Das verschlossene Zimmer - Ella Carey - E-Book
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Das verschlossene Zimmer E-Book

Ella Carey

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Beschreibung

Es war ein ganz normaler Morgen, als das kleine, in Paris abgestempelte Päckchen im Briefkasten ihrer New Yorker Wohnung lag. Es war in braunes Papier eingewickelt und mit einem Seidenband verschnürt. Cat konnte nicht ahnen, dass der darin enthaltene Brief und der alte Messingschlüssel ihr Leben für immer auf den Kopf stellen würden ...

Paris, 1940. Das Leben der jungen Isabelle de Florian wird immer gefährlicher. Während die Deutschen Paris einnehmen, versteckt sie sich mit ihrer besten Freundin in ihrer Wohnung. Sie weiß, dass sie sich schnellstens in Sicherheit bringen müssen, denn sonst erwartet sie der sichere Tod. Seit Monaten spielt sie ein gefährliches Spiel und versucht Menschen, die sie liebt, in Sicherheit zu bringen. Nun muss auch sie flüchten. Schließlich gelingt es ihr die Stadt zu verlassen. Sie begibt sich hinaus in die dunkle Nacht …

New York, 2015. Die Fotografin Cat Jordan ist bestürzt, als sie einen Brief erhält, der sie darüber informiert, dass sie die Alleinerbin des Nachlasses von Isabelle de Florian ist. Isabelle war eine Freundin von Cats Großmutter. Beide lebten in Frankreich, bis die Nazi-Besatzung sie zur Flucht zwang. Der Brief enthält nur wenige Details, ist aber in einem Punkt eindeutig: Cat muss persönlich nach Paris kommen.

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Seitenzahl: 380

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Über das Buch

Es war ein ganz normaler Morgen, als das kleine, in Paris abgestempelte Päckchen im Briefkasten ihrer New Yorker Wohnung lag. Es war in braunes Papier eingewickelt und mit einem Seidenband verschnürt. Cat konnte nicht ahnen, dass der alte Messingschlüssel und der darin enthaltene Brief ihr Leben für immer auf den Kopf stellen würden ...

Paris, 1940. Das Leben der jungen Isabelle de Florian wird immer gefährlicher. Während die Deutschen Paris einnehmen, versteckt sie sich mit ihrer besten Freundin in ihrer Wohnung. Sie weiß, dass sie sich schnellstens in Sicherheit bringen müssen, denn sonst erwartet sie der sichere Tod. Seit Monaten spielt sie ein gefährliches Spiel und versucht Menschen, die sie liebt, in Sicherheit zu bringen. Nun muss auch sie flüchten. Schließlich gelingt es ihr die Stadt zu verlassen. Sie begibt sich hinaus in die dunkle Nacht …

New York, 2015. Die Fotografin Cat Jordan ist bestürzt, als sie einen Brief erhält, der sie darüber informiert, dass sie die Alleinerbin des Nachlasses von Isabelle de Florian ist. Isabelle war eine Freundin von Cats Großmutter. Beide lebten in Frankreich, bis die Nazi-Besatzung sie zur Flucht zwang. Der Brief enthält nur wenige Details, ist aber in einem Punkt eindeutig: Cat muss persönlich nach Paris kommen.

Über Ella Carey

Ella Carey wurde in Adelaide, Australien, geboren, studierte Klavier am Konservatorium sowie Kunst, Geschichte und Literatur. Heute lebt und schreibt sie in Melbourne mit ihrer Familie und zwei in die Jahre gekommenen Italienischen Windspielen. Schon immer haben sie die mutigen Frauenfiguren der Geschichte fasziniert, weswegen sie es liebt, ihre Romane nach wahren Begebenheiten zu erzählen. Ihre Bücher sind internationale Bestseller und erscheinen in vierzehn Sprachen.

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Ella Carey

Das verschlossene Zimmer

Übersetzt aus dem amerikanischen Englisch von Kerstin Winter

Inhaltsübersicht

Informationen zum Buch

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1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

Nachwort

Danksagungen

Impressum

Für Ben und Sophie, wie immer in Liebe.

1. Kapitel

Das Päckchen war in braunes Papier eingewickelt und mit einem Seidenband verschnürt. Dass es unversehrt geblieben war, grenzte an ein Wunder; immerhin hatte es den ganzen weiten Weg von Paris nach New York zurückgelegt. Die Enden des Schleifchens waren säuberlich gestutzt – fast, dachte Cat, als wäre die Person, die es verpackt hatte, auf Sparsamkeit bedacht gewesen. In sepiafarbener Tinte war die Adresse des Absenders zu lesen: Monsieur Gérard Lapointe, 9. Arrondissement, Paris. Cat hatte noch nie von ihm gehört.

Vorsichtig schüttelte sie das Päckchen. Etwas Festes rappelte darin, aber als Cat gerade nach ihrer Küchenschere greifen wollte, klopfte es an ihrer Haustür. Christian war wie immer pünktlich. Sie legte das Päckchen hin, nahm es wieder in die Hand, legte es zurück und ging zur Tür, um zu öffnen.

Christian trug einen neuen Anzug. Seine Haare waren im Gatsby-Stil zurückgekämmt. »Willst du dir nicht was anderes anziehen?« Er blickte auf die Uhr.

Cat lachte. »Muss ich?«

Christian bewegte sich durch ihre winzige Brooklyner Wohnung, als sei er hier zu Hause; gleichzeitig schien er es kaum erwarten zu können, zur Upper West Side zurückzukehren.

»Wie wär’s mit dem kleinen Schwarzen, das ich dir letzte Woche gekauft habe?«

Cat verbarg ihr Lächeln, als er vor ihrer neuesten Errungenschaft stehen blieb, einem altmodischen Schultertuch mit Pfauenmuster, das sie auf einem Flohmarkt für einen Spottpreis erstanden hatte. Stundenlang hatte sie damit zugebracht, die feinen Risse in dem Stoff auszubessern und die Fransen zu entwirren, und nun hing er über der Rückenlehne ihres roten Sofas.

