sonst auch, die hellblaue Decke lag säuberlich gefaltet auf einer Armlehne, wie sie sie heute Morgen zurückgelassen hatte. Das Basilikum, das sie gestern gekauft hatte, um Pesto zu machen, verbreitete auf der Küchenzeile seinen aromatischen Duft, und zwei Kleider hingen an ihrem schmalen Kleiderschrank. Hatte sie sie erst gestern aus der Reinigung geholt? Irgendwie kam ihr das Gestern unwirklich vor.
Tess ließ sich auf ihr Sofa fallen.
Die Tatsache, dass Leon Tess’ erfolgreichsten Autor an einen Mann weitergereicht hatte, dessen Vater der berühmteste Literaturkritiker New Yorks war, war mehr als ärgerlich – es machte Tess wahnsinnig. Sie konnte die Bilder, die in Endlosschleife vor ihrem geistigen Auge vorbeiliefen, nicht stoppen: Sean Cooper in einer der zahlreichen Talkshows, in denen er auftrat, wie er mit der Souveränität eines gereiften Experten die neueste literarische Sensation analysierte. Alec Burgess würde der Nächste auf seiner Liste sein, dessen war Tess sich sicher. Ihr Autor, ihre Arbeit und doch konnte sie nichts dagegen tun, dass jemand anderes die Lorbeeren ernten würde.
Tess fuhr sich mit einer Hand durch ihren zerzausten blonden Bob, als ihr Telefon klingelte. »Ja?«, fragte sie. Dann atmete sie kontrolliert aus.
»Wo bist du?«, fragte Caroline herrisch. Die Stimme ihrer älteren Schwester hatte einen sexy Unterton, um den sie die ganze Highschool beneidet hatte. Caroline war mit den großen grünen Augen, ihren langen dunklen Wimpern und dem makellosen olivfarbenen Teint schon damals eine echte Schönheit gewesen, während Tess, na ja, eben Tess gewesen war: dünner, weniger gut entwickelt und mit einem Grübchen ausgestattet, über das ihr Bruder Bobby sich unaufhörlich lustig machte.
Caroline war verärgert. »Wir hatten sieben Uhr gesagt. Du weißt genau, dass Dad es nicht ausstehen kann, wenn jemand zu spät kommt. Am wenigsten …« Carolines Stimme verklang; vielleicht merkte sie selbst, dass sie zu weit gegangen war.
Am wenigsten ich, beendete Tess den Satz im Geiste. Doch sie verbot ihren Gedanken, den ausgetretenen Pfad zu beschreiten, den sie so gern einschlugen – wenn Caroline oder Bobby zu spät zum Essen kamen, spielte es kaum eine Rolle. Beide glänzten auf beruflicher Ebene; Tess dagegen machte mit ihren staubigen Büchern nicht viel her.
Tess holte tief Luft und stand auf. »Ich bin schon unterwegs.«
Obwohl sie zu einem Essen in Carolines schicker Wohnung in dem nagelneuen Hochhaus fast direkt an der Fifth Avenue überhaupt keine Lust hatte, griff sie nach ihrem Schlüssel und ihrem geliebten roten Mantel und rannte so schnell es ging die Treppe ihres Wohnhauses hinunter.
Die Wolken draußen wirkten gallig, als wollten sie sich heute noch in einem Sommergewitter entladen; eine seltsame Spannung hing bereits in der Luft. Die Straßen waren voll, als Tess in die U-Bahn-Station hinabstieg und den Zug zu ihrer Schwester nahm.
Was sollte sie ihrer Familie nur sagen?
Tess verfluchte sich, dass sie das Essen vollkommen vergessen hatte, denn normalerweise hätte sie sich selbstverständlich schicker und konkurrenzfähiger angezogen. Ihre schwarzen Schuhe hatten einen mittleren Absatz, der für die Arbeit geeignet war, konnten sich jedoch keinesfalls mit den High Heels messen, die ihre Schwester zweifellos tragen würde. Ihr Kostüm kam ihr nun vor allem langweilig vor, und die Müdigkeit, die sie überfallen hatte, als sie vorhin aus Leons Büro gekommen war, drückte sie noch immer nieder.
