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Der Mut der Frauen
New York, 1938: Die schüchterne Martha und die neugierige Charlotte Belmont könnten als Zwillinge kaum gegensätzlicher sein. Doch als der Krieg ausbricht, werden sie gezwungen, über sich hinauszuwachsen. Charlotte riskiert ihr Leben im Widerstand in Paris, während Martha in New York verzweifelt versucht, jüdische Flüchtlinge vor den Nazis zu retten. Als Charlotte ein gefährliches Familiengeheimnis entdeckt, das ihr Leben bedroht, muss sie sich fragen, ob sie die Kraft hat, ihre Liebsten zu retten – bevor es zu spät ist …
Der Abschluss der großen Serie über die Frauen von New York mit zwei Schwestern, die in Paris und New York für den Widerstand und Menschenleben kämpfen.
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Seitenzahl: 399
Veröffentlichungsjahr: 2025
Der Mut der Frauen
New York, 1938: Die schüchterne Martha und die neugierige Charlotte Belmont könnten als Zwillinge kaum gegensätzlicher sein. Doch als der Krieg ausbricht, werden sie gezwungen, über sich hinauszuwachsen. Charlotte riskiert ihr Leben im Widerstand in Paris, während Martha in New York verzweifelt versucht, jüdische Flüchtlinge vor den Nazis zu retten. Als Charlotte ein gefährliches Familiengeheimnis entdeckt, das ihr Leben bedroht, muss sie sich fragen, ob sie die Kraft hat, ihre Liebsten zu retten – bevor es zu spät ist …
Der Abschluss der großen Serie über die Frauen von New York mit zwei Schwestern, die in Paris und New York für den Widerstand und Menschenleben kämpfen.
Ella Carey wurde in Adelaide, Australien, geboren und studierte Kunst, Geschichte und Literatur. Heute lebt und schreibt sie in Melbourne mit ihrer Familie und zwei Hunden. Schon immer haben sie die mutigen Frauenfiguren der Geschichte fasziniert, weswegen sie es liebt, ihre Romane nach wahren Begebenheiten zu erzählen. Ihre Bücher sind internationale Bestseller und erscheinen in zahlreichen Sprachen.
Im Aufbau Taschenbuch liegen bereits die ersten beiden Bände ihrer Serie über „Die Frauen von New York“ vor: „Glanz der Freiheit“ und „Worte der Hoffnung“.
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Ella Carey
Die Frauen von New York – Schatten der Vergangenheit
Aus dem Englischen von Uta Hege
Cover
Titel
Inhaltsverzeichnis
Impressum
Titelinformationen
Informationen zum Buch
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Widmung
Zitat
PROLOG — SOMMER 1943
KAPITEL 1 — FÜNF JAHRE ZUVOR, FRÜHJAHR 1938
KAPITEL 2 — NEW YORK, FRÜHJAHR 1938
KAPITEL 3 — CHÂTEAU D’ANEZ, FRANKREICH, SOMMER 1937
KAPITEL 4 — PARIS, SOMMER 1937
KAPITEL 5 — SS CHAMPLAIN. FRÜHJAHR 1938
KAPITEL 6 — PARIS, WINTER 1918
KAPITEL 7 — PARIS, SOMMER 1938
KAPITEL 8 — PARIS, WINTER 1919
KAPITEL 9 — PARIS, SOMMER 1939
KAPITEL 10 — NEW YORK, FRÜHJAHR 1939
KAPITEL 11 — CHÂTEAU D’ANEZ, FRÜHJAHR 1940
KAPITEL 12 — SÜDWESTFRANKREICH, SOMMER 1940
KAPITEL 13 — NEW YORK, SOMMER 1940
KAPITEL 14 — SÜDWESTFRANKREICH, SOMMER 1940
KAPITEL 15 — FRANZÖSISCHE RIVIERA, FRÜHJAHR 1919
KAPITEL 16 — MONTAUBAN, SOMMER 1940
KAPITEL 17 — NEW YORK, SOMMER 1940
KAPITEL 18 — CHÂTEAU D’ANEZ, SOMMER 1919
KAPITEL 19 — NEW YORK, SOMMER 1941
KAPITEL 20 — FRANKREICH, SOMMER 1941
KAPITEL 21 — PARIS, HERBST 1923
KAPITEL 22 — PARIS, SOMMER 1941
KAPITEL 23 — NEW YORK, HERBST 1942
KAPITEL 24 — PARIS, HERBST 1942
KAPITEL 25 — NEW YORK, HERBST 1942
KAPITEL 26 — GEFÄNGNIS FRESNES, PARIS, WINTER 1943
EPILOG
ANMERKUNG DER AUTORIN
DANKSAGUNG
Impressum
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gegen die Realität.
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SOMMER 1943
Als Martha schnellen Schritts durch den Conservatory Garden lief, hielt sie das kleine Silberkreuz um ihren Hals so fest umklammert, als könnte ihr jeden Moment jemand die zarte Kette abreißen und sie achtlos auf den frisch geharkten Kiesweg fallen lassen. Bei jeder Person, jeder jungen Frau, die ihr, ein Lächeln im Gesicht, entgegenkam, verstärkte sich das Beben ihrer Schultern noch.
Bei jedem ihrer Schritte und mit jedem Herzschlag gingen ihr die heimtückischen Worte »Nacht und Nebel« durch den Kopf. Wie war es möglich, dass die mutige und unerschütterliche Charlotte auf der Grundlage von Hitlers jüngst erlassenem Befehl verhaftet und an einen unbekannten Ort gebracht worden war? Wie hatte es passieren können, dass Marthas so vertraute Welt völlig aus dem Gleichgewicht geraten war?
Sie ließ sich unglücklich auf eine freie Bank fallen und zuckte nicht einmal zusammen, als sie ihre Hände auf das raue Holz legte und ein Splitter die zarte Haut ihrer Handfläche durchdrang. Wie sollten sie und ihr Vater damit umgehen, nicht zu wissen, ob Charlotte noch am Leben war? War denn den Nazis nicht bewusst, dass jeder einzelne verschleppte Mensch geliebt wurde? Und dass die Ungewissheit, was mit ihm passiert war, wie ein Messerstich in die Herzen seiner Eltern und Geschwister war?
Vor Martha breiteten sich bunte Blumenbeete aus. Die sorgfältig gestutzten Buchsbaumhecken, die sie säumten, sahen aus wie die in Frankreich, und Martha kniff die Augen zusammen. Sie hätte nicht in diesen Teil des Central Park gehen sollen. Auch wenn sie ihn liebte und jeden Winkel kannte, rief er die Erinnerung an Frankreich und die glücklicheren Zeiten in ihr wach, bevor das Grauen vor vier Jahren angefangen hatte. Die Schönheit dieses Fleckchens Erde rief ihr schmerzhaft ins Gedächtnis, dass es einmal eine Welt gegeben hatte, in der die Menschen einander freundlich statt mit grenzenlosem Hass begegnet waren.
Wenn sie die Augen aufschlug, würde alles wieder aussehen wie in den von ihr geliebten Gärten in Paris. Dann würde sie erneut an Frankreich denken, dieses Land, in dem erst ihre Mutter umgekommen und wo jetzt ihre Schwester über Nacht verschwunden war.