Christian konnte sich augenscheinlich nicht entscheiden, ob er in Bezug auf das Tuch höflich sein sollte oder nicht.

»Ich musste es einfach retten, es war in einem solch jämmerlichen Zustand«, sagte Cat. »Also … okay, vielleicht sollte ich mich doch umziehen.« Zweifellos war das minimalistische schwarze Kleid, das Christian ihr vergangene Woche geschenkt hatte, für den heutigen Abend weit besser geeignet als der zartgrüne Hosenanzug aus den Vierzigerjahren, für den Cat sich ursprünglich entschieden hatte. Er kaufte ihr leidenschaftlich gerne Kleidung, und obwohl sie das sehr liebenswert fand, war es ihr auch manches Mal unangenehm. Seit ihrer Jugend war sie verrückt nach Retro-Mode, aber natürlich wollte sie ihn auch nicht kränken. Sie steuerte auf ihr Schlafzimmer zu.

Doch Christian packte ihre Hand und hielt sie zurück. »Michael und Alicia haben heute das Lokal ausgesucht. Wir gehen ins Lemon Tree. Offenbar haben sie dort eine neue Karte. Aber …« Er richtete seine Manschette und blickte erneut auf die Uhr.

»Das schaffen wir.« Cat zog sich das neue Kleid über den Kopf. Sie reichte Christian die Silberkette, die er ihr zum vierunddreißigsten Geburtstag geschenkt hatte, wandte ihm den Rücken zu und hob ihr honigfarbenes Haar hoch, damit er ihr die Kette im Nacken zumachen konnte.

»Ich liebe dich in diesem Outfit.«

Cat wandte sich um und betrachtete ihn. »Aber glaub ja nicht, dass ich mir das zur Gewohnheit mache.«

»Weiß ich doch.«

Sie tupfte etwas Parfum auf ihre Handgelenke. »Ich habe heute ein hübsch verpacktes Päckchen bekommen. Aus Paris. Ich bin so neugierig, was wohl drin sein könnte.«

Christian hielt ihr die Tür auf. »Das letzte Mal, dass ich in Paris war, habe ich nichts als das Innere der Bank gesehen.«

Das Päckchen musste ganz offensichtlich warten.

Es war vermutlich ohnehin nichts Besonderes darin.

Obwohl das Lemon Tree voll besetzt war, war die Atmosphäre in dem eleganten Restaurant alles andere als hektisch. Cat plauderte mit Tasha, Alicia und Morgan, die mit Christians ältesten Freunden verheiratet oder verlobt waren. Zwar würde sie es nur ungern zugeben, aber insgeheim wünschte sie sich, richtig zu ihnen dazuzugehören. Selbst nach zwei Jahren an Christians Seite fühlte sie sich nach wie vor ein wenig als Außenseiterin. Immerhin hatten Tasha und Scott zwei kleine Kinder, Michael und Alicia gleich drei plus ein Wochenendhaus, und Morgan und Adam waren seit zehn Jahren ein Paar; sie planten ihre Hochzeit, seit Cat ihnen vorgestellt worden war. Christian, Scott, Michael und Adam waren schon ewig miteinander befreundet.

Die Frauen sprachen über den empörenden Bewerbungsmarathon für Vorschulen, das absolute Muss für Kinder, noch vor dem fünften Lebensjahr mehrere Sprachen zu sprechen, über den beträchtlichen Stress, auf NET-A-PORTER zu shoppen, und die Tatsache, dass im Grunde genommen für nichts genug Zeit war. Natürlich waren die Themen eher belanglos, doch Cat genoss die banale Unterhaltung und war froh, nicht über Politik diskutieren zu müssen.

Christian begegnete ihrem Blick und zwinkerte ihr zu, und sie schenkte ihm ein Lächeln. Das war zu ihrem kleinen Ritual geworden, wann immer sie zusammen ausgingen: Er vergewisserte sich, dass sie zufrieden war, und sie versicherte ihm, dass sie keinen Grund zur Klage hatte.

»Aber was ich damit sagen will …« Alicia stellte ihr Weinglas so entschieden auf dem Tisch ab, als wollte sie etwas Wichtiges verkünden. »Plötzlich hat Annabelle keinen Vorteil mehr davon, dass ich eine Ehemalige bin. Ich meine, muss die Chancengleichheit nicht auch Grenzen haben? Wo soll denn das hinführen?«

»Vielleicht sollten wir eine Kampagne starten«, sagte Tasha.

»Und du koordinierst sie, Alicia.« Adam lachte. »Du wärest brillant, wetten?«

Wieder begegnete sie Christians Blick. Er zog die Augenbrauen hoch.

»Cat«, wandte Tasha sich an sie, »wo bist du denn eigentlich zur Schule gegangen? Werden die kleinen Carters in die Fußstapfen ihrer Mutter treten?«

Cat spürte, wie ihr das Blut in die Wangen stieg. Es lag nicht nur an der Frage an sich, sondern auch an der Annahme, dass Christian der Vater ihrer Kinder wäre. »Oh, ich war an der Mumbai High«, rutschte es ihr heraus, bevor sie sich zurückhalten konnte.

Schweigen breitete sich aus, bis Christian leise zu lachen begann und die anderen einstimmten. Cat lehnte sich zurück und trank einen großen Schluck Wein. Sie bewunderte Christian für sein Talent, mit einem Lachen über Dinge hinwegzugehen. Bei ihrer ersten Begegnung – er und einige Kollegen aus der Bank waren für ein Gruppenporträt ins Fotostudio gekommen, in dem sie arbeitete – war er der Einzige gewesen, der ihr zur Hilfe geeilt war, als ihre Kamera versagt hatte. Er hatte die Gruppenaufstellung verlassen, ihr geholfen, die Ersatzausrüstung heranzuschaffen, und anschließend darauf bestanden, sie wieder in die Räumlichkeiten ihres Chefs zurückzuschleppen. Dass sie danach noch zusammen etwas trinken gegangen waren, ergab sich von selbst, nachdem sie eine halbe Stunde lang zwischen Scheinwerfern und Stativen geflirtet hatten. Seine blonden Haare, seine grünen Augen und die Mischung aus selbstbewusstem Auftreten und Freundlichkeit waren verführerisch gewesen. Und nun waren sie wie zwei Turteltauben beim Nestbau; sie gingen davon voraus, dass sie ihr Leben miteinander verbringen würden, ohne je darüber gesprochen zu haben.

