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Die kleine grüne Truhe stand im Kleiderschrank ihres Vaters. Ihre Scharniere waren aus Messing, das einst wunderschön geglänzt haben musste. Als sie das Schloss öffnete, befand sich nur ein Gegenstand darin: ein Brief, abgestempelt 1895 in Paris.
England, 1895. Louisa West, eine junge Schönheit aus Boston, scheint alles erreicht zu haben: einen gutaussehenden Ehemann, sie ist Herrin von Ashworth Manor und eines Tages wird sie Herzogin sein. Doch tatsächlich gerät ihr Leben immer mehr aus den Fugen. Kaum sind Louisas Flitterwochen vorbei, als ihr Mann sie verlässt und sie allein zurücklässt. Sie flieht nach Paris, um ihrem Kummer zu entgehen, aber statt des erhofften Glücks wartet dort eine weitere Tragödie auf sie ...
Boston, 2015. Das Leben hat es nicht gut mit Sarah West gemeint. Innerhalb eines Jahres hat sie ihre Eltern verloren und ihre Ehe ist gescheitert. Als Sarah nach dem Tod des Vaters seine Sachen sortiert, findet sie einen Brief über ihre geheimnisvolle Vorfahrin Louisa West. In der Familie wurde schon immer hinter vorgehaltener Hand über Louisas Selbstmord getuschelt. Sie soll sich in Paris von einem Balkon gestürzt haben. Doch als Sarah den Brief liest, beginnt sie alles in Frage zu stellen, was ihr darüber je erzählt wurde. Kurzerhand bucht sie einen Flug nach Paris, um dem Geheimnis um Louisas Tod auf die Spur zu kommen ...
Dieser Roman ist vormals unter dem Titel "Louisas Vermächtnis" erschienen.
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Seitenzahl: 429
Die kleine grüne Truhe stand im Kleiderschrank ihres Vaters. Ihre Scharniere waren aus Messing, das einst wunderschön geglänzt haben musste. Als sie das Schloss öffnete, befand sich nur ein Gegenstand darin: ein Brief, abgestempelt 1895 in Paris.
England, 1895. Louisa West, eine junge Schönheit aus Boston, scheint alles erreicht zu haben: einen gutaussehenden Ehemann, sie ist Herrin von Ashworth Manor und eines Tages wird sie Herzogin sein. Doch tatsächlich gerät ihr Leben immer mehr aus den Fugen. Kaum sind Louisas Flitterwochen vorbei, als ihr Mann sie verlässt und sie allein zurücklässt. Sie flieht nach Paris, um ihrem Kummer zu entgehen, aber statt des erhofften Glücks wartet dort eine weitere Tragödie auf sie ...
Boston, 2015. Das Leben hat es nicht gut mit Sarah West gemeint. Innerhalb eines Jahres hat sie ihre Eltern verloren und ihre Ehe ist gescheitert. Als Sarah nach dem Tod des Vaters seine Sachen sortiert, findet sie einen Brief über ihre geheimnisvolle Vorfahrin Louisa West. In der Familie wurde schon immer hinter vorgehaltener Hand über Louisas Selbstmord getuschelt. Sie soll sich in Paris von einem Balkon gestürzt haben. Doch als Sarah den Brief liest, beginnt sie alles in Frage zu stellen, was ihr darüber je erzählt wurde. Kurzerhand bucht sie einen Flug nach Paris, um dem Geheimnis um Louisas Tod auf die Spur zu kommen.
Dieser Roman ist vormals unter dem Titel »Louisas Vermächtnis« erschienen.
Über Ella Carey
Ella Carey wurde in Adelaide, Australien, geboren, studierte Klavier am Konservatorium sowie Kunst, Geschichte und Literatur. Heute lebt und schreibt sie in Melbourne mit ihrer Familie und zwei in die Jahre gekommenen Italienischen Windspielen. Schon immer haben sie die mutigen Frauenfiguren der Geschichte fasziniert, weswegen sie es liebt, ihre Romane nach wahren Begebenheiten zu erzählen. Ihre Bücher sind internationale Bestseller und erscheinen in vierzehn Sprachen.
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Der geheime Brief
Übersetzt aus dem amerikanischen Englisch von Christina Rodriguez
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Kapitel 27
Impressum
Für Ben und Sophie, wie immer in Liebe.
Für Ris Wilkinson (die unter dem Pseudonym Melanie Milburne schreibt) – begabte Autorin, Inspiration und liebe Freundin – herzlichen Dank für alles
Boston, 2015
Das kleine grüne Kästchen war im hintersten Teil des Kleiderschranks versteckt. Die Messingscharniere mussten einmal geglänzt haben, doch nun waren sie mit unförmigen schwarzen Flecken übersät. Ein Schlüssel war am Deckel befestigt – beinahe zärtlich, fand Sarah –, mithilfe mehrerer alter Streifen Klebeband, die sich am Rand unter einer Staubschicht wellten.
Sarah hatte keine Ahnung, wie lange das Kästchen dort unter einem Berg mottenzerfressener Anzüge ihres Vaters gelegen hatte, zusammen mit anderen von seinen gehorteten kleinen Schätzen – Pfeifen, die er heimlich zum Rauchen in den Garten geschmuggelt hatte, und fleckige gelbe Tabaksdosen, in denen er immer Angelhaken aufbewahrt hatte. Aus irgendeinem Grund zögerte Sarah, die eigenartige kleine Dose zu öffnen. Doch es war albern, denn niemand würde es erfahren oder sich dafür interessieren, wenn sie es tat. Sie besaß keinerlei Angehörige mehr.
Ihre Sentimentalität beim Entschlüsseln dieses Geheimnisses hatte erst recht etwas Ironisches, da es ihr Beruf war, Besitztümer verstorbener Menschen zu verwalten. Sarah war es gewohnt, wertvolle Nachlässe zu öffnen. Schließlich brachte sie die nötige Entschlossenheit auf, die sie sich im Laufe des vergangenen turbulenten Jahres aus der Not heraus angeeignet hatte, und benutzte die Fingernägel, um die Klebestreifen zu entfernen. Der Schlüssel fühlte sich in ihrer Hand winzig und kühl an, als sie ihn ins Schloss steckte. Sie klappte den Deckel auf und betrachtete den Inhalt.
In dem Kästchen befand sich nur ein einziger Gegenstand. Ein Umschlag. Und auf diesem Umschlag standen mit blauer Tinte ein Name und eine Adresse geschrieben, die an sich schon verwirrend waren: Viscount Henry Duval, Île de la Cité, Paris. Der Poststempel stammte aus dem Jahr 1895.
Sarah ging mit dem Brief ans Fenster, von wo aus man auf das vornehme Bostoner Viertel hinausblickte, in dem sie aufgewachsen war. Blütenblätter fielen von den prächtigen Bäumen, die die breite Straße säumten. Nannys schoben kostspielige neue Kinderwagen über die Bürgersteige, vorbei an den allgegenwärtigen gut gekleideten Büroangestellten und den üblichen Frauengrüppchen, die gemeinsam zu Mittag aßen. Doch nichts von alldem interessierte sie, nicht heute. Stattdessen wandte sie sich wieder dem faszinierenden kleinen Rätsel in ihren Händen zu.
Die Geschichten um Viscount Henry Duval hatten schon ihre Neugier geweckt, als sie noch ein kleines Mädchen gewesen war. Der Name war für immer mit ihrer Familie verbunden und hing mit einer Tragödie zusammen, die ihre Fantasie schon während ihrer Kindheit angeregt hatte.
Soweit sie wusste, war der Tod ihrer Urgroßtante während einer glamourösen Gesellschaft im Paris der Belle Époque nie ganz aufgeklärt worden. Eines Abends, so hieß es, sei Louisa Duval aus einem Fenster und auf das Straßenpflaster gestürzt und gestorben. Der mysteriöse Tod der jungen Frau war offiziell als Selbstmord deklariert worden, und man hatte die genauen Umstände nie untersucht.
Je mehr Sarah ihren Vater nach Einzelheiten gefragt hatte, desto mehr war ihr klar geworden, wie wenig er selbst darüber wusste. In den letzten Monaten hatte sie nicht viel Zeit gehabt, um Nachforschungen anzustellen, da sie mit einer dreifachen Tragödie konfrontiert gewesen war: Ihre Eltern waren beide gestorben, und ihr Mann hatte sie endgültig verlassen.