Den grauenhaften Brief trug Martha in der Handtasche. Die nüchternen, beängstigenden Worte hatten sich ihr unauslöschlich eingebrannt. Seit seiner Ankunft las sie jeden Artikel, der fürchterliche Wahrheiten über die Verschwundenen in Frankreich verbreitete. Nachdem die Deutschen auch in Russland eingefallen waren, nahm der Widerstand in Frankreich zu. Die deutsche Spionageabwehr hatte ihre Anstrengungen, Mitglieder der Résistance und Saboteure festzunehmen, verdoppelt, und die Menschen, die nach dem Nacht-und-Nebel-Erlass verhaftet wurden, wurden umgehend ins Deutsche Reich gebracht.
Auch Charlotte war verschwunden, aber da Gefangene keinen Kontakt zu ihren Familien aufnehmen durften, wusste niemand offiziell, ob sie verhaftet worden war. Die Verwandten sollten nicht erfahren, was aus den Gefangenen geworden war.
Inzwischen hatte Martha den Brief praktisch auswendig gelernt. Es hieß darin, dass Charlotte nach Paris gefahren und nicht mehr von dort zurückgekommen sei. Inzwischen gingen ihre Kolleginnen und Kollegen in Südfrankreich davon aus, dass Charlotte bei der Résistance aktiv gewesen war, doch ihre Rolle, die Namen anderer Widerständler und der Grund, weshalb sie nach Paris gefahren war, waren ihnen nicht bekannt.
Martha stützte sich mit ihren Ellenbogen auf den Knien ab und warf sich unglücklich die Hände vors Gesicht. Es war schon schlimm, wenn ein Familienmitglied starb, doch wenn ein Mensch einfach so verschwand, verlor man seinen Kompass, seine Seele, seine Welt. Sie und Papa waren hilflos und hatten keine Ahnung, ob sie trauern sollten, auch wenn jeder Funke Hoffnung beim Gedanken an die grauenhafte Wirklichkeit erlosch.
Die Nazis wussten, was sie taten, und auch wenn die Leute sagten, dass sie irre seien, wusste Martha, dass dies nicht der Fall war. Nicht irgendwelche durchgedrehten Verrückten waren schuld an ihrem grauenhaften Schmerz. Die Grausamkeit war kaltblütig und vorsätzlich geplant. Den Zeitungen zufolge war die Todesrate unter den Nacht-und-Nebel-Häftlingen besonders hoch, und alle, die nicht wussten, was aus ihren Eltern, Kindern und Geschwistern geworden war, machten Tag für Tag die Hölle durch.
Mit einem Seufzer richtete sich Martha wieder auf. Zwei kleine Mädchen sprangen in kirschroten Sommerkleidern und mit wehenden Haaren über die gepflegten Kieswege des Central Park. In Frankreich dagegen wichen Kinder ängstlich den Soldaten in den Naziuniformen aus.
Zwei Fragen gingen Martha nicht mehr aus dem Kopf. Sie hatte keine Ahnung, ob die Schwester, die sie über alles liebte, wirklich Widerstand geleistet hatte. Und sie wusste nicht, ob Charlotte noch das Glück erleben dürfte, alt zu werden, oder ob sie schon gestorben war.
FÜNF JAHRE ZUVOR, FRÜHJAHR 1938
Den Tag, an dem das Telegramm aus Frankreich kam, würde Martha nie vergessen. Sie saß am Fenster ihres Zimmers, blickte auf die cremefarbene Blütenpracht im Central Park und schaute voller Wehmut auf den Rasen, auf dem sie als Mädchen ihrer Zwillingsschwester Charlotte hinterhergelaufen war. Charlotte war schon damals die Verwegene gewesen, während Martha stets im Strom der wilden Zwillingsschwester mitgeschwommen und klaglos in die Rolle einer sanften Helferin geschlüpft war.
Mit einem leisen Seufzer, aber lächelnd griff sie nach dem Buch in ihrem Schoß. Für sie war es das größte Glück, wenn sie im Schutz eines Romans auf Abenteuerreise ging. Sie zog die Schildpattspange, die sie bei der Arbeit in der Bücherei trug, aus den wilden dunkelbraunen Locken. Sie hatte heute Dienst im Kindersaal gehabt und liebte es, wie die Kinder über den gefliesten Boden rannten, um sich einen Platz am Fenster auszusuchen und sich die Bücher anzusehen. Es machte Martha glücklich, wenn ein Kind zum ersten Mal die Bücherei betrat und seinen ersten Bibliotheksausweis von ihr bekam. Sie bat das Kind dann immer, seine Hand zu heben und zu schwören, gut auf die entliehenen Bücher achtzugeben, denn für Martha waren die Geschichten in den Büchern Wege in ferne Welten, die den Kindern bisher fremd gewesen waren.
Als jemand an die Wohnungstür klopfte, riss sich Martha von dem Buch los, in dem sie noch ein Stündchen hatte lesen wollen, bevor sie Papa ein Glas Sherry in sein Arbeitszimmer bringen würde. Er saß an seinem Schreibtisch, und sie käme nie auf den Gedanken, ihn zu stören. Also trottete sie selbst auf Strümpfen über das Parkett im Flur.
Sie öffnete die Tür, und ihre Miene wurde ernst, als sie den Jungen mit dem Telegramm auf ihrer Schwelle stehen sah.
Charlotte.
Martha sah ihn aus zusammengekniffenen honigfarbenen Augen an und zupfte aufgeregt am Rock ihres geblümten Kleids.
»Guten Abend.«
»’n Abend, Ma’am. Ich habe hier ein Telegramm für Mr. Laurence und Miss Martha Belmont.«
»Danke.« Hastig nahm sie ihm das Schreiben ab.
Der Junge machte auf dem Absatz kehrt, und während er zurück zum Fahrstuhl lief, schloss sie die Wohnungstür und merkte, dass ihr Herz vor Aufregung im Takt der Standuhr ihres Vaters schlug. Sie war aufgewachsen mit den Geschichten der inzwischen verstorbenen Großeltern über das Entsetzen, das sie zur Zeit des Großen Krieges bei der Ankunft eines Telegramms empfunden hatten. Ihr einziger Sohn Laurence war in Frankreich stationiert gewesen, und bei jedem Klopfen hatten seine Eltern sich dafür gewappnet, zu erfahren, dass ihr Kind gefallen war.
Und jetzt war Charlotte in Europa, und die Sorge um die Tochter war dem armen Papa deutlich anzusehen.
Martha ging ins Wohnzimmer zurück. Das Telegramm lag in ihrer Hand, und auch wenn sie nicht wagte, es zu öffnen, wagte sie noch weniger, damit ins Arbeitszimmer zu Papa zu gehen.
Auch wenn der Große Krieg vorbei war, warnten alle Zeitungen auf ihren Titelseiten davor, dass der deutsche Reichskanzler Adolf Hitler fest entschlossen sei, seine Herrschaft auf die Nachbarländer auszudehnen, nachdem im März bereits Österreich durch den Einmarsch deutscher Truppen über Nacht an Deutschland angegliedert worden war. Wie gerne Martha auch nichts von all diesen Dingen mitbekommen hätte, sie konnte die Augen schwerlich vor der Tatsache verschließen, dass es eine Welle neuer Spannungen in Europa gab und Hitlers Gier, die deutsche Herrschaft auszudehnen, längst noch nicht befriedigt war. Und dazu fand die schreckliche Verfolgung unschuldiger Minderheiten, die in Deutschland an der Tagesordnung war, jetzt auch in Österreich statt.
Obwohl Papa darauf bestand, dass Charlotte, falls es in Europa zu gefährlich würde, umgehend nach Hause kommen sollte, wusste Martha nur zu gut, dass ihre Schwester sich die Chance, mittendrin zu sein, niemals entgehen lassen würde. Dagegen saßen Martha und Papa allabendlich am Radio, um zu hören, ob Amerika bereit wäre, sich in die Probleme in Europa einzumischen oder nicht.