Cat verdrängte die ihr nur allzu vertrauten und unerwünschten Gedanken an ihren Vater und das, was er zweifellos Christian und seinen erfolgreichen, großbürgerlichen Freunden zu sagen gehabt hätte, aus ihrem Bewusstsein. Es hatte keinen Sinn, sich jetzt über Howard Jordan den Kopf zu zerbrechen.

»Du hast vorhin den Eindruck gemacht, als wärst du nicht ganz bei der Sache«, bemerkte Christian, als sie gemeinsam das Restaurant verließen.

Er legte ihr den Arm um die Schultern, und Cat schmiegte sich an ihn, während sie auf ein Taxi warteten. »Tatsächlich?«

»Hast du dich denn gut amüsiert, Liebling?«

»Aber ja.«

Die Lichter der Stadt funkelten durch die beschlagenen Autofenster. Wenig später hielt das Taxi vor Cats Wohnung in Brooklyn.

»Kommst du noch mit rauf?«

»Ich würde gerne, aber ich muss morgen furchtbar früh raus.«

Cat beugte sich zu ihm und küsste ihn.

»Was den Roller angeht …« Er blickte aus dem Fenster zu ihrer Vespa, die an der üblichen Stelle parkte. »Ich finde, du solltest dich davon trennen.«

Cat lachte. »Ganz bestimmt nicht.« Er war ihre erste größere Anschaffung gewesen, nachdem sie ihre Stelle bekommen hatte.

»Aber er ist zu gefährlich. Wenn es nach mir ginge, wäre er morgen schon weg.«

Sobald Cat die Tür hinter sich geschlossen hatte, waren ihre Gedanken wieder bei dem Päckchen aus Paris. Sie war erst einmal, kurz nach dem College, in Frankreich gewesen, doch obwohl sie nur ein paar Tage in der Stadt der Liebe gewesen war, hatte sie über tausend Schnappschüsse gemacht. Nach ihrer Rückkehr nach New York hatte sie als Fotografin in dem Studio angefangen, in dem sie auch jetzt noch arbeitete. Bereits oft war sie kurz davor gewesen zu kündigen, aber dass sie sich glücklich schätzen durfte, in einer Rezession eine feste Stelle zu haben, war ihr bewusst. Im Übrigen hatte ihr Chef stets sehr überzeugend auf sie eingeredet, wann immer sie zu gehen versucht hatte, sodass sie sich inzwischen damit abgefunden hatte, einfach noch ein wenig länger zu bleiben.

Die Schleife auf dem Päckchen erinnerte Cat an jene Pariser Eleganz, die sie bei ihrem Aufenthalt so bezaubert hatte. Sie steckte die Schere wieder in die Schublade zurück und begann, den kunstvollen Knoten mit den Fingerspitzen auseinanderzuzupfen; es schien ihr nicht richtig, die kostbare Seide zu zerschneiden.

Die Wohnung war im Laufe des Abends kühler geworden, doch ihre Finger waren trotz Kälte ungewohnt geschickt. Sie hatte den Knoten gelöst und schob nun einen Finger unter das Packband, das das Papier zusammenhielt. Wenig später hielt sie einen kleinen Karton in der Hand.

Eine Windbö rüttelte an den Fenstern. Cat schauderte. Sie brauchte eine Tasse heiße Schokolade. Sie betrat die Küche und schüttete Milch in einen Topf. In der warmen Milch zu rühren beruhigte sie. Sie brach zwei dicke Riegel Schokolade von einer Tafel, sah zu, wie sie in der Milch schmolzen, und schenkte das Getränk schließlich in den blau-weißen Porzellanbecher, der ihrer Mutter gehört hatte. Cat vermisste sie.

Sie war entschlossen, das glückliche Leben zu führen, von dem ihre Mutter geträumt haben musste. Eine Sache jedenfalls stand fest: Cats Mutter wäre mit einem gutherzigen Mann wie Christian definitiv glücklicher geworden als mit Cats rechthaberischem Vater. Gewiss hatte sie ihn anfangs über alles geliebt, nur um den Rest des Lebens ihren Fehler zu bereuen.

Schwierige Beziehungen waren etwas, was Cat zu vermeiden gedachte.

Sie trank einen Schluck der dickflüssigen Schokolade, stellte den Becher auf den Tisch und nahm den Deckel der Schachtel ab. Zwei Gegenstände befanden sich darin: ein getippter Brief und ein alter Messingschlüssel.

Cat ging ins Wohnzimmer, ließ sich auf der Couch nieder und überflog den Brief, dann las sie ihn ein zweites Mal. Er war auf einer Schreibmaschine geschrieben worden. Und total unverständlich.

Ganz oben stand ihr voller Name, Catherine Laura Jordan. Darunter in Großbuchstaben jener, um den sich der Inhalt des Briefes drehte – der Name der Frau, die Cats Vater derart abgelehnt hatte, dass er jedes Mal rot angelaufen war, sobald man sie erwähnt hatte: Virginia Brooke, Cats untragbare Großmutter mütterlicherseits.

Der Brief war kurz und klang höchst formell. Monsieur Lapointe, ein Pariser Notar, teilte ihr mit, dass Virginia Brooke alleinige Erbin des Vermögens der kürzlich verstorbenen Isabelle de Florian war. Nach dem Ableben Virginia Brookes im Jahr 1978 und dem Tod ihrer Tochter Bonnie, Cats Mutter, 2003 ging das Erbe nun in Cats Besitz über.

