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Die Stunde der Frauen.
New York, 1942: Immer mehr Männer werden an die Front gerufen, auch die Köche im Valentino’s, wo die junge Lily Rose arbeitet. Mit viel Ehrgeiz und großer Leidenschaft setzt Lily nun alles daran, die erste Küchenchefin der Geschichte zu werden. Bei ihrer Suche nach neuen Rezepten in Zeiten der Rationierung verliebt sie sich in den Chef de Cuisine Tom, bis auch er eingezogen wird. Gegen große Widerstände versucht Lily, das Valentino’s durch die Jahre der Krise zu bringen. Dann ist der Krieg vorbei, und die Männer kehren zurück – nur von Tom gibt es keine Nachricht …
Der Auftakt der großen Serie über die Frauen von New York mit einer Köchin, die um ihre Karriere und ihre große Liebe kämpfen muss.
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Seitenzahl: 449
Die Stunde der Frauen.
New York, 1942: Immer mehr Männer werden an die Front gerufen, auch die Köche im Valentino’s, wo die junge Lily Rose arbeitet. Mit viel Ehrgeiz und großer Leidenschaft setzt Lily nun alles daran, die erste Küchenchefin der Geschichte zu werden. Bei ihrer Suche nach neuen Rezepten in Zeiten der Rationierung verliebt sie sich in den Chef de Cuisine Tom, bis auch er eingezogen wird. Gegen große Widerstände versucht Lily, das Valentino’s durch die Jahre der Krise zu bringen. Dann ist der Krieg vorbei, und die Männer kehren zurück – nur von Tom gibt es keine Nachricht …
Der Auftakt der großen Serie über die Frauen von New York mit einer Köchin, die um ihre Karriere kämpfen muss – ebenso wie um ihre Liebe.
Über Ella Carey
Ella Carey wurde in Adelaide, Australien, geboren, studierte Klavier am Konservatorium sowie Kunst, Geschichte und Literatur. Heute lebt und schreibt sie in Melbourne mit ihrer Familie und zwei in die Jahre gekommenen Italienischen Windspielen. Schon immer haben sie die mutigen Frauenfiguren der Geschichte fasziniert, weswegen sie es liebt, ihre Romane nach wahren Begebenheiten zu erzählen. Ihre Bücher sind internationale Bestseller und erscheinen in vierzehn Sprachen.
Christine Strüh übertrug u.a. Kristin Hannah, Gillian Flynn und Cecelia Ahern ins Deutsche. Sie lebt in Berlin.
Anna Julia Strüh übersetzte ihr erstes Buch mit fünfzehn, lebt heute in Leipzig und überträgt auch Lyrik.
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Ella Carey
Die Frauen von New York
Glanz der Freiheit
Roman
Aus dem Englischen von Christine und Anna Julia Strüh
Inhaltsübersicht
Informationen zum Buch
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Teil 1
Kapitel 1: New York, 1942
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Teil 2
Kapitel 19: New York, 1943
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31: New York, 1944
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35: New York, 1945
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Epilog: New York, 1946
Ein Brief von Ella Carey
Dank
Impressum
Für meine Tochter Sophie
»Die besten Gerichte sind ganz einfach.«
Auguste Escoffier
»Nach einem guten Essen kann man jedem verzeihen,
sogar den eigenen Verwandten.«
Oscar Wilde
Lily Rose setzte ihren roten Filzhut auf, schlüpfte in den roten Mantel samt passenden Handschuhen und stürmte aus dem Haus in Gramercy Park. Über den kleinen, ordentlich eingezäunten Privatpark des Wohnviertels hinweg hallte das Geschrei ihrer Mutter Victoria durch die friedliche Morgenluft, erwartungsgemäß gefolgt von den Beschwichtigungen ihres Vaters.
Lily stieg in ihren kleinen American Bantam, legte den Kopf eine kostbare Sekunde lang aufs Lenkrad und dankte dem Himmel für das wunderbare Automobil, mit dem sie die Flucht ergreifen konnte, wann immer es nötig war. Sie ließ den Motor des hübschen blau-weißen Wagens mit der rosa Lederausstattung aufheulen und sauste davon, die Third Avenue hinauf bis zu dem Parkplatz, der ihrem geliebten Valentino’s am nächsten lag, dem Restaurant, in dem sie als Sous-Chef arbeitete.
Sie stieg aus, schloss das Auto mit einem satten Klick ab, rückte den schicken roten Hut zurecht und marschierte los, freudig erregt beim Gedanken an die raffinierten Speisen, die sie heute mit ihren Kollegen im Valentino’s zaubern würde.
Vom Parkplatz aus nahm sie die Route über die East 63rd Street zur Park Avenue. Sie eilte über die Läufer vor den imposanten, in der herbstlichen Morgensonne schimmernden Beaux-Arts-Gebäuden, vorbei an Portiers in eleganten Uniformen, die an den Türen zu den prachtvollen Foyers Wache hielten, ihre weiß behandschuhten Hände hinter dem Rücken verschränkt. Erst als sie vor dem Valentino’s stand, hielt sie inne, um zu verschnaufen.
Der repräsentative Eingang zum Restaurant war flankiert von zwei kunstvoll verschnörkelten Laternen, deren gelbliches Licht im letzten Morgendunst beinahe geisterhaft wirkte. In ihrem Schein funkelte die Art-déco-Bar des Valentino’s im Inneren vor großen, fächerförmigen Spiegeln. Die geometrische Wandvertäfelung aus Holz bildete einen prächtigen Hintergrund für die gepolsterten Lederbänke, romantische Leuchten tauchten das geschmackvolle Interieur in warmes Licht.
Neugierig beäugt von älteren Männern, die nicht zum Kriegsdienst eingezogen worden waren und die in diesen Tagen zahlreich in den Straßen von Manhattan unterwegs waren, ging sie zum Dienstboteneingang auf der Rückseite des Hauses.
Lily hatte sich in der Brigade de Cuisine, der Küchenbrigade, von einer bescheidenen Gemüsebeiköchin zum Rang eines Sous-Chef hochgearbeitet. In den vergangenen Jahren war sie so vielen vertrauten Namen unter den Gästen begegnet, die in den gleichen Kreisen verkehrten wie ihre Familie, dass sie rasch gelernt hatte, sich davon nicht beirren zu lassen. Sie kochte zu den Debütantinnenbällen von Mädchen, mit denen sie aufgewachsen war, sie verzierte die Hochzeitstorten junger Frauen, mit denen sie in ihrer Schule in der Upper East Side Zettelchen ausgetauscht hatte, und sie schuftete in der Bruthitze der Küche, während die Freundinnen ihrer Mutter in den Separees des Restaurants ihre Luncheons abhielten und unter den modernen Gemälden aus der Sammlung des Restaurantbesitzers Giorgio Conti an den mit herrlichen weißen Lilien geschmückten Tischen den neuesten Gesellschaftsklatsch austauschten.
Doch Lily wusste, dass der kulturelle Anspruch und der Reiz des Restaurants für ihre Mutter keine Rolle spielten. Victoria wünschte sich nur eines, nämlich dass Lily den wohlhabendsten Junggesellen von ganz New York heiratete. Dass ihre Tochter lieber in der Souterrainküche des Valentino’s kochte, statt am gesellschaftlichen Leben ihrer Schicht teilzunehmen und den Traum ihrer Mutter zu erfüllen, war ein ständiger Stein des Anstoßes im Haus der Rose und führte immer wieder zu Konflikten.
Jetzt klopfte Lily an die diskret in Schwarz gehaltene Lieferantentür. Einer der Hilfskellner ließ sie herein.
»Morgen, Miss Rose!« Stolz aufgerichtet, in einer offensichtlich nagelneuen, frisch gebügelten Uniform, begrüßte sie der junge Mann.
»Hallo, guten Morgen.« Lily nahm ihren Hut ab und schüttelte die langen schwarzen Haare aus. Sie erwiderte den Blick des Hilfskellners beinahe auf Augenhöhe, denn trotz seiner gut eins achtzig überragte er sie nur wenig.
Er salutierte vor ihr, so dass die goldenen Uniformknöpfe blitzten »Ich salutiere nicht ohne Grund«, erklärte er.
Lily zog rasch ihre Handschuhe aus, ihr Lächeln verschwand.
Das Gesicht des jungen Mannes dagegen strahlte. »Ich bin eingezogen worden, ich gehe zu den Marines.«
Eine Gänsehaut lief Lily über den Rücken. »Wie hat Giorgio die Nachricht aufgenommen?« Der Inhaber des Restaurants, Giorgio Conti, vergötterte jeden einzelnen seiner Angestellten, und Lily war sich ziemlich sicher, dass er jedes Mal Tränen vergoss, wenn einer von ihnen in den Krieg zog.
