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Die Zeit der Frauen
Berlin, 1946: Kate Mancini berichtet über die verheerenden Folgen des Krieges, die sie unmittelbar zu spüren bekommt, als sie ein Waisenmädchen aus den Trümmern rettet. Auch nach ihrer Rückkehr nach New York begeistert sie sich für politische Themen. Während ihr Freund Rick jedoch schnell als politischer Kolumnist aufsteigt, gesteht man Kate nur die Themen Haushalt und Familie zu. Beim Fernsehen scheint sie schließlich ihren Platz zu finden. Aber dann wird Rick als kommunistischer Sympathisant beschuldigt. Kate muss den Mann, den sie liebt, beschützen – koste es, was es wolle ...
Eine junge Journalistin kämpft um ihre Karriere – und für ihre Liebe
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Seitenzahl: 347
1946: Kate Mancini träumt davon, Journalistin zu werden. Als eine der ersten Frauen reist sie nach Europa und berichtet über die verheerenden Folgen des Krieges. Im zerbombten Berlin rettet sie ein kleines Mädchen, das hilflos durch die Straßen irrt. Zurück in New York will Kate über nichts anderes schreiben als die politischen Nachrichten. Doch sie muss erfahren, dass Frauen in Presse, Radio und Fernsehen noch immer nicht die gleichen Chancen zugestanden werden wie Männern. Sie arbeitet hart für ihren Erfolg. Dann verhärten sich die Fronten des Kalten Krieges, und der Vorwurf, ihr Freund Rick könne ein Kommunist sein, droht alles zunichtezumachen. Und ihre einzige Hoffnung kommt ausgerechnet aus Deutschland ...
Ella Carey wurde in Adelaide, Australien, geboren, und studierte Kunst, Geschichte und Literatur. Heute schreibt und lebt sie in Melbourne mit ihrer Familie und zwei Hunden. Schon immer haben sie die mutigen Frauenfiguren der Geschichte fasziniert, weswegen sie es liebt, ihre Romane nach wahren Begebenheiten zu erzählen. Ihre Bücher sind internationale Bestseller und erscheinen in vierzehn Sprachen.
Im Aufbau Taschenbuch liegt bereits der erste Roman ihrer Serie über »Die Frauen von New York« vor: »Glanz der Freiheit«.
Gabriele Weber-Jarić lebt als Autorin und Übersetzerin in Berlin. Sie übertrug u. a. Ronald H. Balson, Gill Thompson und Kristin Hannah ins Deutsche.
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Ella Carey
Die Frauen von New York – Worte der Hoffnung
Roman
Aus dem Englischen von Gabriele Weber-Jarić
Cover
Titel
Inhaltsverzeichnis
Impressum
Titelinformationen
Informationen zum Buch
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Widmung
Motto
Teil 1
Kapitel 1: Kate — Berlin, März 1946
Kapitel 2: Kate — Berlin, März 1946
Kapitel 3: Kate — Berlin, März 1946
Kapitel 4: Kate — Berlin, März 1946
Kapitel 5: Kate — Nürnberg, März 1946
Kapitel 6: Frances — Connecticut, März 1946
Kapitel 7: Frances — April 1946
Kapitel 8: Kate — New York, April 1946
Kapitel 9: Kate — New York, April 1946
Kapitel 10: Bianca — New York, Mai 1946
Kapitel 11: Bianca — New York, Mai 1946
Kapitel 12: Kate — New York, Mai 1946
Kapitel 13: Kate — New York, Mai 1946
Kapitel 14: Kate — New York, Mai 1946
Kapitel 15: Rick — New York, Mai 1946
Kapitel 16: Bianca — New York, Juni 1946
Kapitel 17: Kate — New York, November 1946
Kapitel 18: Frances — New York, November 1946
Kapitel 19: Kate — New York, November 1946
Kapitel 20: Kate — Sowjetisch besetzte Zone, November 1946
Kapitel 21: Kate — New York, November 1946
TEIL II
Kapitel 22: Kate — New York, Juni 1948
Kapitel 23: Kate — Berlin, Juli 1948
Kapitel 24: Kate — New York, Juli 1948
Kapitel 25: Kate — Philadelphia, Juli 1948
Kapitel 26: Bianca — New York, August 1948
Kapitel 27: Kate — New York, August 1948
TEIL III
Kapitel 28: Kate — New York, Frühling 1951
Kapitel 29: Bianca — New York, Frühling 1951
Kapitel 30: Frances — New York, Frühling 1951
Kapitel 31: Kate — New York, Frühling 1951
Kapitel 32: Frances — New York, Sommer 1951
Kapitel 33: Kate — New York, Sommer 1951
Kapitel 34: Kate — New York, Sommer 1951
Liebe Leserin,
Anmerkung der Autorin
Dank
Impressum
Wer von diesem Roman begeistert ist, liest auch ...
Für meinen Sohn Ben
»Niemand bewahrt ein Geheimnis so wie ein Kind.«
Victor Hugo
»Ich bin der Feind, den du getötet hast, mein Freund.«
Wilfred Owen
Kapitel 1
Berlin, März 1946
Der Lärm der quietschenden Reifen schallte durch die aschgraue Stadt. Für Kate klang es, als würde ein Tier in den eisigen Straßen Berlins schreiend verenden. Sie kniff die Augen zusammen, hielt sich fest und wappnete sich für den Moment, wenn Metall auf Metall träfe und die Winterluft wenig später vom Heulen einer Sirene durchdrungen würde. Das waren die Geräusche, die vor Jahren den tödlichen Unfall ihres Vaters begleitet hatten und sie bis an ihr Lebensende verfolgen würden.
Der Jeep mit den Kriegsberichterstattern an Bord hielt an, die Scheinwerfer durchbohrten den Nebel, warfen ihr Licht auf den Wagen vor ihnen, der unvermittelt gebremst hatte. Doch der Aufprall blieb aus, und nirgendwo ertönte eine Sirene. Kate stieß den angehaltenen Atem aus.
Sie verdrängte die Erinnerungen an ihren Vater und richtete ihren Blick auf die von Bombenschäden gezeichnete alte Villa am Straßenrand.
Der Vorgarten musste einmal schön gewesen sein. Die Buchsbäume und Tannen waren schneebedeckt. Die Eingangstür stand offen, als wollte man Gäste einladen, aus der Kälte ins Haus zu kommen. Kate stellte sich Szenen aus der Vorkriegszeit vor, Menschen, die das imposante Backsteinhaus mit dem damals noch intakten Säuleneingang betreten hatten. Bereits in der Eingangshalle wäre es in dieser Jahreszeit warm gewesen, im Salon hätte im Kamin ein Feuer gebrannt, an dem man sich die kalten Hände gewärmt hätte. In den geschmackvoll eingerichteten Räumen hätten die Leute sich unterhalten und gelacht. Nach dem Diner wäre vielleicht getanzt worden. In den oberen Räumen hätten die Kinder vor dem Schlafengehen noch ein wenig lesen dürfen.