Cat wusste, dass ihre Großmutter kurz vor dem Zweiten Weltkrieg sechs Jahre lang allein durch Europa gereist und erst nach Amerika zurückgekehrt war, als ihre Angehörigen sie wegen der drohenden Gefahr zurückbeordert hatten. Virginia war lange Zeit unverheiratet geblieben. Entgegen der Proteste ihrer Familie aus dem Mittelstand hatte sie eine schlecht bezahlte Stelle im New Yorker Garment District angenommen und sich anscheinend auf diverse Liebhaber eingelassen. Erst spät heiratete sie einen weit älteren Mann, einen Harvard-Professor, den sie, laut Erzählungen, abgöttisch geliebt hatte. Erst mit über vierzig Jahren brachte sie ihre Tochter Bonnie zur Welt.

Bonnie war als Kind auf herrliche Weise vernachlässigt worden. Sie hatte stundenlang allein durch das alte Farmhaus und den verwilderten Garten der Familie stromern dürfen, während Cats Großeltern weiterhin ihren eigenen Interessen nachgegangen waren.

Dadurch hatte Bonnie nicht nur eine lebhafte Fantasie entwickelt, sondern auch eine tiefe Sehnsucht nach Romantik. Alle ihre Vorstellungen projizierte sie auf Howard Jordan, einen ehemaligen Studenten ihres Vaters, der in den öffentlichen Dienst eingetreten war und dort alsbald sehr strikte politische Ansichten und moralische Überzeugungen vertrat. Seltsamerweise schien er es als seine Hauptaufgabe zu betrachten, Bonnie und später auch Cat in eine Form zu pressen, die seinem Sinn für Ordnung, Effizienz und dem unerschütterlichen Glauben an die Richtigkeit seiner Prinzipien gerecht wurde.

Erst als Cat langsam erwachsen wurde, begann sie, die stoische Haltung ihrer Mutter zu respektieren und ihre Entschlossenheit zu verstehen, das Beste aus der Situation herauszuholen, in die sie sich selbst manövriert hatte. Cat war ungefähr zwanzig gewesen, als ihre Mutter ihr gestanden hatte, dass sie sich als junge Romantikerin von der Vorstellung der großen Liebe hatte blenden lassen, anstatt Howard als Menschen aus Fleisch und Blut anzuerkennen. Dennoch war Bonnie, wie Cat wusste, um ihrer Tochter willen bei Howard geblieben, und das war definitiv etwas, was man bewundern musste.

Bonnie hatte ihr oft heimlich Geschichten darüber erzählte, was Virginia im Paris der Dreißigerjahre erlebt hatte; ihre Großmutter war durch die Bars und Cabarets gezogen und hatte Ausstellungen, Vernissagen, Premieren und Partys besucht. Wo also war ihr Isabelle de Florian begegnet? Bei allem, was sie schon über Virginia gehört hatte, war nie eine Isabelle vorgekommen, dessen war Cat sich sicher.

Cat hatte beinahe erwartet – auf jeden Fall aber gehofft –, dass ihr eigener Besuch in Paris einen Hauch von diesem Esprit jener vergangenen Zeiten in ihr Leben bringen würde, doch vergeblich. Stattdessen war sie eingepfercht mit einer Horde dauerbetrunkener Studenten in einem Bus durch diverse Länder Europas geschlingert und am Ende der Reise endgültig zu der Überzeugung gekommen, dass die Romantik in der Vergangenheit besser aufgehoben war.

Sie war nach New York zurückgekehrt, hatte im Fotostudio angefangen und war nun mit Christian an ihrer Seite glücklicher als je zuvor in ihrem Leben.

Paris war New York zeitlich sechs Stunden voraus. In ein paar Stunden sollte das Büro des mysteriösen Monsieur Lapointe wieder erreichbar sein.

Und Cat würde ihn erreichen. Sie würde diesen Mann morgen früh als Erstes erwischen, selbst wenn sie dafür die ganze Nacht aufbleiben musste. Sie wollte wissen, worum es ging. Und zwar so schnell wie möglich.

2. Kapitel

Sobald es nach Cats Berechnung in Paris neun Uhr war, griff sie zu ihrem Handy und rief Monsieur Lapointes Büro an.

»Monsieur Lapointe wird erst in einer Stunde eintreffen. Ich werde ihm Ihre Nachricht weiterleiten, Mademoiselle«, teilte ihr die Dame am Telefon mit.

Cat ließ sich wieder auf ihr Bett fallen. Heute war der Hochzeitstag von Christians Eltern, und sie hatte versprochen, am Abend mit der Familie zu feiern. Doch nun würde sie total erledigt sein.

Um vier Uhr New Yorker Ortszeit hatte Monsieur Lapointe noch immer nicht zurückgerufen. Cats Hand schwebte über ihrem Handy. Es gefiel ihr nicht, den Eindruck zu erwecken, als hätte sie es nötig, aber sie es würde wohl noch einmal versuchen müssen.

Und dieses Mal stellte die Frau am Empfang sie direkt durch.

»Mademoiselle Jordan?«, fragte er und betonte ihren Namen auf der letzten Silbe.

»Oh. Bonjour, Monsieur.«

»Verzeihen Sie, dass ich ohne Umschweife zum Thema komme, aber ich sehe keine andere Möglichkeit. Mademoiselle Jordan, Sie müssen sofort nach Paris kommen.«

Cat sog scharf die Luft ein. »Na ja, können wir das nicht auch am Telefon besprechen?«

»Es wäre wirklich am besten, das persönlich zu klären, Mademoiselle.«

Stille.

»Ich kann aber nicht so einfach nach Paris fliegen. Meine Arbeit …« Ihre Arbeit? Gut situierte New Yorker, Geschäftsleute oder deren niedliche Babys und Haustiere abzulichten war wohl kaum Arbeit, auf die es ankam. Dennoch stand eine Reise nach Paris nicht zur Debatte.