»Er hat mir die Hand auf die Schulter gelegt, tief Luft geholt und gesagt, dass ich meine Stelle jederzeit wiederhaben kann, wenn ich zurückkomme.«
»Wann musst du denn los?«, fragte Lily. Ihm hier alles Gute und gesunde Heimkehr zu wünschen, während von unten aus der Küche der tröstliche Duft von Karamellkuchen und Pistazien-Cremetorte zu ihnen heraufwehte, fühlte sich sonderbar an.
»In drei Tagen.«
Als Lily ihm die Hand auf den Arm legen wollte, unterbrach sie eine gebieterische Stimme. »Jetzt aber mal husch-husch!«
Sidney, der Oberkellner des Valentino’s, trat zu ihnen und warf Lily einen tadelnden Blick zu, weil sie sich unnütz und noch dazu mit einem einfachen Hilfskellner die Zeit vertrieb. Über seinem Arm hing die vorschriftsmäßige blütenweiße Serviette, die grauen Haare trug er wie immer streng zurückgekämmt und pomadiert, in seinem Knopfloch steckte eine frische Nelke. »Runter in den Keller, wo du hingehörst, Lily«, befahl er ihr streng. »Was stehst du denn hier herum?«
»Ach Sidney, du weißt doch genau, dass es keinen Platz gibt, wo ich lieber bin als in der Küche«, erwiderte Lily. »Wie du siehst, bin ich auch schon auf dem Weg.«
Sidney warf ihr einen finsteren Blick zu und verschwand wortlos.
Der Hilfskellner verzog das Gesicht. »Dann mach ich mich wieder an die Arbeit, ehe er endgültig an die Decke geht. War nett, mit dir zu plaudern, Lily.« Er salutierte abermals.
Lily eilte ins Untergeschoss Richtung Küche, den kühlen Weinkeller durchquerend, in dessen dunklem Gewölbe kostbare alte Weine auf langen Wandregalen lagerten und üppige türkische Teppiche die Schritte dämpften.
Auf der Damentoilette band Lily sich wie immer ein Tuch um den Kopf, um ihre Haare zu bändigen. Sie zog die Kochmütze darüber und tauschte ihr schickes rotes Kostüm gegen die Kochuniform – schwarzer Rock, weiße, geknöpfte Jacke. Dann eilte sie durch die hölzerne Schwingtür in die Küche, wo bereits emsige Betriebsamkeit herrschte. An jedem Küchenposten drängte der verantwortliche Chef de Partie darauf, dass es voranging. Karotten und Zwiebeln mussten geschnippelt, rohes Fleisch aufgeschnitten, Hühnchen für die Pariser Pastete, eine Spezialität des Hauses, vorbereitet werden.
Lily brauchte einen Moment, um ihre Augen an das gedämpfte Licht zu gewöhnen. »Guten Morgen! Nach meinen Berechnungen haben wir heute vierhundert Gedecke«, gab sie bekannt.
Jimmy, Poissonnier – Fischkoch – im Valentino’s, eilte zu ihr. Obwohl der zierliche Mann bereits den ganzen Morgen Fisch filetiert hatte, war seine Kochuniform noch immer makellos. Er zog besorgt die ergrauenden Brauen zusammen. »Der Lachs entspricht nicht den Anforderungen, Chef. Könntest du ihn dir bitte ansehen?«
Lily, die in ihrer Funktion verantwortlich war für die Bestandskontrolle und die Qualität der Zutaten, folgte Jimmy zu seinem Posten, öffnete den Kühlschrank und befühlte den Lachs. Tatsächlich wölbte er sich nach dem Eindrücken nicht zurück in die ursprüngliche Form – ein eindeutiges Zeichen. »Er muss ersetzt werden«, befand sie, zog die Hände wieder aus dem Gerät und wischte sie an dem feuchten Tuch ab, das Jimmy ihr reichte. »Ich telefoniere sofort und gebe dem Lieferanten Bescheid, dass wir neue Ware brauchen.«
Ohne auf die hochgezogenen Augenbrauen einiger älterer Köche zu achten, die schon seit der Eröffnung des Valentino’s hier arbeiteten, begab sich Lily ans untere Ende der hierarchisch organisierten Küchenbrigade.
Giorgio Conti hatte das Restaurant in den zwanziger Jahren an der Park Avenue eröffnet und damit sofort Furore gemacht. Rasch hatte es sich in höchsten Gesellschaftskreisen als eines der populärsten Restaurants New Yorks etabliert. Dabei half es natürlich, dass Sidney, der Oberkellner, offenbar sämtliche Menschen von Rang und Namen in New York kannte.
Seit mittlerweile zwanzig Jahren war das Valentino’s ein voller Erfolg. Es hatte die Depression überlebt und steuerte nun geradewegs auf den Krieg zu. Als Lily nach dem Schulabschluss von einer freien Stelle in dem Restaurant gehört hatte, hatte sie sich sofort beworben. Ganz gleich ob als Chef de Partie oder als Küchenhilfe – sie hätte auch ohne Bezahlung hier gearbeitet.
Während der Schulzeit war sie auf dem Heimweg täglich am Valentino’s vorbeigekommen und hatte durch die Fensterscheibe gespäht, in der sich ihre Gestalt in Schuluniform spiegelte. Sie hatte davon geträumt, sich in einen anmutigen Schmetterling zu verwandeln und in das goldene Art-déco-Ambiente hineinzuflattern. Die eleganten Kellner trugen Teller mit verführerischen Speisen umher und bedienten wunderschön gekleidete Gäste an Tischen mit weißen Tischtüchern, auf denen Eiskübel mit Champagner standen. In diesen Momenten wurde Lily klar, dass Kochen mehr war als nur das schöne Hobby, dem sie schon so lange frönte. Es war eine Kunst, etwas, das Menschen glücklich machen konnte.
Und nun, da sie im Valentino’s arbeiten durfte, würde sie diese Chance um nichts in der Welt aufgeben.
Lily begann mit der Inspektion der Zutaten am unteren Ende der Kochstationen, beim Gardemanger, dem Kaltspeisenkoch. Weiter oben in der Reihe sah sie den Rotisseur, den Grillkoch Leo, der seine großen Hände auf die Edelstahlarbeitsfläche mit eingelassenen Herd- und Warmhalteplatten stützte. Sie nahm die gesamte Länge der Küche ein, darüber hingen riesige Kupfertöpfe von der Decke. Andere Köche eilten umher, schnitten und schnippelten, Gemüsestückchen landeten brutzelnd in den Pfannen, zischender Dampf stieg von den Herdplatten auf, überall herrschten Lärm und große Hitze.
Als Lily neben Leo trat, verfinsterte sich dessen Gesicht, seine Augen wurden schmal. Nach einer kurzen Begrüßung inspizierte sie mit Expertenblick seine ordentlich arrangierten Zutaten: Porterhousesteaks waren bereit für die Pfanne, in der schon die Butter heiß wurde, zarte Filets glänzten feucht und warteten wie die Rinderlendchen darauf, verarbeitet zu werden. Lily wusste, dass Leo, der im Valentino’s seit über zwanzig Jahren für das Fleisch zuständig war, im Gegensatz zu vielen anderen Köchen nicht vorhatte, sich in der Küchenbrigade weiter hochzuarbeiten.
»Gibt es irgendetwas zu beanstanden an der heutigen Lieferung von den Märkten?«, fragte sie.
»Ich weiß, wie ich meine Erzeugnisse vorzubereiten habe, Miss Rose. Das habe ich schon gelernt, lange bevor du auf die Welt kamst«, knurrte er und wandte sich wieder seiner Arbeit zu.
»Ich freue mich, wenn alles deinen Ansprüchen genügt.« Lily wollte gerade weitergehen, als ihre Kollegin Martina auf sie zukam. Klein und schmal, wie sie war, blieb sie mit verschränkten Armen vor ihr stehen, und ihre dunklen Augen blitzten unter der Kochmütze hervor. »Lily, Giorgio möchte uns sehen. Dich, mich und Tom. Und zwar jetzt sofort.«
»Ach ja?«, antwortete Lily. »Weißt du vielleicht, warum?«
Martina zuckte die Achseln. Nun blickte Tom Morelli von seinem Posten als Küchenchef auf.
»Tom?« Martinas Ton wurde sanfter, als sie ihn ansprach. In der Rangordnung stand Tom nur eine Stufe unter Marco. Beide waren Chefs de Cuisine, wobei Marco für den kreativen und organisatorischen Bereich sowie für die Personalführung zuständig war, während Tom die Verantwortung für die Küchenbrigade beim Kochvorgang trug.