Wenn es von Charlotte schlechte Neuigkeiten gäbe, würde Papa nicht damit zurechtkommen. Deshalb blieb Martha keine andere Wahl, als selbst das Telegramm zu öffnen, auch wenn das aufgrund ihrer zitternden Finger nicht einfach war.
MR. LAURENCE BELMONT UND MISS MARTHA BELMONT
PARIS, FRANKREICH
RUE LAFFITTE 25
TEILE MIT BEDAUERN TOD UNSERER WUNDERVOLLEN ANITA MIT. FÜHLT EUCH UMARMT. BRIEF FOLGT.
CHARLOTTE
Marthas Hals zog sich zusammen, und erschüttert las sie das Telegramm so häufig durch, bis ihr schwindlig wurde und das Stück Papier gleich einem welken Blatt zu Boden fiel.
Anita war wie eine zweite Mutter für sie und Charlotte gewesen, nachdem ihre leibliche Mutter Chloé Anfang 1923 umgekommen war. Sie waren da noch keine vier Jahre alt gewesen, und als enge Freundin der Familie war Anita damals nach New York gekommen, um die Mädchen zu versorgen, damit ihr Vater Zeit für das Übersetzen von Romanen oder die Recherche für ein wichtiges Geschichtsbuch blieb.
Mitunter hatte sie, wenn Papa länger unterwegs gewesen war, darauf bestanden, die zwei Mädchen mit in ihre Wohnung in der Rue Laffitte zu nehmen, die genauso voll war mit Bildern wie die Galerie, die sie im Erdgeschoss betrieben hatte.
Martha musste schlucken, als sie daran dachte, dass Anita Bilder ihrer Künstler oft wie Wäschestücke an der Leine hatte flattern lassen, dass die Dinnerpartys, die sie nach den Ausstellungen für die Künstler ausgerichtet hatte, legendär gewesen und wie viele junge Künstler aus Paris von ihr an der Hand genommen worden waren, um sie sicher durch das Minenfeld der Kunstszene zu führen.
Sie atmete tief durch und kämpfte tapfer gegen die aufsteigenden Tränen an. Anita hatte etwas ganz Besonderes an sich gehabt, einen ganz besonderen Schwung im glatten braunen Haar, ein Blitzen in den Augen und eine gleichmütige Nonchalance, der jeder Mensch sofort verfallen war. Sie hatte sich in der mörderischen Welt des Kunsthandels behauptet, weil die Leidenschaft, die sie verströmte, ansteckend gewesen war.
Eine Welt ohne Anita würde niemals mehr dieselbe sein.
Schließlich straffte Martha ihre Schultern und ging schweren Schritts den Flur hinab zum Arbeitszimmer von Papa.
Er hatte den Verlust ihrer Mutter nie verwunden, und Anita war das Bindeglied zu ihr gewesen, das nach Chloés Tod nie abgerissen war. Und wenn ihm Martha jetzt die schlimme Botschaft überbrächte, würde ihm ein zweites Mal das Herz brechen.
Ein wenig später saß Papa in seinem Ohrensessel in dem holzvertäfelten Büro. Er hatte seine Pfeife in der Hand, starrte unglücklich auf den Kamin, zündete ein Streichholz an und rührte mit der Flamme in dem bis zum Rand mit Tabak vollgestopften Pfeifenkopf. Dann paffte er an seiner Pfeife, bis der Tabak brannte.
Seine Tochter, die mit fest im Schoß verschränkten Händen in dem anderen Sessel saß, betrachtete voll Wehmut seine ausgestreckten Beine, seine abgetragene Strickjacke und das zerzauste graue Haar. Er war noch immer attraktiv, doch als er sie aus seinen verquollenen blauen Augen ansah, lag darin eine Trauer, die sich nicht in Worte fassen ließ.
»Soll ich uns ein Feuer machen?«, fragte Martha, denn trotz des vorhergesagten warmen Frühlingswetters war es noch immer ziemlich kühl. Vor allem brauchte sie etwas zu tun. Irgendetwas, was die beunruhigende Stille, mit der Papa sich umgab, durchbrach.
Mit einem geistesabwesenden Nicken wandte er sich ab, und Martha fuhr zusammen, als sie das Mahlen seines Kiefers und die fest zusammengepressten Lippen sah.
Um sich abzulenken, nahm sie ein paar Scheite aus dem Korb vor dem Kamin, vergewisserte sich, dass sie mindestens so dick waren wie ihre Faust, legte sie zuunterst auf den Rost, schichtete darüber ein paar dünne Scheite und ein wenig Kleinholz auf und breitete das Holz so aus, dass ihm genügend Luft für die Entwicklung eines Feuers blieb. Am Ende legte sie noch ein paar Seiten einer alten Zeitung voller Geschichten über Hitlers Gier nach dem Sudetenland auf ihren kleinen Berg aus Holz und fragte sich, nach welchem Land es den Diktator wohl als Nächstes dürstete.
Die undenkbare Antwort hing inzwischen Tag und Nacht zwischen Papa und ihr im Raum, denn allen war bewusst, dass Hitler keinen Moment zögern würde, Frankreich einzunehmen als Rache für die Schmach, die Deutschland nach dem Großen Krieg zuteilgeworden war.
Martha riss ein Streichholz an und starrte auf die winzig kleinen Flammen, die aus der Zeitung züngelten. Sie griff sich an die Stirn, denn der Verlust der Stiefmutter brach ihr das Herz, und sie verging vor Angst um Charlotte, die in der Galerie einer Jüdin angestellt gewesen und jetzt ganz allein in Europa war.
Papa zog ein Taschentuch hervor und schnäuzte sich.
»Wir müssen unsere Bemühungen verstärken, Charlotte dort herauszuholen«, stieß er mit rauer Stimme aus, brach ab und starrte hilflos seine Hände an. »Ich kann es einfach nicht begreifen. Dass Anita nicht mehr leben soll …«
»Ach, Papa.« Martha atmete tief durch. »Charlotte sagt, Anita hätte seit geraumer Zeit von einem Plan zum Schutz der Kunstsammlungen des Pariser Nationalmuseums erzählt, falls Hitler tatsächlich in Frankreich einmarschiert. Ich bin mir sicher, dass sie nicht nur Vorkehrungen zum Schutz ihrer Sammlung, sondern auch zu Charlottes Schutz getroffen hat.« Da sie nicht weitersprechen konnte, wandte sie sich abermals dem Feuer zu und kämpfte gegen ihre eigenen Ängste an.
Statt etwas zu erwidern, warf sich ihr Vater unglücklich die Hände vor das Gesicht.
Seit Beginn des Jahres hatte das brutale Vorgehen der Nazis gegenüber Juden sich tatsächlich noch verstärkt. Sie stahlen ihnen ungesühnt ihr Eigentum, enteigneten ihren Besitz, behinderten ihre Bemühungen zu emigrieren, sie weiteten die Pläne für die Expansion des Deutschen Reichs immer weiter aus und beschleunigten die Vorbereitungen auf einen Krieg. Es war, als wollten sie die sogenannte Arisierung nicht nur auf ihr eigenes Land beschränken, sondern an allen Orten durchführen, wo es ihnen möglich war.