»Mademoiselle, bitte.«

»Aber, Monsieur, die Tickets sind teuer …« Obwohl sie sich wahrscheinlich einen Billigflug nach Frankreich leisten konnte. Sie hatte ein wenig gespart.

»Es wäre sinnlos, wenn ich zu Ihnen käme.«

Wahrscheinlich hatte er recht damit. »Ich verstehe.«

Cat hatte angefangen, in ihrem Wohnzimmer auf und ab zu gehen. »Es ist also nicht möglich, dass Sie mir am Telefon oder per Brief oder E-Mail mitteilen, was ich wissen muss?«

»So könnte man es ausdrücken. Die gegebenen Umstände bezüglich dieses Testaments sind … nun ja, ungewöhnlich. Sie müssen nach Paris kommen, um das Ganze zu klären. Und ich würde es vorziehen, Mademoiselle, Sie unter vier Augen zu treffen, ehe der Letzte Wille verlesen wird. Er ist mit vielen Formalitäten verbunden. Und diese sind sehr wichtig, wie Sie sehen werden.«

Cat setzte sich. »Ich … ich nehme an, dass Sie mich so bald wie möglich sehen wollen?« Jetzt klang sie, als sei es bereits eine ausgemachte Sache. Sie räusperte sich. »Ich meine, ich muss erst mit meinem Chef sprechen. Ich kann ja nicht einfach alles stehen und liegen lassen.« Was redete sie denn da? Sie hatte Unmengen an Urlaubstagen angesammelt. Sie fuhr doch sonst nie weg.

»Ich erwarte Sie.« Monsieur Lapointe gab ihr die Wegbeschreibung zu seinem Büro. »Und vergessen Sie den Schlüssel nicht, Mademoiselle Jordan.«

»Nein, ich denke dran.« Cat holte tief Luft. »Hören Sie, können Sie mir wenigstens sagen, was diese Isabelle de Florian mit meiner Großmutter zu tun hatte?«

»Bitte machen Sie einen Termin mit meiner Assistentin. Au revoir, Mademoiselle.«

Nachdem Cat in den folgenden Stunden vergeblich versucht hatte, noch ein wenig Schlaf zu bekommen, mailte sie ihrem Chef, dass sie gerne ab sofort länger freinehmen würde. Als er ihr von seinem Handy aus schrieb – offenbar war er gerade auf seiner morgendlichen Joggingrunde –, ihr den Urlaub zu genehmigen, wenn auch wegen der guten Auftragslage ungern, buchte sie für den nächsten Tag einen Flug nach Paris. Mit der Hilfe von Monsieur Lapointes Assistentin fand sie ein kleines Hotel am Palais Garnier, dem Opernhaus, von wo aus es nicht weit zum Büro des Notars war.

Erst als Cat den letzten Anruf beendet hatte und die ersten Sonnenstrahlen durch den Spalt der Vorhänge in ihre Wohnung drangen, wurde ihr die Situation in ihrem ganzen Ausmaß bewusst. Ihre Großmutter war ein abenteuerlustiger Mensch gewesen. Cat hatte rein gar nichts von ihrem Charakter. Wie hatte sie sich nur überreden lassen, am nächsten Tag einfach so nach Paris zu fliegen?

Die kleine Familienfeier zum Hochzeitstag von Christians Eltern erwies sich als Party mit mindestens fünfzig Gästen. Selbst wenn Cat sich gewünscht hätte, mit Christian über diese merkwürdige Erbgeschichte zu reden, wurde ihr klar, dass sie an jenem Abend keine Chance haben würde, mit ihm unter vier Augen zu sprechen, als sie aus dem Fahrstuhl in die überfüllte Wohnung seiner alten Herrschaften trat.

Im Übrigen war nicht vorherzusagen, was Christian oder seine Verwandtschaft von Cats schräger Familiengeschichte halten mochte. Der schicken Gesellschaft auf dieser Party würde Virginia Brooke vermutlich herzlich egal sein.

Nachdem Christian sie nicht nur seinen zahlreichen Cousins und Cousinen aus Boston, sondern auch so vielen charmanten Gästen vorgestellt hatte, dass man mit ihnen einen halben Ballsaal hätte füllen können, war es ihr fast unmöglich, sich in Erinnerung zu rufen, warum ihr Ausflug nach Paris mit einem rostigen Schlüssel in der Tasche überhaupt von Bedeutung sein konnte.

Bisher hatte es kaum Gelegenheiten gegeben, zu denen Cat auf Christians entferntere Verwandtschaft gestoßen war, und alle auf einmal um sich herum zu haben fühlte sich an, als sei sie als Außenseiterin in eine Party der Vogue geraten.

Zum Glück fanden viele von Christians Angehörigen ihr Retro-Teekleid aus den Vierzigerjahren »interessant« oder »ganz bezaubernd, meine Liebe«, und was ihr andernfalls wohl rasch das Gefühl gegeben hätte, am falschen Platz zu sein, schien ihr tatsächlich die Gunst seiner zahllosen perlenbehängten Tanten im Chanel-Kostüm einzubringen.

Hätte Cat die Muße gehabt, über den Kontrast zwischen all dieser Eleganz hier und ihrer Kindheit in Durham, Connecticut nachzudenken – ihre Eltern hatten praktisch nie Gäste gehabt –, hätte sie sich wohl kneifen müssen, um sich klarzumachen, dass sie wirklich an dieser Feier teilnahm. Aber sie hatte keine Chance dazu. So war es eben in Christians Welt – es ging darum, sich zur richtigen Zeit am richtigen Ort mit den richtigen Leuten zu umgeben, und sie gab sich dem verführerischen Zauber nur allzu gerne hin.