Nun jedoch, während sie sich durch die elterliche Wohnung arbeitete, ließ ihr das erneut aufgetauchte Rätsel um das Schicksal ihrer Urgroßtante keine Ruhe. Sie fand es erträglicher, sich mit diesen schon so lange zurückliegenden Geschichten zu befassen, als mit ihren eigenen, noch frischen und schmerzenden Wunden.
Man war stets davon ausgegangen, dass Louisa sich das Leben genommen hatte. Doch entsprach das der Wahrheit?
Je länger sie darüber nachdachte, desto mehr fragte sie sich, ob es einen Grund für diese Verschwiegenheit gegeben hatte. Warum in aller Welt hatte ihr Vater einen Brief, der an Louisas Ehemann adressiert war, in einem abgenutzten grünen Kästchen aufbewahrt?
Im Moment aber blieb Sarah keine Zeit, sich mit längst vergangenen Dingen aufzuhalten, weil sie sonst zu spät zu einem Meeting kommen würde. Sie arbeitete im Bostoner Museum of Fine Arts und war in den letzten Monaten bereits mehrmals ausgefallen. Zwar war sie nicht direkt an der neuen Ausstellung beteiligt, deren Eröffnung in Kürze bevorstand, doch wenn sie keinen Ärger kriegen wollte, musste sie sich jetzt auf den Weg machen.
Sie steckte den Brief in die Handtasche, ließ ihren Blick ein letztes Mal durch die elterliche Wohnung schweifen – sie würde sie verkaufen müssen –, schloss die schwere Wohnungstür ab und eilte die Vordertreppe zur Straße hinunter.
Erst am Abend kam sie dazu, den abgegriffenen Umschlag aus der Tasche zu holen. Den ganzen Nachmittag über war sie mit E-Mails beschäftigt gewesen und von anderen Dingen unterbrochen worden, aber obwohl ihre Gedanken ständig um Henry Duvals Brief gekreist waren, hatte sie sich gezwungen, sich auf ihren Job zu konzentrieren.
In ihrer Küche schenkte sie sich ein Glas Wein ein und nahm es mit ins Wohnzimmer, dessen Panoramafenster auf den Charles River hinausgingen. Allmählich wurden die Tage länger, und es war eigentlich nicht nötig, die Lampen anzumachen, aber sie tat es dennoch, denn sie liebte das warme Licht, das sie spendeten.
Noch immer wusste sie nicht, was sie mit ihrer Wohnung machen würde: Sollte sie sie verkaufen, vermieten oder weiterhin darin wohnen? Nach der Trennung von Steven war sie zu erschöpft gewesen, um sich Gedanken über einen Umzug zu machen. Also hatte sie einige Möbel ersetzt und deckenhohe Regale gekauft, die sie mit lauter Büchern über Dinge gefüllt hatte, die sie liebte: Kunst, alter Schmuck, Familienerbstücke, Häuser. Und war geblieben.
Nun ließ sie sich in ihrem blassblauen Lieblingssessel nieder, nippte am Wein und widmete sich dem Brief. Sie öffnete ihn und begann zu lesen.
Paris, 1895
Mein lieber Henry,
ich bin unfähig, meinem Entsetzen über die Ereignisse der letzten Nacht Ausdruck zu verleihen.
Du musst schockiert sein, mon cher. Und zweifellos verwirrt. Welch eine Tragödie, welch ein Trauma – ich kann kaum begreifen, wie Du dabei so tapfer bleiben kannst.
Dass etwas so Furchtbares ausgerechnet in Montmartre passieren musste – in unserer kleinen Heimat! Louisas Tod wirft einen garstigen Schatten auf unsere Ménagerie sociale. Nach nur einer einzigen Nacht hat sich die Atmosphäre völlig verändert. Als ich heute durch den Bois de Boulogne fuhr, sah ich kein einziges Mitglied unserer Gesellschaft. Dem Park fehlten unsere kleinen Gruppen – und er litt darunter. Er litt unter der spießigen Bourgeoisie, die wie ein Haufen alter Gespenster auf den Wegen umherschwirrte – weil wir nicht dort waren, mein Liebster.
Später in meiner Wohnung lief ich auf und ab. Ich konnte mich nicht beruhigen, und allein der Gedanke an Besucher! Kannst Du es Dir vorstellen? Nein, ich glaube es kaum!
Anschließend war mir danach, Dich aufzusuchen, ich hatte sogar bereits meine Glacéhandschuhe angezogen, doch ich fürchtete, dass der Anblick meiner Kutsche vor Deinem Haus auf der Île Saint-Louis nur für weiteres Gerede sorgen würde – und das können wir uns nicht leisten, mein lieber Freund, keinesfalls. Was mich auf den nächsten schrecklichen Gedanken bringt.
Ich weiß, Du kommst nach Paris, um unsere wundervollen »Attraktionen« zu genießen: die Cancan-Tänzerinnen, all unsere Freunde und den ganzen Trubel. Nicht zu vergessen unsere wunderbaren Theater und Varietés. Doch ich fürchte, Du musst jetzt so denken wie einer von uns, mein lieber Henry. Ich will, dass Du wie ein wahrhaft moderner Mensch handelst, ich will, dass Du abreist, und zwar umgehend. Mein Liebling, es ist wichtig, dass Du Paris verlässt, und zwar noch heute, das spüre ich.
So tragisch die Ereignisse auch sind, so tragisch, wie Deine Gefühle in Bezug auf Louisa und die letzte Nacht auch sein mögen – gleichgültig, was sie war oder was sie Dir bedeutete, sie war Deine Gemahlin.
Kehre zurück nach England. Verstecke Dich in Ashworth, bis alles vorbei ist. Du musst Dich mit Deiner Familie umgeben. Sie wird Dich beschützen. Du musst Deinen Eltern gestatten, ihren Einfluss geltend zu machen. Man wird Dir Fragen stellen wollen, wenn Du hierbleibst – Du weißt alles, und das ist zu viel.
Dein Vater wird Dir die Presse vom Leib halten können. Und aus der sicheren Entfernung Deiner Heimat wirst Du mit den unvermeidlichen Polizeiermittlungen sehr viel besser umgehen können. Deine Eltern werden Dich abschirmen. Ihre Gefühle sind nicht involviert, darum werden sie genau wissen, was zu sagen ist.
Geh, sonst sterbe ich vor Besorgnis.
Wenn wir uns wiedersehen, werden wir reden, als wären wir nie voneinander getrennt gewesen. Es wird so sein wie immer, doch nun heißt es: à bientôt, mein Freund.
Ich werde Dich vermissen, doch ich bin immer, immer bei Dir, das weißt Du.
Au revoir
Marthe de Florian
Sarah starrte auf die Unterschrift am Ende der Seite. Sie mochte es gewohnt sein, zu den Erbstücken anderer Leute zu recherchieren oder etwas über die Vergangenheit fremder Menschen zu erfahren, doch dies war ihre eigene Familie.
Dies war ihre Vergangenheit.
Die Tatsache, dass Viscount Henry Duval, Louisas Ehemann, anscheinend Kontakt zu einer der bekanntesten Kurtisanen von Paris gehabt hatte, war das eine. Dass genau diese Kurtisane Henry jedoch anflehte, Paris zu verlassen, war etwas völlig anderes.
Marthes Zeilen starrten Sarah entgegen, als wäre dieser Brief das Beiläufigste auf der Welt. Doch sie wusste, wie berühmt diese Frau gewesen war. Marthe de Florians Wohnung war im Jahr 2010 in Paris durch einen Zufall wiederentdeckt worden. Im Juni 1940 war ihre Enkelin aus Paris geflohen und hatte die Wohnung am Vorabend der Besetzung durch die Nazis verschlossen zurückgelassen.
Siebzig Jahre lang hatte niemand Marthes erlesen eingerichtete Wohnung betreten. Kein Mensch hatte auch nur einen Fuß hineingesetzt. Und niemand wusste, warum ihre Enkelin nie mehr zurückgekehrt war. Die Entdeckung der Wohnung hatte die Kunstwelt in Aufruhr versetzt und bei Sarahs Kollegen für Gesprächsstoff gesorgt.