Nun saß auf der bröckelnden Eingangstreppe ein kleines Mädchen.
Statt eines dicken Mantels, einer Mütze und Stiefeln trug es einen schmutzigen, braunen Kittel und hatte die mageren Arme um sich geschlungen. Aus den ausgetretenen Halbschuhen ragten spindeldürre, verdreckte Beine ohne Strümpfe auf. Plötzlich heftete das Mädchen den Blick auf Kate.
Die Augen des Kindes waren von einem leuchtenden Blau, und sie sprachen von dem Elend des langen Berliner Winters, der die Menschen im Griff hatte.
Ebenso wie in den meisten Häusern der Stadt waren die Fenster der Villa mit Brettern verbarrikadiert. Die Ritze und Löcher in den Mauern, durch die der Wind pfiff, versuchten die Berliner mit Lumpen und Papier zu stopfen. Dennoch gab es viele, vor allem alte Leute, die nachts im Schlaf erfroren.
Der Jeep fuhr wieder an.
»Fahrer, lassen Sie mich raus!« In der kalten Luft konnte Kate ihren Atem sehen. Der Fahrer reagierte nicht, und ihre Stimme ging im Motorenlärm unter. Kate machte Anstalten aufzustehen, wollte sich an den anderen Reportern vorbei nach draußen drängen, und wurde auf ihren Sitz zurückgeworfen.
Ihr Kollege Rick Shearer legte einen Arm um sie und gab ihr Halt. Der Jeep fuhr weiter.
Kate stieß einen frustrierten Seufzer aus. Rick sah sie an, sein Blick war voller Verständnis und Mitgefühl.
Kate versuchte, ihm zu erklären, warum sie aussteigen müsse. Er hob die Schultern. Sie blickte sich um. Ringsum war Niemandsland, und sie hatte keine Ahnung, wo sie sich befanden. Straßen waren kaum noch zu erkennen. Überall lagen Schutt, zerrissene Kabel und zerbrochene Leitungsrohre auf der Erde. Resigniert lehnte sie sich zurück und spürte die Hoffnungslosigkeit, die sich wie eine Decke um sie legte. Ob die Geister dieses Kriegs jemals Frieden finden würden?
Auf ihrer Reise durch das vom Krieg zerrüttete Europa hatte sie befreite Konzentrationslager gesehen, die Krematorien als stumme Zeugen der unaussprechlichen Grausamkeiten, die Menschen einander zufügen konnten. In Krakau hatte sie Männer und Frauen erlebt, die aus Zügen gekrochen waren und hilflos an den Gleisen gehockt hatten; in Rom unterernährte Kinder mit Hungerbäuchen.
Doch keiner dieser Eindrücke hatte Kate gegen die Schrecken des Krieges und die Verbrechen der Nationalsozialisten immun gemacht. Im Gegenteil.
Nun fuhren sie an einem Park vorbei. Aus den Sitzbänken waren die Holzlatten gerissen worden, wahrscheinlich um als Brennholz zu dienen.
Schließlich hielt der Jeep vor dem heruntergekommenen Hotel an, in dem die Reporter untergebracht waren. Noch immer lag der Geruch von Tod, Fäulnis und ausgebrannten Gebäuden in der Luft. Kate zog ihren Schal höher, bedeckte Mund und Nase.
Sie stiegen aus.
Harvey Milton drückte die ramponierte Tür des alten Hotels auf, das die Bombenangriffe der Alliierten wie durch ein Wunder überstanden hatte. Der Geruch nach gekochtem Kohl stieg Kate in die Nase, ein Aroma, das sie künftig stets mit diesem maroden Gebäude in Zusammenhang bringen würde. Harvey bedachte sie mit einem breiten Lächeln, seine Zähne blitzten weiß auf. Ganz gleich, an welchem Ort der Zerstörung sie waren, Harvey sah stets aus, als käme er gerade aus der Dusche, hätte frische Sachen angezogen und sich das blonde Haar sorgfältig nach hinten frisiert.
Kate blieb stehen, fühlte sich außerstande, das unwirtliche Hotel zu betreten. Das Bild des kleinen Mädchens ging ihr nicht aus dem Kopf.
Während des Kriegs hatte sie niemanden retten können, doch nun konnte sie verhindern, dass ein Kind erfror.
Sie machte kehrt und lief die Straße hinunter. Aus dem Augenwinkel nahm sie Rick wahr, der ihr folgte, hörte das Geräusch seiner Stiefelschritte. Sie alle waren für die neun Monate, die sie in Europa verbrachten, mit Soldatenstiefeln ausgestattet worden, auch Kate, die einzige Frau unter ihnen.
Am Straßenrand waren die Trümmerfrauen trotz der einsetzenden Dämmerung dabei, Schuttberge abzutragen. Sie arbeiteten schweigend und mit bloßen Händen, die Einzigen, die noch in der Lage waren, die Kriegsschäden zu beseitigen. Ihre Männer waren entweder im Krieg gefallen, in Gefangenschaft oder von ihren Kampfeinsätzen krank und zermürbt zurückgekommen und nun zu entkräftet, um mitzuhelfen. Die öffentliche Verwaltung war schon vor vielen Monaten zusammengebrochen.
»Ich weiß, was du vorhast«, sagte Rick.
»Die Kleine wird die Nacht nicht überstehen.«
»Niemand wird sich für ihre Geschichte interessieren.«
Ricks sanfte Stimme passte nicht recht zu den Bildern, die sich ihnen links und rechts der Straße boten. Seine Stimme gehörte nach Manhattan, wo sich das pralle Leben abspielte, nachts überall Lichter brannten und die Leute in den Straßen tanzten und das Ende des Krieges feierten. Kate schob die Gedanken an Manhattan zur Seite.
Sie lief weiter und ballte die Hände zu Fäusten. »Es geht nicht um ihre Geschichte.« Gleich als sie das Mädchen auf der Treppe dieser alten Villa entdeckt hatte, hatte Kate den Wunsch verspürt, ihm zu helfen. An eine Geschichte hatte sie überhaupt nicht gedacht, auch wenn ihr das wahrscheinlich niemand abnehmen würde.
Rick sah sie skeptisch an, sagte jedoch nichts.