Lily sah sich in der Küche um. Wie es schien, lief alles wie immer, dennoch spürte sie Marcos Abwesenheit deutlich und wusste, dass es den anderen genauso erging – schon ein paarmal hatte sie beobachtet, dass jemand auf dem Weg zu Marcos Büro war und im letzten Moment kehrtmachte, vermutlich weil er sich daran erinnerte, dass der Chefkoch auf einem Truppentransporter Gott weiß wohin unterwegs war. Sein Büro war dunkel, verlassen lag seine Kochmütze auf dem obersten Brett des Wandregals.
Ohne ihren engagierten Vorgesetzten improvisierten die Chefs de Partie zwar recht erfolgreich, aber als Führungskraft war Marco einfach unersetzlich. Er hatte Lily alles beigebracht, was sie wusste, sie an jeder Station ausgebildet und ihre Beförderung gezielt vorangetrieben, bis sie in Rekordzeit Sous-Chef geworden war.
Tom Morelli legte seine Schürze ab und lief durch die Küche auf sie zu, schlank und muskulös in seinen Bluejeans, die zu tragen nur er sich erlauben konnte. Nicht nur seine Kochkünste waren unwiderstehlich, er brachte auch die Herzen sämtlicher Angestellten zum Schmelzen. Die weißen Ärmel hochgekrempelt, die dunklen Haare ordentlich unter die große Kochmütze geschoben, gesellte er sich lässig zu Lily und sah sie mit seinen grünen, jetzt von Lachfältchen umgebenen Augen an.
»Hallo, Lily«, begrüßte er sie mit einem Grinsen. »Haben wir denn schon Nachmittag?«
»Guten Morgen, Tom«, erwiderte sie betont, verkniff sich jedoch, auf seine Andeutung einzugehen, dass sie gestern bis nach 23 Uhr hier in der Küche geschuftet hatte und deshalb eigentlich heute nicht so früh hätte da sein müssen.
Dass Tom ihnen mit seinem weichen italienischen Akzent kleine Scherze ins Ohr flüsterte, wünschten sich insgeheim bestimmt viele Mädchen. Lily schob den Gedanken beiseite. Für sie war Tom Morelli verbotenes Terrain. Wenn ihre Mutter auch nur den Hauch einer Ahnung verspürte, dass ihre Tochter sich zu einem Kollegen hingezogen fühlte, würde sie umgehend dafür sorgen, dass sie ihre Arbeitsstelle verlor. Nein, eine Liaison mit einem Koch war ganz und gar nicht das, was Victoria sich für die Zukunft ihrer Tochter erträumte. Außerdem war Lily überzeugt, dass Tom eine wunderbare Freundin hatte und obendrein die halbe weibliche Nachbarschaft in ihn verliebt war.
Tom ließ ihr den Vortritt. »Dann schauen wir doch mal, was Giorgio von uns will.«
Giorgio Conti wartete bereits vor der Tür seines Büros. »Meine Lieben …«, begann er und komplimentierte sie hinein. Sein lyrischer italienischer Akzent war noch ausgeprägter als der von Tom Morelli.
Lily erschrak, als sie Giorgios verhärmtes Gesicht sah, das so gar nicht zum Klang seiner Stimme passte. Seine sonst tadellos gepflegten Haare waren zerzaust, er hatte dunkle Ringe um die Augen. Als Inhaber des Valentino’s hatte er nicht nur zahlreiche Vorstellungsgespräche mit möglichen Kandidaten für Marcos Stelle geführt, sondern den abkommandierten Chefkoch nebenbei auch noch vertreten. Diese Strapaze forderte offensichtlich ihren Tribut. Das Valentino’s war Giorgios Leidenschaft, er lebte für dieses Restaurant wie für ein eigenes Kind.
»Tom, Lily, Martina, bitte setzt euch, meine Lieben.«
Lily ließ sich auf einen der Polstersessel sinken.
Mit ernstem Gesicht legte Giorgio die Hände auf einen ordentlichen Stapel cremefarbenen Notizpapiers. »Ich … ach, es gibt einfach keine leichte Art, es euch mitzuteilen. Wir haben fürchterliche Neuigkeiten erhalten.«
Jetzt wurde Lily nervös.
»Marco ist tot. Unser Küchenchef kommt nicht wieder«, erklärte Giorgio mit gesenktem Blick.
Entsetzt schlug Lily sich die Hand vor den Mund. Neben ihr schnappte Martina hörbar nach Luft, Tom umklammerte krampfhaft die Armlehnen seines Stuhls.
»Marco ist bei der Landung der Alliierten in Nordafrika gefallen«, fuhr Giorgio fort, ohne aufzublicken. »Erst vor ein paar Tagen habe ich gelesen, dass die Operation erfolgreich verlaufen ist, aber bei der Landung nördlich von Casablanca sind unsere Truppen unter Artilleriebeschuss der von den Deutschen unterstützten Vichy-Truppen geraten. Aufs Ganze gesehen haben die Alliierten gesiegt, und ich hatte gerade begonnen, mich zu entspannen, als Marcos Mutter heute Morgen anrief.«
»Nein, doch nicht Marco, bitte nicht«, flüsterte Lily totenbleich, und ihre Stimme zitterte in der stillen, bleischweren Luft des Raums. »Tut mir leid, aber ich kann es nicht fassen …«
Wie alle Einwohner New Yorks fürchtete sich auch Lily vor dem Krieg. Die Nazis hatten die Stadt zu einem wichtigen Kriegsziel erklärt, und fast jeden Morgen las Lily in der Zeitung unheilvolle Warnungen, dass die Deutschen Kampfflugzeuge in den amerikanischen Himmel schicken oder die Küste von U-Booten aus bombardieren könnten. Vierhunderttausend New Yorker leisteten Dienst als Luftschutzwärter, und Flugabwehrgeschütze umringten die Stadt. Zum Glück hatte sie bisher keine persönlichen Verluste zu beklagen.
Tom lockerte seinen Hemdkragen und beugte den Kopf zu den Knien, Martina drückte eine Hand an den Mund und hatte Mühe, die Tränen zurückzuhalten.
Langsam hob Giorgio den Kopf und starrte Lily an, die seinen Blick hilflos erwiderte.
»Entschuldigt bitte, ich brauche einen Augenblick«, stieß er mit erstickter Stimme hervor, schlug die Hände vors Gesicht und weinte.
Zum ersten Mal, seit die Neonschilder am Times Square dunkel geworden waren, zum ersten Mal, seit Bürgermeister LaGuardia vor der Gefahr aus den Wolken gewarnt hatte, hatte das Unheil die Schwelle zur scheinbar sicheren Welt des Valentino’s übertreten.
Lily schluckte mühsam, sie hatte einen dicken Kloß im Hals. Unvorstellbar, dass Marco, ihr Kollege, den alle respektierten und bewunderten, nie mehr zurückkommen würde. Nie mehr würde sie den großen jungen Mann mit seiner von der Kochhitze beschlagenen Schildpattbrille, dem warmen Lächeln und den unter der Kochmütze hervorquellenden dunklen Locken in dieser Küche arbeiten sehen.
Marco war einfach immer da gewesen, wenn nicht bei ihnen in der Küche, dann im Büro, wo er in seiner umfangreichen Sammlung von Rezepten blätterte, die er im Lauf der Jahre für Giorgio kreiert hatte. Mit engelsgleicher Geduld hatte er seine Kollegen gelehrt, diese zu perfektionieren. Oft hatte er nach Feierabend mit ihnen in der Küche gestanden, selbst wenn er am nächsten Tag schon vor Sonnenaufgang zum Markt aufbrechen musste, um frische Ware einzukaufen. Freundlich und einfühlsam hatte er jeden Einzelnen im Team ermutigt, stets sein Bestes zu geben und nur die höchsten Maßstäbe anzusetzen.
Sein Tod bedeutete für das Valentino’s, ja für die ganze New Yorker Gastronomie einen herben Verlust. Lily senkte den Kopf, ließ ihren Tränen freien Lauf, und ihre Hände wollten nicht aufhören zu zittern.
Zwanzig Minuten später brachte Sidney vier Tassen mit starkem Espresso in Giorgios Büro. Lily saß reglos mit brennenden Augen da. Tom Morelli legte den Kopf in den Nacken und leerte seinen Espresso mit einem Schluck. Martina starrte nur reglos in ihre Tasse.
»Leider muss ich mich der Tatsache stellen, dass ich bislang noch keinen passenden Kandidaten für Marcos Stelle gefunden habe, meine Lieben«, erklärte Giorgio kopfschüttelnd. »Keiner der Bewerber, mit denen ich gesprochen habe, verfügt über Marcos Kochtalent oder seine Hingabe an den Beruf. Marco wusste einfach alles, was man nur über das Restaurant wissen kann.«
Fassungslos schüttelte Lily den Kopf.