Die Geschichte war sogar noch interessanter geworden. Marthes Wohnung war nicht nur ein Relikt aus dem Jahr 1940 – sie glich einer Zeitkapsel aus einer früheren Generation. Sarah konnte sich gut vorstellen, wie sich die Nachlassverwalter gefühlt haben mussten, als sie sich beim Betreten der Wohnung auf eine regelrechte Zeitreise begeben und die Geschenke von Marthes zahllosen vornehmen »Verehrern« entdeckt hatten. All die Juwelen, Gemälde, Möbel und Kunstwerke.
Während ihres Studiums hatte sich Sarah kurz mit dem Leben von Giovanni Boldini befasst – dem Künstler, dessen unsigniertes Porträt von Marthe de Florian in ihrer Wohnung gefunden worden war, was an sich bereits für Aufruhr gesorgt hatte. Bei einer Auktion war es schließlich für über zwei Millionen Euro verkauft worden.
Doch was Sarah am meisten berührt und ihre Neugier geweckt hatte, war die Entdeckung eines Stapels von Briefen an Marthe von vornehmen und einflussreichen Verehrern. Alle waren fein säuberlich gebündelt, mit seidenen Bändern umwickelt und unversehrt gewesen.
Und jetzt hielt Sarah selbst solch einen Brief in den Händen.
Obwohl sie versucht war, sitzen zu bleiben und die Magie auf sich wirken zu lassen, wusste sie, dass sie Nachforschungen anstellen musste, und zwar sofort.
Sie setzte sich an den Computer. Zuerst die wichtigsten Fragen klären.
Als sie entdeckte, dass die Wohnung der Kurtisane mittlerweile von Interessierten gemietet werden konnte, starrte sie einfach nur auf den Bildschirm und sank rücklings gegen die Stuhllehne.
Doch während sie so dasaß, kam ihr eine Idee. Sie war verrückt, eine der Ideen, die sie normalerweise als abstrus abgetan hätte – andererseits entpuppten sich gerade solche Einfälle, die anfangs verrückt klangen, im Nachhinein häufig als sehr sinnvoll. Wie viele Künstler hatte sie studieren müssen, um das zu begreifen?
Was, wenn sie nach Paris führe?
Was, wenn dies ihre Chance war, ihrer rätselhaften Urgroßtante näherzukommen – herauszufinden, ob sie sich wirklich das Leben genommen hatte? Wenn Sarah schon keine lebenden Verwandten mehr hatte, warum sollte sie dann nicht die Vergangenheit erforschen? Schließlich hatte Louisas Vater infolge seiner tiefen Trauer beinahe sein gesamtes Vermögen aus altem Bostoner Geldadel verloren, und die Familie war gesellschaftlich in Ungnade gefallen, da ihr der Makel eines Selbstmords anhaftete.
Sarah war damit vertraut, wie es sich anfühlte, wenn man das Opfer von Gerüchten wurde. Gerüchteweise hatte sie erfahren, dass ihr jetziger Ex-Mann Steven eine Freundin hatte – eine alte Flamme, von der Sarah nichts gewusst hatte. Nachdem die hässliche Wahrheit ans Licht gekommen war, hatte sie all die Orte in Boston gemieden, an denen Steven sich gerne aufhielt. Dennoch begegnete sie ihm und seiner Freundin viel zu häufig – die Frau starrte Sarah jedes Mal an, als wäre sie etwas Unangenehmes, das ihren Weg kreuzte. Nicht umgekehrt.
Doch das war nichts im Vergleich zum Tod einer jungen Frau während einer Pariser Gesellschaft. Sarah betrachtete den Brief, der vor ihr auf dem Tisch lag. Ihre Idee reifte zu einem Plan heran.
Was wäre, wenn irgendwo noch Briefe von Henry an Marthe existierten, die genauso aufschlussreich waren wie der, den sie vorhin gefunden hatte? Wenn die Kurtisane ihre gesamte Korrespondenz aufbewahrt hatte, wäre diese Vermutung durchaus naheliegend. Davon abgesehen war die Vorstellung, Boston zu verlassen und kurzzeitig Abstand zu gewinnen, mehr als verlockend, ja regelrecht befreiend. Was, wenn sie Marthe de Florians Wohnung mieten könnte?
Ein Sommer in Paris hörte sich immer mehr nach der perfekten Idee an.
* * *
Am nächsten Morgen wappnete sich Sarah gegen weitere Zweifel. Beim gemeinsamen Frühstück im eleganten Museumscafé überzeugte sie ihre Chefin Amanda davon, dass sie ihr Sabbatical gerne sofort antreten würde. Bevor sie weiter darüber nachdenken konnte, würde sie den aktuellen Eigentümer von Marthes Wohnung anrufen – einen Monsieur Loïc Archer. Was, wenn Marthe Henry regelmäßig geschrieben hatte? Was hätte es zu bedeuten? In der Wohnung musste es weitere Hinweise auf Louisas Leben und die Umstände ihres Todes geben.
Sobald Sarah in ihrem Büro war, schloss sie die Tür, fuhr sich mit der Hand durch ihre glänzenden schwarzen Haare, die zu einem Bob geschnitten waren, und rief in Frankreich an.
In stockendem Schulfranzösisch erklärte sie, weshalb sie die Wohnung mieten wollte. Sie sagte, dass sie hoffe, das Apartment den gesamten Sommer über reservieren zu können, doch Loïc Archer, ein charmant klingender Franzose, der ihr seltsamerweise in völlig akzentfreiem Englisch antwortete, ließ all ihre Hoffnungen wie Wasser auf einer heißen Kochplatte verpuffen.
»Ich kann Ihr Interesse an der Wohnung nachvollziehen, Sarah, und um ehrlich zu sein, finde ich es faszinierend, dass es anscheinend eine Verbindung Ihrer Urgroßtante zu Marthe de Florian gab. Doch ich sehe ein Problem: Es gibt eine Überschneidung. Laurent Chartier, der Künstler. Bestimmt haben Sie schon von ihm gehört?«
»Ja.« Sarah nickte.
»Laurent«, fuhr Loïc fort, »benötigt Marthes Wohnung den ganzen Sommer über – daran kann ich nichts ändern. Er ist einer meiner ältesten Freunde. Wir stammen beide aus der Provence, sind zusammen aufgewachsen. Sicherlich ist Ihnen bewusst, wie berühmt er ist. Er hat den Auftrag erhalten, für die Vogue eine Reihe von Porträts im Stil von Giovanni Boldini anzufertigen. Sie wissen schon – Models, Schauspielerinnen und die Art von Stars, die Boldini gemalt hätte, wenn er heute noch leben würde.«
Sarah hatte von Laurent Chartier gehört. Er wurde als Genie gehandelt, als der kommende große französische Künstler. Seine Ausstellungen in Paris, London und kürzlich erst in New York waren unglaublich erfolgreich gewesen. Er änderte seinen Stil ständig, denn er passte sich immer wieder an. Und das hatte ihm besondere Berühmtheit verschafft – er galt als ein Künstler, den man im Auge behalten musste. Seine Gemälde verkauften sich zu Rekordpreisen, weil niemand ahnen konnte, welche Ausdrucksform er als Nächstes wählen würde.
»Laurent muss sich während der Arbeit in derselben Umgebung aufhalten wie damals Boldini – das gleiche Licht, dieselben Requisiten aus Marthes Besitz. Die Vogue besteht darauf, dass die wiederentdeckte Wohnung der berühmten Kurtisane als Kulisse für diese Reihe von Gemälden dient. Daher ist es nur logisch, dass er dort wohnt. Es tut mir leid. Wenn er inspiriert ist, malt er nächtelang.«
Loïc schwieg für einen Moment. »Ich kann Ihnen einzig anbieten, dass Sie sich die Wohnung teilen. Natürlich hätten Sie ein eigenes Schlafzimmer … Ansonsten helfe ich Ihnen gerne, eine andere Unterkunft in Paris zu finden.«
Sarah stand auf und lief im Büro hin und her. Zwar liebte sie ihren Beruf, doch sie hasste es, sich vorzustellen, wie viele Stunden sie im Laufe des letzten Jahres damit verbracht hatte, in diesem Raum auf und ab zu gehen. Typischerweise landete sie jedes Mal am Fenster, starrte lange auf die Straße hinunter und versuchte, ihren Kummer unter Kontrolle zu bekommen.