Martha kniff die Augen zusammen und stellte sich die dunkelgrüne Tür des schmalen Hauses in der Rue Laffitte in dem Gewirr der alten Straßen von Montmartre vor. Sie sah sich selbst und Charlotte die Arme ausstrecken, um an die Tür zu klopfen, hinter ihnen ihr Vater unter dem blauen Pariser Himmel und im Sonnenlicht, das auf die Fenster der Gebäude fiel. Er hatte ihren Koffer in der Hand und griff sich grüßend an den Filzhut, wenn jemand an ihm vorüberging. Wenn es im August besonders heiß und die Pariser an die See geflüchtet waren, war Anita mit den Mädchen in das Loiretal zum familieneigenen Château d’Anez gefahren, wo es endlos grüne Rasenflächen und einen See zum Schwimmen gab. Besonders aber hatte Martha all die herrlichen Verstecke dort geliebt, in denen sie oft stundenlang gesessen und ein Buch gelesen hatte, bis es Zeit fürs Abendbrot gewesen war. Mit der Erinnerung daran schlug sie die Augen wieder auf und sah sich ihrem Vater gegenüber, der ganz benommen wirkte. Sie hielt seinem Blick stand, doch da sie seine Trauer nicht ertrug, blieb ihr nur eine Wahl.
»Ich fahre nach Paris und überrede Charlotte, mit nach Hause zu kommen, Papa.«
Er griff nach einem alten Foto von Anita und seiner großen Liebe Chloé, das in einem Silberrahmen auf dem Schreibtisch stand. Anita strahlte darauf in die Kamera, und ihre dunkelbraunen Locken wehten in der sanften Brise, während sich Chloé mit einem breiten Lächeln die Haare aus den Augen schob.
Da Martha sich an ihre frühe Kindheit im Paris der wilden Zwanziger im Grunde kaum erinnern konnte, hatte ihr Anita von den durchtanzten Nächten in den Jazzclubs und Musikhallen erzählt, in denen Maurice Chevalier, Josephine Baker und andere Größen aufgetreten waren.
Inzwischen waren die Fahrten durch das Loiretal in ihrem offenen Wagen, die vor Übermut geschwenkten Glockenhüte, die Besuche in den Lichtspielhäusern, um die ersten Stummfilme zu gucken, ewig her, und es kam Martha vor, als hätten sie zu jener Zeit in einer völlig anderen Welt gelebt. 1925 war der Vater dann mit ihr und Charlotte nach New York gezogen und seit 1933, als die Lage in Europa sich nach Hitlers Machtergreifung grundlegend geändert hatte, nicht noch einmal nach Paris zurückgekehrt.
Jetzt sah er auf, als müsste er sich zwingen, etwas anderes als das Foto anzuschauen, und runzelte die Stirn.
»Das kann ich nicht erlauben. Wenn jemand dorthin fährt, sollte ich das tun.«
Martha sah ihm forschend ins Gesicht, denn ihr war klar, dass er die tragischen Erinnerungen an Paris noch immer nicht ertrug. Sie würde es nicht aushalten, hier in New York herumzusitzen, während er allein nach Europa reiste, denn jedes Mal, wenn sie dort waren, brachte er möglichst wenig Zeit in der Stadt zu, wo er seine Frau verloren hatte. Es war, als wäre die Familie wortlos darin übereingekommen, dass es so das Beste war, wie auch alle wortlos akzeptieren, dass er über Chloés Tod niemals hinweggekommen war.
»Da ist noch etwas anderes.«
Martha sah ihn fragend an.
»Ich habe große Angst, was nach Anitas Tod aus ihren Eltern werden soll. Als ältere Juden sind Elise und Olivier jetzt ganz besonders in Gefahr.«
Martha stand auf und sah durchs Fenster in die Abenddämmerung hinaus. Die Blüten hatten sich geschlossen, und der Central Park war in weiches Sepialicht getaucht.
»Ich würde nicht ertragen, noch jemanden dort zu verlieren«, gestand Papa ihr mit rauer Stimme.
Sie wandte sich ihm wieder zu und sagte mit fester Stimme: »Deswegen muss ich ja dorthin. Charlotte muss begreifen, dass du sie auf keinen Fall verlieren darfst. Ich werde sie dazu bewegen, wieder nach New York zu kommen. Ich bin fest entschlossen, und vor allem bleibt mir keine andere Wahl, als Charlotte nach Hause zu holen, bevor ihr etwas passiert.«
Ihr Vater drückte das Bild von Chloé und Anita fest an seine Brust.
»Ich werde Charlotte und Anitas Eltern holen.« Martha kniete sich vor ihren Vater und nahm seine Hand. »Du wirst sie nicht verlieren, das verspreche ich.«
Er runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. »Ach, Martha …«
»Ich nehme einfach ein französisches Kabinenschiff. Die Woche auf dem Meer macht mir nichts aus. Ich habe kein Problem mit Seekrankheit, wohingegen …«
»… ich den ganzen Tag auf meiner Pritsche liegen und mich hundeelend fühlen würde«, räumte ihr Vater ein und drückte ihre Hand. »Bitte bring sie nach Hause. Und bring Elise und Olivier in Sicherheit. Ich hasse den Gedanken, dass bald ein Krieg ausbrechen wird.« Die letzten Worte stieß er zähneknirschend aus, und Martha musste schlucken, als sie seine unglückliche Miene sah.
Sie musste dies für ihn und Charlotte tun. Sie würde sich nur von Martha dazu überreden lassen heimzukehren. Bei allen Unterschieden waren sie Schwestern, Martha musste einfach hoffen, dass das reichen würde. Inzwischen gab es mit der Rochambeau, der SS Champlain und der SS Lafayette mehrere Schiffe, die nach Frankreich fuhren, und ihre Hin- und Rückfahrkarte würde sie von einem Teil des Erbes ihrer Mutter und von dem gesparten Geld aus ihrer Arbeit bezahlen.
Sie schloss die Augen.
»In ein paar Wochen kommen wir zurück, und dann kann uns nichts mehr passieren. Bitte, Papa, mach dir keine Sorgen mehr.«
Doch Martha hörte selbst, wie hohl dieses Versprechen klang, denn wie weit würde Charlotte gehen, um alles zu beschützen, was sie in Paris so liebte? Bestand wirklich Hoffnung, dass sie sich zu einer Heimkehr überreden ließ?
Als sie die Augen wieder aufschlug, hatte ihr Vater sich mit ausdrucksloser Miene abgewandt, und Martha sah auf das Rotgold der Flammen im Kamin, die sich begierig durch die Scheite fraßen, um als gleißend blaue Feuerzungen zu verglühen.
NEW YORK, FRÜHJAHR 1938
»Du brauchst Garderobe für die Reise, und ich freue mich, wenn ich dir etwas zusammenstellen kann.«
Vianne Conti zupfte an einer der Schneiderpuppen in ihrem erfolgreichen Atelier ein von ihr entworfenes Charleston-Kleid zurecht und strich an einer anderen eine schimmernde Organzabluse glatt. Dann wandte sie sich Martha zu und schaute sie aus großen blauen Augen an.
»Es tut mir leid. Ich wage mir kaum vorzustellen, wie es dir gerade geht. Und dies ist mein bescheidener Beitrag, damit du dich auf der Reise etwas stärker fühlst.«
Martha sah zur Galerie hinauf, auf der Vianne die Haute-Couture-Stücke für ihre anspruchsvollsten Kundinnen verwahrte und auf der sich gerade eine ihrer Assistentinnen mit gedämpfter Stimme mit der Kundschaft unterhielt.
»In Krisenzeiten sollte man besonders gut gekleidet sein.« Vianne schob ihre Hände in die weiß gesäumten Taschen der schwarzen Jacke mit dem aufgestellten weißen Kragen, die sie über einem Rock trug, der sich an ihre schmalen Hüften schmiegte.