»Es wäre naiv, sich nicht darauf vorzubereiten, dass auch Tom eingezogen werden könnte«, fuhr Giorgio fort.
Wir können Tom doch nicht auch noch verlieren, wenn wir Marco schon nicht mehr haben. Bitte nicht. Lily riskierte einen Blick zu dem jungen Mann, der mit weißem Gesicht neben ihr saß. Aber er starrte nur Giorgio an.
Martina begann unruhig auf ihrem Stuhl herumzurutschen.
»Wir stehen vor einem massiven Umbruch«, fuhr Giorgio fort. »Noch massiver, als wir es im letzten Krieg erlebt haben. Meine Lieben, mir bleibt keine andere Wahl, als eine Frau für die Position in Erwägung zu ziehen.«
Lilys Herz begann zu rasen, und sie vermied es, zu Martina hinüberzuschauen.
Nun senkte Giorgio die Stimme. »Deshalb habe ich mich entschlossen, euch beide, Martina und Lily, dazu auszubilden, die Rolle eines Chef de Cuisine zu übernehmen für den Fall, dass Tom eingezogen wird. Natürlich werde ich euch genau beobachten, und wir werden in Kürze entscheiden, wer am besten für die Position geeignet ist. Eure Ausbildung beginnt ab sofort.«
Später wusste Lily nicht mehr, was zuerst kam – Martinas entrüsteter Aufschrei oder ihr eigener Jubelruf. Als sie sich dann zu ihrer Kollegin umdrehte, sah sie, wie sich Martinas Gesicht zu einem höhnischen Grinsen verzog. Seit sie hier arbeitete, hatte Lily Martinas kühle Fassade nie durchbrechen können. Jedes Mal, wenn sie versucht hatte, freundlich zu ihr zu sein, war Martina ausgewichen.
Jetzt schob sie ihren Stuhl heftig und geräuschvoll zurück. »Jeder weiß doch, dass Lily uns verlassen wird, sobald der Krieg zu Ende ist. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie irgendeinen von diesen reichen Gesellschaftstypen heiratet – wahrscheinlich wird sie einer unserer Kunden in null Komma nichts abschleppen und ein Landhaus in Connecticut für sie bauen.«
Schockiert starrte Lily ihre Kollegin an. Wie konnte Martina nur so unfair sein? Sie hob entschlossen das Kinn – gegen einen dermaßen ungerechtfertigten Angriff würde sie sich zur Wehr setzen müssen, so ungern sie sonst vor Giorgio persönliche Auseinandersetzungen führte. »Ich fühle mich meinem Beruf genauso verpflichtet wie jeder männliche Kollege. Vielleicht sogar noch mehr. Und ich habe keinerlei Absichten, zu heiraten. Warum in aller Welt sollte ich?« Lily spürte, wie sie heiße Wangen bekam. Die Pläne meiner Mutter …
Bei Lilys Einstellungsgespräch hatte Giorgio auf die unvermeidliche Frage nach Verlobungs- und Kinderplänen verzichtet, aber in der Küche gab es immer wieder Gerüchte, und Lily wusste nur zu gut, dass einige ihrer Kollegen sie für eine verwöhnte reiche Göre hielten, die hier lediglich ihren Beitrag zu den Kriegsanstrengungen ableisten wollte. Aber wie kann Martina es wagen, mich bei Giorgio so in Misskredit zu bringen!
»Es gibt vielerlei Gründe dafür, dass ich Lily ebenfalls für die Stelle in Betracht ziehen möchte«, sagte Giorgio, und sein Blick wanderte zwischen Martina und Lily hin und her.
Neben Lily kniff Tom konzentriert die Augen zusammen.
Lilys Herz pochte heftig. Chef de Cuisine im Valentino’s. Plötzlich bekam sie ein schlechtes Gewissen, dass sie ausgerechnet aufgrund der tragischen Verheerungen eines Kriegs die Chance bekam, ihren Traum zu verwirklichen und für Manhattans berühmtestes Restaurant ihre eigenen Rezepte zu entwickeln. Sie sollte an Marco denken, nicht an ihre eigene Karriere. Aber die Gelegenheit, sich um ein ganzes Team von Köchen zu kümmern und mit einigen der besten Zulieferer New Yorks zusammenzuarbeiten – als Chefköchin im Valentino’s? Für jeden ernsthaften, leidenschaftlichen Koch wäre das die Krönung seiner Laufbahn.
»Ich möchte mich bei dir entschuldigen, Tom«, fuhr Giorgio fort. »Dafür, dass ich über deinen Weggang spreche, bevor er überhaupt geplant ist. Natürlich hoffe ich, dass du nicht eingezogen wirst und bei uns bleibst.«
»Kein Problem«, erwiderte Tom, wandte sich dann aber mit besorgtem Blick zu Lily um.
Sie schüttelte leicht den Kopf, obwohl es sie wirklich überraschte, dass Martinas Feindseligkeit ihr gegenüber so tief ging.
»Es tut mir wirklich leid, dass ich dieses Thema praktisch im gleichen Atemzug ansprechen musste wie Marcos Tod«, fügte Giorgio hinzu. »Aber wir können wirklich nicht länger weitermachen ohne einen richtigen Chef de Cuisine.«
Martina krempelte die Ärmel auf. »Natürlich nicht, Giorgio. Aber ich verstehe einfach nicht, warum eine Kollegin, die halb so lange hier ist wie ich, ernsthaft für diese Stellung in Erwägung gezogen wird, wo doch klar ist, dass ich dich stolz machen könnte.«
»Martina«, begann Giorgio und faltete die Hände vor sich auf dem Schreibtisch, »Lily hat nicht nur eine große Leidenschaft fürs Kochen, sie ist obendrein in der einmaligen Lage, dass sie die Klientel unseres Restaurants versteht und daher mühelos die Grenzen zwischen der Küche, dem Management und unseren Gästen überqueren kann. Das ist für mich sehr wertvoll.«
Der Blick, den Martina Lily zuwarf, hätte kaum vernichtender sein können.
»Lily und Tom, ihr seid morgen früh bitte um Punkt drei Uhr hier und begleitet mich auf den Markt.«
Als sie hinter Tom und Martina Giorgios Büro verließ, war Lilys Phantasie kaum mehr zu bremsen. Sie dachte über Rezepte nach, die beweisen würden, wie entschlossen sie war, die Stelle eines Chefkochs voll und ganz auszufüllen. Wenn sie Marcos Arbeitsstelle schon unter solch tragischen Umständen übernehmen musste, würde sie alles daransetzen, seinem Andenken alle Ehre zu machen.
Nach dem Lunchservice informierte Giorgio auch das übrige Küchenpersonal über Marcos Tod, und alle gingen mit gesenktem Kopf in die Pause. Nur Lily trat leise in Marcos Büro und blieb schaudernd einen Augenblick in dem stillen Raum stehen.
Seine Kochmütze lag immer noch oben im Regal bei den Rezeptbüchern, auf dem Schreibtisch stapelten sich ordentlich von Hand geschriebene Warenbestellungen. Alles sah aus, als wäre Marco kurz zu Giorgio gegangen und könnte jede Minute zurückkehren. Lily musste in ihrer Rocktasche nach einem Taschentuch graben und sich die Nase putzen.
Ganz unten im Regal standen Marcos eigene Rezeptordner noch genau so, wie er sie hinterlassen hatte, der letzte noch nicht vollständig – und das würde er nun auch niemals werden.
»Lily.«
Langsam hob Lily den Kopf.
Vor ihr stand Tom Morelli und blickte ihr fragend in die Augen. Schon vorhin, beim Service, hatte sie bemerkt, dass er immer wieder zu ihr herübersah.
Jetzt stützte er sich mit der Hand am Türrahmen ab. »Alles in Ordnung mit dir?«
Lily nickte und machte sich daran, ihre Schürze aufzubinden. Aber die Bänder hatten sich verknotet.
»Wäre es in Ordnung, wenn ich dir helfe?« Er lächelte sie an, ein charmantes, jungenhaftes Lächeln.
Einen Moment schloss Lily die Augen, wandte ihm dann aber den Rücken zu und spürte, sich seiner Nähe fast quälend bewusst, wie er geschickt mit den Schürzenbändern hantierte. Als er fertig war, drehte sie sich wieder zu ihm um. Sie musste sich zusammennehmen. Marcos Tod hatte sie schwer getroffen, was leider dazu führte, dass sie Toms Gegenwart mit einer Leidenschaft fühlte, die tiefer ging, als ihr recht war. Sie, Tom, Marco – so oft hatten sie zusammengearbeitet. Marco und Tom waren gut befreundet gewesen, und Lily war sicher, dass die Nachricht von seinem Tod auch Tom gewaltig zusetzte. »Danke«, sagte sie leise.
