Die Frauen von New York – Kleider der Liebe - Ella Carey - E-Book
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Die Frauen von New York – Kleider der Liebe E-Book

Ella Carey

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Beschreibung

Der Triumph der Frauen  

Paris, 1918: Vianne Mercier wünscht sich nichts sehnlicher, als Modedesignerin zu werden. Als ihre Familie von Verlust und Verrat heimgesucht wird, nimmt sie all ihren Mut zusammen und wagt den Neuanfang in New York. Sie findet Arbeit in einem Modeatelier, wo ihr Talent für das Entwerfen spektakulärer Kleider schnell Aufmerksamkeit erregt. Doch dann verliebt sie sich in den charmanten Restaurantbesitzer Giorgio und muss sich zwischen Karriere und privatem Glück entscheiden ... 

Eine junge Designerin erobert New York – und auch ihre große Liebe?

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Seitenzahl: 427

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Über das Buch

1918: Die Pariserin Vianne Mercier träumt von einer Karriere als Modedesignerin, doch in Kriegszeiten scheint dieses Ziel unmöglich. Als endlich der Frieden in greifbare Nähe rückt, stirbt ein Teil ihrer Familie bei einem Bombenangriff. Untröstlich vor Trauer und von ihrem Bruder verstoßen, tritt Vianne die Überfahrt nach New York an, um dort ein neues Leben zu beginnen. Sie findet Zuflucht in einem Modeatelier, wo sie Kleider für die reichen Frauen der Upper East Side entwirft und nachts mit ihren Kolleginnen den Charleston tanzt. Als sie Giorgio Conti, dem Besitzer des legendären Restaurants Valentino’s, begegnet, sträubt sie sich gegen die starken Gefühle, die er in ihr auslöst. Sie will sich ganz auf ihre Arbeit konzentrieren, kann jedoch Giorgios Charme nicht lange widerstehen. Aber dann holt ihre Vergangenheit sie ein, und Vianne muss fürchten, ihr harterkämpftes Glück zu verlieren …

Über Ella Carey

Ella Carey wurde in Adelaide, Australien, geboren und studierte Kunst, Geschichte und Literatur. Heute lebt und schreibt sie in Melbourne mit ihrer Familie und zwei Hunden. Schon immer haben sie die mutigen Frauenfiguren der Geschichte fasziniert, weswegen sie es liebt, ihre Romane nach wahren Begebenheiten zu erzählen. Ihre Bücher sind internationale Bestseller und erscheinen in zahlreichen Sprachen.

Im Aufbau Taschenbuch liegen bereits die ersten beiden Bände ihrer Serie über „Die Frauen von New York“ vor: „Glanz der Freiheit“ und „Worte der Hoffnung“.

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Ella Carey

Die Frauen von New York – Kleider der Liebe

Roman

Aus dem Englischen von Gabriele Weber-Jarić

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Informationen zum Buch

Newsletter

Widmung

Motto

Kapitel 1: Vianne — Paris, März 1918

Kapitel 2: Vianne — Paris, März 1918

Kapitel 3: Vianne — Paris, November 1918

Kapitel 4: Vianne — Le Havre, Herbst 1924

Kapitel 5: Vianne — New York, Herbst 1924

Kapitel 6: Eloise — New York, Herbst 1924

Kapitel 7: Vianne — New York, Herbst 1924

Kapitel 8: Vianne — New York, Herbst 1924

Kapitel 9: Amelie — Schottland, Herbst 1924

Kapitel 10: Vianne — New York, Winter 1924

Kapitel 11: Vianne — New York, Winter 1924

Kapitel 12: Eloise — New York, Winter 1924

Kapitel 13: Vianne — New York, Winter 1924

Kapitel 14: Amelie — Schottland, April 1925

Kapitel 15: Vianne — New York, Frühling 1925

Kapitel 16: Eloise — New York, Frühling 1925

Kapitel 17: Amelie — Schottland, Frühling 1925

Kapitel 18: Vianne — New York, Frühling 1925

Kapitel 19: Eloise — New York, Frühling 1925

Kapitel 20: Amelie — Schottland, Frühling 1925

Kapitel 21: Vianne — New York, Frühling 1925

Kapitel 22: Anaïs — Brüssel, Frühling 1915

Kapitel 23: Vianne — Paris, Sommer 1925

Kapitel 24: Anaïs — Brüssel, Frühling 1915

Kapitel 25: Vianne — Paris, Sommer 1925

Kapitel 26: Vianne — Paris, Herbst 1925

Kapitel 27: Vianne — New York, Herbst 1925

Liebe Leser:innen,

Anmerkungen der Autorin

Dank

Impressum

Wer von diesem Roman begeistert ist, liest auch ...

Zur Erinnerung an Esta

»Das Schöne ist eine immerwährende Freude.«

John Keats

»Ein Künstler ist jemand, der gelernt hat, sich selbst zu vertrauen.«

Ludwig van Beethoven

Kapitel 1

Vianne

Paris, März 1918

Um schwere Zeiten durchzustehen, muss man etwas Schönes erschaffen. Immer wieder rief Vianne sich jene Lebensweisheit, die ihre Mutter zu Beginn dieses katastrophalen Krieges gemurmelt hatte, ins Gedächtnis.

Sie saß mit anderen Frauen an einem Tisch im La Violette, einem Pariser Restaurant, das in der Belle Époque sehr berühmt gewesen war. Nun war es geschlossen. Auch die elegante Bar mit der Zinndecke war verwaist. Vor dem Krieg hatten dort um diese Jahreszeit Männer in hellen Leinenanzügen und Frauen in Spitzenkleidern gesessen, getrunken und geplaudert, doch das war seit Jahren vorbei. Nun hörte man das Geklapper von Stricknadeln, denn die Frauen am Tisch strickten Socken und Pullover für die Soldaten in den kalten, verschlammten französischen Schützengräben.

Nach einer Weile begannen sie, über das Kriegsgeschehen zu reden. Vianne schwieg und konzentrierte sich auf die feine Nadel, mit der sie an dem aufwendig gearbeiteten Sommerkleid ihrer Mutter Biesen nähte. Es war ein duftiges weißes Kleid aus zarter Spitze, mit winzigen gehäkelten Blumen verziert, einem Zipfelsaum und einem Unterkleid aus weißem Batist, kürzer als der Überwurf aus Spitze. Nur mit halbem Ohr hörte sie Madame Roger auf irgendeine Bemerkung hin missbilligend mit der Zunge schnalzen.

Auch Vianne hatte seit Kriegsbeginn warme Sachen für die französischen Soldaten gestrickt, zuerst in der Schule, später im La Violette. Doch an diesem Tag hatte sie sich, nachdem sie unzählige Pullover zusammengenäht hatte, dem Spitzenkleid gewidmet. Liebevoll berührte sie die Perlmuttknöpfe und fein gehäkelten Ösen, mit denen das kostbare Kleid im Rücken geschlossen wurde. Die Pullover standen für die raue Wirklichkeit, das Kleid für ihre Träume.

Jemand öffnete die Glastür des Restaurants, deren Scheiben mit Klebestreifen versehen waren, um sie vor dem Zerbersten durch Bombenexplosionen zu schützen. Die Gespräche über die Angriffe auf die Stadt verstummten. Bis vor Kurzem hatten sie nahezu ununterbrochen stattgefunden, es war, als hätte es in Paris Artilleriegranaten und Fliegerbomben geregnet. Die Einwohner waren mit eingezogenen Köpfen durch die Straßen gehuscht – als hätten sie sich so schützen können.

Am Morgen hatte Viannes Vater ihr und ihrer Mutter beim Frühstück erzählt, dass es ein Gerücht gebe, irgendwo im Norden von Paris stünden getarnte Ferngeschütze der Deutschen, sogenannte »Paris-Geschütze«, aus denen die Stadt beschossen wurde. Bisher sei jedoch vergeblich nach ihnen gefahndet worden. Unklar sei nur, warum der Granatenbeschuss der Stadt am Vortag offenbar eingestellt worden sei.

Auch Vianne war die seltsame Stille aufgefallen. Nach dem fortwährenden Geschützdonner hatte sie etwas Unheimliches an sich.

Nun blickte sie zu der geöffneten Tür des Restaurants. Draußen hatte es zu regnen begonnen, und sie spürte den nasskalten Wind, der von den Champs-Élysées hereinwehte. Ein Lieferwagen fuhr draußen vorbei, dann eine Straßenbahn. Sie wurden von Frauen gefahren, so wie es seit Kriegsbeginn üblich geworden war.