Kate erinnerte sich an die letzte Geschichte, die sie geschrieben hatte. Darin ging es um die Liebesverhältnisse, die einige amerikanische Soldaten mit deutschen Frauen eingegangen waren. Ihr Chef hatte ihren Vorschlag abgelehnt und erklärt, dass die Story kein gutes Licht auf die amerikanischen Soldaten werfe. Auch deren Ehefrauen zu Hause in Amerika würden nicht lesen wollen, dass ihre Männer in Deutschland schöne Stunden genossen, die sie mit Lebensmitteln, Zigaretten und Nylonstrümpfen bezahlten. Doch Kate hatte sich nicht aufhalten lassen.
Jetzt warf sie Rick einen Seitenblick zu. Er hatte die Brauen zusammengezogen und schien nachzudenken.
Kate bog um eine Ecke. Inzwischen hatte sie gelernt, sich in zerstörten Städten einigermaßen zurechtzufinden und konnte sich auf ihren Orientierungssinn verlassen.
Zwei gebeugte, ausgemergelte Männer kamen ihnen entgegen. Sie hatten Äste aufgetrieben, um irgendwo Feuer zu machen.
Vielleicht war der Park, den sie in der Nähe der Villa gesehen hatte, nicht mehr weit entfernt, dachte Kate. Sie beschleunigte ihren Schritt.
Sie hatte sich nicht geirrt. Wenig später erreichten sie den Park und kurz darauf die Villa. Das Kind saß noch immer auf der Eingangstreppe und hatte den Kopf in die Hände gestützt.
Der kalte Wind fuhr unter Kates Jacke und ließ sie frösteln. Sie drehte sich zu Rick um. »Sprich mit ihr. Du kannst doch Deutsch.« Noch einmal glitt ihr Blick über den viel zu dünnen Kittel des Mädchens. »Wahrscheinlich hat man die Kleine während des Kriegs aufs Land geschickt. Und nun ist sie in ein leeres Haus zurückgekehrt.«
Ihr Blick fiel auf den kleinen Seesack an der Seite des Mädchens.
»Wenn wir sie hier sitzen lassen, wird man sie in ein Kinderlager stecken.« Sie waren im sowjetisch besetzten Teil der Ruinenstadt. Womöglich würde das Kind nach dem Kinderlager in einem sowjetischen Waisenhaus landen. Kate überlief ein Schauder. Sie musterte das Mädchen, das den Eindruck eines Straßenkinds machte. Vielleicht saß es nur zufällig vor dieser Villa, war dort nie zu Hause gewesen.
Rick berührte ihren Arm. »Ich spreche mit ihr.«
In den vergangenen Monaten war Rick für Kate zu einem Freund geworden, und dafür war sie dankbar. Etliche ihrer Kollegen weigerten sich, eine Frau in ihren Reihen ernst zu nehmen. Entweder ignorierten sie Kate oder sie versuchten, mit ihr zu flirten.
Allerdings hatte sie bereits in New York und Washington für Rundfunk und Presse geschrieben und gelernt, sich durchzusetzen. Dann hatte sich ihr die Möglichkeit dieses Auslandseinsatzes geboten, und sie hatte nicht lange gezögert. Vielleicht würde sie durch die Arbeit im kriegsversehrten Europa nicht mehr an die Schuldgefühle erinnert werden, die ihr seit dem Tod ihres Vaters zu schaffen machten.
Mit knirschenden Schritten durchquerte Rick den verschneiten Vorgarten und näherte sich der Eingangstreppe.
Kate folgte Rick und stellte fest, dass die Rückseite des Hauses bei einer Bombenexplosion weggerissen worden war.
Aus dem Park drangen Kinderstimmen zu ihnen. Sie gehörten den Jungen und Mädchen, die Kate dort hatte Schlitten fahren sehen. Sie alle waren warm gekleidet gewesen. Einen Moment lang lauschte sie den lärmenden Kinderstimmen, die einen Hauch Normalität suggerierten.
Rick beugte sich zu dem Mädchen hinab und sagte etwas auf Deutsch.
Es schien sich seine Worte durch den Kopf gehen zu lassen. Dann richtete es seine blauen Augen auf Kate.
Rick sagte noch etwas. Es klang sanft und freundlich. Doch das Kind hatte nur Augen für Kate, die nun eine Hand ausstreckte. Das Mädchen starrte sie an, bis Kate sich nach ihm bückte, es hochhob und an sich drückte. Das Kind legte seinen Kopf an Kates Schulter. Kate strich ihm zärtlich über das Haar. Ein Gefühl der Zuneigung überkam sie – etwas, das ihr kaum noch vertraut gewesen war.
Sie würde diesem Kind helfen.
Rick sah sie bekümmert an. »Ich glaube, sie ist stumm.«
»Nimm du den Seesack«, forderte Kate ihn auf.
Rick schüttelte den Kopf. »Kate …«
»Bitte nimm ihn. Ich lasse das Kind nicht hier sitzen.«
Das Mädchen presste den Kopf an Kates Brust und schlang die eiskalten Beine um sie. Vorsichtig stieg Kate die Eingangstreppe hinunter.
Seufzend griff Rick nach dem Seesack und hängte ihn sich über die Schulter. Dann nahm er Kate das Mädchen ab und trug es unter seinem warmen Mantel geborgen.
Ohne dass sie es abgesprochen hatten, kehrten sie über Seitenstraßen zurück zu ihrem Hotel. Rick musste gespürt haben, dass Kate mit dem Kind nicht gesehen werden, keine unwillkommenen Fragen beantworten wollte. Im Hotel nahmen sie statt des uralten, vergitterten Fahrstuhls die Treppe.
*
Kate hatte das Mädchen in ihr Bett gebracht, es war sofort eingeschlafen. Nun lag es dort, eine schmale Gestalt unter zwei grauen Wolldecken, die es in diesem Hotel statt einer dicken Bettdecke gab. Versuche, die Heizung höher zu stellen, hatte Kate aufgegeben, sie wurde bestenfalls lauwarm.
Sie trat ans Fenster, spähte in die Dunkelheit und wartete auf Rick.
Endlich klopfte es drei Mal an der Tür und nach einer Pause noch drei Mal, so wie Rick und sie es abgemacht hatten. Kate öffnete ihm.
Rick trat ein und stellte die drei Becher mit heißer Suppe ab, die er in der Hotelküche besorgt hatte.
Die Deutschen ernährten sich von Kohl, Kartoffeln und Brot. Die meisten hatten nicht genug, um ein Kind satt zu machen, geschweige denn einen Erwachsenen. In den Hotels, in denen Amerikaner und Engländer logierten, war die Versorgung etwas besser. Außer Kohl und Kartoffeln gab es dort mitunter zähes, gepökeltes Fleisch.