Sie schloss die Augen.
Loïc Archer schwieg.
Sie kehrte an ihren Schreibtisch zurück und nahm den Ordner mit den Notizen für ihren nächsten Termin. Eine Frau wollte dem Museum die Schmucksammlung ihrer Mutter vermachen.
Sie strich über ihren Hosenanzug. »Würden Sie bitte Monsieur Chartier fragen, ob ich mir die Wohnung mit ihm teilen könnte?« Sie wappnete sich innerlich für eine Absage und wartete auf Loïcs Reaktion.
»Das werde ich.«
»Vielen Dank.«
Kurz herrschte Schweigen. »Es gibt da einige Dinge, die Sie über meinen Freund wissen sollten.« Loïcs Stimme wurde so leise, als stünde er kurz davor, Staatsgeheimnisse ungeheuren Ausmaßes zu enthüllen.
Er machte eine kurze Pause, bevor er fortfuhr. »Vielleicht ist es hilfreich – da Sie schließlich mit ihm zusammenwohnen werden –, wenn Sie die Hintergründe verstehen. Laurent ist ein sehr kultivierter Mensch. Er besitzt viel Sinn für Ästhetik und verabscheut alles Anstößige, Geschmacklose und Unfeine. Im Moment allerdings …« Er hüstelte.
Sie blieb kurz stehen, bevor sie sich auf den Weg zum Aufzug machte.
»Inzwischen hat er das alles abgelegt«, fuhr er hastig fort. »Anscheinend hält er sich für einen neuen Toulouse-Lautrec. Er trifft sich mit Models. Sein Verhalten ist etwas … wild.«
Auch Sarah hatte bereits Geschichten und Gerüchte gehört. Laurent umgab sich mit der Elite und hatte auf der letztjährigen Art Basel in Miami Beach irgendetwas Unerhörtes getan, doch sie konnte sich an keine Details mehr erinnern. Sie verkniff sich ihre instinktive Antwort, drückte stattdessen den Rufknopf und starrte auf die roten Zahlen der Anzeige am Aufzug. Nach Stevens Betrug hatte sie es sich angewöhnt, sich auf das zu konzentrieren, was direkt vor ihr lag, um die Tage zu überstehen.
Zog sie zügellose Männer magisch an? Selbst wenn – warum sollte sie sich eingeschüchtert oder abgeschreckt fühlen? Vielleicht war dies ihre Chance, einem namhaften Künstler bei der Arbeit über die Schulter zu schauen? Normalerweise hatte sie nur mit Leuten zu tun, die Kunstwerke besaßen. Ihr wurde bewusst, dass sie nur nach Ausreden dafür suchte, Boston zu verlassen, aber spielte es letztendlich wirklich eine Rolle, was für ein Mensch dieser Maler war?
»Ich habe von ihm gelesen.« Sie bemühte sich um einen ausdruckslosen Tonfall.
»Es tut mir leid.« Loïc klang resigniert. »Manche Leute finden es momentan schwierig … in Laurents Nähe zu sein. Er macht schwere Zeiten durch. Etwas ist schiefgelaufen. Doch es steht mir nicht zu, Ihnen davon zu erzählen. Es ist seine Geschichte, aber vielleicht fällt es Ihnen dadurch leichter zu verstehen, dass er eigentlich ein guter Mensch ist. Er ist brillant, müssen Sie wissen …«
»Oh«, erwiderte sie lächelnd. »Nun, das macht es natürlich einfacher.«
»Er ist unglaublich talentiert.«
Sie zog die Augenbrauen hoch und betrat den Aufzug.
»Jedenfalls gehört die Wohnung offiziell meiner Frau Cat. Momentan ist sie rund um die Uhr mit unserem ersten Kind beschäftigt. Unsere kleine Tochter ist einen Monat alt. Daher werde ich derjenige sein, mit dem Sie zu tun haben werden.«
Sie verließ den Aufzug und trat hinaus auf die Straße. »Herzlichen Glückwunsch.« Sie wusste, dass sie zerstreut klang, doch ihre Gedanken kreisten um Paris, um entfesselte Künstler und aus irgendeinem merkwürdigen Grund um Toulouse-Lautrec. »Meine Glückwünsche zum Baby, meine ich.«
Kopfschüttelnd ging sie um die Ecke, schloss ihren Wagen auf, stieg ein und prägte sich die Adresse des Hauses ein, in dem sie ihren Termin hatte.
»Laurent wird den ganzen Sommer über hart arbeiten«, fuhr Loïc fort. »Sagen Sie ihm einfach, dass er leise sein soll, wenn er spätnachts nach Hause kommt. Falls Sie ernsthafte Probleme haben sollten, werde ich Ihnen einfach eine andere Unterkunft besorgen. Ich kann aber auch jederzeit mit ihm sprechen.«
Sie sah auf die Uhr. Es war Zeit, loszufahren. Sie kam nie zu spät. Nie.
Doch hier und jetzt nahm sie sich ein paar Sekunden zum Nachdenken. Nach allem, was sie durchgemacht hatte, was war da schon ein Künstler, der eine persönliche Krise durchlebte? Er musste sie nicht weiter kümmern. Zweifellos wäre Laurent ohnehin die ganze Zeit mit seinen Models und Schauspielerinnen beschäftigt. Er würde Sarahs Anwesenheit in der Wohnung wahrscheinlich nicht einmal bemerken.
Sie ordnete ihre Gedanken. »Na schön. Ich werde mir die Wohnung mit ihm teilen, wenn er einverstanden ist. Ich weiß Ihr Angebot wirklich zu schätzen, und ich bin mir sicher, dass wir gut miteinander auskommen werden.«
»Danke«, antwortete er.
Sie einigten sich darauf, dass Loïc sie nach ihrer Ankunft in der französischen Hauptstadt vor der Wohnung treffen würde.
»Wir sehen uns in Paris«, sagte sie, legte auf und schüttelte den Kopf. Sie war dabei, eine verrückte Idee in die Tat umzusetzen. Ganz untypisch für sie. Sie hatte keine Ahnung, auf was sie sich da einließ, doch ihr war bewusst, dass sie von hier wegmusste. Sie wollte die Wahrheit über ihre Urgroßtante herausfinden. Aus irgendeinem Grund fühlte sie sich ihr näher als je zuvor. Und es schien ihr beinahe so, als ob Louisa aus der Vergangenheit nach ihr riefe.
Ihre Chefin Amanda bestand darauf, für Sarah ein Abschiedsessen in ihrem Lieblings-Tapaslokal in der Stadt zu veranstalten. Es war eines der Bostoner Restaurants, die fast immer ausgebucht waren, doch Amanda hatte sich mit einem der Eigentümer angefreundet und brüstete sich gerne mit der Tatsache, dass sie dort im Handumdrehen einen Tisch bekam.
Sarah wusste, dass die Tapas hier so gut waren wie in Barcelona – zumindest behauptete das jeder. In der Mitte des Raums standen lange hölzerne Tische. Vor einer Backsteinwand erstreckte sich eine aufwendig bestückte Bar, und auf einer riesigen Tafel wurde die Speisekarte präsentiert. Sarah hängte ihre Lederjacke über die Stuhllehne, schüttelte ihren Kollegen die Hände und strich sich über ihre dunklen Haare. Heute Abend hatte sie sich mit dem Make-up viel Mühe gegeben und extra viel Zeit darauf verwendet, ihre dunkelbraunen Augen zur Geltung zu bringen. Sie wollte besonders professionell wirken. Ihre Kollegen wunderten sich vermutlich, dass sie nach Paris flog.
Die erste Hälfte des Abends verlief gut. Sarah plauderte, während geräucherte Auberginen, Wildpilze mit Sommerkräutern und Teller mit butterweichem gegrilltem Mais serviert wurden. Ihre Kollegen – Grafikdesigner, Kunstpädagogen, Marketingexperten, Kuratoren und wissenschaftliche Mitarbeiter – scherzten miteinander, was Sarah an den gemeinsamen Abenden immer am meisten gefiel.
Doch nach dem Essen sprach Brian Doolan sie an, einer der ältesten Kuratoren im Museum, und alle am Tisch verstummten. »Wir werden Ihre Effizienz vermissen.« Seine Augen funkelten, und Sarah hob fragend eine Braue.