Nach zwei Stunden hatte Cat sich selbst davon überzeugt, dass sie über das Erbe in Frankreich auch dann nicht mit Christian gesprochen hätte, wenn sie die Möglichkeit dazu gehabt hätte. Er hielt nichts von Reisen und hätte nicht eingesehen, warum Cat nicht darauf bestanden hatte, dass der Anwalt ihr eine E-Mail mit allen genaueren Angaben bezüglich des Testaments schickte. Christian sagte immer gerne, dass New York alles böte, was man sich wünschen könne – für alles andere gäbe es einen Laptop. Seine Großeltern besaßen ein Ferienhaus in den Hamptons. Warum sich die Mühe machen und anderswo hinfahren? Sie würde seiner Familie einfach mitteilen, dass sie nach Paris flog. Niemand würde nach dem Grund fragen.

»Es ist noch ein bisschen früh für die Modenschauen, meine Liebe«, bemerkte Christians Tante.

»Ich muss beruflich dorthin.« Cat musste sich bewusst davon abhalten, auf ihrer Unterlippe zu kauen.

»Soll ich dir einen Flug buchen?«, fragte Christian.

»Man hat mir vergangene Woche in der ersten Klasse wirklich göttlichen Kaviar serviert«, erzählte Christians schnurrbärtiger Onkel väterlicherseits, der stets eine freundliche Miene zur Schau trug. »Der Bordservice wird endlich besser.«

»Kaviar und Champagner für Cat«, sagte Christian. »Wenn das nicht gut klingt.«

»Danke«, sagte Cat und lächelte, »aber ich habe mich schon um alles gekümmert.«

Cat machte sich echt nichts aus erster Klasse hier und Luxus da. Als Christian und sie sich kennenlernten, hatte sie nichts von seiner reichen Familie geahnt. Ihr waren die Kleinigkeiten wichtiger gewesen – zum Beispiel die Tatsache, dass er seit dem allerersten Mal, als sie miteinander ausgegangen waren, fast täglich bei ihr anrief, nur um zu hören, wie es ihr ging und wie ihr Tag gelaufen war.

»Aber du fliegst doch wohl nicht Economy?«

Sie schwieg.

»Nicht?«

»Keine Sorge. Ich habe Business-Class gebucht.« Das war zwar eine kleine Notlüge, aber hätte Christian gewusst, dass sie ein Super-Sparangebot bei einer Billig-Airline genommen hatte und ihr Flug zu einer unchristlichen Zeit ging, wäre er wohl entsetzt gewesen. »Die Firma zahlt«, fügte Cat hinzu. Firma? Was für eine Firma? Doch Christian hatte manchmal Schwierigkeiten, über den Horizont seiner eigenen Welt zu blicken.

»Ruf mich sofort an, wenn du gelandet bist, Liebling.«

Sie schlüpfte in den Fahrstuhl. Sobald Christian außer Sicht war, streifte sie ihre hochhackigen Vintage-Pumps ab und kühlte ihre schmerzenden Füße auf dem gemusterten Marmorboden.

Ein paar Stunden später saß Cat eingeklemmt in der Mittelreihe ihres Billigfliegers nach Paris – so weit weg von einem Marmorboden, wie man sich nur vorstellen konnte. Die meiste Zeit der Strecke hatte sie einen Dreijährigen auf dem Schoß gehabt, versucht, Erbrochenem und Kakao auszuweichen und sich gleichzeitig die Ohren gegen das Gezänk zweier kleiner Geschwister zuzuhalten, die Fluggäste aus den vorderen Reihen dazu veranlasst hatte, sich umzudrehen und missbilligend den Kopf zu schütteln.

Erst sehr spät in der Nacht – oder sehr früh am Morgen, je nachdem, wie man die Zeit hoch über den Wolken betrachten wollte – war ihr kleiner Reisegefährte eingeschlafen. Cat hatte sich die übrigen Stunden damit vertrieben, den Messingschlüssel Isabelle de Florians immer wieder zwischen ihren Fingern zu drehen und zu betrachten. Aus irgendeinem Grund kam es ihr wichtig vor, den Schlüssel dicht bei sich zu tragen. Sie hatte ihn aus der Jackentasche genommen und in ihren Geldgürtel gesteckt, und hier war er nun erneut in ihren Händen. Als könne ihr das Stück Metall Antworten auf all ihre Fragen geben. Was in aller Welt konnte man damit aufschließen?

Einen Schrank vielleicht? Es war unwahrscheinlich, dass Isabelle de Florian Virginia etwas von großem Wert vermacht hatte. Es musste sich um einen Irrtum handeln; Isabelle würde wohl kaum jemandem, mit dem sie lediglich in ihrer Jugend befreundet gewesen sein konnte, ihr ganzes Vermögen hinterlassen.

Dennoch. Warum bestand Monsieur Lapointe darauf, dass sie persönlich nach Paris kam? Was für wichtige Formalitäten konnte es geben, wenn ihr Erbe nicht viel umfasste?

Und würde Cat jemals herausfinden, was Virginia im Paris der Dreißigerjahre wirklich angestellt hatte?

Während das Flugzeug auf Paris herabstieg und die Passagiere an den Fenstern mit Oh- und Ah-Rufen auf die funkelnden Lichter hinabblickten, stellte Cat sich Virginias Ankunft in der Stadt vor. War sie direkt aus Boston gekommen, wo sie groß geworden war? Wie musste Paris damals ausgesehen haben? Wann war sie dieser Isabelle de Florian begegnet? Und wo? In einem der berüchtigten Jazzclubs, von denen ihre Mutter ihr erzählt hatte? Hätte Cat sie nur noch danach fragen können!

Als der Jet den Flughafen ansteuerte, erwachte der kleine Junge neben Cat und rieb sich die Händchen über das pausbäckige Gesicht. Als er sich Cat zuwandte, steckte sie Isabelles Schlüssel in ihre Tasche und lächelte ihm zu. Blieb zu hoffen, dass dieser Besuch in Paris besser enden würde als der letzte.