Sanft weckte Rick das Mädchen und hielt ihm einen Becher an den Mund. Die Kleine stemmte sich hoch und nahm winzige, vorsichtige Schlucke. Als sie genug hatte, sah sie Rick mit ihren blauen Augen an, deren Farbe im grellen Licht der Glühbirne noch intensiver wirkte.
Kate hatte es nicht gewagt, das Kind zu waschen, es wäre ihr zudringlich erschienen. Das magere Gesicht war noch immer schmutzig, das lange blonde Haar verfilzt. An den verdreckten Füßen war Blut getrocknet.
Rick redete beruhigend auf das Mädchen ein.
»Was meinst du, wie alt sie ist?«, fragte Kate.
»Höchstens zehn.«
Kate stellte ihren Becher Suppe auf dem Nachttisch ab. »Hier, falls sie mehr möchte.« Wieder betrachtete sie das Mädchen, und der Anblick tat ihr in der Seele weh. »Ich muss sie irgendwohin bringen, wo sie in Sicherheit ist. Aber wie?«
Rick seufzte. »Hast du die zahllosen Anschläge in der Stadt gesehen? Die Fotos von Kindern, die allein aufgegriffen wurden und nun irgendwo untergebracht und versorgt werden müssen?«
Kate hob die Schultern. »Ich werde hierbleiben, bis ich weiß, dass sie gut aufgehoben ist. Erst danach fahre ich nach Nürnberg.«
»Nein.« Rick schüttelte den Kopf. In seinem Blick zeigte sich die Sorge, die jeder in Berlin im Gesicht trug. »Ich lasse dich nicht allein. Dazu ist Berlin zu gefährlich.«
»Es geht nicht um mich, sondern um dieses Kind. Ich möchte nicht, dass es in einem sowjetischen Waisenhaus landet. Oder dass es Verbrechern in die Hände fällt. Ich möchte auch nicht, dass es zurück zu dem zerbombten Haus läuft und erfriert, während es auf Menschen wartet, die wahrscheinlich nie mehr kommen werden.«
Unwillkürlich berührte Kate die Stelle an ihrer Schulter, an die das Mädchen seinen Kopf gelegt hatte. An ihrem Herzen hatte sie gespürt, wie sich die zarte Brust gehoben und gesenkt hatte.
Das Kind hatte sich wieder hingelegt und die Augen geschlossen. Es wollte nichts mehr essen, den letzten Rest Suppe hatte es abgewehrt.
Rick stand auf.
»Lass die Kleine, sie muss sich erholen«, sagte er. »Komm mit mir zu Harvey. Er hat uns auf ein Glas Wein eingeladen.«
Kate zögerte und betrachtete das schlafende Mädchen. »Komisch, normalerweise mache ich mir nicht viel aus Kindern, aber als dieses Mädchen mich heute angeschaut hat, war mir, als würde es mir von dem Elend aller Kinder in Europa erzählen.«
»Denk nicht mehr darüber nach.« Rick fasste Kates Arm. »Lass uns zu Harvey gehen.«
Kate war noch immer unschlüssig.
»Heute Nacht wirst du auf dem Fußboden schlafen müssen. Nach ein paar Gläsern Wein wird er dir nicht mehr so hart vorkommen.«
Kate ignorierte ihn. »Ich muss einfach herausfinden, ob das Kind irgendwo noch Familie hat.«
Rick öffnete die Tür. »Darüber denken wir morgen nach. Für heute hast du alles getan, was du konntest.«
Kapitel 2
Berlin, März 1946
In Harveys Zimmer gab es keine Sitzgelegenheiten, man musste mit dem Fußboden vorliebnehmen. Kate ließ sich zwischen Harvey und Leonard Andrews nieder. Len war über vierzig Jahre alt, ein hartgesottener Reporter der Washington Post, der, ganz gleich, was sie bisher erlebt und gesehen hatten, gelassen geblieben war. Nur hin und wieder war in seinen Augen angesichts dessen, was Menschen einander im Krieg antun konnten, Zorn aufgeblitzt.
Er reichte Kate einen angeschlagenen Becher, den er mit Rotwein gefüllt hatte. Kate registrierte die raue, rissige Haut seiner Hand, offenbar zog er in der Kälte draußen keine Handschuhe an. Anfangs hatte sie sich an seiner gleichmütigen Art ein Beispiel nehmen wollen, doch das war ihr nicht gelungen. Sie war professionell, aber wenn sie das Leid anderer Menschen sah, war es ihr unmöglich, unbeteiligt zu bleiben.
Ihr gegenüber saß Joe Ackerman, ein junger, rothaariger Reporter von CBS. Er lächelte Kate verlegen zu. In Krakau hatte er mit ihr flirten wollen, doch sie war von dem, was sie dort gesehen hatte, derart erschüttert gewesen, dass sie ihn kaum wahrgenommen hatte. Schließlich hatte er seine Versuche aufgegeben.
Rick setzte sich zu Walter Puglisi und streckte seine langen Beine aus. Walter schrieb für die Los Angeles Times und berichtete für NBC. Er lehnte mit geschlossenen Augen an der Wand.
Harvey – ebenso wie Rick ein Absolvent der Harvard University – hatte die Knie angezogen und die Hände gefaltet. Harvey war Perfektionist, in dem Punkt unterschied er sich von Rick, der lockerer war, ohne jedoch nachlässig zu sein. Nach ihrer Rückkehr würde Harvey in Amerika eine Führungsposition anstreben; er sprach von einem Posten in New York, bei einer der großen Rundfunkanstalten oder einer der namhaften Zeitungen. Sein Ehrgeiz kannte keine Grenzen.
Außer Kate waren alle Reporter fest angestellt. Sie war es jedoch gewohnt, freiberuflich zu arbeiten, hatte in den sieben Jahren, die sie als politische Korrespondentin gearbeitet hatte, nie einen festen Vertrag gehabt. Nun bekam sie von Western News Union pro Beitrag fünfundzwanzig Dollar, vorausgesetzt, dieser ließ sich an amerikanische Zeitungen verkaufen. Aber wie hatte sie kämpfen müssen, bevor die Agentur bereit gewesen war, sie nach Europa zu entsenden.
Den Großteil ihrer Honorare sparte Kate, indem sie die Beträge auf das Konto ihrer Mutter überwies, nur für den Fall, dass ihr in Europa etwas zustieß; ihre Unterkunft und Verpflegung in Europa bezahlte die amerikanische Regierung.