Sie drehte ihr Glas mit dem Dessertwein und beobachtete, wie sich die klebrige Flüssigkeit darin bewegte. »Meine Effizienz?«, wiederholte sie. »Wow. Vielen Dank.« Sie kannte Brian. Und sie wusste, dass er es nur halb im Spaß gemeint hatte.
»Das muss man Ihnen lassen«, stimmte Amanda zu, die neben ihr saß. Die ältere Frau warf ihr langes blondes Haar zurück und richtete ihre grünen Augen auf Sarah. »Das ist es, worin Sie am besten sind. Ich weiß nicht, wie wir im Sommer ohne Sie zurechtkommen sollen.«
»Danke.« Sarahs Stimme klang so flach wie ein zusammengefallenes Soufflé.
»Sie sind so zuverlässig.« In Amandas Tonfall schwang keinerlei Boshaftigkeit mit, doch Sarah hatte diese Worte schon so oft gehört, dass sie es nicht mehr zählen konnte. Verantwortungsbewusst, effizient, vernünftig. Rational. Sie unterdrückte ein Seufzen. War das, wie Steven sie gesehen hatte? Die Verlässliche, die nicht aufregend genug war?
»Wissen Sie«, fuhr Brian fort, »ich sage immer: Wenn wir jemanden brauchen, der zuverlässig ist, dann ist Sarah die Richtige für uns.«
»Danke.« Sie wusste, dass sie wie ein Schallplattenspieler klang, dessen Nadel an einer Stelle hängen geblieben war.
»Und wissen Sie, was das Beste ist?« Brian kam in Fahrt. »Sie machen alles ordentlich und in der richtigen Reihenfolge. Bei Ihnen ist nichts spontan. Sie arbeiten nach Plan. Logisch. Solche Leute brauchen wir. Ich halte Sie für unersetzlich und wünschte, ich besäße selbst mehr von diesen Eigenschaften.«
»Als Sie erwähnt haben, dass Sie nach Paris fliegen«, sagte Amanda lachend, »da bin ich aus allen Wolken gefallen. Was in aller Welt könnte Sarah wohl in der Stadt der Liebe wollen, habe ich mich gefragt. Ich meine, Paris passt überhaupt nicht zu Ihnen. Das ist bestimmt nicht die Stadt, die ich für Sie ausgewählt hätte. London ja, aber niemals Paris.«
»Planen Sie etwa eine kleine Affäre? Sie wissen schon, zur Rache und so an Ihrem Ex-Mann?« Brian beugte sich näher zu ihr. »Erzählen Sie mal«, forderte er sie in verschwörerischem Ton auf.
Sarah lehnte sich zurück. Sie mochte Brian, doch momentan roch sein Atem nach schalem Wein und Knoblauch.
»Das ist es nicht«, erwiderte sie.
»Also wollen Sie einfach nur den Sommer in Paris verbringen, weil Sie es können?« Brian gab nicht auf.
»Ja.«
»Gut für Sie«, meinte Amanda fröhlich.
»Ich glaube Ihnen nicht«, bohrte Brian weiter. »Ich kenne Sie, seit Sie dreiundzwanzig waren. Neun Jahre sind eine lange Zeit, Sarah. Sie sind zu strategisch, um so etwas ohne guten Grund zu tun.«
»Ich gebe zu, dass ich gerne Pläne mache.« Sie zuckte die Achseln. »Aber dieses Mal habe ich keinen.«
Brians Augen verengten sich. »Ich glaube Ihnen immer noch nicht.«
Sie schaute auf die Uhr und zog die Jacke an, sagte sich, dass sie nicht langweilig war. Immerhin trug sie Lederjacken. Und sie hatte mal ein Leben gehabt. Dann war es allerdings in eine Million winziger Splitter zersprungen, doch daran konnte sie nichts ändern. Überhaupt nichts.
»Nun, ich wünsche Ihnen viel Spaß in Paris, egal, warum Sie dort hinwollen.« Brian war wieder so freundlich wie immer.
Er beugte sich vor und küsste Sarah auf die Wange. Die Leute am Tisch nahmen ihre Gespräche wieder auf. Sie lächelte, tätschelte ihm den Arm und umarmte Amanda. Danach umrundete sie den Tisch und verabschiedete sich von ihren übrigen Kollegen. Als sie das Restaurant verließ und in den kühlen Bostoner Abend hinaustrat, ließ sie ihre Gedanken nach Paris schweifen.
* * *
Am nächsten Morgen warf sie einen letzten Blick in ihre Wohnung, vom oberen Ende der Wendeltreppe bis in den darunter gelegenen Wohnbereich. In den Händen hielt sie eine Schale aus chinesischem Porzellan. Sie hatte Louisas Eltern gehört, Nathaniel und Charlotte West, und Sarah wollte sie im Safe verstauen.
Sie hatte die wenigen wertvollen Gegenstände, die ihr Vater von seinen Eltern geerbt hatte, hier bei sich. Innerhalb der Familie war nie etwas zur Schau gestellt worden. Ihr Vater hatte alles stets vor fremden Blicken verborgen gehalten, und nun fühlte Sarah sich verpflichtet, das Gleiche zu tun. Es war beinahe so, als würde sie ein Protokoll befolgen, ohne es je infrage zu stellen. Am Abend zuvor hatte sie die Porzellanschale mit einem weichen Stofftuch gereinigt und öffnete nun den Safe.
Nathaniel und Charlotte West, Louisas Eltern, hatten von Charlottes Vater, der ein erfolgreicher Bostoner Geschäftsmann gewesen war, eine Teehandelsfirma übernommen. Er hatte Nathaniel vor dessen Hochzeit mit Charlotte eingestellt, und nachdem Charlottes Vater gestorben war, hatte Nathaniel West die Geschäftsführung übernommen. Die Familie hatte Stoffe, Holz und Opium nach China ausgeführt und im Gegenzug Tee importiert. Sarah wusste, dass Nathaniel in Hongkong gelebt hatte, genau wie Louisas Bruder nach ihm.
Nun trug sie die Kanton-Schale zum Safe und stellte das wertvolle Stück mit den handgemalten Drachen und Tee trinkenden Figuren direkt neben das Paar chinesischer Wächterlöwen – Geschenke, die Nathaniel Charlotte aus China mitgebracht hatte.
Gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts hatte Nathaniel begonnen, ins Eisenbahnwesen zu investieren, und eine lukrative Chance nach der anderen gesucht. Damals hatte er ein großes Vermögen besessen. Andere Familienzweige umfassten Bankiers und Anwälte mit sowohl privaten als auch geschäftlichen Beziehungen nach Harvard, zu den Boston Brahmins – den vornehmsten Familien der Stadt – und anderen wichtigen Leuten.
Sarah schloss den Safe ab. Gleich würde das Taxi kommen und sie zum Flughafen bringen. Ein letztes Mal blickte sie sich in der Wohnung um. Sie war bereit. Es wurde Zeit, nach Paris zurückzukehren.
Hampshire, England, 1893
Willowdale unterschied sich von allen anderen Häusern, die Louisa in England besucht hatte. Hier fühlte sie sich weit weg von dem geschäftigen Treiben, das für London so typisch war – die endlosen Bälle, dieselben langweiligen jungen Männer auf jeder Gesellschaft. Der unablässige Druck, eine gute Partie zu machen. Es war Sommer, nicht Winter und somit nicht offiziell Saison, doch es schien unerheblich zu sein. Alle Mütter und Töchter waren auf das Gleiche aus.
Willowdale lag nicht weit von London entfernt, aber hier bekam Louisa einen Eindruck von dem England, wie sie es sich vorgestellt hatte, bevor sie Boston verlassen hatte. Kletterrosen schmückten die Mauern des alten Herrenhauses und umrahmten die Fenster, die auf den beschaulichen Park hinausgingen.
Auf der Terrasse war ein Tisch für Tee gedeckt. Alle Anwesenden trugen Weiß, als hätten sie gemeinsam beschlossen, dass es die einzig passende Farbe wäre, dachte Louisa. Die Gesichter der jungen Damen wurden von Sonnenschirmen beschattet, während das Gästegrüppchen halb dösend in der Nachmittagssonne saß. Die beiden Männer ihr gegenüber streckten die Beine vor sich aus, rauchten Zigaretten und blickten zum Tal in der Ferne, in dem zwei Dörfer lagen. Kirchturmspitzen ragten über die Baumwipfel, und jenseits des Parks erstreckten sich hügelige Felder.