Viannes Mutter betrat das Restaurant und schloss die Tür hinter sich. Vianne steckte ihre Nadel ins Nadelkissen. Auch die Frauen am Tisch hörten auf zu arbeiten und blickten Viannes Mutter entgegen.

Diese streifte ihre Handschuhe ab und zog sich ihren modischen Hut mit der breiten Krempe und der Schleife hinten an der Krone vom Kopf. Dann beugte sie sich zu Vianne hinab und sagte leise: »Ich habe wundervolle Neuigkeiten.«

Wundervoll? In diesen Zeiten? Die Zuversicht ihrer Mutter, ihr optimistischer Glaube, eines Tages werde alles wieder gut, war angesichts der Opfer, die der Krieg tagtäglich forderte, erstaunlich. Dennoch hatte ihre Einstellung etwas Tröstliches.

Vianne dachte an die Ehemänner, Söhne und Brüder, die gefallen waren, die zahllosen Frauen in der Stadt, die Trauerkleidung trugen, die Menschen, die sich auf den Bahnhöfen zu den Zügen drängten, um aus Paris zu fliehen. Dann schaute sie in die hellbraunen Augen ihrer Mutter, die sich lächelnd aufrichtete.

Viannes Eltern waren nicht gewillt, Paris den Rücken zu kehren. Sie waren der festen Überzeugung, dass ihnen nichts zustoßen würde, nichts zustoßen konnte. Sie liebten einander und besaßen eine schöne Wohnung in der Rue de Sévigné, wo sie sich sicher fühlten, auch wenn in der Stadt Granaten und Bomben einschlugen, Häuser einstürzten und die Druckwellen der Detonationen, sogar wenn man selbst von den Angriffen verschont geblieben war, überall spürbar waren.

»Und wie lautet die wundervolle Nachricht?«, fragte Vianne, die sich nicht erinnern konnte, wann sie zuletzt etwas wirklich Erfreuliches gehört hatte.

»Anaïs und Jacques kommen am Karfreitag nach Hause. Und am Ostersonntag feiern sie mit uns ihren Geburtstag. In ein paar Tagen werde ich wieder alle meine Kinder bei mir haben.«

Vianne legte das Spitzenkleid auf den Tisch und schob den Stuhl zurück, um sich von ihrer Mutter umarmen zu lassen. Mit geschlossenen Augen atmete sie deren Lieblingsparfum ein, Chypre de Coty, mit der Duftnotenkomposition aus Bergamotte, Iriswurzel und Jasmin. Der Geruch war so weit von den Realitäten der vergangenen vier Jahre entfernt, dass er zu einer vollkommen anderen Welt zu gehören schien. Aber so war Maman, eine Frau mit Stil, ganz gleich, was rings um sie geschah.

»Ich bin so aufgeregt, dass ich dauernd nach Luft ringen muss«, flüsterte sie Vianne ins Ohr. Dann trat sie einen Schritt zurück. »Wir werden ein richtiges Geburtstagsfest feiern.«

Vianne sah ihre Mutter liebevoll an und verscheuchte die Furcht, die sie bei dem Gedanken an die Zwillinge unweigerlich befiel. Seit vier Jahren sorgte sie sich um das Leben ihrer Geschwister, die sich in den Kampfgebieten aufhielten. Manchmal hatte Vianne die Sorge kaum ertragen. Immerzu hatten sie und ihre Eltern auf eine Nachricht von Jacques oder Anaïs gewartet, und wie selten war eine eingetroffen.

»Kommen die beiden zur gleichen Zeit an?«, fragte sie.

Ihre Mutter drückte eine Hand auf ihre Brust. »Ja. Wir werden wieder vereint sein, chérie. Wenn du wüsstest, was das für mich bedeutet. Wir werden ihren Besuch und ihren Geburtstag feiern.« Sie schaute zu den Frauen am Tisch, lächelte Marguerite zu, ihrer ältesten Freundin, die ihr einen Luftkuss schickte.

Madame Roger legte ihren halb fertigen Pullover ab, verschränkte die Arme vor der Brust und presste die Lippen zusammen. Dann murmelte sie etwas von unangemessenem Frohsinn und dass es anscheinend Menschen gebe, die den Ernst der Lage noch immer nicht begriffen hätten.

Marguerite verdrehte die Augen himmelwärts.

»Bist du für heute fertig, Vianne?«, fragte ihre Mutter, die Madame Rogers Bemerkung nicht mitbekommen hatte.

Vianne nickte und faltete das Spitzenkleid behutsam zusammen. Sie schlug es in Kattun ein und verstaute es vorsichtig in der großen, weichen Baumwolltasche, in der sie es am Morgen hierhertransportiert hatte.

Dann erklärte sie Madame Roger, dass sie ihre Aufgaben für den Tag erledigt habe, und stand auf. Um Madame Roger zu beschämen, fragte sie ihre Mutter laut, wie viel Geld sie an diesem Tag für die französischen Kriegswaisen gesammelt habe.

»Vier Sammelbüchsen waren voll«, antwortete ihre Mutter, die Madame Roger offenbar noch immer nicht richtig wahrgenommen hatte. »Noch beim Einschlafen werde ich das Geklapper der Münzen in den Ohren haben und wahrscheinlich sogar im Schlaf murmeln: ›Eine kleine Spende für unsere Kriegswaisen, bitte.‹«

»Ich glaube, wir haben eine Feier verdient.« Vianne schulterte die Tasche und spürte, wie das schwere Skizzenbuch darin gegen ihre Hüfte schlug. »Meine Schwester Anaïs arbeitet als Krankenschwester in den von den Deutschen besetzten Gebieten«, erzählte sie den Frauen und blickte Madame Roger trotzig an. »Und mein Bruder kommt direkt von der Front. Die beiden haben ihr Leben für unser Land riskiert, warum sollten wir ihren Geburtstag nicht mit ihnen feiern dürfen?«

Madame Roger schien anderer Meinung zu sein, ihre verkniffene Miene sprach Bände.

Vianne spürte, wie ihre Mutter ihr eine Hand auf die Schulter legte. Sie wandte sich zu ihr um. »Die beiden haben so viel Schreckliches mit ansehen müssen.«

Als der Krieg ausbrach, war Vianne vierzehn Jahre alt gewesen, zu jung, um irgendwo eingesetzt zu werden. Anaïs und Jacques hatten sich sofort gemeldet, die eine als Krankenschwester, der andere als Soldat.

Wie bedeutungslos es dagegen war, in Paris zu sein und zu stricken. Voller Bewunderung hatte Vianne ihre große Schwester betrachtet, wenn sie auf Heimaturlaub kam und die weiße Schwesterntracht ihre braunen Augen und ihr blondes Haar besonders betonte. Allerdings war ihre temperamentvolle, mutige Schwester für sie schon von klein auf ein Idol gewesen.

Im Frühsommer 1914, als jedermann klar war, dass es zum Krieg kommen würde, war Anaïs in einem belgischen Lehrkrankenhaus inmitten ihrer Ausbildung zur Krankenschwester gewesen. Als der Krieg dann ausbrach, riet die französische Regierung allen Frauen, zu Hause zu bleiben. Sie war der Auffassung, Frauen gehörten nicht an die Front. Anaïs hatte zu den Frauen gezählt, die an den Kriegsminister schrieben und dagegen protestierten, die anboten, Rettungsdienste zu leisten, die Pilotinnen werden, Lazarette einrichten, weibliche Hilfskorps gründen wollten, wie es sie in England gab. Sie wurden abgewiesen. Es hieß, die Männer Frankreichs würden den Krieg gewinnen. Diese Meinung hatte sich nach kurzer Zeit geändert.

Die innere Stärke und Tapferkeit ihrer Schwester waren Vianne nicht gegeben. Wenn Anaïs bei ihren seltenen Besuchen von den Verwundungen berichtete, die die Soldaten erlitten hatten, schauderte Vianne vor Entsetzen.

Seit 1915 war Anaïs nahe der Front tätig und wusste von unfassbaren Gräueltaten zu berichten, meistens im Flüsterton und nur, wenn sie sich mit ihren Eltern allein wähnte. Doch Vianne hatte oft genug an der Tür gelauscht. Sie hatte von Geiselnahmen erfahren, von Folter, von Frauen, die vergewaltigt, und Dörfern, die niedergebrannt worden waren. Es verstörte sie zutiefst, wenn Anaïs berichtete, wie Vergewaltigungen in aller Öffentlichkeit stattfanden, um die Macht der Eroberer zu demonstrieren.