Sie klammerte sich an die Haltestange, während die U-Bahn unter der Stadt dahinsauste, und blickte in die Schwärze des Tunnels.
Als Tess sich in den gläsernen schwarzen Monolithen begab, den Caroline und ihr Mann zu ihrem Zuhause auserkoren hatten, ahnte sie schon nichts Gutes. Im Fahrstuhl, der sie hoch hinaufbrachte, zupfte Tess an ihrem Rock. Sie war sich schmerzlich bewusst, dass ihre Strumpfhose billig und ihre Schuhe abgestoßen und unmodern waren.
Caroline ließ sie ein; ihr Gesicht war bereits von ein oder zwei Gläsern Sekt gerötet. Wenn Tess’ Familie zusammenkam, war es immer wie eine Party. Manchmal kam es Tess vor, als würden sie sich bei jeder geselligen Runde selbst feiern und gegenseitig zu ihrem Wohlstand gratulieren. Tess’ Eltern stammten aus dem Mittleren Westen. In den Sechzigern hatte ihr Vater unablässig geschuftet, um sich in New York als Bauunternehmer zu etablieren, hatte es zu einem erklecklichen Vermögen gebracht und erwartete von seinen Nachkommen, diese Tradition weiterzuführen.
Allerdings wusste Tess, dass ihre Familie dem Ruf und dem Prestige der Coopers nicht das Wasser reichen konnte. James’ Familie gehörte einer Gesellschaftsschicht an, die Neureiche wie ihre Eltern behandelten wie den letzten Abschaum. Der gute Name allein hatte James einen Platz in den obersten Rängen des Kunst- und Literaturbetriebs gesichert, noch bevor er einen Fuß in eine Eliteuniversität gesetzt oder die ihm vorbestimmte Laufbahn angetreten hatte. Ganz anders als Leute wie Tess hatte und würde James Cooper nie um etwas kämpfen müssen.
Für Tess’ Familie war der Buchbetrieb etwas so Befremdliches und Verstaubtes wie eine Bibliothek voller ehrwürdiger Klassiker für Fans von belanglosen Mode- oder Klatschzeitschriften. Und das buchstäblich, denn Caroline war Redakteurin bei einem der berühmtesten Hochglanzmagazine New Yorks.
Tess lungerte in der Küche herum, ohne den Blick von ihrer Schwester abwenden zu können, die mit ihrem Champagnerglas in der Hand über den Marmorboden zu schweben schien. Ihr blondes Haar fiel ihr voll und glänzend den Rücken hinab, und sie war zwanglos gekleidet, wodurch Tess sich in ihrem Kostüm noch altbackener vorkam. Caroline trug ein fließendes Top, dessen Ausschnitt gerade tief genug war, um sexy zu sein, und eine helle, ausgewaschene Jeans, die ihre langen Beine betonte. Ihr Mann Kurt, der Salatzutaten zerkleinerte, hatte ein locker sitzendes T-Shirt und eine eng geschnittene Jeans an.
Wie immer sahen beide aus wie ein Modelpärchen aus einer der teuren Anzeigen, die Caroline im Floodlight Magazine unterbrachte.
»Tessie.«
Tess zuckte leicht zusammen und neigte sich ihrem Vater zu einem Begrüßungskuss zu. Für einen flüchtigen Moment berührte Dale Millers heller, sorgfältig gestutzter Bart ihre Wange, ehe ihr Bruder Bobby neben ihnen auftauchte und ihm auf den Rücken klopfte.
»Dad! Das musst du dir ansehen.«
Wie üblich lief Baseball im Fernsehen, wodurch der Jubel der Zuschauer im Stadium alle paar Sekunden den ganzen Wohnbereich beschallte. Dale tätschelte Tess das Haar und zog mit Bobby ab, um sich auf den übergroßen weißen Couchen niederzulassen.