Tom reichte ihr die Schürze. »Du musst die Zügel in die Hand nehmen«, sagte er leise und eindringlich. »Lass dich nicht unterkriegen von Martina. Du und ich, wir wissen beide, wie sehr Marco dich geschätzt hat … er hat mir einmal gesagt, dass er glaubt, du kannst alles erreichen, was du dir vornimmst. Du solltest diese Chance nutzen, du hast sie dir hart erarbeitet.«
Lily sah ihn an. »Meinst du, er musste leiden, Tom?«, fragte sie.
»Ich möchte lieber nicht darüber nachdenken, was er durchgemacht hat.« Mit gesenkter Stimme und offensichtlich bewegt fügte Tom hinzu: »Aber ich weiß, er würde wollen, dass du für diese Chance alles gibst.«
»Nun«, entgegnete Lily zögernd, »ich glaube nicht, dass die ganze Küchenbrigade so denkt wie du, Tom, aber was du sagst, ist wirklich freundlich.« Da sie sicher war, dass Tom ihre Sorgen verstehen würde, fuhr sie fort. »Ich befürchte, dass Giorgio mich anlernen will, weil meine Familie Beziehungen hat, die ihm nützen könnten. Du weißt ja, wie versiert er und Sidney sind, wenn es darum geht, die richtigen Leute ins Valentino’s zu locken.«
Tom zog eine Augenbraue in die Höhe. »Du hast dich im Rekordtempo hochgearbeitet. Du bist eine fabelhafte Köchin. Und damit das klar ist – ich glaube, du würdest auf Marcos Stelle Hervorragendes leisten. Giorgio ist sicher ein guter Geschäftsmann und hat wirklich ein Auge für gutes Küchenpersonal. Und Sidney … na ja, mach dir seinetwegen keine Sorgen.« Ein Schatten zog über Toms Gesicht. »Es ist furchtbar, dass wir wegen des Kriegs so viele Mitarbeiter verlieren werden. Genau das macht Giorgio ja so zu schaffen.«
Lily nickte. Wenn sie für ihren Traum kämpfen wollte, musste sie an sich glauben. »Weißt du, ich hasse den Gedanken … dass noch mehr Leute weggehen.« Vor allem, wenn du gehst, hätte sie gern hinzugefügt, aber sah stattdessen zu Marcos Rezeptbüchern hinüber. »Ich glaube, die zentrale Herausforderung wird sein, mit den Lebensmittelrationierungen klarzukommen. Ich würde mir liebend gern ein paar Kriegsrezepte ausdenken.«
»Und ich würde dir liebend gern dabei helfen«, erwiderte Tom und grinste breit. »Wenn ich K-Rationen essen muss, werde ich besonders dankbar dafür sein, dass du extra für mich und Tausende andere Männer, die in den Kampf ziehen, getrocknetes Rindfleisch aufgespart hast. Und falls ich wirklich eingezogen werde, denke ich daran, wie viel Spaß wir zusammen hatten.«
»Und ich verspreche, dir nach deiner Rückkehr ein Rinderfilet zuzubereiten, das so lecker schmeckt, dass du sofort alle schlechten Erinnerungen an die Kriegsrationen vergisst. Das Valentino’s wird dich erwarten.«
»Ein Juwel, das köstliche Speisen kreiert und den Menschen zumindest die Vorstellung von einem normalen Leben gibt.« Sein Gesicht wurde weich, und Lily war nicht sicher, ob sie noch über das Valentino’s sprachen.
Sie lächelte ihn an und genoss die Wärme seines Blicks. »Da fasle ich über meinen Traum vom Chefkoch, während dir womöglich der Kriegsdienst bevorsteht – im Vergleich dazu sind meine Schwierigkeiten banal.« Sie schlug die Augen nieder.
»Nein, Lily …« Toms Stimme war noch sanfter geworden, er legte die Finger unter ihr Kinn und hob es behutsam an. »Entweder du oder Martina, eine von euch wird der erste weibliche Chef de Cuisine der Vereinigten Staaten in einem Restaurant vom Niveau eines Valentino’s werden. Wir können den Krieg nur gewinnen, wenn unsere Heimatfront stark ist.« Er sah ihr lange in die Augen. »Du hast Familie hier im Valentino’s.«
»Danke«, flüsterte sie und erwiderte seinen Blick. »Das bedeutet mir sehr viel.« Mehr, als du ahnst.
»Also … wie kommst du denn um drei Uhr morgens hierher? Mit dem Fahrrad? Oder per Anhalter über die Third Avenue?« Tom grinste.
»Ach, du bist ein Spinner!«
»Möchtest du vielleicht mit mir zusammen die U-Bahn nehmen? Du hast mal erwähnt, dass du in Gramercy Park wohnst.«
»Na, das ist doch mal ein guter Plan.« Die Vorstellung, mit Tom die Bahn zu nehmen, kam ihr wesentlich abenteuerlicher vor, als mitten in der Nacht allein mit dem Auto zu fahren. Außerdem hatte sie ihre Benzinration für diese Woche schon fast aufgebraucht.
Und was die Grenzen anging, die sie um diesen jungen Mann gezogen hatte … Sie wusste, dass sie sie sofort überschreiten und sich in ihn verlieben könnte, aber sie fuhren ja nur zusammen zur Arbeit. Daran gab es doch nichts auszusetzen, oder? Es war doch das Gleiche, als hätte er ihr angeboten, ihre Bücher für sie zu tragen oder etwas in der Art.
Keine große Sache …
Tom warf seine Kochmütze verspielt von einer Hand in die andere. »Es macht mich nämlich immer ein bisschen nervös, wenn ich nachts mit der U-Bahn fahren muss. Da wäre mir ein bisschen Gesellschaft sehr recht.«
Sie lachte laut. »Na, dann mach dir mal keine Sorgen, ich beschütze dich.«
»Gut«, sagte er. »Ich hatte ein bisschen Angst, du würdest Nein sagen, wenn ich dich frage.«
Lily schlug mit dem Schürzenband nach ihm, aber er wich ihr geschickt aus.
»Schlaf dich gut aus«, grinste Tom noch. »Und dann sehen wir uns um halb drei an der Ecke Park Avenue und Gramercy Park, ja?«
»Abgemacht. Ich weiß gar nicht, ob ich mir überhaupt die Mühe machen soll, heute noch ins Bett zu gehen.«
Lachend trennten sie sich. Als Lily am Ende ihrer Schicht in der Damentoilette einen Blick auf ihr Spiegelbild erhaschte, sah sie, dass ihr Gesicht trotz der schrecklichen Tragödie, die sie alle heute getroffen hatte, strahlte und ihre blauen Augen wie seit Monaten nicht mehr funkelten.
Nachdem sie sich im Valentino’s für den Tag abgemeldet hatte, fuhr sie die Park Avenue hinunter und spürte plötzlich große Wut über Marcos sinnlosen Tod in sich aufsteigen. Gekonnt schlängelte sie sich durch den quälend langsam fließenden Verkehr und bog dann in Richtung Greenwich Village ab, um im Haus ihrer geliebten Granny Zuflucht zu suchen. Viel zu schnell passierte sie den Washington Square Park und brauste durch die engen Straßen des historischen Viertels mit den traditionellen New Yorker Stadthäusern, den Comedy-Keller-Klubs und italienischen Feinkostgeschäften mit Imbissmöglichkeit – kurz Deli genannt –, den Ständen mit frischem Gemüse und den kleinen Lebensmittelläden.
Vor einem dreistöckigen roten Backsteingebäude in der Bank Street, dem Zuhause ihrer Großmutter Josie, hielt Lily an, zog den Schlüssel aus der Zündung, schloss den Wagen ab und rannte die Stufen zur Haustür hinauf. Josies Dienstmädchen Emmeline öffnete, bevor Lily Zeit hatte, den Messingtürklopfer zu betätigen.
»Miss Lily.« Emmeline streckte die Hand aus, um Lily Mantel und Hut abzunehmen.
Lily drückte Emmeline die Hand und löste ihre Haare aus dem bei der Arbeit unvermeidlichen Dutt. »Sehr lieb von dir, Emmeline. Ist meine Granny zu Hause? Ich muss ihr unbedingt mein Herz ausschütten.«
»Oh, tut mir sehr leid, Miss, sie ist runter in die Bleecker Street gegangen, müsste aber echt bald zurück sein. Sehr bald, meine ich.« Emmeline errötete, was ihre Pfirsichhaut bis zu den Wurzeln ihrer feinen blonden Haare noch strahlender erscheinen ließ. Da sie klein und zierlich war, musste sie zu Lily aufschauen.