Als jüngstes Kind hatte Vianne früh erkannt, dass sie mit ihren Geschwistern nicht mithalten konnte, sie hatte es gar nicht erst versucht. Doch als sie während der Kriegsjahre erlebte, wie ihre Eltern und deren Freunde die Zwillinge immerzu lobend erwähnten, beschloss sie, auch für sich etwas zu finden, das sie auszeichnen würde.

Sie hatte festgestellt, dass sie schneller und akkurater strickte und nähte als die anderen Frauen im La Violette, und sich daran erinnert, dass auch ihre Handarbeiten in der Schule schöner und phantasievoller ausgefallen waren als die der anderen Mädchen. Daraus hatte sich eine Idee entwickelt.

Inzwischen stahl Vianne sich, wenn sie nachts vor Sorge um ihre Geschwister nicht schlafen konnte, mit ihren Buntstiften und ihrem Skizzenbuch in das Arbeitszimmer ihres Vaters. Sie schaltete seine Schreibtischlampe ein und begann, Kleidungsstücke zu entwerfen. In winziger Schrift notierte sie sich dazu Arbeitsanweisungen und klebte Stoffproben auf – Kaschmir, Wildleder, Musselin, Baumwolle, Organza, winzige Stückchen feinster Lyoner Seide. Es waren Reste, die sie von Schneidern und Kurzwarenhändlern im Marais erbettelte.

In einer Zeit, die von Grauen und Angst geprägt war, flüchtete sie sich in Träume und stellte sich die Zeit nach dem Krieg vor. Sie malte sich eine Zukunft aus, in der die Menschen erneut ohne Furcht leben und Frauen wundervolle Kleider tragen würden.

Aber daran war zurzeit noch nicht zu denken. Die Textilfabriken im Norden Frankreichs waren von den Deutschen zerstört, die Webmaschinen und Stoffe requiriert und nach Deutschland transportiert worden. Der wirtschaftliche Schaden sowohl für die Region als auch für die französische Bekleidungsindustrie war enorm. Der Wollpreis stieg in schwindelerregende Höhen, die Arbeiter in den Textilfabriken verloren ihre Stellen. Daraufhin sprang Lyon in die Bresche, die Stadt, in der seit Jahrhunderten Seide hergestellt wurde. Die Seidenpreise wurden gesenkt, die französische Bekleidungsindustrie – einschließlich der Armee – erhielt wieder bezahlbare Stoffe. Insbesondere die Pariser Couturiers begrüßten diese Entwicklung und setzten in ihren Kollektionen vermehrt Seide ein. Wolle wurde bei der Herstellung der Stoffe nun mit Seide vermischt.

So oft wie möglich lief Vianne durch die Stadt – vorbei an Kriegsversehrten, Trümmerhaufen, Bombenkratern und Häusern, in denen die geborstenen Fensterscheiben durch Pappkarton oder Holzbretter ersetzt worden waren –, um in den noch unversehrten Schaufenstern der berühmten Modemacherinnen, Jeanne Paquin, Jeanne Lanvin und Gabrielle »Coco« Chanel, die neuesten Kreationen zu bewundern.

In der Vogue hatte Vianne über diese Modeschöpferinnen gelesen, über ihr Leben und die Art, wie sie ihre Geschäfte in den Kriegsjahren über Wasser gehalten hatten. Sie hatten ihre Laufbahnen als Schneiderinnen oder Modistinnen begonnen und führten nun millionenschwere Unternehmen. Jeanne Paquin insbesondere schien eine begnadete Geschäftsfrau zu sein, doch allen Frauen war gemein, dass sie nicht nur hart arbeiteten, sondern darüber hinaus so innovativ, kreativ und stilsicher waren, dass die französische Mode selbst in den Kriegsjahren weltweit führend geblieben war.

Vianne fragte sich, ob es auch ihr eines Tages gelingen würde, etwas Derartiges zu kreieren, etwas, worauf sie stolz sein könnte.

Dann war sie wieder in der Realität und hörte, wie ihre Mutter Marguerite zu der Geburtstagsfeier der Zwillinge einlud. »Wir werden am frühen Nachmittag anfangen, damit wir genügend Zeit für unsere Gäste haben, bevor um acht die Ausgangssperre beginnt.«

Vianne warf einen Blick hinaus auf die Champs-Élysées. Wie alle anderen Straßen auch würde sie abends im Dunkeln liegen. Das einzige Licht kam dann von den Suchscheinwerfern, die den Himmel nach feindlichen Flugzeugen abtasteten. Es war eine beängstigende Atmosphäre, bei der sich auch ohne Ausgangssperre niemand mehr auf die Straße gewagt hätte.

»Natürlich komme ich zu der Geburtstagsfeier«, sagte Marguerite mit leuchtenden Augen. »Vielen Dank für die Einladung.«

»Ich kann den Tag kaum erwarten«, sagte Viannes Mutter.

»Und, was wirst du tragen an diesem besonderen Tag?«, fragte Marguerite. »Ein neues Kleid vielleicht?«

Viannes Mutter zuckte mit den Schultern. »Darüber habe ich noch nicht nachgedacht.«

»Ich aber«, sagte Vianne und sah die schwarze Lyoner Spitze vor sich, die sie im Nähzimmer ihrer Mutter entdeckt hatte. Sie brannte darauf, den kostbaren Stoff zu besticken, mit violetten Stiefmütterchen und zarten grünen Ranken. Doch dann wurde ihr bewusst, dass sie diese Arbeit bis Ostersonntag nicht mehr schaffen würde.

Allerdings hatte sie ihrer Mutter ein pfirsichfarbenes Seidenkostüm genäht, das beinah fertig war. Die Maße hatte sie von einem ihrer Kleider übernommen, ein Schnittmuster aus Kaliko angefertigt und es der Schneiderpuppe angeheftet, die ihre Mutter ihr zu ihrem letzten Geburtstag geschenkt hatte. In ihrem Skizzenbuch war das Kostüm aus allen Winkeln zu sehen. Wie immer hatte Vianne dazu ein schmiedeeisernes Gitter als Hintergrund gemalt. Auch in den großen Modezeitschriften, der Mode du Jour und dem Journal des Dames et des Modes, verwendeten die Designer Hintergründe, Vianne hatte die Arbeiten von George Barbier, Eduardo Garcia Benito und Gerda Wegener eingehend studiert.

Diese Künstler hatten sich bei der Wahl der Farben, des Schnitts und der Stoffmuster von orientalischen und asiatischen Kunstwerken inspirieren lassen. Vianne hatte es ihnen nachgetan und das Kleid für ihre Mutter so fließend geschnitten, wie es auf den berühmten Vorlagen zu sehen war. Es bestand aus einem schmalen seidenen Unterkleid und einem weiten, knöchellangen Kaftan, dessen Saum sie mit Wellenlinien aus winzigen Glasperlen verziert hatte. Auch Rosen hatte sie entlang des Saums gestickt, mit einem Silbergarn, wie man es auf exquisiten japanischen Kimonos sah.

Sie dachte an die Arbeiten des Couturiers Paul Poiret, die sie faszinierten. Er hatte als einer der Ersten schmal geschnittene Kleider propagiert, die zudem exotisch und theatralisch zugleich anmuteten. Im Geist sah Vianne seine losen, kimonoartigen Gewänder vor sich, die durchscheinenden Tuniken mit chinesischen, persischen oder japanischen Motiven, die Säume mit goldenen Fransen oder Pelz besetzt, oftmals über Pluderhosen getragen. Es war, als kämen seine Kleider aus einer anderen Welt.

Vor dem Krieg war Vianne mit ihren Eltern im Théâtre du Châtelet gewesen und hatte die Ballets Russes gesehen, das Ensemble, das Paris im Sturm erobert hatte. Die Kostüme und das Bühnenbild waren atemberaubend gewesen, voller Farbenpracht und exotischer Sinnlichkeit. Und in den Pariser Straßen hatte sie die Modistinnen bewundert, die Turbane mit einer Aigrette trugen, Pfauenfedern, die mit Broschen befestigt waren, dazu Tuniken mit den einfallsreichsten Mustern. War es da ein Wunder, dass ihre Phantasie sich mit der Mode zu beschäftigen begann, als Flucht aus der Wirklichkeit in eine Welt der schönen Dinge?