»Du sieht schrecklich erschöpft aus«, sagte Tess’ Mutter, die ihr ebenfalls ein Küsschen auf die Wange hauchte. »Du arbeitest doch nicht zu viel, Kind, oder?« Sie legte ihrer Tochter die Hände an die Wangen und blickte sie fragend an. »Kannst du nicht versuchen, bei Caroline unterzukommen? Es muss doch etwas geben, was wir tun können. Es gefällt mir gar nicht, dass du in diesem schäbigen Apartment wohnst. Und wie läuft es in der Liebe? Hast du jemanden Interessantes kennengelernt?«
Tess wusste ganz genau, was Lucille Miller mit »interessant« meinte. Ein interessanter Mann war erfolgreich, vermögend, gut gekleidet und würde sich in dieses Umfeld, in dem Tess sich selbst fehl am Platz vorkam, nahtlos einfügen. Wann immer früher ein Freund der Familie oder ein Sportkumpel von Bobby Interesse an ihr bekundet hatte, hatte die ganze Familie sie ihm beinahe auf dem Präsentierteller dargeboten. Ein einziges Mal hatte sie sich tatsächlich darauf eingelassen, eine Erfahrung, die sie kein zweites Mal brauchte. Sie hatte sich in die Arbeit geflüchtet – doch nun schien ihr diese Möglichkeit nicht mehr zur Verfügung zu stehen.
»So.« Sobald das Essen auf dem Glastisch mitten im Wohnraum mit der atemberaubenden Aussicht auf Manhattan stand, schnitt Caroline das Thema an, das Tess heute mehr als alles andere fürchtete.
»Tess, Liebes«, sagte sie schmeichelnd.
Tess nahm sich Salat, doch ihr Magen revoltierte angesichts der Realität ihres Lebens. Sie hatte einen Autor so erfolgreich gemacht, dass er nun in einem ähnlichen Wohlstand lebte wie ihre Eltern, und er tauschte sie offenbar ohne Bedenken aus, sobald er sie nicht mehr nötig hatte.
»Ja?«
»Du wirst mir ewig dankbar sein.« Carolines blonde Haare tanzten, als sie auf ihrem Stuhl herumrutschte.
»Sag’s ihr«, meldete Lucille sich zu Wort.
Tess legte das Salatbesteck in die Schüssel zurück und griff nach ihrem Weinglas. »Worum geht es denn?«, fragte sie resigniert.
»Sag’s ihr«, wiederholte Lucille. »Das ist genau das, was sie braucht.«
»Also«, begann Caroline, »ich habe in der Septemberausgabe zwei Seiten für Alec Burgess reserviert und will ihn auf den Titel bringen. Natürlich tauchst auch du im Artikel auf. Wir wollen Klatsch und Tratsch – wohin er am liebsten ausgeht, was er zum Schlafen trägt und wer momentan seine Flamme ist. Schonungslose Offenheit. Unsere Leserinnen werden begeistert sein. Das wird ein großes Ding, glaub mir. Du weißt, dass es landesweit erscheint. Aber ich denke, dass Alec durchaus so weit ist.«
Tess stellte ihr Glas ab. »Großartig«, sagte sie und spürte, wie ihr die Gesichtszüge entgleisten.
»Meine Hoffnung ist, dass dich das bei anderen Bestsellerautoren ins Gespräch bringt«, fuhr Caroline fort. »Ich mach das für dich, Tess.«
»Willst du dich denn nicht wenigstens bei deiner Schwester bedanken?« Lucille warf sich das Haar über die Schulter und schniefte pikiert.
»Doch. Toll.« Tess nahm ihr Glas und hielt es hoch. »Fabelhaft. Danke. Genau das habe ich jetzt gebraucht.«
Perfektes Timing. Die Unterhaltung wandte sich wie üblich rasch anderen Themen zu.
Aber während ihre Familie ohne sie weiterplapperte, fasste Tess einen Entschluss. Sie musste Alec Burgess zurückgewinnen, koste es, was es wolle. Ende der Geschichte. Sie hatte es satt, immer auf der Schattenseite des Lebens zu stehen, aber wenn es um ihren Job ging, würde das nicht der Fall sein.