Louisa könnte ihre Sorgen fast vergessen.
Fast.
Die Wahrheit war jedoch, dass Willowdale ihr gleichermaßen große Freude und großen Kummer bescheren würde. Freude wegen Meg, ihrer Freundin aus Kindertagen, die gerade Guy Hamilton, den Erben von Willowdale, geheiratet hatte. Gleichzeitig auch Kummer, denn hier würde sie von jemandem Abschied nehmen, den sie mehr als alles andere auf der Welt liebte. Dies war der Ort, an dem sie sich von Samuel verabschieden musste.
Louisa betrachtete ihren Bruder mit den Augen einer großen Schwester, die zugleich ein wenig besitzergreifend, ein wenig stolz und ein wenig ängstlich war. Es war fast unmöglich, den erwachsenen Mann neben ihr mit dem Spielgefährten aus ihrer Kindheit gleichzusetzen, in den sie ihr ganzes Leben lang vernarrt gewesen war. Noch immer musste sie sich an den Gedanken gewöhnen, dass Samuel erwachsen geworden war, obwohl sie ihn auf jedem Schritt des Weges begleitet und mit ihm zusammen im Laufe der Jahre alle möglichen Arten von Schabernack ausgeheckt hatte.
Louisas Familie hatte das Maß an Bildung, Zurückhaltung und Würde beibehalten, das man von den Nachfahren der englischen Kolonisten erwartete, die auf der Arbella oder der Mayflower in die Neue Welt gelangt waren. Louisa wusste jedoch, dass sie und ihr Bruder für ihre gesellschaftliche Klasse unübliche Freiheiten genossen hatten, da ihr Vater als Kaufmann ständig in Hongkong weilte.
Ihre Mutter war so sehr mit ihren eigenen gesellschaftlichen Ambitionen beschäftigt gewesen, dass sie die Kinder kaum wahrgenommen hatte. Charlotte Wests einziger Lebenssinn hatte immer darin bestanden, den alten vornehmen Lebensstil zu wahren, um ihr gesellschaftliches Ansehen zu festigen.
Nun erkannte Louisa, dass ihre Mutter ihr Leben dem einzigen Ziel gewidmet hatte, in Amerika ein Abbild des englischen Lebens zu erschaffen. Louisa begriff, dass sie vor ihrer Ankunft in England weder die Gründe für das Verhalten ihrer Mutter noch die Wurzeln der gesellschaftlichen Ordnung verstanden hatte.
Pflichtgefühl, Zurückhaltung, Diskretion – an diesen Idealen hielt Louisas Mutter höflich lächelnd, aber unerbittlich fest. Charlotte West hatte es zur Kunstform erhoben, korrekte Kleidung, Manieren, Benehmen, Charakterzüge und persönliche Tugenden zu kultivieren, die man von den Angehörigen ihrer Klasse erwartete. Sie widmete sich den Künsten, der Wohlfahrt – Hospitälern und Internaten – und den guten Werken der Episkopalkirche.
Louisa jedoch war mit einer Gouvernante gesegnet gewesen, die sie dafür sensibilisiert hatte, dass Frauen mehr Rechte haben sollten – die gleichen wie Männer. Louisa war von der Idee, dass Frauen es verdient hatten, ihr Schicksal selbst zu bestimmen, so fasziniert gewesen, dass sie im Laufe der letzten Jahre viel über dieses Thema gelesen hatte. Ihre Gouvernante hatte ihr Mrs Pankhursts Flugblätter gezeigt, auf denen sie im Namen ihrer Women’s Franchise League für das Frauenwahlrecht eintrat. Louisa fand es ermutigend, dass Mrs Pankhurst im Alter von vierzehn Jahren begonnen hatte, sich für Frauenrechte zu interessieren, und fühlte sich zu den Ideen dieser Frau hingezogen.
Mrs Pankhurst war einerseits eine europäische Frau, die in derselben Gesellschaft lebte wie inzwischen Louisa, wies andererseits aber auch den Frauen in der Neuen Welt die Richtung. Die Suffragetten repräsentierten eine Alternative zum Lebensentwurf ihrer Mutter, und das sprach Louisa an.
Doch dann hatte ihre Mutter die Flugblätter gefunden und war über die neuartigen Ideen mehr als erbost gewesen. Sie hatte ihre Tochter darüber aufgeklärt, dass man sie niemals als geeignete Ehefrau ansehen würde, sobald man sie als Blaustrumpf abgestempelt hätte. Jegliche Form des Aktivismus würde einfach nicht toleriert werden, und Louisa würde schneller aus der Gesellschaft ausgeschlossen werden, als sie eines ihrer albernen Flugblätter lesen könne.
Sie hatte die Gouvernante entlassen und ihre Tochter nach England verfrachtet. Hier befand sie sich unter dem wachsamen Auge der guten Gesellschaft. Ein randvoller gesellschaftlicher Terminkalender sollte sie ablenken und davon abhalten, über unangemessene revolutionäre Ideen nachzudenken. Charlotte stellte klar, dass Louisa erst wieder in Begleitung eines englischen Ehemannes in Boston willkommen wäre, und falls sie den Kontakt zu Mrs Pankhurst in London suchte, wäre sie nicht länger ein Mitglied der Familie West.
Samuel, der nach Hongkong reisen sollte, war angewiesen worden, Louisa nach England zu begleiten, und nun war sie hier, und es wurde Zeit, sich von ihm zu verabschieden. Bisher war der Plan ihrer Mutter nicht aufgegangen – Louisa hatte keinen passenden Ehekandidaten getroffen, und ihr einziger Wunsch war es, ebenfalls in Hongkong zu arbeiten.
Sie stand auf. Samuel tat es ihr nach. Louisa hob ihren Sonnenschirm und genoss den kühlen Schatten auf dem weißen Baumwollkleid mit dem hohen Kragen und den langen Ärmeln.
»Ich gehe spazieren«, erklärte sie in die Runde auf der Terrasse.
Guy Hamiltons Schwester Alice und ihre junge Freundin lächelten und winkten ihr zu, während Louisas beste Freundin Meg in einer nonchalanten Geste die Hand hob. Louisa war aufgefallen, dass Meg hier sehr glücklich geworden war – zweifellos bezog sie Selbstbewusstsein aus dem Wissen, dass sie noch Hunderte solcher Nachmittage mit ihrem frisch angetrauten Gatten Guy verbringen würde, der für seine gute Laune und seine attraktiven Gesichtszüge bekannt war. Er war noch nie zuvor verliebt gewesen – bis er Meg begegnet war.
In den Kreisen der Debütantinnen kursierte geheuchelte Freude über diese Verlobung, während die unschuldige Meg nicht ahnte, dass man sie dafür in halb England sowohl beneidete als auch hasste. Louisa jedoch bemerkte es – die Anspannung, die sich hinter der Höflichkeit der anderen Mädchen und ihrer Mütter verbarg – und verspürte das eigenartige Bedürfnis, Meg zu beschützen.
Sie wandte sich von der Terrasse ab. Wie immer ging ihr zu vieles durch den Kopf. Zumindest behauptete ihre Mutter immer, sie denke zu viel.
»Ich begleite dich.« Samuel zog sein weißes Jackett aus, krempelte die Hemdsärmel hoch und strich sich das maisgelbe Haar zurück. Sein Gesicht war leicht gebräunt. Der englische Sommer stand ihm gut zu Gesicht, fand Louisa.
»Du bist aufgewühlt«, bemerkte er und bot ihr den Arm.
Sie verließen die Terrasse und betraten den Pfad, der durch den Rosengarten führte. »Nicht mehr als gewöhnlich.« Sie war sich bewusst, dass ihre Worte ausweichend klangen, doch sie passten zu dem trägen Tag heute.
Samuel lächelte und setzte seinen Weg in Richtung Park fort. »Ich hasse den Gedanken, bald so weit weg von dir zu sein. Ich will dein Glück nicht versäumen. Du musst mich auf dem Laufenden darüber halten, wenn du die wichtigste Entscheidung deines Lebens triffst. Du wirst Unterstützung brauchen. Und du weißt, dass ich immer für dich da bin.«
Louisa sah mit ihren blauen Augen auf und begegnete dem Blick ihres Bruders. Ihr welliges, goldenes Haar war auf ihrem Kopf hochgesteckt, doch der schwüle englische Sommer setzte ihren Locken zu und brachte die Frisur durcheinander. Einzelne Strähnen lösten sich, und sie hatte sich an Schweißtröpfchen auf der Stirn gewöhnt.