Sie hörte den Gesprächen der Männer nur mit halbem Ohr zu und wunderte sich über die Ordnung, die Harvey in seinem Zimmer hielt. Auf dem Tisch lagen die beiden Sonnenbrillen, die sie alle hatten mitnehmen sollen und nur selten gebraucht hatten. Neben seiner Schreibmaschine befand sich, bündig geklopft, ein Stapel Papier, darauf ein Schreibblock. Die Bleistifte standen gespitzt in einem roten Becher. Vielleicht bügelte Harvey auch seine Unterwäsche. Amüsiert nahm Kate einen Schluck Rotwein und ließ ihren Blick weiterwandern.
Eine Packung Seifenflocken stand auf der Fensterbank, dezent hinter den dünnen Mullgardinen verborgen. Harveys Rucksack lag unter dem Schreibtisch, seine Kleidung hing an einer Reihe Haken, darunter hatte er seine Stiefel ordentlich nebeneinander platziert.
»Du hast dir ein richtig kleines Heim geschaffen«, sagte Kate zu Harvey.
Trotz des dichter werdenden Zigarettenrauchs nahm sie sein Lächeln wahr. »Das tue ich immer, egal, wo ich bin. Nenn es eine besondere Gabe.« Er musterte Kate und furchte die Stirn. »Das Ende des Kriegs sollte dich eigentlich froh stimmen. Warum habe ich den Eindruck, dass du es nicht bist?«
»Das Leid ist noch nicht beendet«, erwiderte Kate und dachte, dass er aufmerksamer war, als sie ihm zugetraut hatte. »Selbst wenn man das in Amerika glauben mag.«
Harvey hob die Schultern. »Mir scheint, die Deutschen haben inzwischen zumindest mehr zu essen als während des Kriegs.«
Kate schnaubte. »Bist du blind? Sie hungern noch genau wie zuvor. Von anderem Leid gar nicht erst zu reden.«
Harvey sah sie fragend an.
»Hast du vergessen, was die Soldaten der Roten Armee den Frauen hier angetan haben?«, sagte Kate.
»Nein, aber …«
Kate ließ ihn nicht ausreden. »Und den Kindern. Die Leute haben Angst, darüber zu sprechen, vor allem im sowjetisch besetzten Sektor. Das ist kein Wunder. Trotzdem sind die Vergewaltigungen, die während des Vormarsches der Russen stattgefunden haben, eine Tatsache. Was glaubst du, wie viele Frauen sich auf Geschlechtskrankheiten haben testen lassen?«
Harvey zündete sich eine Zigarette an und schwieg.
»Seit letztem Juni sollen fast tausend Frauen abgetrieben haben«, sprach Kate weiter. »Ich weiß, dass die Deutschen unsere Feinde waren – und dass durch ihre Angriffe Millionen Russen ums Leben gekommen sind –, aber ist das eine Entschuldigung?«
»Mich interessiert nur die amerikanische Sichtweise«, sagte Harvey. »Macht mein Leben einfacher.«
Kate schüttelte den Kopf. »Nach allem, was ich in Europa gesehen habe, bin ich zur leidenschaftlichen Kriegsgegnerin geworden. Deshalb plädiere ich dafür, dass wir in aller Deutlichkeit über sämtliche Folgen des Kriegs berichten. Wir müssen die Schicksale der Menschen in den Vordergrund rücken. Das würde unsere Leser zu Hause berühren. Natürlich weiß ich, dass wir keine der Siegermächte verteufeln sollen, aber bedeutet das, dass wir die Wahrheit verschweigen müssen?«
Harvey schenkte ihr Wein nach. »Die Leute bei uns zu Hause wollen, dass wieder Normalität einkehrt.« Er zuckte die Achseln. »Ich komme aus Cleveland. Meine Familie will an den Wochenenden angeln gehen. Oder sich irgendwo amüsieren. Keiner von ihnen möchte Horrorgeschichten lesen.«
Die anderen Männer unterhielten sich weiter und schenkten Kate und Harvey keine Beachtung.
»Wir Amerikaner haben die Pflicht, den Menschen in Europa zu helfen. Ihnen die Vorteile unserer demokratischen Gesellschaftsordnung zu vermitteln.«
Harvey lachte. »Glaubst du, jemand, der Hunger hat, interessiert sich für Demokratie?«
Kate überlegte. »Vielleicht nicht. Der Punkt ist, dass die Kapitulation der Deutschen in Europa nicht für Frieden gesorgt hat. Darüber müssen wir schreiben, statt wegzusehen. Wir müssen alles tun, um einen nächsten, vielleicht noch schlimmeren Krieg zu verhindern. Vor allem aber müssen wir den hungernden und leidenden Menschen helfen. Den Waisenkindern. Den Frauen.«
Harvey drückte seine Zigarette im Aschenbecher aus.
In einem Moment der Stille hörte Kate, dass es draußen zu regnen begonnen hatte. Gut, dass die Kleine in meinem Bett liegt und in Sicherheit ist, dachte sie.
»Ich wüsste nicht, wie wir das machen sollten«, sagte Harvey.
»Mithilfe der Vereinten Nationen«, erwiderte Kate. »Alle Mitgliedsländer müssen zusammenarbeiten, um Lösungen zu finden, die die Not lindern und zur Demokratie führen. Eine friedliche Mission, mit dem Ziel, einen nächsten Krieg mit den katastrophalen Ausmaßen, die der letzte hatte, zu verhindern.«
Nun waren die Gespräche ringsum verstummt. Len griff nach Kates Hand und drückte sie in stillem Einvernehmen.
Kate befreite ihre Hand und stand auf. Es drängte sie, nach dem kleinen Mädchen zu sehen.
»Bis morgen früh«, verabschiedete sie sich. »Schlaft gut.«
Auf dem Weg aus dem Zimmer spürte sie Ricks Blick im Rücken.
*
Das Mädchen hatte sich nicht geregt. Nur die sich hebende und senkende Brust verriet Kate, dass es noch lebte.
Sie setzte sich an den Schreibtisch und versuchte, die Gedanken zu ordnen, die das Gespräch mit Harvey in ihr ausgelöst hatte. Harvey schien sich in einer bequemen Welt eingerichtet zu haben, die jedoch nicht die ihre war. Auch nicht die von Rick, er war empfindsamer. Und komplizierter. Darüber hinaus hatte er etwas an sich, das Kate nicht richtig definieren konnte. Sie wusste nur, dass sie davon angezogen wurde, auch wenn sie sich dagegen wehrte. Sie legte keinen Wert auf eine Liebesbeziehung. Die Menschen, die sie liebte, brachte sie, wie ihren Vater, in Gefahr.