Viannes besondere Fähigkeit, in schweren Zeiten schöne Dinge zu kreieren, war legendär. Wahrscheinlich hätte sie es ohne diese Gabe nicht geschafft, den Großen Krieg zu überstehen. Doch dürfte Martha wirklich hoffen, eine ähnliche Entschlossenheit zu entwickeln wie Vianne Conti, falls tatsächlich abermals ein Krieg ausbräche? Natürlich wäre Charlotte dazu in der Lage. Doch wie stand es um sie selbst?
Mit vor der Brust verschränkten Armen wandte sie sich ab. Anita hatte sich niemals auch nur mit einem Wort über die grässlichen Verwundungen beschwert, die sie im Großen Krieg zusammen mit Chloé in den Lazaretten hatte sehen müssen. Und auch Vianne sprach nie über den Krieg. Zwar hatte Martha dieses Schweigen stets als Stärke angesehen, wagte sich aber nicht vorzustellen, wie es den Frauen zu jener Zeit ergangen war. Und trotzdem hatten die besonderen Erinnerungen an jene Zeit und an jenen Ort eine komplizinnenhafte Einigkeit zwischen den Frauen geschaffen, die sie für alle Zeiten verband.
Und Charlotte wies dieselbe einzigartige Entschlusskraft wie Anita auf. Sie würde also bestimmt nicht einfach nicken und mit ihr nach Hause fahren, weil Europa abermals in Flammen stand. Unglücklich starrte Martha auf das Wirbelmuster in dem dicken Wollteppich, auf dem sie stand.
Die attraktive Modeschöpferin, die über ihre Schwägerin Sandrine mit Chloé und Anita in Kontakt gekommen war, legte die Hand auf Marthas Arm.
»Auch wenn ich eine gute Freundin bin, ist mir bewusst, dass es Anita war, die nach dem Tod eurer Mutter deren Stelle eingenommen hat.«
Martha faltete die Hände vor dem Bauch. Um sich von ihrem Elend abzulenken, hatte sie sich in den letzten Tagen pausenlos Beschäftigung gesucht, ihren mehrwöchigen Urlaub eingereicht und eine Fahrt auf der SS Champlain gebucht.
»Wann fährst du los?«
Martha seufzte abgrundtief. »In zehn Tagen, doch ich will dir wirklich keine Mühe machen. Außerdem hast du mich doch bereits für das Frühjahr ausstaffiert.«
Tatsächlich war Vianne, als Marthas Vater mit den Mädchen nach New York gekommen war, in ihrem Leben aufgetaucht und hatte seither stets dafür gesorgt, dass seine Töchter besser gekleidet waren als die meisten Mädchen in Manhattan. Die Kinder hatten sie von Anfang an vergöttert und waren stolz darauf gewesen, so etwas wie die Patenkinder der erfolgreichen Designerin zu sein.
»Ach, Liebes.« Vianne schüttelte den Kopf. »Nachdem dein Vater mir die schlimme Nachricht überbracht hat, habe ich gleich meinen kleinen Skizzenblock hervorgekramt und mich ans Werk gemacht. Und meine Näherinnen kennen deine Maße in- und auswendig. Sobald sie wissen, was mir vorschwebt, machen sie sich an die Arbeit, und im Handumdrehen werden deine Sachen fertig sein.« Mit leiser Stimme fügte sie hinzu: »Dir ist doch wohl bewusst, dass du mit deinen wilden braunen Locken und den goldenen Augen auf dem Dampfer alle Blicke auf dich ziehen wirst?«
Bei dieser Frage holte Martha zischend Luft, denn diese Rolle war für Charlotte vorgesehen, nicht für sie.
»Zwei Röcke und zwei Blusen reichen völlig aus.«
Statt darauf einzugehen, fragte Vianne: »Dein Schiff legt also in zehn Tagen ab?«
Als Martha nickte, sagte sie nachdenklich: »Das heißt, dass du dasselbe Schiff nimmst wie der liebe Clyde.«
»Wer soll das sein?«
»Clyde Fraser, Schatz. Er ist noch in Virginia, aber jetzt soll es für ihn zurück nach Schottland gehen.«
»Vianne …«
»Clyde ist ein Freund meiner Schwester und ihres Mannes.« Sie holte tief Luft und schaute Martha an. »Ein junger Arzt und bei den Gordon Highlanders. Das ist ein wirklich tapferes Regiment.«
Martha runzelte die Stirn. Wahrscheinlich würde Clyde dasselbe tun wie jeder andere junge Mann, dem sie bisher begegnet war. Er würde sie nach Kräften ignorieren und sich mit irgendwelchen angesagten Leuten auf dem Dampfer amüsieren, bis sie in Plymouth wären. Dann würde er nach Schottland fahren, und Martha würde ihn nie wiedersehen.
Doch sich deswegen mit Vianne zu streiten, ergäbe keinen Sinn. Am besten würde Martha einfach einen Koffer voller Bücher mit an Bord nehmen und lesen, bis sie auf der anderen Seite des Atlantiks wären.
Einige Tage später kehrte Martha in das Atelier zurück, um ihre neuen Kleider abzuholen. Ihre Gedanken galten den Plänen für die Reise und der Sorge, dass sie ihren Vater allein lassen musste. Er übersetzte derzeit einen modernistischen Roman aus dem Italienischen ins Englische und hatte ihr beim Frühstück schlecht gelaunt erklärt, er würde wirklich gerne mit dem Autor sprechen, und nur wegen dieses »fürchterlichen Mussolini« könne er nicht nach Italien fahren.
Martha hatte einen leisen Seufzer ausgestoßen, denn tatsächlich hatte Mussolini Hitler umgehend zum »Anschluss« Österreichs gratuliert und auch sein eigenes Land auf die Idee einer arischen Rasse eingeschworen. Genauso wenig wie nach Deutschland sollte man deshalb jetzt nach Italien fahren, und alle fragten sich, ob solche Reisen jemals wieder sicher wären.
Sie atmete tief durch und nahm die Treppe Richtung Galerie.
Vianne trat durch die Tür ihres Büros, durch dessen bodentiefes Fenster man auf die Park Avenue hinuntersah, nahm Marthas Hand und führte sie in einen kleinen Raum mit weichen Teppichen und elegant geschwungenen Sofas, der für private Anproben vorgesehen war.
So schöne Kleider wie die an den Schneiderpuppen in diesem Raum hatte Martha nie zuvor gesehen.
»Vianne, du hast dich wieder einmal selbst übertroffen«, stellte sie voller Ehrfurcht fest. Das mussten Teile einer neuen Kollektion oder vielleicht auch Kleider für ein reiches Mädchen aus der Upper East Side sein. Doch als ihr Blick auf einen engen blauen Pulli im Matrosenstil und eine weich fließende dunkelblaue Hose fiel, riss sie die Augen auf.
Daneben gab es noch zwei Abendkleider, eins in Braunorange mit einem Schulterträger, das weich auf die Hüfte und dann weiter auf den Boden fiel, und eins aus weißem Seidenjersey, das wie eine Toga aussah und von derart gut versteckten Bändern gehalten wurde, dass man denken konnte, es hielte von allein. Auch das Hemdblusenkleid, der an der Hüfte geknöpfte Rock aus schwarzblauem Satin, die Bluse aus blassem pinkfarbenem Lamé und das taubenblaue Kostüm mit abnehmbarem Pelzkragen und Cape waren äußerst elegant.
Sie holte scharf Luft, als sie das bodenlange, cremefarbene, durchscheinende Kleid mit seinen aufgestickten rosa Blumen sah, dessen gerüschter Stoff sich an den Körper anzuschmiegen schien.