Schönheit und Exotik dominierten Viannes Skizzen, wenn auch in bescheidenerem Maß als bei ihren großen Vorbildern. Und eines Tages, das hatte sie sich fest vorgenommen, würde sie die Welt bereisen und sich wie Paul Poiret von Fremdländischem inspirieren lassen.

Doch zurzeit herrschte noch Krieg, und sie konnte nichts weiter tun, als jeden Tag bis in die Nacht an dem Complet zu arbeiten, das sie für ihre Mutter angefertigt hatte.

Sie hatte bereits modische Alltagskostüme geschneidert, sowohl für sich als auch für ihre Mutter. Die Vorlagen hatte sie Modezeitschriften entnommen. Doch zum Geburtstag ihrer Geschwister sollte ihre Mutter das zweiteilige Kleid tragen, das sie, Vianne, ganz allein entworfen hatte. Es sollte den Geburtstag zu etwas Besonderem machen, zu einer Familienfeier, bei der sie den Krieg für eine Weile vergessen und ihren Blick auf eine hellere Zukunft lenken konnten.

Überdies wäre das Seidenkostüm ein Dankeschön dafür, dass ihre Mutter ihr in den Kriegsjahren stets Mut gemacht hatte.

Vianne schreckte auf. Madame Roger hatte mit der Faust auf den Tisch geschlagen. »Wie kann jemand feiern, wenn so viele Menschen trauern und leiden?«

»Es ist ein Geburtstag, zu dem wir im Familienkreis zusammenkommen«, erwiderte Viannes Mutter. »Weiter nichts.«

Madame Roger zog die Brauen zusammen.

Vianne wollte fort von dieser unangenehmen Frau und streifte ihre Handschuhe über. »Bitte, lass uns gehen, Maman.«

»Und zum Essen gibt es Gemüseauflauf. Mit Gemüse aus unserem Garten«, fuhr ihre Mutter fort.

Marguerite packte ihr Strickzeug zusammen. »Ich könnte aus Brot und getrockneten Aprikosen einen Kuchen machen.« Sie stand auf und schloss sich Vianne und ihrer Mutter an, die sich von den Frauen am Tisch verabschiedeten und das Restaurant verließen.

Der Regen hatte aufgehört, die Luft roch nach nassem Laub. Vianne warf einen Blick zum Himmel. Durch die grauen Wolken drängten sich Sonnenstrahlen. Sie schimmerten in den Regenpfützen und auf den verschnörkelten, schwarz lackierten Laternen, die die Prachtstraße vor dem Krieg nach Einbruch der Dunkelheit beleuchtet hatten.

Vianne beschloss, nicht an den Krieg, sondern an die Feier am Ostersonntag zu denken. An das Wiedersehen mit ihren Geschwistern. Wie sagte ihre Mutter immer? Man darf keine Minute des Lebens vergeuden. Erst recht nicht, wenn man etwas Schönes tun kann, etwas, das einem Freude bereitet.

*

Sie nahmen die Treppe hinunter zur Métro-Station Champs-Élysées, die wie einige andere auch im Jugendstil gestaltet war. Vor dem Krieg hatte Viannes Vater mit ihr einen Ausflug unternommen und ihr diese Bahnhöfe mit ihren elegant geschwungenen Verzierungen und Blumenornamenten gezeigt, die aus Métro-Stationen Kunst machten. Nun reihten sich an den Wänden Plakate, auf denen um Spenden für Kriegsversehrte, Kriegswaisen, Kriegsgefangene und Tuberkulosekranke gebeten wurde.

Viannes Blick fiel auf ein Plakat, auf dem eine attraktive Frau eine Sammelbüchse hochhielt. Überall ging es um den Krieg und seine Folgen. Mit schwerem Herzen dachte sie daran, dass Marguerites Mann in der Schlacht um Verdun gefallen war.

Sie stiegen in die ankommende Bahn, fuhren bis zur Station Hôtel de Ville. Im Waggon sah man nur bedrückte Gesichter und zermürbt wirkende Menschen.

In der Station Hôtel de Ville hatte das Rote Kreuz eine Suppenküche eingerichtet. Es waren überwiegend junge Frauen, die von frühmorgens bis spätabends Essen austeilten. Über einige von ihnen wachten ihre Mütter. Manche strickten währenddessen, andere hielten die Feuer in den Öfen am Brennen. Wie immer standen Kriegsversehrte in einer Warteschlange an, viele von ihnen auf Krücken.

Die drei Frauen stiegen zum Tageslicht hinauf und liefen am imposanten Rathaus der Stadt vorbei in Richtung Marais. Der Bestand an Bäumen in den Straßen und Parks hatte sich gelichtet. Immerzu wurden welche gefällt und zu Brennholz verarbeitet. Man sah noch mehr Kriegsversehrte, die zerschlissene Uniformen trugen und bettelten.

Viannes Mutter steuerte die Église Saint-Gervais an, an deren Messe die Familie sonntags teilnahm.

Die Fenster dieser Kirche waren nicht entfernt worden, anders als in der Kathedrale Notre-Dame, deren wertvolle Buntglasfenster zu Beginn des Kriegs in Sicherheit gebracht worden waren. Statt ihrer waren einfache gelbe Fensterscheiben eingesetzt worden, durch die nur fahles Licht fiel. Doch auch in Notre-Dame würde die Sonne nach dem Krieg wieder durch die bunten Fenster scheinen und die Farben eines Kaleidoskops auf die Marmorfußböden des Kirchenschiffs malen.

Vianne drückte den Arm ihrer Mutter. »Du möchtest ein Dankgebet sprechen, oder? Dafür, dass Anaïs und Jacques bald wieder bei uns sein werden.«

»Und eine Kerze anzünden«, erwiderte ihre Mutter. »Ich möchte dem Herrn sagen, wie glücklich ich bin, und ich bin sicher, dass er mich hören wird.«

Marguerite verabschiedete sich vor der Kirche. Sie würde weiter zu ihrer einsam gewordenen Wohnung an der Place des Vosges laufen.

Vianne und ihre Mutter betraten die Kirche. Vianne blickte zu dem Sterngewölbe hinauf, dann zum Altarraum und zu den mächtigen Säulen an den Seiten des Hauptschiffs. Sie spürte, wie die Gedanken an den Krieg sich auflösten und die friedliche Stille der Kirche sich auf sie zu übertragen begann.

Ihre Mutter steckte eine Münze in die Sammelbüchse am Opferstock, entnahm ihm eine Kerze und zündete sie an einer der zahlreichen brennenden Kerzen an. Dann stellte sie ihr Licht zu den anderen, senkte den Kopf und betete.

Vianne tat es ihr nach, behielt ihre Kerze jedoch einen Moment lang in der Hand, um zuzusehen, wie das Wachs an der Spitze schmolz. Dann steckte sie sie zu den anderen und betete um Schutz für die Menschen, die sie liebte. Es war eine Bitte, die seit vier Jahren eine besonders große Bedeutung hatte.

*

Am Abend zog Vianne sich in die Bibliothek ihres Vaters zurück. Sie liebte diesen Raum, in dem die Bücher an den Wänden bis unter die Decke reichten und an einem nasskalten Frühlingsabend wie diesem im Kamin ein Feuer brannte. Auf dem Tischchen an ihrer Seite stand der Nähkasten, den ihre Mutter ihr geschenkt hatte. Unter anderem enthielt er Stickgarn, in Farben von den zartesten Pastelltönen bis zu kräftigen Rot-, Grün- und Blautönen, von Cremefarben bis Dunkelbraun.

Vianne spannte ein Stück Saum des pfirsichfarbenen Seidenstoffs in ihren Stickrahmen und stellte ihn fest. Außer dem knisternden Feuer war nichts zu hören, sie konnte sich ungestört auf ihre Arbeit konzentrieren.

Mit Kreide malte sie die Blättchen auf, die an den gestickten Rosen noch fehlten. Für die feine Arbeit teilte sie zwei Fäden des vierfädigen Sticktwists ab, suchte eine hauchdünne Nadel heraus und begann mit sicherer Hand zu arbeiten. Dabei versank die Welt ringsum, es gab nur noch die Verzierungen, die sie vor Augen hatte.