Um das Kind nicht mit Schreibmaschinengeklapper zu stören, griff sie nach Block und Stift und begann, ihre Story zu skizzieren. Sie dachte an ihre Landsleute und war sicher, wenn sie wüssten, was in Europa vor sich ging, würden sie mit den Menschen fühlen. Aber wie sollte sie es schaffen, die Informationen an ihren Vorgesetzten vorbei zu lancieren? An den Redakteuren, die nur hoffnungsvolle Geschichten hören wollten und alles Verstörende ablehnten. Sie warf einen Blick auf die Notizen, die sie sich in den vergangenen Tagen gemacht hatte. Die enthielten die Wahrheit.
Der Hass der Alliierten auf die Deutschen durfte sich nicht auf die Kinder übertragen, die während der NS‑Zeit zur Welt gekommen und nun verwaist waren. Sie traf keine Schuld. Und ganz sicher sollten sie den sowjetischen Besatzern nicht ausgeliefert werden, die sie weiß der Himmel wo unterbringen würden. Diese Kinder hatten die Brutalitäten des Kriegs erlebt, nun brauchten sie Schutz.
Kate überflog die Sätze, die sie in letzter Zeit geschrieben hatte. Immer wieder hatte sie die Schicksale der Waisenkinder geschildert, ausgehungerte, verlorene Geschöpfe, die durch die zerstörten Straßen irrten oder sich in Wäldern versteckt hielten. Was sollte aus ihnen werden, wenn sie keine Familienangehörigen fanden?
Kate schrieb über den Hunger, an dem die Kinder seit Langem litten. Vielleicht hatten sie sogar erlebt, wie ihre Eltern umgekommen waren. Nun stöberten sie in den kargen Abfällen der Stadt, um sich zu ernähren.
Im Geist hörte Kate die Stimme des Redakteurs, dem sie ihre Beiträge schickte. Deutsche Waisenkinder seien nicht von Interesse, hatte er erklärt.
Als jemand leise an der Tür klopfte, nahm sie an, dass es Rick war. Aus Gründen, die sie selbst nicht recht verstand, raffte sie die beschriebenen Seiten zusammen und verbarg sie in ihrer Aktentasche. Dann öffnete sie die Tür.
Draußen stand tatsächlich Rick, der sich frierend die Arme rieb.
Kate warf einen raschen Blick über den Flur. Das hatte sie sich in Europa angewöhnt, als müsse sie sich stets vergewissern, dass es nirgends ungebetene Lauscher oder Beobachter gab. Dann ließ sie Rick ins Zimmer. »Die Kleine schläft«, flüsterte sie.
Einen Moment lang standen sie sich gegenüber. Kate nahm Ricks Geruch wahr, eine Mischung aus Zigarettenrauch, Wein und Seife. Dann wurde sie sich seiner Nähe bewusst und trat errötend zurück.
»Ich wollte dir mein Zimmer anbieten«, sagte Rick leise. »Du brauchst ein Bett, um gut schlafen zu können.«
Kate schüttelte den Kopf. »Ich bleibe bei der Kleinen.«
Hinter ihr stieß das schlafende Kind einen Seufzer aus.
»Bist du sicher?«
Kate nickte.
»Noch was, Kate. Die Situation ist nicht so hoffnungslos, wie du sie dargestellt hast.«
Demnach hatte er ihrem Gespräch mit Harvey gelauscht.
»Welche Situation? Die Rettung der verlorenen Kinder oder dass ich es nicht schaffe, ihre Geschichte bei uns bekannt zu machen?«
»Beides.«
Mit einem Mal spürte Kate ihre Müdigkeit und ließ sich auf dem Fußboden nieder.
Rick setzte sich zu ihr. »Auch ich möchte, dass man bei uns zu Hause die Wahrheit erfährt. Wenn den Amerikanern das Elend in Europa bewusst wäre, würden sie helfen.«
Kate lehnte sich gegen die Wand. »Soweit ich weiß, ziehen die Zeitungen zurzeit positive Nachrichten vor. Bei Western News Union sagt man mir, die Leute hätten in den vergangenen Jahren genug Negatives gehört. Nun sei der Krieg zu Ende.« Hilflos zuckte sie mit den Schultern. »Aber was ist mit den Folgen des Kriegs, die wir jeden Tag sehen?«
»Ich empfinde wie du, Katia. Die Menschen bei uns zu Hause müssen anfangen, über ihren Tellerrand zu schauen.«
Katia, dachte Kate. Wie war Rick auf diesen Namen gekommen? So hatte ihr Vater sie genannt, als sie ein kleines Mädchen gewesen war. Es war der Name, den ihre italienischstämmigen Eltern ihr gegeben hatten. Erst als sie in die Schule kam, war sie zu Kate geworden, so hatten die anderen Kinder sie gerufen. Und sie hatte ihre Eltern gebeten, sie ebenfalls so zu nennen. Es hatte ihren Vater traurig gemacht.
Vorsichtig zog sie den Strickschal vom Bett, den sie sich nachts gegen die Kälte um den Hals wickelte, und legte ihn sich um die Schultern. In der ersten Zeit in Europa hatte er noch nach dem Waschpulver gerochen, das ihre Mutter verwendete.
Rick gähnte. Auch er war müde, die Falten um seine Augenwinkel hatten sich vertieft, und sein Gesicht war blass. Kate vermutete, dass sie selbst nicht besser aussah.
»Ich weiß nicht genau, welche meiner Artikel veröffentlicht wurden«, sagte sie. »An den Honoraren kann ich es nicht ablesen, die lasse ich mehrheitlich auf das Konto meiner Mutter überweisen.« Sie stützte die Ellbogen auf die Knie und den Kopf in die Hände. »Ich werde einfach immer weiter über das schreiben, was mir am Herzen liegt. Auch wenn die Beiträge nirgendwo erscheinen.«
»Warum wundert mich das nicht«, sagte Rick, und auf seinen Lippen deutete sich ein Lächeln an.
Danach schwiegen sie, bis er sie irgendwann fragte, ob sie Heimweh habe.
Kate zog den Schal enger um sich. »Manchmal. Aber meine Mutter schreibt mir hin und wieder.«
Nur ihre Schwester schrieb ihr nicht. Seit dem Tod ihres Vaters hatten sie kaum mehr miteinander gesprochen. Kate dachte daran, wie nah sie sich in ihrer Kindheit gestanden hatten. Sie hatten sich ein Zimmer geteilt, sich die intimsten Geheimnisse anvertraut. Und wenn es ein Gewitter gab, vor dem sie sich beide fürchteten, war eine zu der anderen ins Bett gekrochen. Kate hatte der Jüngeren Geschichten vorgelesen, manchmal sogar heimlich nach Schlafenszeit beim Licht einer Taschenlampe unter der Bettdecke. Im Sommer hatten sie im Washington Square Park gespielt und zusammen mit ihrem Vater Museen besucht. Doch all das war längst vorbei. Und wo einst Liebe gewesen war, herrschte nun eisiges Schweigen.