»Es ist unwahrscheinlich, dass ich jemals heirate.« Sie lachte beinahe.
»Möchtest du darüber reden?« Samuels Stimme war sanft. Er tätschelte Louisas Hand, die in seiner Armbeuge ruhte.
Sie entzog sie ihm und band den Sonnenschirm ordentlich und gleichmäßig zusammen.
»Sag schon.« Er blieb stehen.
»Alles hier ist ein Spiel«, erwiderte sie. Sie hatten den Park durchquert und blieben im Schatten einer großen Eiche stehen – eine der ältesten im ganzen Land, wenn man den Hamiltons glaubte. »Du weißt, dass ich nicht spielen will.«
»Louisa. Wir sind an einem Punkt angelangt, an dem keinem von uns beiden eine Wahl bleibt. Die Zwänge sind zu groß. Bestimmt kannst selbst du das erkennen.«
Sie spürte, wie Frustration in ihr aufstieg, und konnte nichts dagegen tun. »Du hast die Wahl, Samuel.«
»Nein, die habe ich nicht.«
»Du könntest heiraten oder Junggeselle bleiben, hier oder in Boston leben oder auch nach Hongkong gehen. Du bist der Mittelpunkt deines eigenen Lebens. Und, was viel wichtiger ist: Die Menschen nehmen dich ernst. Sie hören auf dich. Sie lachen nicht, wenn du redest. Wenn du als Mann über eine Sache sprichst, hält man dich für intelligent, nicht für anmaßend. Du bist amüsant, aber man verspottet dich nicht. Doch wenn ich als Frau auch nur andeute, überhaupt irgendeine Meinung zu vertreten …«
»Du versuchst wieder, gegen den Strom zu schwimmen, Louisa.«
Sie bohrte die Spitze ihres Sonnenschirms in die weiche Erde und zog sie wieder heraus. »Aber ich habe recht. Das weißt du.«
Seine Stimme wurde zu einem tiefen Bass. »Du bist traurig wegen Meg, und mir ist klar, wie schwer es für dich ist, dass ich bald abreise. Finde jemanden, der dich glücklich macht, und sei es dann einfach. Verkompliziere die Dinge nicht unnötig. Du weißt, dass es nicht funktionieren wird.«
Ihre Lippen verzogen sich angespannt. »Um Himmels willen, Sam. Gerade du solltest mich doch verstehen.« Ihre Worte klangen bissig.
Er machte einen Schritt auf sie zu und zog den Sonnenschirm aus der Erde. »Ich glaube, du hast einfach noch niemanden kennengelernt, der dich interessiert. Ich bin mir sicher, dass das alles ist, was dahintersteckt.«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe nach dem Frühstück die Zeitungen stibitzt, nachdem die Männer sie gelesen hatten. Wenn Frauen die Gesetze der Regierung befolgen müssen, dann sollten wir an dem Prozess beteiligt sein, der diese Gesetze schafft. Wir müssen Steuern zahlen, genau wie Männer, also sollten wir auch das Wahlrecht haben. Wie sollen wir irgendetwas ändern, wenn man uns bei der Auswahl derjenigen, die die Entscheidungen treffen, an die wir gebunden sind, keine Mitsprache gewährt? Sieh mich doch an. Was wäre, wenn ich mit meinem Leben mehr anfangen wollte? Wahrscheinlich wollen das die meisten Frauen. Aber wir erhalten einfach nicht die Chance dazu. Begreifst du es denn nicht, Samuel? Wir müssen etwas ändern. Ich könnte es nicht ertragen, eine Tochter zu haben, die mit den gleichen Einschränkungen aufwachsen muss wie ich.«
Er wandte sich ihr zu und nahm ihre Hand. »Aber wenn du dich einmischst, wirst du ausgeschlossen werden. Es wird deine gesellschaftliche Ächtung und dein finanzieller Ruin sein, und ich kann dabei nicht einfach tatenlos zusehen. Die Mächte, die gegen dich sind, sind sehr viel stärker, als du glaubst. Die Leute werden unvorstellbare Mühen in Kauf nehmen, um den Status quo zu schützen. Sie werden sehr viel härter kämpfen, als du es dir vorstellen kannst, Louisa. Und ich fürchte, gerade Frauen werden deine schlimmsten Feinde sein.«
Im Geiste hörte Louisa die eindringliche Stimme ihrer Mutter – sie sollte sich nicht beschweren oder, schlimmer noch, über sich selbst reden! Sie wandte sich von dem Baum ab und machte sich rasch auf den Rückweg zum Haus.
Samuel folgte dicht hinter ihr. Er packte sie am Arm und zwang sie, ihm in die Augen zu sehen. »Es ist unser letzter gemeinsamer Abend. Ich will mich nicht so an dich erinnern. Ich will, dass du mir versprichst …«
»Ich kann dir nichts versprechen.« Sie flüsterte die Worte, doch ihr Herz klopfte, und sie schwitzte jetzt stärker an den Händen als auf dem Kopf. »Oh, verflucht!«, murmelte sie und wischte sich eine heiße Träne von der Wange.
»Ich weiß, dass es schwer sein wird, und anders als zu Hause.« Er beugte sich zu ihr hinab und flüsterte ebenfalls. »Aber schreib mir. Lass mich wissen, wie es dir geht. Gib dich einfach nicht mit weniger als dem Besten zufrieden, denn genau das hast du verdient, und um Himmels willen, wähle jemanden, der es dir gestattet, du selbst zu sein. Du wirst großen Einfluss auf das Leben deiner Kinder haben. Du wirst ihnen deine Empfindsamkeit und deine Intelligenz vererben. Louisa, du besitzt so viele Talente. Du kannst sie mit anderen teilen. Finde den richtigen Mann, gründe eine eigene Familie, und alles wird gut werden. Das weißt du.«
Ihre Antwort sprudelte aus ihr heraus. »Talente, Samuel? Was nützen den Frauen ihre Talente? Erkennst du es denn nicht? Man betrachtet uns einfach als Packgut. Wir entscheiden über nichts. Wir sind Päckchen, die man abholt – oder auch nicht. Die Männer wählen uns aus oder legen uns beiseite, wie es ihnen gefällt, während die älteren Frauen wie rivalisierende Bieter in einem Auktionshaus dabei zusehen. Alle sind Komplizen. Es ist grausam.«
Sie musste mehrmals tief durchatmen. Angst, Wut, sogar Schuld, wenn sie ehrlich war, Traurigkeit, Verlustgefühle und, wenn sie gewagt hätte, es zuzugeben, auch Heimweh – in ihr wütete ein wildes Durcheinander der Emotionen.
»Du bist für mich das Wichtigste auf der Welt«, erwiderte er. »Aber ich fürchte, deine Träume von Freiheit und Unabhängigkeit sind vollkommen unrealistisch. Du brauchst Unterstützung, wenn du dich in irgendeiner Weise engagieren willst. Du brauchst einen verständnisvollen Ehemann. Selbst deine Mrs Pankhurst hat einen.«
»Wenn es irgendwelche Ehemänner geben soll, müssen sie erst aufgeklärt werden.« Sie lachte beinahe bei diesen Worten. »Samuel, ich wünschte einfach, ich könnte dich nach Hongkong begleiten und das Gleiche machen wie du«, erklärte sie mit zusammengebissenen Zähnen. »Die Welt sehen. Erfahrungen sammeln. Etwas beitragen.«
»Ich weiß.« Er klang nun etwas distanziert. »Doch wir müssen uns mit der Welt abfinden, wie sie ist, Louisa. Die Veränderungen, von denen du träumst, sind radikal. Aber radikale Veränderung braucht Revolution. Und Revolution heißt Gewalt. Als dein Bruder will ich nicht, dass du dich daran beteiligst. Ich weiß nicht, was passieren wird. Ich weiß nicht, was aus Mrs Pankhurst und ihrem Tun erwachsen wird, ich weiß nur, dass du mir wichtig bist. Und ich will, dass du in Sicherheit bist und dir deine Träume bewahrst. Versprich es mir. Riskiere nicht deinen Ruf. Ruiniere für diese Sache nicht deine Aussicht auf Glück. Warte einfach ab. Alles wird sich klären. Ich glaube fest daran und werde dir schreiben, sooft ich nur kann.«
Sie atmete stoßweise. »Ich will die Freiheit, meine eigenen Entscheidungen treffen zu können. Ich will die Freiheit, mein eigenes Leben zu führen. So wie du. Das ist alles.«
»Niemand von uns ist frei«, entgegnete er und strich sich mit der Hand übers Haar. »Aber mich erstaunt immer wieder deine Hartnäckigkeit beim Streiten.«
Louisa schüttelte den Kopf. Sie hatten sich schon ihr ganzes Leben lang gestritten, doch immerhin wusste sie, dass sie Samuel ihre Gedanken anvertrauen konnte. Er würde sie niemals an irgendjemanden verraten. Er verstand sie, wollte aber nicht am Status quo rütteln. Er war der Überzeugung, dass man seine Ansichten haben konnte, solange sie nicht den gesellschaftlichen Rahmen sprengten, da er die herrschende Ordnung als Schutz betrachtete.