Als es an der Tür klopfte, fuhr sie zusammen.

»Maman?« Hastig schraubte Vianne den Stickrahmen auf. Sie hatte ihre Eltern gebeten, nicht in die Bibliothek zu kommen, wenn sie dort an dem Ensemble für ihre Mutter arbeitete. Sie habe sich nämlich eine Überraschung ausgedacht, die man noch nicht sehen dürfe.

»Darf ich reinkommen?«, fragte ihre Mutter.

Vianne faltete den Kaftan zusammen, legte ihn in einen Korb und breitete ein Stück Kattun darüber. »Ja.«

Ihre Mutter kam herein. Sie hatte ihren schweren Haarknoten gelöst und das lange blonde Haar bereits zur Nacht ausgekämmt. »Geh bald zu Bett, chérie. Morgen haben wir viel zu tun, und der Tag wird lang werden.«

Vianne hatte sich so sehr in ihre Stickarbeit vertieft und sich immer wieder die Freude ihrer Mutter ausgemalt, dass die Zeit unbemerkt verflogen war.

»Ich weiß, wie leidenschaftlich gern du handarbeitest, aber –«

»Es ist mehr als Leidenschaft«, fiel Vianne ein. Schöne Kleidungsstücke anzufertigen, war ihre Berufung, dessen war sie sich mittlerweile sicher. »Es bedeutet mir alles.«

»Alles?« Ihre Mutter zog die Brauen hoch. »Ist das nicht ein wenig übertrieben?«

Vianne schüttelte den Kopf. »Bei den meisten Frauen kommen schöne Kleider seit Kriegsbeginn an letzter Stelle. Vielleicht ist das nicht gut.«

Ihre Mutter runzelte die Stirn. »Mag sein, aber was bleibt uns anderes übrig?«

»Natürlich sind Lebensmittel und Brennholz wichtiger, das weiß ich selbst. Auch dass wir uns kaum neue Kleidung leisten können und alte Sachen flicken müssen, ist mir klar. Aber müssen wir deshalb gleichgültig oder gar nachlässig werden?«

»Aber das sind wir nicht. Du hast für uns beide todschicke Kostüme genäht.«

»Das genügt nicht. Denk an das, was du immer sagst. ›Um schwere Zeiten durchzustehen, muss man etwas Schönes erschaffen.‹«

Viannes Mutter ließ sich Vianne gegenüber auf dem Sofa nieder und seufzte. »Ich wusste, dass ich diese ach so weisen Worte eines Tages bereuen würde.«

Vianne spürte, wie kribbelnde Aufregung in ihr hochstieg. Schon seit einer Weile hatte sie mit ihrer Mutter über ein Thema sprechen wollen, das ihr auf der Seele brannte, und nun schien endlich der richtige Zeitpunkt gekommen zu sein.

»Trotz oder vielleicht gerade wegen des Kriegs feiert die französische Mode große Erfolge. Kleider der Haute Couture sind die einzigen Luxusgüter, deren Herstellung die Regierung nach wie vor erlaubt. Und warum?«

Ihre Mutter lächelte. »Ich bin sicher, dass du es mir gleich verraten wirst.«

»Es sind zwei Gründe. Zum einen ein wirtschaftlicher, denn unsere Mode ist im Ausland sehr begehrt. Und zum anderen ein psychologischer. Es macht uns nämlich stolz, die internationale Modewelt zu dominieren, und wir möchten nicht, dass sich daran etwas ändert.« Vianne senkte ihre Stimme, damit ihr Vater sie nicht hörte. »Ich möchte in der Modebranche arbeiten, Maman, in einem der großen französischen Häuser, die von Frauen geführt werden. Vielleicht als Modistin. Oder als Schneiderin.«

Ihre Mutter sah sie überrascht an, und für einen Moment schien es ihr die Sprache verschlagen zu haben. Als sie sich wieder gefasst hatte, fragte sie: »Und was glaubst du, was dein Vater dazu sagt?«

Vianne stand auf und setzte sich zu ihr. »Papa ist Geschäftsmann, er wird verstehen, dass ich mein Leben der Mode widmen will. Es ist ein Industriezweig, der überaus einträglich ist.«

»Dein ganzes Leben?«, fragte ihre Mutter. »Obwohl die meisten Frauen in unserer Familie nie für Geld gearbeitet haben? Sicher, du nähst gern, aber warum nicht nur für dich, deine Schwester und mich? Ich könnte deinem Vater erklären, dass wir keine Schneiderin mehr brauchen, aber dass du zur Lohnarbeiterin wirst, wird er nicht tolerieren.«

»Ich habe nicht vor, Lohnarbeiterin zu bleiben«, sagte Vianne. »Obwohl Jeanne Paquin zusammen mit anderen dafür gesorgt hat, dass Modistinnen und Näherinnen endlich besser bezahlt werden.« Sie blickte ihre Mutter eindringlich an. »Ich möchte wie eine unserer berühmten Modeschöpferinnen werden, Maman. Ich würde ganz unten anfangen und lernen, was das Geheimnis ihrer Kleider ausmacht.«

Ihre Mutter strich ihr über das Haar und steckte ihr eine lose Strähne hinter das Ohr. »Also, wenn du dir das wünschst … warum eigentlich nicht? Warum solltest du nicht unabhängig werden und versuchen, auf einem der wenigen Gebiete erfolgreich zu sein, die uns Frauen offenstehen?«

Vianne drückte ihrer Mutter einen Kuss auf die Wange. »Du bist ein Genie, Maman. Genauso werde ich es Papa vortragen. Kein Mann wird einer Frau das Nähen verbieten, auch Papa nicht.«

Ihre Mutter zog sie an sich. »Dann flieg, mein Schatz, und folge deinen Träumen. In meiner Familie haben Handarbeiten die Frauen seit Generationen zusammengebracht, eine hat der anderen gezeigt, wie man etwas Schönes kreiert. Ich mag die Vorstellung, dass unsere Kunst uns künftig vielleicht auch mit der Außenwelt verbindet.«

Vianne schmiegte sich an sie.

*

Früh am Morgen lief Vianne die Rue de Sévigné hinunter. Es war kaum jemand unterwegs, sie konnte ihre Schritte hören. Doch die ersten Sonnenstrahlen waren bereits hervorgekommen und ließen die cremefarbenen Fassaden und schwarzen schmiedeeisernen Balkongitter entlang der Straße aufscheinen.

Die Rue Saint-Antoine war belebter. Frauen radelten an Vianne vorbei oder öffneten Geschäfte, Briefträgerinnen hatten begonnen, die Post auszutragen.

Seit Kriegsbeginn wurde das Geschäftsleben der Stadt von Frauen bestimmt.

An einer Boulangerie standen Frauen um pain national an, ein Brot, das statt mit Weizenmehl mit exakt vorgegebenen Mengen an Roggen- und Gerstenmehl gebacken wurde. Die Pariser nahmen es notgedrungen hin, doch Viannes Vater bemerkte gelegentlich, dass der Krieg hoffentlich bald beendet sei, es wieder richtige Baguettes gebe und er auch nicht mehr gezwungen sei, Margarine statt Butter zu essen.

Vianne kam an einem Café vorbei und an einer Reihe Geschäfte, darunter eine Buchhandlung, bevor sie in die Rue de Turenne einbog. Dort lag das »Céline«, das Antiquitätengeschäft ihres Vaters. Durch das Schaufenster sah sie ihn. Er war offenbar noch früher aufgestanden als sie selbst und war nun dabei, eine große Marienstatue ins richtige Licht zu rücken. Sie war aus Terrakotta, der Körper mit Stroh gefüllt, und trug ein uraltes Gewand aus fadenscheiniger Baumwolle. Ihr Porzellankopf war leicht zur Seite geneigt, die Handflächen zeigten nach oben.

Vianne betrat das noble Geschäft. Ihr Vater wandte sich von der Statue ab, lächelte Vianne an und küsste sie auf beide Wangen.

Genau wie Jacques und Vianne hatte er blondes Haar und blaue Augen. Allerdings war sein Schopf in den Kriegsjahren leicht ergraut und immer mehr zurückgewichen. Doch Vianne fand, dass es seinem guten Aussehen keinerlei Abbruch tat.