»Ach, du brauchst es doch nicht so genau nehmen mit deiner Ausdrucksweise«, winkte Lily Emmelines Versuche ab, ihren Brooklynakzent zu übertünchen. »Du machst das sehr gut. Aber wenn ich nicht mit Josie sprechen kann, muss ich nach unten gehen und kochen. Meine Gedanken drehen sich im Kreis.«
»Selbstverständlich, Miss«, antwortete Emmeline, als wäre es das Normalste der Welt, dass Lily am späten Nachmittag hier eintraf und auf direktem Weg in die Souterrainküche ihrer Großmutter sauste.
Lily nahm sich aus dem alten Holzschrank eine Schürze und griff sich die benötigten Küchenutensilien. Mit einem tiefen Seufzer der Erleichterung nahm sie den Anblick von Josies einladender Küche mit dem sauber geschrubbten, von der goldenen Nachmittagssonne beschienenen Holztisch in sich auf. Auf einem Stapel Rezeptbücher lag Josies Lesebrille, daneben stand eine Keramikvase mit Blumen, der riesige alte englische Herd verbreitete eine gemütliche Wärme, und auf einem der Kochfelder stand eine dampfende Kanne Kaffee.
Josie hatte die Küche, durch deren große Fenster man eine Vielzahl Blumentöpfe und Kübel mit cremeweißen Rosen, winzigen Tausendschönchen und an der Hauswand emporkletterndem Efeu bewundern konnte, zum Mittelpunkt ihres Hauses erkoren. Bei Lilys Eltern wurden die Mahlzeiten ausschließlich im offiziellen Speisezimmer eingenommen – unter den Blicken wildfremder Menschen auf großen Porträts, die Victoria gekauft und an den karminrot gestrichenen Wänden aufgehängt hatte, weil man das eben so machte.
Kurz nach Lily erschien Emmeline in der Küche, mit ihrer zuverlässigen Präsenz Balsam für Lilys unruhige Gedanken. »Hätten Sie gern ein wenig Hilfe, Miss Lily?«, fragte sie.
»Oh, danke, Emmeline, du bist wirklich ein Schatz. Hast du denn auch wirklich Zeit?«, erwiderte Lily.
Emmeline nickte und lächelte. »Sie wissen doch, wie gern ich mit Ihnen koche.«
»Wundervoll. Ich brauche Fett, Honig, Mehl, Backpulver und eine Prise Salz, außerdem ein schaumig gerührtes Ei, Orangensaft und geriebene Orangenschale«, erklärte Lily, während sie die Zutaten zusammentrug.
Dann band sie sich die Schürze über den roten Rock und die weiße Bluse und begann, Fett und Honig zu quirlen. Neben ihr siebte Emmy Mehl, Backpulver und Salz in eine blau-weiß gestreifte Keramikschüssel. Im Handumdrehen war Josies Küche erfüllt vom Geräusch der Holzlöffel, die leise an die Schüsselwände schlugen, und Emmeline begann, eine Melodie zu summen. Als das Gemisch cremig war, nahm Lily die trockenen Zutaten entgegen und gab sie zu der seidenweichen Honigmischung, während Emmy das Ei schlug.
»Emmeline, die Contis würden dir augenblicklich eine Stelle im Valentino’s geben, wenn meine Großmutter dich entbehren könnte«, lachte Lily. »Aber Josie würde ohne dich sofort eingehen.«
»Ich bin auch gar nicht geeignet, um in einem so berühmten Restaurant zu arbeiten«, meinte das Dienstmädchen und reichte Lily das perfekt verquirlte Ei.
Von mir hätte ich das auch nicht gedacht, dachte Lily. Aber dank Marco hat sich meine Ansicht geändert. Während sie arbeitete, sah sie sein Gesicht vor sich und spürte eine tiefe Traurigkeit.
Als Nächstes hob Lily das Ei unter die Mischung, während Emmy Orangenschale abrieb und Saft abmaß. Als das Gemisch gut verrührt war, stellte Lily den zarten Teig in den Kühlschrank.
»Jetzt muss das Ganze eine halbe Stunde ruhen, und wir haben Gelegenheit, zusammen eine Tasse Kaffee zu trinken«, ordnete Lily an.
Kaum saßen sie beide am Küchentisch, erschien Josies weiße Katze Cosmo und strich ihnen schnurrend um die Beine. In aller Ruhe tranken sie ihren Kaffee, und erst als Lily Schritte auf der Treppe hörte, sprang sie auf, um ihre Großmutter zu begrüßen.
Wie immer trug Josie die dichten, grauen Haare aus dem schönen Gesicht gekämmt, und ihre blauen Augen strahlten beim Anblick ihrer Enkeltochter. Eilig schlüpfte sie aus ihrem marineblauen Lieblingscape und zupfte die Ärmel des Samtkleids zurecht – ein Modell aus dem Jahr 1923, tief sitzende Taille und mit Seidenbändern verziert. »Du siehst ein bisschen angespannt aus, Liebes. Ich hoffe, es ist nichts Schlimmes passiert?«
Lily umarmte ihre Großmutter, atmete tief den Duft ihres Eau de Cologne ein und ließ einen Moment den Kopf auf ihrer Schulter ruhen. »Liebste Granny, ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll, ich hab so viele Neuigkeiten.«
Im gleichen Augenblick klingelte es an der Haustür, und Emmeline eilte nach oben, um zu öffnen.
»In der Küche, Emmeline? Ich hätte es mir denken können«, hallte kurz darauf die tadelnde Stimme von Lilys Mutter durchs Haus, und Cosmo suchte sofort das Weite.
Lily sackte regelrecht in sich zusammen, als wenige Augenblicke später ihre Mutter an der Küchentür erschien, im schwarzen, maßgeschneiderten Kostüm, eine weiße Rose an der Brust, die dunklen Haare in akkurate Wellen gelegt. Über die Schulter trug sie einen cremefarbenen Kaschmirschal, und an ihren langen, wohlgeformten Beinen schimmerten die besten Seidenstrümpfe, die bei Macy’s zu finden waren und die Victoria bei der ersten Andeutung, es könnte Krieg geben, gehamstert hatte.
Da sie an ihren Streit vom Vormittag dachte, griff Lily zu einem Ablenkungsmanöver und eilte zum Kühlschrank. »Meine Orangenkekse müssen sofort in den Ofen.«
»Lily! Ich bin eigens hierhergekommen!«
Statt ihre Mutter zu begrüßen, nahm sie die Schüssel mit dem Teig aus dem Kühlschrank. »Perfekt«, stellte sie fest. Sie warf ihrer Großmutter, die am Küchentisch Platz genommen hatte, einen verstohlenen Blick zu und verkniff sich ein Grinsen.
»Wie meine Tochter so küchenverrückt werden konnte, ist mir ein Rätsel«, kommentierte Victoria mit ihrem High-Society-Akzent, der Lily immer an Katharine Hepburn erinnerte.
Kein Wunder, dachte Lily, du hast ja auch nie einen Fuß in ein anderes Zimmer gesetzt als in deinen Salon, dein Schlafzimmer und den Speisesaal.
Naserümpfend blieb Victoria in der Tür stehen. »Ich werde deine Zukunft nicht im Souterrain besprechen. Komm augenblicklich mit nach oben.«
Doch Lily holte unbeirrt ein Nudelholz, krempelte die Ärmel auf und beugte sich über den Küchentisch, um den Teig auszurollen.
»Ich werde mich von meiner Tochter nicht ignorieren lassen!«
»Diese Kekse müssen gebacken werden«, erklärte Lily noch einmal, griff nach einer runden Ausstechform und drückte sie in den weichen Teig. »Sie sind für Josies Nachmittagstee gedacht.«
»Du meine Güte!«, rief Victoria und schlug die Hände über dem Kopf zusammen. »Ihr beide, was zieht ihr bloß für ein Theater ab. Und das nur wegen Nathaniel Carter. Dabei ist er so verliebt in Lily, und noch dazu der begehrenswerteste Junggeselle von ganz New York.«
Ungestüm rollte Lily ihren Teig aus. Begehrenswert für wen, Mutter? Für dich?
Victoria senkte die Stimme und wandte sich an ihre Schwiegermutter. »Mein guter Jacob möchte sich nach dem Krieg aus dem Hutgeschäft zurückziehen und hat bereits seine Nachfolge geregelt.«
»Ich verstehe nicht ganz, Victoria.« Josie stellte sich zu Lily und verschränkte die Arme vor der Brust. Lily bot ihr ein Stückchen Teig zum Probieren an.