In diesem Punkt würden sie sich stets uneinig sein. Denn Louisa begriff, dass sie in einer Welt lebte, in der eine ledige Frau sehr viel weniger galt als eine verheiratete. Solange sie keinen Ehemann hatte, war es für sie beinahe unmöglich, gehört zu werden. Sie musste noch gründlicher über dieses Problem nachdenken, doch die Antwort war alles andere als leicht zu finden.
Darüber hinaus musste jeder potenzielle Ehepartner angemessen sein. Was wäre, wenn sie sich – Gott bewahre – in jemanden verliebte, der nicht den Ansprüchen ihrer Mutter an einen perfekten Ehemann genügte? Sie hatte schlaflose Nächte damit verbracht, darüber nachzugrübeln, dass sie weder Karriere machen noch sich den Mann aussuchen konnte, in den sie sich verliebte.
Wenn sie also eine arrangierte Ehe vermeiden wollte, sich dem Kampf um Frauenrechte anschloss und darauf hoffte, jemanden kennenzulernen, der sie wirklich interessierte und nicht nur in die gesellschaftlichen Kreise passte, in denen sie sich bewegte, dann wusste sie, als was man sie abstempeln würde: als Blaustrumpf, als Abtrünnige, als Außenseiterin. Und war der Ruf einer jungen Frau erst einmal zerstört, konnte man ihn unmöglich wiederherstellen. War sie wirklich bereit, alles, was sie jemals besessen hatte, wegzuwerfen?
Louisa wandte sich wieder der Terrasse zu. »Gehen wir zurück, und trinken wir ein Glas Champagner auf Meg und Guy.«
Samuel war dicht hinter ihr. »Sie ist mit ihm glücklich, Louisa.«
»Ich weiß.« Sie winkte ab, lief jedoch weiter.
Manchmal fragte sie sich, ob es auf dieser Welt überhaupt einen passenden Platz für sie gab.
* * *
Am nächsten Morgen zog Louisa gleich nach dem Frühstück ihr Reitkleid an. Der Abschied von Samuel war nicht so schlimm gewesen, wie sie befürchtet hatte. Als sie ihn im Morgengrauen in der Auffahrt umarmt hatte, hatte sie deutlich seinen Elan und seine Vorfreude gespürt, gleichgültig, wie taktvoll er versucht hatte, seine Gefühle vor ihr zu verbergen. Das Letzte, was Louisa gewollt hatte, war, ihm die Stimmung zu verderben.
Nun musste sie draußen sein, in Freiheit – am besten irgendwo, wo sie das Pferd laufen lassen konnte. Sie durchquerte den Korridor von Willowdale und betrat den Flügel, in dem sich Megs Schlafzimmer befand. Seit Meg verheiratet war, hatte sie es sich angewöhnt, sich das Frühstück im Bett servieren zu lassen. Als Louisa an die Tür ihrer Freundin klopfte, hörte sie, wie eine Teetasse auf einem Porzellanunterteller abgestellt wurde.
Es war ein perfekter Sommermorgen – noch war es kühl, doch es versprach, später am Tag heiß zu werden. Louisa liebte die frühen Morgenstunden. Sie ertrug es nicht, zu lange im Bett zu bleiben. Heute hatte sie nach dem Aufwachen selbst die Fenster geöffnet und die frische Morgenluft eingeatmet, die den Duft von Kletterrosen mit sich trug.
Meg bat sie herein. Die Reste ihres Frühstücks standen auf einem Tablett, zusammen mit einem Sträußchen frischer Petunien in einer Kristallvase.
»Jedes Mal, wenn ich dich sehe, wirkst du mehr und mehr, als ob du dich hier ganz wie zu Hause fühlst.« Louisa lächelte und betrat das schöne Zimmer mit den polierten Holzdielen, dem hellen Teppich und dem Marmorkamin.
»Oh, ich gestehe, ich bin im Himmel.« Meg streckte sich. Ihr langes dunkles Haar war noch immer zerzaust, und ihre Wangen hatten eine gesunde rosige Farbe.
»Begleitest du mich auf einen Ausritt?« Louisa trat ans Fenster.
»Oh, meine Güte, nein. Ich soll mich mit einigen Nachbarn treffen. Danach gehen wir in die Kirche. Lady Hamilton hat meinen Vormittag komplett verplant.«
»Nun, dann solltest du lieber in die Gänge kommen, sonst ist der Tag halb vorbei, und du hast nichts getan, außer im Bett zu faulenzen.«
»Wie herrlich«, seufzte Meg.
»Ich muss raus ins Freie«, sagte Louisa und drehte sich plötzlich um. »Bald wird es schrecklich heiß sein.«
»Geh, und genieße es«, erwiderte Meg, doch dann senkte sie ihre Stimme etwas. »Wie war der Abschied von Samuel?«
Louisa atmete lang gezogen aus. »Es war in Ordnung. Er musste aufbrechen.«
Meg nickte, und für einen Augenblick war es, als wäre Louisas alte Freundin zurück – die, die fasziniert ihren Ideen gelauscht und sogar einige davon geteilt hatte. Aber seit ihrer Ankunft in England hatte Louisa Veränderungen an ihr beobachtet, und seit Meg sich verliebt hatte, hatte sie gänzlich aufgehört, über solche Dinge zu sprechen.
Louisa hatte sich fast die ganze Nacht über im Bett herumgewälzt. Sowohl ihre Freundin als auch ihr Bruder verließen sie auf jeweils unterschiedliche Weise, auch wenn beide glücklich waren. Schließlich hatte Louisa beschlossen, dass sie sich selbst gegenüber die Härte anwenden musste, die ihre Mutter stets gezeigt hatte. Sie würde noch stärker an ihren Überzeugungen festhalten. Wenn sie schon allein sein würde, warum sollte sie dann nicht auch Wegbereiterin sein?
»Ich bin dann reiten«, verkündete sie.
»Viel Spaß!«, rief Meg fröhlich, lehnte sich in die weißen Baumwollkissen zurück und nahm einen Brief vom Tablett.
»Dir auch«, antwortete Louisa lächelnd.
Eine halbe Stunde später saß sie im Hof mit den gemauerten Ställen, der sich am Rande des Parks befand, auf dem Rücken einer Palomino-Stute. Aus dem Augenwinkel bemerkte sie etwas. Sie wendete das Pferd auf der Stelle, tat das jedoch etwas zu hektisch, sodass die Stute leicht stieg. Rasch beruhigte Louisa sie wieder.
»Morgen.« Ein junger Mann stand unter den Torbögen, die zu den Ställen führten. Er trug eine Reithose, lange schwarze Stiefel und eine Reitjacke. Er schaute zu Louisa empor und hob eine Braue.
»Guten Morgen.« Louisa hatte ihn noch nie gesehen und auch nichts von weiteren Besuchern gehört, die eintreffen würden. Erneut runzelte sie die Stirn. Sie hatte keine Lust auf Störungen und war nicht in der Stimmung, sich mit geistlosen jungen Männern zu unterhalten, auch wenn dieser hochgewachsen war und dunkelbraunes, leicht zerzaustes Haar hatte, was durchaus attraktiv wirkte.