Rick fragte, ob er rauchen dürfe. Kate nickte geistesabwesend.
Er steckte sich eine Zigarette an. Kate stemmte sich hoch und holte den Aschenbecher von der Fensterbank. Als Rick ihr ebenfalls eine Zigarette anbot, machte sie eine abwehrende Handbewegung.
»Das, was wir hier erleben«, sagte er, »das werde ich nie vergessen. Selbst die Gerüche werden mir in Erinnerung bleiben.«
Kate blickte zu dem Mädchen, das sich im Schlaf auf die Seite gedreht hatte.
»Ich bin sicher, du hast Harvey zu denken gegeben«, fuhr Rick fort. »War auch höchste Zeit.«
Kate lächelte. »Das war mein Vater.«
»Was?«
»Mein Vater war Lehrer. Allerdings erst nachdem er mit meiner Mutter von Italien nach Amerika ausgewandert war. Das war noch vor dem Großen Krieg. Er hat mir beigebracht, mich nie mit halben Wahrheiten zufriedenzugeben.«
»Aha.« Rick stieß eine lange Rauchwolke aus.
»In Italien war er Maurer. In Amerika hat er sich weitergebildet, die Abendschule besucht und dann die Universität. Geld hat er am Wochenende verdient. Da hat er auf Werften gearbeitet.«
»Das nenne ich eine Leistung.« Rick drückte seine Zigarette aus.
»Das war es auch. Ihm verdanke ich mein Interesse an Politik.« Kate seufzte. »Außerdem war er mein bester Freund. Als er starb, war ich …«
Rick drängte sie nicht weiterzusprechen, das war nicht seine Art. Er registrierte alles, das war Kate von Anfang an aufgefallen, doch er respektierte die Privatsphäre anderer Menschen, was für einen Journalisten ungewöhnlich war.
»Mein Vater ist vor einigen Jahren ums Leben gekommen.«
»Das tut mir leid.«
Kate umschlang ihre Knie. »Er lief los, um mir eine Zeitung zu kaufen, die ich für einen Beitrag brauchte. Ich hatte ihn darum gebeten. Auf dem Weg wurde er überfahren.«
Und Bianca hatte ihr die Schuld gegeben. Hatte ihr in ihrer Trauer und Wut die schrecklichsten Dinge an den Kopf geworfen.
Um das Thema zu wechseln, wandte Kate sich zu Rick um. »Wie bist du eigentlich zum Journalismus gekommen?«
»Dank meiner Mutter. Politik und Geschichte zählen zu ihren Leidenschaften.« Er lachte leise. »Was glaubst du, wie viele Sachbücher ich als Junge lesen musste.« Für einen Moment schien er sich in seinen Erinnerungen zu verlieren. Dann sagte er: »Trotzdem bin ich mir nicht sicher, wer von uns beiden gewinnen würde, wenn wir in einer Diskussion unterschiedliche Standpunkte vertreten würden. Du oder ich.«
»Ich«, sagte Kate. »Dafür würde ich sorgen.«
Wieder lachte er. »Das würden wir dann sehen.«
»Allerdings.« Kate deutete auf den Seesack des Kindes am Fuß des Bettes. »Vielleicht sollten wir in dem Beutel nach einem Hinweis auf sie suchen.« Das hatte sie bisher vermieden, es war ihr nicht richtig erschienen, unaufgefordert in fremden Sachen zu wühlen. Aber vielleicht hatte das Kind irgendeine Art Ausweis bei sich.
Als hätte er ihre Gedanken gelesen, sagte Rick: »Sie ist noch zu jung, um eine Kennkarte zu besitzen.«
Kate zog den Seesack zu sich heran und öffnete ihn. Das Einzige, was er enthielt, waren ein dünner, löchriger Pullover, eine Papiertüte, in der noch ein paar vertrocknete Brotkrümel waren, und ein Bleistiftstummel.
Kate sah zu dem schlafenden Kind hinüber, das sich unter den dünnen Wolldecken zusammengerollt hatte. Was hatte dieses Mädchen hinter sich? Hatte es einst in dem Haus gewohnt, auf dessen Eingangstreppe es gesessen hatte? Und wenn ja, woher war es gekommen? Und was hatte es erhofft zu finden?
Kate hörte den Regen, der in ein gleichmäßiges Rauschen übergegangen war. Sie wandte sich zu Rick um, der die Augen geschlossen hielt. Wenn sie wieder in Amerika wären und jeder seiner Wege ginge, würde sie ihn vermissen.
Er legte einen Arm um sie, und sie lehnte sich an ihn. »Schlafen«, murmelte er.
Kate schloss die Augen. Es dauerte eine Weile, doch dann spürte sie, wie der Schlaf sie langsam übermannte.
Kapitel 3
Berlin, März 1946
Als graues Tageslicht durch die dünnen Vorhänge sickerte, öffnete Kate die Augen und spürte als Erstes, wie sehr ihr Körper nach der Nacht auf dem harten Fußboden schmerzte. In der Nacht war sie kurz aufgewacht, hatte Ricks gleichmäßigem Atem gelauscht, sich wieder an ihn gelehnt und weitergeschlafen. Nun war er nicht mehr da, offenbar hatte er das Zimmer lautlos verlassen.
Kate reckte und streckte sich. Dann rappelte sie sich hoch.
Das Kind schlief noch immer, es musste vollkommen erschöpft gewesen sein. Gerührt betrachtete Kate die Wangen der Kleinen, die sich im Schlaf rosig gefärbt hatten. Sie hatte ihr und Rick vertraut. Trotz des harten, entbehrungsreichen Lebens, das sie zweifellos hinter sich hatte, war sie weder verroht noch menschenscheu geworden.
»Wir sind Amerikaner«, hatte Rick ihr erklärt. Vielleicht hatte sie die Erfahrung gemacht, dass die Amerikaner zu den Guten gehörten.
Dann sah Kate den Zettel auf dem Schreibtisch und nahm ihn auf.
Liebe Katia,
mir ist etwas eingefallen, das ich vielleicht für unsere kleine Freundin tun kann. Möglicherweise bin ich erst am Nachmittag zurück. Bleib mit dem Kind im Hotel. Bis später.
Rick
PS: Ich bin froh, dass Du in der Nacht schlafen konntest.