»Erzähl Granny doch ruhig auch den Rest, Mutter«, sagte Lily. »Nur zu.«
»Die Carters werden die Fabrik übernehmen, und natürlich wird Lilys Sohn später das Erbe antreten«, fuhr Victoria fort. »Und wenn der Sohn meiner Tochter ein Mitglied der Carter-Familie ist, blickt die Familie Rose einer wunderbaren Zukunft entgegen.«
Josie presste die Lippen aufeinander. »Du vergisst dabei, dass nicht jede Frau einen Sohn bekommt, Victoria.«
Lily machte große Augen, konzentrierte sich jedoch rasch wieder auf ihr Nudelholz und seufzte lang und tief.
Eine Weile herrschte Schweigen, und als Lily zu ihrer Mutter hinüberschielte, sah sie, dass auf Victorias Wangen hektische rote Flecken erschienen waren.
»Ich erinnere dich daran, Josie, dass dein verstorbener Mann, mein Schwiegervater, fünfzig Jahre lang gearbeitet hat, um das Familienunternehmen aufzubauen. Wenn Lily darauf besteht, sich im Souterrain eines Restaurants lächerlich zu machen, läuft sie Gefahr, dass Nathaniel das Interesse an ihr und sie am Ende auch noch das Geschäft verliert.«
Der hässliche Ausdruck auf Victorias Gesicht brachte Lily eine Erinnerung zurück, die fast zwanzig Jahre alt war. Victoria hatte sich immer in ihre Kinderfreundschaften eingemischt, aber ein Fall war besonders schmerzhaft gewesen. Ettie hieß das kleine Mädchen, das Lily in der Grundschule heiß und innig geliebt hatte. Als ihre Mutter erfuhr, dass Ettie in der Lower East Side wohnte, hatte sie der jungen, ahnungslosen und leicht beeinflussbaren Lily jeden Umgang mit ihr verboten und ihr erklärt, dass nette junge Ladys den New Yorker Stadtteil südlich der 14th Street zu meiden hatten, da dort nur schlechte Menschen wohnten.
Natürlich hatte Lily ihrer Respekt einflößenden Mutter geglaubt. Was blieb ihr anderes übrig?
Traurig und zutiefst beschämt hatte sie in das fassungslose Gesicht ihrer Freundin geblickt, als Victoria verkündete, Lily könne leider nicht mehr mit ihr spielen. Etties Dad arbeitete in einem Hotel in der Nähe von Gramercy, brachte seine Tochter jeden Morgen mit der U-Bahn zur örtlichen Grundschule und hatte auch an diesem Tag vor dem Schultor darauf gewartet, dass Lily angerannt kam und ihrer Freundin in die Arme fiel. Meistens brachte Ettie für Lily etwas mit – eine Papierpuppe, eine Auswahl selbst gebackener, liebevoll in Wachspapier verpackter Kekse, und obwohl sie immer nur eine Nacht lang getrennt waren, hatten sie sich jeden Tag viel zu erzählen.
Victoria hatte nicht einmal erlaubt, dass die beiden Mädchen sich voneinander verabschiedeten, sondern Lily gewaltsam von ihrer Freundin weggezerrt.
Obgleich Lily schon damals bewusst war, dass ihre Mutter der kleinen Ettie das Herz brach, hatte sie es geschehen lassen.
Dass Lily um ihre Freundin trauerte, der sie nach wie vor jeden Tag in der Schule begegnete, hatte Victoria derart rasend gemacht, dass sie sie kurzerhand in eine teure Privatschule steckte. Da Lily noch immer glaubte – und hoffte –, ihre Mutter meine es gut und stelle das Leben ihrer Tochter nicht ohne triftigen Grund auf den Kopf, hatte sie nachgegeben.
Victoria war bis heute nicht bereit, umzudenken. »Ein Mädchen wie du sollte Debütantinnenbälle besuchen und nicht in diesem Keller schmoren wie ein gewöhnliches Arbeitstier«, erklärte sie voller Verachtung und holte Lily schlagartig zurück in die Gegenwart. »Erst neulich hat mich eine meiner Freundinnen nach dir gefragt. Warum habe ich zugelassen, dass meine Tochter eine Dienstbotin wird, während die anderen Mädchen ihren Schönheitsschlaf genießen und Verbandsmaterial für unsere Männer an der Front aufwickeln?«
»Giorgio Conti ist ein außerordentlicher Mann«, entgegnete Josie ruhig. »Er würde Lily niemals wie eine Dienstbotin behandeln.«
»Er ist eine Koryphäe in der Restaurantbranche«, fügte Lily hinzu.
Victoria schnaubte verächtlich. »Ich verstehe immer noch nicht, warum Küchen und Kekse für dich wichtiger sind als Partys, Freunde und schöne Kleider!«
»Könnte etwas damit zu tun haben, dass die Welt sich im Krieg befindet«, murmelte Lily. »Wenn wir uns zu Hause nicht der Herausforderung stellen und unsere Betriebe am Laufen halten, wie sollen wir dann eine solide Basis schaffen, um den Krieg zu gewinnen?« Sie musste sich ein Lächeln verkneifen, denn sie freute sich, dass sie ihrer Mutter mit Toms Argument begegnen konnte.
Victoria lachte hart. »Genau deshalb beschäftigt Giorgio Conti Frauen im Valentino’s – weil wir Krieg haben und ihr nützlich für ihn seid. Vorher hat er nur Zigarettenmädchen und Garderobenfrauen engagiert. Was ich auch ganz richtig finde.« Sie kniff die Augen zusammen und senkte die Stimme. »Meine Sorge ist nicht unbegründet, Lily. Vor Kurzem habe ich in der Zeitung einen Artikel über das Problem der Erwerbstätigkeit von Frauen gelesen, und es ging auch um die Frage, was nach dem Krieg aus ihnen werden soll.«
Lily stach das letzte Plätzchen aus und betrachtete das Blech. Obwohl sie auf ihrem Ausbildungsweg durch die Küchenbrigade ihr volles Pensum bei Julius, dem Patissier, abgeleistet hatte, kam das Ergebnis längst nicht an dessen perfekte Kreationen heran. Aber ihm saß auch nicht seine eigene Mutter im Nacken.
Schwungvoll legte sie ihre Schürze ab. »Nun, Mutter, Giorgio Conti hat mir gerade mitgeteilt, dass er mich zum Chefkoch ausbilden möchte. Ich hoffe, du gibst mir dafür deinen Segen und siehst ein, dass eine solche Gelegenheit das genaue Gegenteil von Sklavendienst ist. Und was die Zeit nach dem Krieg angeht, bin ich sicher, dass ich mich bis dahin so weit entwickelt haben werde, dass ich unverzichtbar bin.«
»Lillian!«
»Ist das nicht großartig?«, rief Josie begeistert. »Ich bin sehr stolz auf dich, Liebes.«
Victorias Gesicht war puterrot angelaufen. »Lass mich ganz offen mit dir reden, Mädchen. Wenn du unbedingt in dieser Restaurantküche Chefkoch und Tellerwäscher spielen musst, werde ich unseren Freunden erklären, dass du deinen Beitrag zu den Kriegsanstrengungen leisten möchtest, weil es dir nicht reicht, dich nach deinem Verlobten zu sehnen. Aber sobald der Krieg zu Ende ist, wirst du Nathaniel heiraten, und zwar umgehend. Dein Vater wird sich in den Ruhestand zurückziehen, und du wirst die Pflichten einer Tochter erfüllen. Betrachte dich ab heute als Nathaniels Verlobte.«
Mit flinken Schritten ging Lily an ihr vorbei und schob das Blech mit den Keksen in den Backofen. Für einen Moment starrte sie auf die kleinen Teighäufchen. Den Versuch, Victoria mit logischen Argumenten zu überzeugen, hatte sie schon lange aufgegeben. Ihre Mutter schlug jedes Mal mit etwas zurück, das Lily völlig aus dem Gleichgewicht brachte. Längst war ihr wahres Zuhause hier bei Josie.
Nachdem sie die Ofentür geschlossen hatte, wandte Lily sich langsam zu ihrer Mutter. Sie holte tief Luft, doch ihre Stimme zitterte. »Hast du Father Simmons etwa schon gebeten, das Aufgebot auszuhängen?« Tränen glitzerten in ihren Augen. »Was glaubst du denn, in welchem Jahrhundert wir leben?« Wieder schwankte ihre Stimme, aber sie blickte ihrer Mutter direkt ins Gesicht.
Victoria richtete sich zu ihrer vollen Größe auf. »Wir haben dich in der richtigen Kirche großgezogen. Du musst nur noch vor den Altar treten.«
Lily blieb der Mund offen stehen.
Victorias Ton blieb forsch. »Während des Kriegs ist es akzeptabel, dass Frauen arbeiten. Aber ich werde nicht zulassen, dass du eine Karrierefrau wirst!«
»Ich bin Sous-Chef bei einem der berühmtesten Restaurants in New York und arbeite für einen unserer angesehensten Gastronomen, Mom. Nicht einmal du kannst dich doch für so etwas schämen.« Lily schluckte schwer.