»Was führt dich hierher, ma mignonne?«

Vianne streifte ihre Handschuhe ab. »Ich möchte mit dir reden.«

»Aha. Dann komm, setzen wir uns.«

Sie schlängelten sich an antiken Möbelstücken vorbei, einer Marmorbüste der Venus, vergoldeten Rokoko-Stühlen, einer Vitrine voller kostbarer Parfumflakons und an einem mit reichen Schnitzereien verzierten und mit Blattgold belegten Tisch, an dem sie sich niederließen. Über ihnen hing ein Lüster mit dem üppigen Kristallbehang, der in der Belle Époque Mode gewesen war.

Vianne ließ ihren Blick über die zahlreichen Gemälde an den Wänden gleiten. Bei den meisten schien es sich um italienische Landschaftsmalerei zu handeln. Sie raffte all ihren Mut zusammen und begann.

»Ich habe zur Geburtstagsfeier von Jacques und Anaïs für Maman ein zweiteiliges Kleid genäht.«

»Soso, meine Kleine.«

Vianne hoffte, dass ihr Vater sie nun loben und sagen würde, wie wunderbar es sei, dass sie dieses Ereignis auf ihre Weise würdigen wolle. Doch es kam nichts.

Mit einem Mal pochte ihr Herz so heftig, dass sie eine Hand auf ihre Brust legte, um es zu beruhigen. »Wenn du das Ensemble siehst, wirst du feststellen, wie viel ich inzwischen gelernt habe.« Es war wichtig, dass er das verstand. »Ich bin nicht mehr die kleine Vianne und habe, was mein Leben betrifft, sehr genaue Vorstellungen.«

Ihr Vater wirkte erstaunt.

»Ich will nicht lange darum herumreden, Papa, ich möchte arbeiten gehen. Bei einem unserer großen Couturiers. Was hältst du davon?«

Ihr Vater griff nach einer kleinen gläsernen Vase und vertiefte sich stirnrunzelnd in ihren Anblick.

»Davon träume ich seit Langem.« Viannes Stimme hatte angefangen zu zittern. Sie machte eine Pause, räusperte sich. »Ich würde als Modistin oder Näherin anfangen. Ich möchte elegante Kleider und Hüte anfertigen, sie vielleicht eines Tages sogar selbst entwerfen. Es wäre eine Möglichkeit, in einer der erfolgreichsten französischen Branchen tätig zu sein.«

Ihr Vater stellte die Vase ab, spitzte die Lippen und schwieg.

Vianne versuchte es erneut. »Der Umsatz der französischen Modeindustrie geht in die Millionen. Sogar jetzt, während des Kriegs. Nur zu Kriegsbeginn hatten die namhaften Häuser ihr Geschäft geschlossen, wenige Monate später waren sie wieder offen.«

»Vianne, es –«

Vianne ließ ihren Vater nicht ausreden. »Es sind vor allem die Modeschöpferinnen, die ich bewundere. Die Frauen, denen es gelungen ist, eine führende Rolle zu übernehmen. Jeanne Paquin, Jeanne Lanvin, Jeanne Adèle Bernard und Coco Chanel. Zahllose französische Frauen sehnen sich nach ihren Kleidern. Auch im Ausland dominieren sie die Modewelt.«

Ihr Vater schüttelte den Kopf. »Aber du bist nicht wie diese Frauen, ma chérie.«

»Das weißt du nicht«, erwiderte Vianne. »Diese Frauen, ich – auch du –, wir alle möchten von schönen Dingen umgeben sein. Möchten anderen Menschen Schönes bieten, etwas, das sie lieben und bewundern können – das sie in schweren Zeiten aufmuntert.«

»Vianne.« Ihr Vater seufzte. »Du bist behütet aufgewachsen, in einer liebevollen Familie. Wie willst du in der Welt kleiner Näherinnen und Modistinnen bestehen können? Diese Frauen kommen aus anderen Verhältnissen, sie sind ganz anders als du. Erst vor einem Jahr haben sie gestreikt, das muss man sich mal vorstellen. Sie sind von der Place Vendôme die Rue Saint-Honoré hinuntermarschiert, haben lautstark Lohnerhöhungen und freie Tage gefordert.« Er hob die Hände und ließ sie wieder fallen. »Abgesehen davon, dass du zu diesen Frauen nicht passt, würdest du ihre Arbeitsbedingungen gar nicht ertragen.« Er lehnte sich zurück, schüttelte erneut den Kopf. »Wahrscheinlich malst du dir diese Welt in den rosigsten Farben aus und vergisst, dass du dann ein Teil der Arbeiterklasse wärst. Armut ist nichts Romantisches, Vianne. Außerdem würdest du für jeden Ehekandidaten aus unseren Kreisen inakzeptabel werden.«

Vianne zwang sich, seinem Blick standzuhalten. »Und was wäre, wenn ich erfolgreich würde?«

»Als Arbeiterin?« Viannes Vater lachte. »Ich sehe sie noch vor mir, diese armen Mädchen, die durch die Straßen eines unserer besten Viertel gezogen sind. Die Leute, die sie gesehen haben, waren entweder verärgert oder amüsiert. Die Haute Couture konzentriert sich auf eine kleine, äußerst wohlhabende Gruppe Kundinnen. Eine Näherin oder Hutmacherin spielt für sie keine Rolle. Natürlich gefallen dir die Kreationen, die du in Modejournalen siehst, aber mit dem armseligen Leben einer Arbeiterin haben diese Kleider nichts zu tun.« Viannes Vater stand auf. »Und nun lass uns dieses Thema begraben.« Er umrundete den Tisch, um Vianne über den Kopf zu streichen. »Deine Geschwister sind auf dem Weg zu uns. Warum gehst du nicht nach Hause und hilfst deiner Mutter bei den Vorbereitungen?« Er legte einen Finger unter Viannes Kinn und hob ihren Kopf. »Du bist ein bildhübsches Mädchen, etwas Besseres kann eine Frau sich doch gar nicht wünschen. Darüber hinaus hast du es nicht nötig, das entbehrungsreiche Dasein einer Arbeiterin zu fristen. Warte, bis der Krieg zu Ende ist und die jungen Männer, die ihn überlebt haben, zurückkehren. Ich bin sicher, dass es unter ihnen einige geben wird, die zu uns passen und dir das Leben bieten können, das du verdienst. Mit einem wundervollen Heim, Kindern und Liebe. Setz dir nicht so enge Grenzen, mon bébé. Glücklicherweise bist du nicht gezwungen, dir dein Brot selbst zu verdienen.«

Ich bin kein Baby mehr, hätte Vianne am liebsten gesagt. Und vielleicht möchte ich eines Tages einen Ehemann und Kinder, jetzt jedenfalls noch nicht. Jetzt möchte ich aus phantastischen Stoffen aufsehenerregende Kleider schneidern und lernen, wie man Hüte macht. Ich möchte nicht der Zierrat eines Mannes sein, sondern meine Ideen verwirklichen, mich selbst verwirklichen. Jede andere Zukunft erscheint mir öde und grau.

Das Elend und die Zerstörungen des Kriegs hatten noch dazu beigetragen, diese Wünsche zu festigen. Man musste sein Leben in die Hand nehmen und etwas Gutes daraus machen, schließlich konnte es einem jederzeit geraubt werden.

Ihr Vater betrachtete sie lächelnd. »Du bist wie deine Mutter. Eine Träumerin. Gut, dass ich euch davor bewahre, euch in euren Träumen zu verlieren.«

Vianne seufzte leise. In Wahrheit war das Gegenteil der Fall: Ihre Mutter stand mit beiden Beinen im Leben, und ihr Vater war derjenige, der sich in seinen Träumereien verlor.

Zudem konnte er sehr stur sein, deshalb beschloss Vianne, das Thema nicht weiter zu verfolgen. Es würde nichts bringen.

»Ich habe eine Idee für das Kleid, das ich Maman nähe. Dafür würde ich mir gerne eines deiner Schmuckstücke leihen.« Sie schenkte ihm das Lächeln, das sie von ihrer Mutter geerbt hatte und dem er nicht widerstehen konnte. In dieses Lächeln hatte er sich verliebt, als Viannes Mutter, damals noch eine junge Frau, aus der Provence nach Paris gekommen war und den introvertierten, feingeistigen Antiquitätenhändler mit ihrer offenen, unbeschwerten Art verzaubert hatte.

Vianne dachte an die Liebe, die ihre Eltern verband. Eine solche Liebe wünschte sie sich auch, sie verstand nur nicht, weshalb sie dafür ihre beruflichen Träume aufgeben sollte.