Als Cat früh am Morgen vom Lärm der Ladenbesitzer geweckt wurde, die in der kalten Luft ihre ratternden Jalousien hochzogen und einander laut Bonjour! zuriefen, erschien das Lächeln auf ihren Lippen wie von selbst.

Sie stand auf, trat ans Fenster und drückte die hölzernen Schlagläden ihres gemütlichen Hotelzimmers auf, in dem sie sich augenblicklich wohlgefühlt hatte. Die geweißten Bodendielen, der cremefarbene Sessel am Fenster und das Doppelbett mit den vielen Kissen strahlten im Pariser Winter eine besondere Wärme aus.

Sie blieb am Fenster, blickte durch die Doppelglasscheibe und sah zu, wie die schmale Straße unten sich mit Leben zu füllen begann. Das hübsche Haus gegenüber war so nah, dass es wirkte, als hätte man sich mit den Bewohnern dort drüben problemlos unterhalten können.

Nach dem Blick auf die boulangerie auf der anderen Straßenseite, neben der ein Blumenhändler mit Rosen gefüllte Eimer vor seinen Laden stellte, hielt Cat nichts mehr im Zimmer; die frühmorgendliche Aktivität in der Straße war ansteckend. Sie stellte sich unter die Dusche, zog sich an, hüllte sich in ihren warmen Mantel und machte sich auf die Suche nach Frühstück, ehe sie sich mit dem mysteriösen Monsieur Lapointe treffen würde.

Da sie nicht wusste, worauf sie Appetit hatte, schlenderte sie am rechten Seine-Ufer entlang, doch nach den vielen Stunden in der Enge des Flugzeugs tat ihr die Bewegung so gut, dass sie immer weiter wanderte, ohne die kalte Winterluft wirklich wahrzunehmen.

Ihr Treffen mit dem Anwalt würde erst um zehn Uhr stattfinden; seine Assistentin hatte den Termin vorgeschlagen, damit Cat Zeit haben würde, sich von dem Jetlag zu erholen, was ihr vorgestern vor allem sehr freundlich vorgekommen war und ihr nun diese kostbaren Stunden an einem herrlichen Morgen verschaffte. Immer wieder blieb sie stehen, um den rosaroten Himmel zu bewundern, der zwischen den wunderschönen alten Gebäuden zu sehen war. Sonnenaufgang in Paris.

Cat befand sich nach wie vor am rechten Ufer – sie hatte die Seine nicht überquert – und wusste, dass sie sich nicht weit vom Opernhaus und ihrem Hotel entfernt hatte, als sie eine kleine pâtisserie entdeckte. Im Schaufenster lagen Reihe um Reihe exquisite Köstlichkeiten, deren Glasuren rosafarben, schokoladenbraun und zitronengelb glänzten. Im Laden saßen Einheimische und lasen Zeitung, und der Duft von frisch geröstetem Kaffee drang zu ihr heraus auf den Gehweg.

Sie war mehr als versucht, sich etwas verboten Reichhaltiges zu ihrem Kaffee zu bestellen, doch die Nachwirkungen des langen Flugs und ihr angegriffenes Nervenkostüm angesichts der Ungewissheit, was sie hier erwarten mochte, ließen es vernünftiger erscheinen, sich mit einem schlichten Croissant zufriedenzugeben. Cat setzte sich an einen der kleinen runden Tische, trank den starken Espresso und wartete darauf, dass das Koffein seine Wirkung entfaltete, während ihre Gedanken um Isabelle de Florian zu kreisen begannen.

Wie musste man vorgehen, wenn man von einer Fremden etwas erbte? Und dann noch im Ausland? Zum ersten Mal geriet sie in Versuchung, zu Hause anzurufen und um Rat zu fragen. Doch dort lagen alle ohnehin noch in den Federn. Und bisher war ihr die Situation nicht real vorgekommen. Nichtsdestoweniger saß sie hier allein in Paris in einem Café und genoss das krosse und gleichzeitig butterzarte Croissant und den wunderbaren Kaffee. Daran hätte sie sich gewöhnen können.

Pünktlich um zehn Uhr saß Cat dem Empfangstisch von Monsieur Lapointes Büro gegenüber. Ihre Hände tauchten immer wieder in ihre Tasche und tasteten nach dem Schlüssel. Nach wie vor hatte sie keine Ahnung, was sie erwarten würde.

Monsieur Lapointe kam exakt zehn Minuten später aus einer Tür innerhalb der Räumlichkeiten. Sein dunkelblauer Dreiteiler und die braunen, auf Hochglanz polierten Schuhe verliehen ihm ein ausgesprochen distinguiertes Aussehen. Als er sich zu ihr umwandte, bemerkte sie die rote Blume am Revers und das reinweiße Seidentaschentuch in seiner Brusttasche.

Doch als er auf sie zutrat, wirkte er eher gehetzt als vornehm. Er nickte ihr zur Begrüßung knapp zu und bedeutete ihr zu folgen, und sie gingen durch einen Flur in einen Raum, in dem nichts als ein großer antiker Tisch und dazu passende Stühle standen. Eine Frau, die er ihr als seine Assistentin vorstellte, ließ sich ebenfalls am Tisch nieder.

Monsieur Lapointe richtete einen Stapel Papiere auf dem Tisch aus und fächerte die Seiten anschließend exakt auf. Dann ging er um den Tisch herum und zog Cat den Stuhl dem seinen gegenüber heraus. Das Schrammen der Stuhlbeine auf dem Boden klang in der ernsten Stille des Raumes unangebracht, und Cat spürte, wie sie rot wurde, als sie sich setzte.

Monsieur Lapointe dagegen schien an seinen Platz zu gleiten.