»Das ist für das Dinner und um auf dem Schiff zu tanzen«, murmelte Vianne. »Ich wollte, dass du dafür etwas ganz Besonderes zum Anziehen hast.«
»Das ist zu viel«, erklärte Martha schlicht, weil sie beim besten Willen keine anderen Worte fand.
Vianne legte sich sanft den Finger an die Lippen. »Nein, mein Schatz. Anita hätte nicht gewollt, dass du in Schwarz herumläufst. Sie hätte sich gewünscht, dass du dein Leben lebst und es genießt.« Sie runzelte die Stirn. »Und das ist jetzt noch wichtiger als zuvor, denn alle wissen, dass die Zeit, bevor die Nacht anbricht, von einem ganz besonderen Zauber ist, und ich befürchte, dass der Himmel über meinem geliebten Frankreich sich erneut verdunkeln wird.«
Ehrfürchtig glitt Martha mit der Hand über den weichen Stoff.
»Wirst du das Kleid mal anprobieren?«
Mit einem Seufzer räumte Martha ein: »Ich weiß nicht, was ich sagen soll.«
»Sag einfach Oui«, erwiderte Vianne, griff nach dem Kleid und führte Martha in den abgeschiedenen Umkleideraum.
Zehn Minuten später tauchte sie wieder auf. Ihre braunen Locken fielen ihr auf den Rücken, ihr war klar, dass ihre Wangen glühten, und sie drehte eine kleine Pirouette, um Vianne zu zeigen, dass das Kleid von allen Seiten wundervoll aussah.
Die hübschen rosa Blüten wurden durch das Schwarz der Zweige und das schwarze Samtband um die Taille noch betont, und Martha stellte fest: »Es sieht phantastisch aus.«
»Komm mit nach vorne auf die Galerie, damit ich mir das Kleid bei Tageslicht ansehen kann.« Vianne bedachte sie mit einem warmen Blick, und ihre Miene wurde weich. »Du bist ein wunderhübsches Mädchen, Martha, und ich möchte, dass du mir versprichst, in diesem Kleid auf einen Ball an Bord des Schiffs zu gehen. Versprich mir, dort die ganze Nacht zu tanzen und dich nicht mehr zu verstecken, ja?«
Martha errötete und atmete zitternd ein.
Sie trat aus dem Salon und blieb wie angewurzelt stehen. Aus der unteren Etage kam ein attraktiver, großer Mann in einer Hose mit perfekter Bügelfalte, einem eleganten Zweireiher mit aufgestelltem Kragen und blondem Haar herauf. Er riss die grünen Augen auf, als sein Blick auf Martha fiel.
Verlegen schob sie sich eine Strähne ihres Haars aus dem Gesicht.
Er aber sagte: »Sie sehen phantastisch aus! Bleiben Sie bitte, wie Sie sind.«
Sie erstarrte und hatte das Gefühl, als hätte sie sich völlig lächerlich gemacht. »Ich sollte gehen.«
Vianne aber legte die Hand auf ihre Schulter, wandte sich an den jungen Mann und gab ihm einen Wangenkuss.
»Clyde.«
Clyde Fraser? Martha riss die Augen auf.
»Es tut mir leid, dass ich zu spät für unseren morgendlichen Kaffee bin.« Er sprach mit einem melodiösen schottischen Akzent und blickte sofort wieder Martha an.
Abwehrend verschränkte sie die Arme vor der Brust.
»Ich wurde auf dem Bahnhof von einem Burschen aufgehalten, der im Sommer zum Forellenfischen in die Highlands will. Also habe ich ihm meine Karte überlassen, und jetzt will er trotz Hitler für ein paar Wochen in den Gasthof unseres Dorfes ziehen.«
Suchend blickte Martha sich nach einem Fluchtweg um. Ach, würde sich doch nur der Boden unter ihren Füßen auftun. Dann könnte sie versinken und erst wieder heraufkommen, wenn der Kerl verschwunden war. Warum nur hatte ihre Patentante dieses unsägliche Treffen inszeniert?
»Das ist mal wieder typisch, aber du bist eben durch und durch charmant.« Vianne strich über Marthas Schulter zu ihrem Arm und hakte sich entschlossen bei ihr ein. »Und dieses wunderhübsche Mädchen, das du vollkommen zu Recht bewundert hast, ist meine liebe Freundin Martha. Sie wird in ein paar Tagen auf demselben Schiff wie du den Atlantik überqueren, das heißt, dass du sie und dieses Kleid auf alle Fälle wiedersehen wirst.«
»Ich habe auf dem Schiff zu tun, mich wird dort niemand unterhalten müssen«, erklärte Martha und bedachte Clyde mit einem vielsagenden Blick. Und es stimmte. Sie müsste schließlich überlegen, wie sie ihre Schwester dazu bringen könnte, mit ihr heimzukehren. Die Ausrede war ihr so leicht gefallen, dass sie sich verlegen auf die Lippe biss.
»Sie haben also zu tun. Das klingt natürlich interessant«, bemerkte Clyde und funkelte sie an.
»Ich werde keine Unterhaltung brauchen«, meinte sie, dabei hatte sie ihm das schon erklärt. Sie war einfach nicht gut in solchen Dingen, und unglücklich ließ sie die Arme fallen.
»Mir war gar nicht bewusst, dass ich ein Entertainer bin«, gab er zurück, und seine grünen Augen funkelten sie an.
»Bitte entschuldigen Sie mich, ich muss nach Hause zu Papa.« Martha raffte den Rock ihres Kleides, kehrte zurück in den Salon, drückte die Tür ins Schloss und lehnte sich von innen dagegen.
»Ich nehme an, die Aussicht auf die Reise hat jetzt einen größeren Reiz für dich, mein lieber Clyde«, drang Viannes sanfte Stimme durch die Tür, und Martha kniff die Augen zusammen.
»Obwohl sie mir entsetzlich leidtut, weil der Grund für ihre Reise wirklich traurig ist. Du musst dich einfach um sie kümmern, damit sie nicht während der gesamten Überfahrt allein ist.«
»Angesichts der Lage in Europa werde ich mit Freuden alles dafür tun, um eine Mitreisende aufzumuntern, wenn es hilft.«
Vianne senkte die Stimme auf ein derart leises Flüstern, dass es kaum noch zu verstehen war. »Es wird in der kommenden Zeit noch wichtiger sein, aufeinander aufzupassen, fürchte ich.«
»Ich werde mich bemühen, sie von ihrem Elend abzulenken«, sagte Clyde ihr zu. »Das Letzte, was ein Mensch jetzt tun sollte, ist, sich in Grübeleien zu ergehen.«
Martha seufzte und versuchte, das erschreckende Gefühl zu unterdrücken, dass bald nichts mehr sein würde wie bisher.
CHÂTEAU D’ANEZ, FRANKREICH, SOMMER 1937
Charlotte
Im Schatten eines Lindenbaums im Park des Schlosses streckte Charlotte ihre Beine unter dem Frühstückstisch aus. Sie liebte das Gefühl des kühlen, frisch gemähten Rasens unter ihren Fußsohlen und legte lächelnd den Kopf zurück, ließ ihre schwarz schimmernden Locken über die Schultern fallen und schloss halb die dunklen Augen. Dann aber spitzte sie die Ohren, als sie jemanden die saftig grüne Rasenfläche überqueren hörte, die wie eine Decke um das prachtvolle Gebäude lag. Das Schloss aus Zeiten von Napoleon III. mit seinem Mansardendach und den bodentiefen Fenstern schimmerte im goldenen Licht der Morgensonne, und die reich verzierte Fassade sah noch schöner aus als sonst.