Melbourne, 1946
Zigarettenqualm driftete auf Klängen von Frank Sinatra in die Pink Alley und löste sich in der warmen Sommernacht auf. Edward stand am Ende der schmalen Gasse, die von Melbournes Little Collins Street abzweigte, und suchte nach einem Eingang zum Dachgeschoss über dem ehemaligen Stallgebäude, wo die Party stattfand. Die Räumlichkeiten waren eindeutig zu einem provisorischen Atelier umfunktioniert worden, in dem ein Mitglied von Melbournes immer größer werdender Künstlerclique wohnte. Hier mischten sich Studenten mit Malern, Schriftstellern und linken Intellektuellen, um sich auszutauschen und zu diskutieren, worum es im Leben ging. Gemeinsam mit Buchläden und Cafés waren diese Lofts der fruchtbare Boden, aus denen ganz neue Denk- und Lebensweisen sprossen. Edward war zu dieser heutigen Party spontan von einer Künstlerin eingeladen worden, der er auf einer Vorlesung über moderne Kunst begegnet war. Joy Hester hatte ihn fasziniert, und so hatte er beschlossen, sich wenigstens blicken zu lassen.
Er betrat die verlassenen, düsteren Ställe und sah sich nach einer Möglichkeit um, in die obere Etage zu gelangen. Wie es aussah, war die Fläche hier unten vor dem Krieg als Garage genutzt worden, nachdem irgendein betuchter Mensch seine Geschäfte von Pferden und Kutschen umgestellt hatte. Ölflecken verunzierten den Boden, auf dem früher Stroh die Schritte gedämpft hätte.
Hinten in einer Ecke entdeckte er eine provisorisch zusammengezimmerte Treppe, und Edward steuerte darauf zu. Er hatte gerade seinen Fuß auf die unterste Stufe gestellt, als er, die Hand am splittrigen Geländer, wieder innehielt.
Noch jemand hatte das düstere Stallgebäude betreten.
Edward spürte es, ehe er das Klacken von schmalen Absätzen auf dem gerissenen Betonboden hörte. Die Schritte klangen unsicher, als sei die Person nicht daran gewöhnt, auf so hohen Schuhen zu gehen.
Edward drehte sich um. Die Schritte verstummten.
»Hey, hallo.« Die Stimme des Mädchens kippte ein wenig. Im schwachen Licht von draußen sah Edward, dass es eine kirschrote Baskenmütze auf seinem dunkelbraunen Haar trug, das, wie er vermutete, um seine Schultern schwang, wenn es ging. Sein Kleid, das sich mithilfe eines Stoffgürtels eng um die Taille schmiegte, war ebenfalls rot. Mit offenem, klarem Blick sah das Mädchen zu Edward auf.
»Die Stufen sind nicht ungefährlich, wenn man betrunken ist«, sagte sie, und die außergewöhnlich dunklen Augen schienen aufzuleuchten. »Aber wenn man erst einmal oben bei den anderen ist, ist es wie in einer anderen Welt.«
Ein Lächeln spielte um Edwards Lippen. »Willst du vielleicht vorgehen?«, fragte er. »Ich bin zum ersten Mal auf so einer Zusammenkunft. Ich kenne praktisch niemanden. Wahrscheinlich stehe ich nachher ganz allein herum.« Er hatte gerade erst an der Universität von Melbourne angefangen, Englische Literatur zu studieren – sehr zum Kummer seiner Oberschichtfamilie.
»Keine Angst. Jeder wird dort miteinbezogen«, sagte das Mädchen, trat zur Treppe und strich mit seiner weiß behandschuhten Hand über das Geländer, als sei es der polierte Handlauf einer prachtvollen Treppe in einem Herrenhaus. »Im Übrigen kommen die Leute ja, um sich zu unterhalten. Dabei spielt es keine Rolle, wer du bist oder wen du kennst. Jeder ist willkommen. Zumindest solange du solide Ansichten zur Kunst hast. Und zur Politik.« Sie setzte an, die Treppe hinaufzusteigen, blieb aber wieder stehen und sah ihn an.