Abrupt wandte Victoria sich Josie zu. »Niemand hat dir das Recht gegeben, meine Tochter darin zu unterstützen, sich bei den Contis als Sklavin zu verdingen!«
»Ich glaube nicht, dass es für eine junge Frau erniedrigend ist, im Valentino’s zu arbeiten. Außerdem liebt Lily ihre Arbeit.«
»Und ich ziehe nicht einmal in Erwägung, sie aufzugeben«, stieß Lily hervor.
»Na gut. Dann hast du soeben die Bedingungen angenommen, die dein Vater und ich dir gestellt haben …«
Lily holte scharf Luft.
»… und in der Zwischenzeit«, fuhr Victoria fort, »gibt es gefälligst keine Treffen mit dem Konditor, keine Flirts mit dem Servicepersonal und definitiv keine Verbrüderung mit Angehörigen der Küchenbrigade. Du weißt ja selbst, dass Menschen, die zu kennen sich lohnt, über dich reden werden. Auf diese Weise ruinierst du deinen guten Ruf schneller, als du deinen Rührlöffel durch eine dieser läppischen Schüsseln kreisen lässt.«
Lilys Wangen brannten. Der Impuls, nach oben in Josies sonnendurchflutetes Schlafzimmer zu laufen und das Gesicht in den weichen Kissen auf dem Bett zu vergraben, war so groß, dass Lily einen Schritt in Richtung Treppe machte.
Doch ihre Mutter versperrte ihr den Weg. »Die Macht einer Frau liegt in ihrer Fähigkeit, sich in den richtigen gesellschaftlichen Kreisen zu bewegen, einen wohlhabenden Ehemann zu finden und mit ihm Kinder zu zeugen, die diese Traditionen weitertragen. Erst die richtigen Schulen, dann die richtigen Partys, und schließlich die angemessene Kultivierung der Bridge- und Tenniszirkel. So funktioniert es schon immer, und das wird sich niemals ändern«, schloss sie mit einer entschiedenen Kopfbewegung.
»Aber das ist nichts für mich«, erwiderte Lily. »Ich werde meinen Lebensunterhalt selbst verdienen. Ich werde für meine Arbeit bezahlt.« Achtundvierzig Dollar im Monat.
»Dann versuche doch, vom Einkommen einer Frau zu leben«, gab Victoria höhnisch zurück. »Versuch es. Und wenn du mit diesem Unsinn weitermachst, kannst du davon ausgehen, dass du nach dem Krieg von uns keine finanzielle Unterstützung mehr bekommst.«
»Um Himmels willen, jetzt reicht es aber«, mischte Josie sich ein. »Mit einem hat deine Mutter allerdings recht, Lily. Ich habe dir tatsächlich vorgeschlagen, dich beim Valentino’s zu bewerben. Ich fürchte, der ganze Konflikt ist meine Schuld.«
»Nein, Granny«, flüsterte Lily. »Niemals.« Der tröstliche Duft der Orangenplätzchen drang aus Josies Backofen, eine Erinnerung daran, wie Lily auf einem kleinen Holzhocker neben ihrer Großmutter kochen gelernt und gemeinsam mit ihr gelacht und sich gefreut hatte. Im Lauf der Jahre waren ihre gemeinsamen Kreationen allerdings etwas komplexer geworden.
»Mutter, ich werde jetzt gehen. Ich muss morgen sehr früh anfangen«, sagte Lily.
»Mädchen wie du heiraten junge Männer, die im Finanzdistrikt arbeiten und im Valentino’s essen gehen. Man arbeitet nicht an einem Ort, an dem Leute aus deiner eigenen Schicht bedient werden«, erklärte Victoria im Brustton der Überzeugung. »Ich erwarte dich zum Lunch bei den Carters, und zwar an Nathaniels Arm«, fügte sie hinzu, warf sich ihren Schal um die Schultern und blockierte die Tür.
Aber Lily ignorierte sie. »Granny, die Orangenkekse sind nach einem speziellen Kriegszeitenrezept, das ich mir für deinen Nachmittagstee ausgedacht habe. Statt Butter hab ich Backfett verwendet. Hoffentlich schmecken sie dir. In zehn Minuten soll Emmeline nach ihnen schauen.« Sie packte Josies ausgestreckte Hand, schloss ein paar Sekunden die Augen, um die vertraute, weiche Wärme zu spüren, und brachte für ihre Großmutter sogar ein schwaches Lächeln zustande.
»Ganz schön raffiniert, Schätzchen«, antwortete Josie. »Und ich gratuliere dir zu deiner Chance, dich zum Chef de Cuisine ausbilden zu lassen.«
»Ich zähle darauf, dass dieser Krieg bald zu Ende ist«, knurrte Victoria.
Lily umarmte Josie fest und vergrub ihr Gesicht an ihrer weichen Samtschulter. Ohne ein Wort zu ihrer Mutter verließ sie die Küche.
Lily drückte sich die Faust vor den Mund. Ihr war nun klar, was sie tun musste. Ihre Mutter wollte Spielchen spielen? Das konnte sie auch. Sie würde tun, als wäre sie bereit, Nathaniel zu heiraten – und dabei inständig hoffen, dass er sich in eine andere verliebte.
Kurz vor drei am nächsten Morgen waren die Straßen von New York noch menschenleer, finster und unheimlich. Da Verdunkelungspflicht herrschte, schien der in Europa wütende Krieg auf einmal seltsam nah und bedrohlich, und Lily fühlte den Impuls, sich zu beeilen. Außer Tom und ihr waren lediglich die Straßenfeger unterwegs, die ihre Karren klappernd über die Bürgersteige schoben und deren Stimmen gespenstisch durch die Nacht hallten.
Als sie sich dem Valentino’s näherten, empfing sie bereits das Husten und Spucken des Kühllastwagens, der sich warm machte für die zweieinhalbstündige Fahrt zu den Gemüsegärtnereien in Bridgeport, Connecticut.
Neben dem Lkw stand Giorgio in seinem Sakko und rauchte eine Zigarette. Lily zog ihre Stickjacke gegen die Kälte enger um sich.
Zur Begrüßung klopfte Giorgio Tom auf den Rücken und lächelte Lily freundlich zu. »Guten Morgen, ihr zwei Hübschen.« Er trat die Zigarette mit der Hacke seines hellbraunen Lederschuhs aus und tätschelte die Seite des Lastwagens. »Also, wer von euch möchte gern dieses schwerfällige Baby fahren? Nicht einfach, sich daran zu gewöhnen.«
Lily blinzelte. Nach dem gestrigen Streit mit ihrer Mutter und auch aus Angst, den Wecker zu überhören, hatte sie kaum geschlafen.
»Magst du das Steuer übernehmen, Lily?« Tom lehnte sich an das brummende Fahrzeug. »Zeig uns doch mal, wie man fährt.«
»Du möchtest also, dass Lily am Steuer sitzt?«, fragte Giorgio und schnalzte mit der Zunge.
Lily reckte das Kinn. »Na ja, ich fahre wirklich gern.« Natürlich flößte der große Brummer ihr Respekt ein. Sie kaute nachdenklich auf der Unterlippe, doch Tom grinste ihr ermutigend zu, und schließlich brachte auch sie ein zögerndes Lächeln zustande. Sie war es nicht gewohnt, dass jemand an ihre Fähigkeiten glaubte, denn sie war damit aufgewachsen, dass ihre Mutter alles, was sie gut konnte, bestenfalls unwichtig fand. Sie ermutigte ihre Tochter nie, und schon gar nicht zu etwas, was traditionell eine Domäne der Männer war. Wie zum Beispiel, sich ans Steuer eines Lastwagens zu setzen.
Giorgio zuckte die Achseln und wuchtete dann mühsam die Fahrertür auf.
Vorsichtig spähte Lily ins Führerhaus, wo es hinter dem nahezu horizontal angebrachten, großen Lenkrad nur eine einzige durchgehende rote Sitzbank zu geben schien. Garantiert würde das Steuern ihren Muskeln in jeder Kurve eine Bewährungsprobe abverlangen.
Sie kletterte beherzt auf die Radverkleidung, schwang sich von dort in die Fahrerkabine, und die beiden Männer folgten ihr. Giorgio setzte sich in die Mitte, während Tom außen Platz nahm.
»Na, da hab ich mir ja was Schönes eingebrockt«, brummte Lily vor sich hin und betrachtete stirnrunzelnd die Bedienungselemente.
»Hier ist die Gangschaltung«, erklärte Giorgio und deutete auf den langen Schaltknüppel. »Und die Kupplung ist dort unten, Liebes.«
Das Pedal erreichte Lily nur mit den Zehenspitzen.
»Madonna santa«