In jedem anderen Sommer hätte Charlotte sich jetzt auf ein ausgedehntes Frühstück mit Gesprächen, feinem Essen, dampfend heißem Kaffee und dem Lesen der verschiedenen Zeitungen gefreut. Sie würden wundervolle Diskussionen über das Essen und die Märkte führen, weil Elise, Anitas über siebzig Jahre alte Mutter, große Freude am Kochen und – zum Leidwesen der längst verstorbenen Schwiegermutter, doch zur Freude ihrer Gäste – nach ihrer Hochzeit das Kommando in der Küche übernommen hatte. Auch wenn sie inzwischen, statt zu kochen, nur noch täglich auf die Märkte in der Gegend ging, wo sie den Händlern eine liebe Kundin war.
Da Charlotte schon in aller Herrgottsfrühe aufgestanden und vor dem morgendlichen Bad wie jeden Tag die lange Einfahrt mit den alten Bäumen bis zum Tor und dann in einem großen Bogen durch den Park zurück zum Haus gelaufen war, knurrte ihr jetzt der Magen. Sie sah zufrieden auf den Tisch, der sich unter den frischen Früchten, den Croissants, den Pains au Chocolat, dem duftigen Brioche, den knusprigen Baguettes und den verschiedenen selbst gemachten Marmeladen bog.
In diesem Sommer aber waren die Gäste weder zum Vergnügen noch Elises phantastischer Gerichte wegen auf dem Schloss. In diesem Jahr ging es um den bevorstehenden Krieg. Obwohl der Friedensvertrag von Versailles es ausdrücklich verboten hatte, hatte Hitler zwischenzeitlich Tausende von Kriegsflugzeugen bauen lassen, Hunderttausende Soldaten rekrutiert und war entgegen den vertraglichen Bestimmungen ins Rheinland einmarschiert.
»Wir können davon ausgehen, dass die Nazis, falls sie bei uns einmarschieren, aus dem Osten kommen werden«, hörte sie die Stimme von Monsieur Lavigne, als die Gesellschaft näher kam. »Deswegen würde sich als sicherer Hafen für die Louvre-Sammlung erst einmal das Loiretal anbieten. Es liegt in der Nähe von Paris, aber die deutsche Grenze wäre weit genug entfernt. Und sollte man die Kunstwerke außer Landes schaffen müssen, könnte man sie relativ problemlos über den Kanal nach England transportieren.«
Charlotte spitzte angestrengt die Ohren, um den Hauptkurator des Pariser Louvre besser zu verstehen. Niemand Geringeres als Jacques Jaujard, stellvertretender Direktor des Zusammenschlusses der verschiedenen Nationalmuseen, hatte diesen angesehenen Verwalter all der Schätze hierhergeschickt. Charlotte hatte wie gebannt, halb schockiert, halb bewundernd, zugehört, als er Elise und Olivier beim Abendessen vorgeschlagen hatte, gegen eine bescheidene Gebühr ein paar der Schätze aus dem Louvre hier in ihren Kellern zu verwahren, falls es tatsächlich zum deutschen Einmarsch käme.
Anscheinend wiederholte er den Vorschlag jetzt, und voller Mitgefühl sah Charlotte, dass Elises Stirn in sorgenvollen Falten lag. Sie trug ihr normalerweise makellos frisiertes graues Haar in einem eilig im Nacken zusammengebundenen Knoten und hatte die Hände fest vor dem Bauch verschränkt, damit niemand ihre Finger zittern sah. Die alte Dame tat ihr wirklich leid, sie lebte bereits so lange auf dem Schloss, dass sie mit ihm verwachsen schien.
Olivier hatte den Kopf gesenkt, auch wenn der Ausdruck seiner seelenvollen, dunklen Augen unergründlich war. Allein Anita kam erhobenen Hauptes an den Tisch und nahm wie jeden Morgen neben Charlotte Platz. Sie duftete nach Guerlains Sous le Vent und wirkte leger in dem roten Hemdkleid, doch gleichzeitig elegant.
»Natürlich fragen wir auch bei anderen Schlossbesitzern aus der Gegend an, ob sie Frankreich als Kunstliebhaber helfen wollen.«
Mit diesen Worten nahm der Hauptkurator Charlotte gegenüber Platz, schenkte sich ein Glas Wasser ein, lehnte sich nach einem ersten vorsichtigen Schluck auf dem Stuhl zurück und verschränkte die Arme vor der Brust.
Elise legte sich eine weiße Stoffserviette auf den Schoß, und Charlotte nahm das neuerliche Zittern ihrer Hände wahr.
Schon vor Monsieur Lavignes Ankunft hatte Charlotte sich aus Sorge um Anita und deren Eltern und aus Verzweiflung, sie könne die besondere französische Lebensart verlieren, die sie liebte, nächtelang im Bett gewälzt. Sie hatte das Gefühl, dass sie durch ebendiese Lebensart der viel zu früh verlorenen Mutter plötzlich nahe war.
Als sie erfahren hatte, dass Chloé überfahren worden war, hatte sie das Kinn gereckt und sich geschworen, für die Mutter all das zu leben, was ihr nicht mehr möglich war. Und manchmal kam es ihr so vor, als müsste sie auch für die Schwester leben, denn seit sie von ihrem Vater wussten, was sich an dem grauenhaften Tag ereignet hatte, kam Martha gar nicht mehr aus ihrem Schneckenhaus heraus. Jahrelang hatte Charlotte sich um die geradezu erschreckend stille, menschenscheue Martha gekümmert, doch Frankreich hatte sie so magisch angezogen, dass sie ihre Schwester eines Tages in New York zurückgelassen hatte und hierhergezogen war.
Sie sah über den dunkelgrünen, sonnengeküssten Rasen Richtung Schloss. Auf diesem herrlichen, verwunschenen Flecken Erde hatte Charlotte erstmals die Gemeinschaft einer richtigen Familie erlebt.
Doch plötzlich wurde diese heile Welt durch die Gespräche über eine Invasion der Nazis aus dem Gleichgewicht gebracht.
Sie lauschte angespannt, als der Kurator über den geplanten Abtransport kostbarer Kunstschätze aus den Pariser Museen sprach.
»Vor drei Jahren ist man darin übereingekommen, dass die Louvre-Sammlung großteils nach Chambord gehen soll«, erklärte er. »Wobei das große Schloss als Zwischenstation für die Meisterwerke gilt, bevor es weiter an die endgültigen Ziele geht. Die Kunstverwaltung legt diese Ziele gerade fest, wir sehen uns derzeit eine Reihe Schlösser an, die infrage kommen.«
»Ich kann verstehen, weshalb die Sachen erst mal nach Chambord gebracht werden sollen«, bemerkte Olivier. »Es liegt isoliert in einem ausgedehnten Wald, und trotzdem ist es aus der Luft so gut erkennbar, dass es sicher niemand aus Versehen bombardieren wird.«
Charlotte musste schlucken. »Aber was ist mit all den Skulpturen? Die Nike von Samothrake und die anderen Statuen sind doch wahrscheinlich viel zu schwer, um sie zu transportieren.«
Monsieur Lavigne seufzte. »Daran arbeiten wir noch.«
Sie nahm sich ein Croissant und lächelte, als sie Anitas aufmunterndes Nicken sah. Es freute sie, dass Charlotte Fragen stellte und sich aktiv an dem Gespräch beteiligte, als wäre sie bereits die Galeristin, die sie einmal werden wollte.