Edward musste sich das Lachen verkneifen. »Ich bin Edward. Edward Russell.«
Das Mädchen bedachte ihn mit einem strahlenden Lächeln. »Rebecca«, sagte es. »Rebecca Swift.«
»Sollen wir hinaufgehen, Rebecca Swift?«
Das Atelier war voller Zigarettenqualm und unkonventioneller Menschen. Männer in Hemdsärmeln, die Pullover locker um die Schultern gebunden, standen an der Bar mit Frauen, die wie Männer gekleidet waren. Leere Gläser zierten die Tische, und die modernen Gemälde an den Wänden blickten auf die Party herab, als seien auch sie geladene Gäste. Die Szenerie war ungefähr genauso weit von Edwards Familienleben entfernt wie der Südpol von New York.
Ein auffälliges, modernes Gemälde – verstörend und erschreckend ehrlich – stand auf einer Staffelei neben der Tür. Auf der Leinwand waren zwei Frauen in bunt gestreiften Miniröcken zu sehen, hinter ihnen anzüglich grinsende Männer, die sie begrapschten.
»Gesellschaftlich realistisch und surrealistisch zugleich. So soll es sein«, sagte Edward halb zu sich selbst.
»Genau«, bemerkte Rebecca. »Das ist es, worum es allen hier geht.«
Joy Hester kam mit einer Zigarette mit Spitze in ihrer Hand zu ihnen. Ihr wasserstoffblondes Haar war aus ihrem attraktiven Gesicht gekämmt.
»Oh, hallo …«, sagte Edward.
»Joy Hester.« Sie lachte. »Du hast bestimmt meinen Namen vergessen. Ich jedenfalls vergesse alle Namen. Was hältst du von Alberts Werk?« Unbekümmert wandte sie sich dem Gemälde zu. »Nun?«
»Ich hatte deinen Namen nicht vergessen«, sagte Edward grinsend. »Und ich finde die Bilder authentisch und lebendig.« Er wusste, dass er hier in dieser Gesellschaft ohne Umschweife sprechen musste. »Aber auch finster, absurd und ungeschönt. Sie verweisen auf das, was wir vermutlich nicht sehen wollen.«
Joy zog an ihrer Zigarette. »Nun, dem würde ich zustimmen, Edward Russell«, sagte sie. »Der Künstler, Albert Tucker, ist mein Mann.«
»Oh, Albert Tucker. Ja, klar.« Er war ein aufstrebender Maler aus der Gegend. Melbourne entwickelte sich wahrlich zu einer faszinierenden Stadt. Nach sechs Jahren bei der Luftwaffe, in denen Edward nach einem Flugzeugabsturz in England nur noch für Versorgungsflüge an Australiens Ostküste eingesetzt worden war, war ihm das Schicksal wieder wohlgesinnt. Die dunkle Zeit war definitiv vorüber.
Joy Hester plauderte mit Rebecca, bis ein dunkelhaariger junger Mann, in dem Edward den Dichter Max Harris erkannte, erschien und Joy zu einer anderen Gruppe zog. Edward wandte sich dem Mädchen mit dem betörenden Lächeln zu; er wollte nicht, dass sie sich ebenfalls unter die Leute mischte.
»Etwas zu trinken?«
»Sehr gern«, erwiderte Rebecca. Sie führte ihn zur Bar. »Die Leute hier sind heute Abend in echter Feierstimmung.« Sie lachte und nahm das Glas Champagner, das Edward ihr reichte. »Manchmal kommt man her, und hier wird nur über Kunst und Politik geredet und gestritten. Furchtbar ernsthaft, das alles. Und der Heide-Zirkel – Joy Hester, Albert Tucker, Max Harris, Sunday und John Reed, Sidney Nolan und Danila Vassilieff – diskutiert manchmal bis in die frühen Morgenstunden …«