Die Sonne durchdrang die graue Wolkendecke, doch sie war nicht mehr als ein blasser Fleck, der niemanden wärmen konnte. Da das Mädchen noch immer schlief, hatte Kate die Zeit genutzt, um weiter an ihrer Story zu schreiben.
Zwischendurch hatte sie gefrühstückt. Aus dem Frühstücksraum hatte sie eine mit Leberwurst bestrichene Scheibe Graubrot, ein Glas Milch und einen Apfel mitgebracht und auf den Nachttisch gestellt – Schätze, die für Berliner Straßenkinder für gewöhnlich unerreichbar waren.
Kate dachte an die Menschen, die sie seit ihrer Ankunft in Europa gesehen hatte. Überall hatten sie um Essen angestanden und nie mehr als eine dünne Suppe bekommen, der man mit Hafergrütze ein wenig Substanz verliehen hatte. Nur auf dem Land hatten die Leute noch etwas zu essen gehabt, eingemachtes Obst und Gemüse der letzten Ernte.
In den Städten hatte der Schwarzmarkthandel um sich gegriffen, auch wenn die Alliierten sich bemühten, ihn zu unterbinden, die Bauernhöfe kontrollierten und Menschen mit Gepäck anhielten, um ihre Sachen zu durchsuchen.
Kaum jemand wehrte sich. Entweder fehlte den Leuten die Kraft oder sie wussten, dass sie den Kürzeren ziehen würden.
Wieder betrachtete Kate das Kind. Wenn es aufwachte, würde sie mit ihm ins Bad gehen, aber im Moment sah es aus, als würde es noch eine Weile schlafen.
Kate beschloss, sich selbst rasch zu waschen, nahm Handtuch und Seife und schlich sich aus dem Zimmer.
Das Badezimmer für Frauen lag auf dem Flur und war unbesetzt. Sie schloss die Tür ab, kleidete sich aus und wusch sich in der Badewanne. Das Wasser war nicht mehr als ein dünner, kalter Strahl.
Als sie in ihr Zimmer zurückkehrte, saß das Mädchen im Bett, in der Hand den Becher kalte Suppe, die vom Abend übrig geblieben war.
Kate lächelte aufmunternd und bedeutete dem Kind zu essen, auch die Scheibe Brot mit Leberwurst. Das Mädchen schlang alles gierig hinunter und leerte das Glas Milch in langen durstigen Zügen. Anschließend seufzte es zufrieden.
Kate wartete noch einen Moment, bevor sie dem Kind Handtuch und Seife zeigte und waschende Bewegungen machte.
Das Mädchen nickte und kletterte aus dem Bett.
An der Badezimmertür gab das Kind Kate jedoch zu verstehen, dass es sich allein waschen wollte. Handtuch und Seife in der Hand huschte es ins Bad und schloss die Tür.
Kate wartete draußen, was hätte sie auch anderes tun können? Allerdings fragte sie sich, was sie sagen sollte, falls jemand wissen wollte, warum sie im Flur an der Wand lehnte.
Doch es kam niemand, nur das laufende Wasser im Bad war zu hören.
Kate nahm an, dass das Mädchen sich seit Wochen oder Monaten nicht mehr hatte waschen können. Vielleicht hatte es sich hin und wieder mit Schnee sauber gerieben. Welches Leben hatte es geführt, bevor es auf den Eingangsstufen der Villa gelandet war? Wie und wo hatte es vor dem Krieg gelebt? Falls die Villa tatsächlich einmal sein Zuhause gewesen war, dürfte es einer wohlhabenden Familie entstammen. Was war aus dieser Familie geworden?
Das Geräusch des Wassers im Bad verstummte. Wenig später öffnete sich die Tür und heraus trat ein Kind mit sauberem Gesicht und nassem Haar, das Kate ein scheues Lächeln schenkte.
»Wie hübsch du aussiehst«, sagte Kate. Am liebsten hätte sie das Mädchen liebevoll an sich gedrückt. Stattdessen strich sie ihm vorsichtig über das nasse Haar.
*
Da es im Hotel keinen Zimmerservice gab, hatte Kate die schmutzige Bettwäsche in den Waschraum des Hotelkellers gebracht, frische geholt und das Bett neu bezogen.
Dem Mädchen hatte sie einen ihrer dicken Pullover übergestreift und es in die beiden Wolldecken gehüllt.
Danach hatte sie sich große Mühe gegeben, sich und das Kind zu beschäftigen. Eine Zeit lang hatten sie »Drei gewinnt« gespielt. Nachdem das Mädchen die Regeln erfasst hatte, hatte Kate kein einziges Mal mehr gewonnen. Dann hatten sie Bilder gemalt. Dabei hatte sich jede einen Gegenstand im Zimmer zum Abmalen ausgesucht, und Kate hatte gestaunt, wie sorgsam und detailgetreu das Mädchen die Abbilder schuf.
Zwischendurch hatte Kate ihm die Haare gekämmt und ihnen aus der Hotelküche noch einmal Leberwurstbrote und Milch besorgt. Anschließend hatte sie von Amerika erzählt. Die Kleine, die sicherlich kein einziges Wort verstand, hatte ihr trotzdem andächtig gelauscht, bis sie wieder ins Bett gekrochen und eingeschlafen war.
Eine Weile hatte Kate das schlafende Kind betrachtet. Nun, da es sauber war, sah man, wie außerordentlich hübsch es war. Beim Gedanken an die zahllosen Kinder, die im kalten, strömenden Regen elternlos durch Berlin streiften, schnürte sich Kates Brust zu.
Rick kehrte kurz nach Mittag zurück. In seiner Begleitung war eine Deutsche, die einen Pelzmantel trug. Die Mütze auf ihrem schulterlangen kastanienroten Haar war aus Lammfell. Sie war eine attraktive Frau, und Kate verspürte einen Stich der Eifersucht.
Rick machte sie mit der Frau bekannt. Ihr Name war Claudia Schröder, und Rick bezeichnete sie als seine Freundin. Sie hatte eine Tasche mit Kleidungsstücken für das Mädchen dabei.
Kapitel 4
Berlin, März 1946
Rick hatte für die Fahrt nach Celle den Jeep der Journalistengruppe organisiert. Er saß am Steuer, Claudia hatte sich auf dem Beifahrersitz niedergelassen. Kate und das Mädchen saßen auf der Rückbank. Als sie die Stadt verlassen hatten und einer Landstraße Richtung Hannover folgten, lehnte es sich an Kate und schlief wieder ein.
Kate richtete ihren Blick auf die vorbeiziehende Landschaft – kahle Bäume, die sich schwarz vor dem Grau des Tages abhoben, nasse Wiesen und Felder, hier und da schleppten sich Menschen am Straßenrand entlang.