»Welches Schmuckstück denn?«, fragte ihr Vater.

»Ich zeige es dir.« Vianne trat an den uralten Sekretär, der zu den unverkäuflichen Lieblingsstücken ihres Vaters gehörte, und öffnete das Geheimfach. Sie entnahm einen kleinen Schlüssel und schloss damit die Schmuckvitrine auf. Vorsichtig hob sie eine silberne, mit Diamanten besetzte Filigranbrosche heraus und ließ sie im Licht des Kristalllüsters funkeln.

»Das Kleid besteht aus zwei Teilen, einem schmalen seidenen Unterkleid und einem Kaftan, den ich fast fertig bestickt habe. Für ihn brauche ich noch eine Schließe.« Vianne sah ihren Vater bittend an. »Darf ich mir dafür diese Brosche ausleihen?« Sie bewegte die Kostbarkeit im Licht hin und her, um sie noch stärker glitzern zu lassen. »Sie ist so schön. Genau wie Maman. Ich möchte, dass sie auf der Geburtstagsfeier in ihrem ganzen Glanz erstrahlt. Möchtest du das nicht auch?«

Viannes Vater nickte, die Idee schien ihm zu gefallen. Vielleicht stellte er sich vor, wie gut die Brosche seiner eleganten Frau stehen würde. »Gut, nimm sie mit.« Er streifte Viannes Wange mit den Lippen. »Es wird eine ganz besondere Feier werden. Dem Himmel sei Dank, dass wir in diesem schrecklichen Krieg niemanden aus unserer Familie verloren haben.«

Kapitel 2

Vianne

Paris, März 1918

Vianne wurde von dem Sonnenlicht geweckt, das durch die Ritzen der Rollläden in ihr Zimmer drang. Über ihr schwebte der luftige Baldachin ihres Himmelbetts, das ihr Vater aus dem Nachlass einer Adelsfamilie erworben hatte. Gähnend streckte und reckte sie sich, dann setzte sie sich langsam auf.

Einen Moment lauschte sie der Stille draußen, wartete auf den Alarm einer Sirene, auf einschlagende Granaten und die Schreie panischer Menschen. Doch alles blieb ruhig. Dann läuteten die Kirchenglocken, und Vianne fiel ein, dass Karfreitag war. Die Ruhe hatte mit dem Feiertag nichts zu tun, seit Tagen hatte man in Paris keinen Kriegslärm mehr gehört. Dennoch hatten die Pariser nicht gewagt, auf das Ende der Kampfhandlungen zu hoffen. Allerdings kursierte das Gerücht, der Vorstoß der Deutschen in Richtung Paris sei ins Stocken geraten. Vianne glaubte nicht daran. In den Zeitungen hatte gestanden, die Deutschen rückten weiter vor und versuchten zudem, die Kommunikationswege der Alliierten zu kappen, insbesondere zwischen den amerikanischen Expeditionsstreitkräften und den französischen Kampfeinheiten. Auch von einem deutschen Luftangriff auf den Eiffelturm, der den Franzosen als Abhörzentrale für deutsche Funksprüche diente, war die Rede gewesen.

Vianne überlegte, was klüger wäre: die neuesten Nachrichten gar nicht erst zu lesen oder informiert zu bleiben und sich fortwährend um Frankreich und das Leben ihrer Familie zu sorgen. Es gab Tage, an denen die Nachrichten so niederschmetternd waren, dass sie sich nicht mehr vorstellen konnte, irgendwann wieder zurückzukehren zu dem unbeschwerten Leben, das sie vor dem Krieg geführt hatte. Dennoch war ihr bewusst, wie glücklich ihre Familie sich schätzen konnte, dass sie überhaupt noch lebten.

Als die Kirchenglocken verstummten, stand sie auf und streifte ihren Morgenmantel über. Und dann hörte sie es – nicht den Lärm von Alarmsirenen, den sie immerzu fürchtete, sondern fröhliche Stimmen und Gelächter. Auf diesen wunderbaren Klang hatte sie lange gehofft, denn er konnte nur eines bedeuten: Ihre Geschwister waren hier!

Mit freudig klopfendem Herzen verließ sie ihr Zimmer, lief die Treppe hinunter und öffnete die Tür des Esszimmers. Sie sah ihren Vater am Kopfende des gedeckten Tisches sitzen, gelbe Narzissen leuchteten in den großen Blumenvasen, und zu beiden Seiten ihrer lächelnden Mutter saßen sie – Jacques und Anaïs.

»Vianne, ma puce!« Anaïs sprang auf und breitete die Arme aus.

Vianne ließ sich in die Umarmung sinken, ihre Wange an die blütenweiße Schwesterntracht gepresst, und schloss glücklich die Augen.

Nach einem langen Augenblick trat sie einen Schritt zurück und betrachtete ihre Schwester. Anaïs hatte ihr langes blondes Haar zu einem Nackenknoten geschlungen und wirkte so schön und elegant wie eh und je. Vor dem Krieg hatten zahlreiche junge Männer sie umworben, die inzwischen alle gegen die Deutschen kämpften oder bei Gefechten im Norden oder Osten Frankreichs ums Leben gekommen waren. Doch diese traurigen Gedanken verdrängte Vianne schnell.

Und dann lag sie in Jacques’ Armen, der ebenfalls seine Uniform trug und viel zu dünn war. Sie blickte in seine Augen, ebenso blau wie die ihren, und erkannte darin einen Ausdruck, der dort früher nicht gewesen war.

»War es sehr schlimm?«, flüsterte sie ihm ins Ohr und spürte, wie ihn ein Schauder durchlief. Doch dann schüttelte er den Kopf, nahm wieder am Frühstückstisch Platz und steckte sich eine Zigarette an.

Vianne wünschte, sie hätte nichts gesagt, und befahl sich, ihre Ängste und Sorgen an diesem Wochenende für sich zu behalten. Nichts durfte den Besuch ihrer Geschwister trüben.

Anaïs sprach jedoch ganz offen über den Krieg, erzählte Geschichten, die sie auf ihren Postkarten nach Hause nicht hatte unterbringen können. Auch Jacques hatte sich auf seinen Postkarten stets kurzgefasst, hatte nur Grüße geschickt und seine Familie ermuntert, zuversichtlich zu bleiben. Nun berichtete Viannes Schwester, was die verwundeten Soldaten, die sie im Lazarett von Ypern versorgte, von den Schlachtfeldern erzählten, dass sie häufig in ihren letzten Stunden bei ihnen gesessen hatte. Ein ums andere Mal betonte sie, wie sehr sie den Krieg hasse.

Anaïs’ Schilderungen verstörten Vianne, dennoch verspürte sie einen Anflug von Neid. Ihre Schwester tat wenigstens etwas, stand Männern bei, die ihr Leben im Kampf gegen das feindliche Deutschland aufs Spiel setzten. Sie beschloss, ihren Vater so bald wie möglich davon zu überzeugen, dass auch sie weder zu fein noch zu zart war, um zu arbeiten, auch wenn ihre Arbeit weniger heldenhaft sein würde als die ihrer Schwester.

Anders als Anaïs war Jacques auffallend schweigsam und rauchte eine Zigarette nach der anderen. Sie alle bemerkten, dass seine Hände zitterten und sich auf seiner Oberlippe Schweiß bildete. Dann und wann streckte ihre Mutter eine Hand aus, streichelte ihren Sohn oder drückte die Hand, die keine Zigarette hielt. Er lächelte sie dankbar an, doch es wirkte gezwungen.

*

An diesem Vormittag lachte Vianne so laut und glücklich wie seit Langem nicht mehr. Durch den Krieg hatte sie gelernt, dass es keine größere Freude gab, als mit den Menschen zusammen zu sein, die man liebte.

Sie, ihre Mutter und Anaïs schlenderten am Ufer der Seine entlang, die in der Frühlingssonne glitzerte. Sie hatten sich untergehakt und waren so offenkundig guter Laune, dass sie die Blicke der Passanten auf sich zogen. Viannes Mutter schilderte Anaïs, wie ihr Vater jeden Morgen, wenn sie ihm dunkles Brot und Margarine vorsetzte, die Brauen zusammenzog und schmollte und wie sehr eine Frau im La Violette die geplante Geburtstagsfeier missbilligt hatte.