Anita hatte Charlotte schon so viel wie möglich über Kunst sowie die Leitung eines eigenen Unternehmens beigebracht, und auch wenn Charlotte wusste, dass sie längst noch nicht am Ziel war, genoss sie es, jeden Morgen aufzuwachen, durch das Fenster ihres Zimmers auf die Rue Laffitte zu sehen und mit Künstlern, Sammlern, Händlern arbeiten zu dürfen, die genau wie sie nicht einen Tag vergeuden wollten, weil das Leben dafür viel zu kostbar war.
Mit einem leisen Räuspern wandte sich Monsieur Lavigne an Olivier. »Das wäre noch etwas anderes. Haben Sie schon Vorkehrungen getroffen, um Ihre Familie zu schützen? Ihre Frau und Ihre Tochter …«
Stille.
Charlotte richtete sich kerzengerade auf und sah die beiden Männer an.
»Ich bin mir sicher, dass ich Ihnen nicht zu sagen brauche, was passieren könnte, sollten Hitlers … Truppen tatsächlich in Frankreich einmarschieren.« Monsieur Lavigne verzog das Gesicht. »Seit Januar wird die deutsche Wirtschaft ›arisiert‹, und falls es hier genauso kommen sollte, wären Ihr Zuhause, Ihre Kunstsammlungen und Ihr Wohlergehen in Gefahr.«
Selbst Charlotte senkte jetzt den Blick. Wie konnte dieser Mann es wagen, so ein Thema anzusprechen, während er zu Gast bei Juden war? Besaß er nicht ein Mindestmaß an Feingefühl?
Doch er fuhr einfach fort: »Sie müssen wissen, dass in Deutschland Juden seit geraumer Zeit gezwungen werden, ihre Unternehmen zu verkaufen. Die schöne Galerie Ihrer Tochter …«
Bei den letzten Worten schob Anita ihren Stuhl zurück, stand auf und griff nach Oliviers silbernem Zigarettenetui. »Darf ich, Papa?«
»Natürlich, Schatz, greif zu.« Auch wenn er seine Arme vor der Brust verschränkte, ließ er zu, dass der Kurator weitersprach. Charlotte seufzte über diesen Pragmatismus, aber schließlich hatte sich Anitas Vater stets im Griff.
Dann hörten sie ein leises Rascheln über ihren Köpfen, und Monsieur Lavigne sah sich eilig um, als würden sie von irgendwelchen Nazis belauscht, die sich in dem Lindenbaum versteckt hatten. »Und diesen Monat haben sie in München eine ganz besondere Ausstellung eröffnet – über sogenannte entartete Kunst.«
»Idioten«, murmelte Anita und blies einen makellosen Rauchring aus. »Ginge es nach Hitlers hoffnungslos veraltetem Geschmack, würden wir wieder alle malen wie vor hundert Jahren.«
»Moderne Kunst, wie Ihre Tochter sie von Anfang an gefördert hat, ist genau das, was Hitler nicht mehr sehen will«, wandte sich Monsieur Lavigne wieder ihrem Vater zu. »Wir müssen also davon ausgehen, dass es hier in Frankreich wie in Deutschland kommen wird.«
»Niemals«, ereiferte Anita sich, und Charlotte blickte zwischen ihr und dem Kurator hin und her.
Mit leiser Stimme fuhr er fort: »Und dabei wird es den Nazis nicht nur um die Bilder gehen. Falls sie nach Paris kommen, werden sie so gut wie sicher auch die Leute ins Visier nehmen, die mit diesen Bildern und den Künstlern arbeiten. Als Jüdin und Vertreterin moderner Kunst sind Sie, Anita, deshalb doppelt in Gefahr.«
Olivier räusperte sich leise, und Elise warf eine Hand vor ihren Mund.
»Die Situation ist brandgefährlich, und es wird nicht besser werden, fürchte ich. Monsieur Goldstein, Madame, haben Sie schon überlegt, Europa zu verlassen, falls es tatsächlich zum Schlimmsten kommt und sich der deutsche Antisemitismus auch bei uns breitmacht? Warum gehen Sie nicht in die Neue Welt?«
Elise stellte klirrend ihre Kaffeetasse ab, und die milchig braune Flüssigkeit ergoss sich auf der blütenweißen Tischdecke.
Später an dem Morgen schnappte Charlotte sich den Weidenkorb, mit dem Anitas Mutter täglich nach Amboise zum Einkauf fuhr, und wartete in der Eingangshalle. Nach den düsteren Warnungen von Monsieur Lavigne freute sie sich auf die farbenfrohen Stände links und rechts der baumbestandenen Avenues. Elise hatte darauf bestanden, auf den Markt zu fahren, wie sie es seit dreißig Jahren zweimal in der Woche tat. Genauso hatte sie darauf gedrungen, dass Anita sich, wie schon seit Längerem geplant, mit einem Sammler träfe, der an den Gemälden eines jungen Malers aus Italien interessiert war. Anita hatte ihn unter ihre Fittiche genommen, als er eines Morgens zu ihr in die Galerie gekommen war.
Als Charlotte die vertrauen Schritte von Anitas Mutter auf dem frisch gewienerten Parkettboden vernahm, gelang es ihr noch immer nicht, den Blick von dem phantastischen Porträt zu lösen, auf dem man Elise als junges Mädchen sah. Camille Pissarro hatte goldene Strähnen in ihr seidig weiches braunes Haar gemalt, den dunkelbraunen Augen unter geschwungenen Brauen einen nachdenklichen Blick verliehen; und ihre vor dem Bauch verschränkten Arme zeigten, dass das Stillsitzen ihr schwergefallen war. In allen Räumen des Château waren wunderschöne Stücke ausgestellt, die Olivier und Elise derart am Herzen lagen, dass man denken konnte, vor allem die Liebe zu den schönen Künsten schuf diese ganz besondere Verbindung zwischen ihnen.
Dann kam Elise durch die vier großen Empfangssäle, die ineinander übergingen, sich aber durch deckenhohe Flügeltüren teilen ließen, auf sie zu, und Charlotte riss sich von dem Bild los.
Aus Richtung des Parks strömte die Sonne durch die bodentiefen Fenster, als die alte Dame vor den reich verzierten Spiegel in der Eingangshalle trat, um ihren grünen Filzhut ordentlich zurechtzurücken. Es war ein Leichtes, so zu tun, als könnten die besondere Lebensart und die Traditionen auf dem Château d’Anez für alle Zeit gewahrt bleiben. Die Vorstellung, dass Hitlers Truppen in Frankreich einmarschieren sollten, erschien Charlotte immer noch absurd.
Elise griff nach den Schlüsseln ihres Renault Nervastella, hakte sich bei ihr ein, und Charlotte sah ihr forschend ins Gesicht, doch von der kurzen Panik, als sie morgens den Kaffee verschüttet hatte, war nichts mehr zu sehen.
Stattdessen tätschelte Elise ihr aufmunternd den Arm.
»Ich bin entschlossen, trotz der beängstigenden Nachrichten von heute Vormittag hier alles so normal wie möglich fortzusetzen.« Sie senkte ihre Stimme auf ein Flüstern und sah Charlotte unter hochgezogenen Brauen hervor an. »Ich bin nur froh, dass uns Monsieur Lavigne jetzt wieder verlassen hat. Natürlich finde ich bewundernswert, dass sie die Schätze aus dem Louvre retten wollen, aber …« Plötzlich war ihr anzuhören, dass sie trotz allem verängstigt war. »Du denkst doch sicher auch nicht, dass die Nazis tatsächlich nach Frankreich kommen, oder, Liebes?«