»Dieser Krieg ist für uns alle eine Katastrophe«, sagte sie. »Trotzdem dürfen wir ihm nicht erlauben, dass er unsere Hoffnungen und Träume zerstört.«

Anaïs schien sich diese Worte durch den Kopf gehen zu lassen. Schon als kleines Mädchen war sie mitunter sehr nachdenklich gewesen. Wenn ihre Mutter abends vor dem Einschlafen in ihr gemeinsames Zimmer kam und ihnen noch ein Märchen vorlas, hatte Anaïs sie beobachtet, als wartete sie auf den Moment, da der Blick ihrer Mutter ernst wurde und sie einen tiefsinnigen Zug an sich offenbarte, der nicht zu ihrer gewohnten Leichtigkeit passte. Anaïs schien wie gebannt von diesem Moment, in dem sie erahnen konnten, dass sich hinter der immer fröhlichen Maman eine Frau mit ihren eigenen komplexen Gedanken und Gefühlen verbarg.

»Vianne hat wundervoll nähen gelernt«, fuhr ihre Mutter jetzt fort. »Im Handumdrehen fertigt sie die fabelhaftesten Kleidungsstücke an.«

Anaïs sah Vianne interessiert an, und Vianne errötete vor Stolz.

»Für die Geburtstagsfeier am Sonntag habe ich eine Überraschung vorbereitet«, sagte Vianne. »Für Maman. Dann kann jeder entscheiden, ob ich talentiert bin oder nicht.«

Eine Gruppe Soldaten auf Heimaturlaub kam ihnen entgegen. Einer von ihnen zwinkerte Anaïs zu. Vielleicht hatte sie ihm ein Lächeln geschenkt.

»Warum gibst du mir nicht einen klitzekleinen Hinweis, wie diese Überraschung aussieht?«, bat Anaïs.

Vianne schüttelte den Kopf. »Alle müssen bis Sonntag warten.« Sie drehte sich zu ihrer Mutter um. »Wie viele Leute hast du eingeladen?«

Ihre Mutter zuckte mit den Schultern. »Zwanzig oder so.« Sie seufzte schwer. »Nur unsere engsten Freunde. Oder vielmehr die, die geblieben sind.«

»Ich hoffe, ich werde meine Freunde und Freundinnen gleich in der Kirche sehen«, sagte Anaïs und befingerte den Anhänger an ihrer Kette, ein Medaillon, das ihr Vater ihr geschenkt hatte. Innen war ein winziges Foto ihrer Mutter.

Sie verließen das Seine-Ufer und überquerten die große, kopfsteingepflasterte Place Saint-Gervais zu der Kirche, vor der sich bereits eine große Schar Gläubige zur Karfreitagsandacht versammelt hatte.

Vianne ließ ihren Blick über die ehrwürdige Fassade der Kirche wandern, spürte ihre Mutter und ihre Schwester an ihrer Seite und fühlte sich geborgen. Niemand konnte vorhersagen, wie das Leben nach dem Krieg aussehen würde, man konnte nicht einmal das Geschehen der nächsten Tage und Wochen vorhersagen, doch das massive Steingebäude vor ihnen erschien ihr wie ein Sinnbild der Hoffnung und Stabilität.

Mit einem Mal kam ein frischer Wind auf, und Vianne zog ihre Kostümjacke enger um sich. Anaïs bahnte sich einen Weg durch die Menge zu einer ihrer Freundinnen, ihre Mutter folgte Anaïs und begrüßte ihrerseits Freunde und Bekannte.

Der nächste Windstoß war noch kräftiger und scheuchte einige Tauben auf. Sie flatterten in die Höhe und hatten sich kurz darauf im grau verfärbten Himmel verloren.

Vianne fröstelte. Ihr Kostüm war viel zu dünn, um in der kalten Kirche an der langen Andacht teilzunehmen. Sie stellte sich die warme Wohnung zu Hause vor und dachte daran, dass sie an das Kleid ihrer Mutter noch letzte Hand anlegen musste. Auch die Brosche aus der Schmuckvitrine ihres Vaters musste sie noch annähen. Und bei den Vorbereitungen für Sonntag würde sie auch helfen müssen. Seit Kriegsbeginn hatten sie nur noch eine Bedienstete, und für sie allein gab es viel zu viel Arbeit zu erledigen. Seit die Männer an der Front kämpften, hatten Frauen ihre Arbeitsplätze übernommen, auch diejenigen, die sich zuvor als Dienstmädchen verdingt hatten.

Vianne drängte sich an den Kirchgängern vorbei, an Frauen, alten Männern und Kindern, bis sie bei ihrer Mutter war. Sie tippte ihr zaghaft auf die Schulter. Ihre Mutter drehte sich um, und Vianne flüsterte, dass sie nach Hause gehen werde. Sie müsse noch etwas für die Überraschung erledigen. Falls es ihre Zeit erlaube, werde sie ihren Vater unterhalten, der nur selten in die Kirche ging und kontemplative Momente zu Hause vorzog.

Außerdem wollte Vianne Zeit mit ihrem Bruder verbringen und ein bisschen mit ihm reden. Zwar hatten sie alle getan, als wäre nichts und als sei Jacques noch immer der Alte, doch das stimmte einfach nicht. Irgendetwas war bei seinen Kampfeinsätzen mit ihm geschehen.

Ihre Mutter nickte, tätschelte Viannes Arm und erklärte, es sei nicht schlimm, wenn sie die Andacht versäume, am Ostersonntag würden sie dann alle gemeinsam zur Messe gehen.

Vianne lächelte dankbar und drückte ihrer Mutter einen Kuss auf die Wange. Dann sah sie ihr nach, wie sie, flankiert von ihren Freundinnen, Anaïs in die Kirche folgte.

Vianne schlug den Rückweg ein. Ein Mann mit bleichem Gesicht und eingefallenen Wangen kam ihr entgegen. Als er zu husten begann, trat Vianne zur Seite. Auch Tuberkulose zählte zu den Unglücken, die die Menschen in diesen Zeiten befallen konnten.

*

Auf dem Quai de l’Hôtel de Ville blieb Vianne noch einmal stehen und sah den vorübergleitenden Kähnen auf der Seine zu, bis es ihr wirklich zu kalt wurde und sie sich befahl, auf geradem Weg nach Hause zu gehen.

Sie hatte sich kaum umgewandt, als sie eine Explosion hörte, so nah und ohrenbetäubend laut, dass die Fensterscheiben der Häuser am Quai klirrten und der Boden bebte.

Vianne selbst kam es vor, als würde ihr ganzer Körper vibrieren. Sie tastete nach dem Schutzgeländer am Ufer und krümmte sich vor Angst und Übelkeit. Dann wurde ihr so schwindlig, dass ihr das Wasser der Seine entgegenzukommen schien.

Wie lange es dauerte, bis das Donnern und Krachen leiser wurde und schließlich nur noch als Nachhall in ihren Ohren vibrierte, vermochte Vianne nicht zu sagen. Sie blickte auf den Fluss hinunter, der wieder ruhig vorbeiströmte, und ihr war, als sähe sie im Wasser das Gesicht ihrer Mutter.

Vianne richtete sich auf, registrierte die seltsame Stille, die sich ausgebreitet hatte, und griff automatisch nach der Kette um ihren Hals, die ihre Mutter ihr zum vierzehnten Geburtstag geschenkt hatte – in dem Jahr, als der Krieg begann, von dem ihre Mutter ihr wieder und wieder versichert hatte, sie würden ihn überleben. Die ganze Familie. Sie seien unverwüstlich. Sie selbst werde dafür sorgen, dass keinem von ihnen Unheil widerfahre.

Und dann brach plötzlich ein furchtbarer Lärm aus. Rettungswagen rasten mit heulenden Sirenen über den Quai, schreiende Menschen kamen von der Kirche Saint-Gervais her angerannt, unter ihnen mehrere Frauen, die beim Laufen ihre Kinder an die Brust pressten. Ein weinendes Kleinkind, das von seiner Mutter mitgezerrt wurde, sah Vianne mit angstgeweitetem Blick an.

Wie gelähmt verfolgte Vianne das Geschehen. Schließlich gelang es ihr, sich aus der Erstarrung zu lösen. Sie spürte ihr hämmerndes Herz und schluckte, um ihren Gaumen zu befeuchten, der vor Angst trocken geworden war.

Sie musste zur Kirche, musste sich vergewissern, dass ihrer Mutter und ihrer Schwester nichts passiert war.