»Mademoiselle Jordan, zuerst müsste ich Ihren Ausweis sehen.«

Darauf war Cat vorbereitet und reichte ihm das Dokument. »Monsieur Lapointe, ich finde das alles ungeheuer spannend. Dass Isabelle de Florian meiner Großmutter ein Erbe hinterlassen hat! Wissen Sie etwas über die Freundschaft der beiden?«

Monsieur Lapointe blickte auf, dann senkte er wieder den Kopf und füllte schweigend eine gefühlte Ewigkeit ein Formular nach dem anderen aus.

»Zuerst erledigen wir die Formalitäten. Sie sind wichtig. Äußerst wichtig.«

Der Jetlag und die Anspannung machten Cat plötzlich zu schaffen. Der beste Ort für ihre Hände schien ihr Schoß zu sein.

»Na ja, das alles kommt mir so außergewöhnlich vor. Hat es vielleicht Korrespondenz zwischen meiner Großmutter und ihrer Freundin gegeben? Sie müssen sich doch nahegestanden haben, und trotzdem habe ich noch nie von einer Isabelle de Florian gehört. Ich würde so gerne mehr über das Verhältnis der beiden wissen.«

»Kaffee, Mademoiselle Jordan?«

Bei der Stimme der Assistentin fuhr Cat zusammen. Monsieur Lapointe hatte nicht einmal aufgeblickt.

»Oh … ja. Ja, das wäre nett.«

Die Assistentin verließ das Besprechungszimmer.

Nachdem weitere Minuten verstrichen waren, schraubte Monsieur Lapointe wieder die Kappe auf seinen Füller. Cat hatte Zeit genug gehabt, um festzustellen, dass die Tinte dieselbe Sepiafarbe hatte wie die, mit der das Päckchen, das sie in New York erreicht hatte, adressiert worden war.

»Nun denn«, sagte er, »warten wir auf meine Assistentin und den Kaffee.«

»Die ganze Situation ist so merkwürdig, Monsieur Lapointe. Ich habe keine Ahnung, was ich davon halten soll.«

»Wir haben noch weitere Formalitäten zu erledigen, Mademoiselle Jordan. Leider sind sie unumgänglich.«

Im gleichen Moment kehrte seine Assistentin mit einem Servierwagen zurück, auf dem kleine grüne Tassen standen. Während sie den Kaffee einschenkte, füllte Monsieur Lapointe den nächsten Satz Formulare aus. Diesmal jedoch reichte er Cat jedes einzelne Blatt mit der entsprechenden Erklärung zur Unterschrift.

»Die Erbschaftssteuer beträgt sechzig Prozent des Gesamtwerts des vermachten Besitzes«, sagte er. »Das ist hier in Frankreich der Pauschalsatz für Nichtverwandte. Ich werde Ihnen damit helfen, sobald die attestation immobilière, mit der der Besitz auf Sie überschrieben wird, erledigt ist. Machen Sie sich jetzt noch keine Gedanken darüber.«

»Oh.« Die juristischen Begriffe auf Französisch schwirrten durch ihren Verstand, und die Unmengen an Papieren verschmolzen zu einem undurchdringlichen Blätterwald. Doch dass es nichts bringen würde, Ungeduld an den Tag zu legen, war eindeutig. Jeder Versuch, ein Gespräch zu beginnen, war mit Bestimmtheit abgewiesen worden, und weitere Fragen würden zu nichts führen. Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie hier schon saß, aber es kam ihr vor, als seien bereits Stunden vergangen, und langsam fragte sie sich, ob sie überhaupt jemals etwas herausfinden würde. Am liebsten hätte Cat verstohlen auf die Uhr gesehen, doch aus irgendeinem Grund wagte sie es nicht.

Die Assistentin hatte allerdings keinerlei Hemmungen, das zu tun. »Excusez-moi, Monsieur«, sagte sie. »C’est l’heure du déjeuner, non?«

Zeit zum Mittagessen? Cats Französischkenntnisse beschränkten sich auf das Wenige, das sie in zwei Jahren auf der Schule gelernt hatte, doch das hatte sie verstanden.

Monsieur Lapointe setzte sich zurück und schien ernsthaft darüber nachzudenken.

»Oui«, sagte er schließlich, »selbstverständlich. Mademoiselle Jordan, wir treffen uns in drei Stunden wieder.«

In drei Stunden? Cat setzte sich kerzengerade auf. Konnten sie nicht einfach Sandwiches bestellen? Aber Monsieur Lapointe hatte bereits seinen Stuhl zurückgeschoben, während seine Assistentin ihm einen camelfarbenen Mantel reichte – aus Kaschmir, wie Cat zu erkennen glaubte. Was keine große Überraschung war.

»Sind Sie sich sicher … Wirklich erst in drei Stunden?«

»Selbstverständlich. Wir hier in Frankreich nehmen uns Zeit zum Essen.« Dem schickte er einen Spruch hinterher, der offenbar geistreich war, denn seine Assistentin kicherte.

Cat konzentrierte sich darauf, ihren Schal umzulegen. »Also schön«, sagte sie, als sie an der Tür standen, »dann sehen wir um drei Uhr wieder.«

»Ganz wunderbar.« Monsieur Lapointe lächelte. Er wirkte nun etwas entspannter. »Alles ist ganz wunderbar.«

Es war nur ein kurzer Weg zum Hotel, wo sie ihre Kamera holte. Während sie durch die Tuilerien auf die Seine zuschlenderte, nahm sie diverse klassische Paris-Motive auf, die sie jedoch neu komponierte – so war auf einem Foto zum Beispiel zur Linken im Park die Orangerie zu sehen, während am rechten Bildrand ganz in der Ferne der Eiffelturm aufragte. Als Nächstes schlenderte sie zur Pont Neuf mit ihren charmanten Straßenlaternen, die ihr beinahe wie Mini-Eiffeltürme vorkamen.

Sie überquerte die Brücke zum linken Seine-Ufer und spazierte durch die schmalen Gassen, in denen sie sich bald wie in einem Labyrinth verlor. Entzückt fotografierte sie die Spezialitätengeschäfte mit ihren ungewöhnlichen Auslagen und handgefertigten Waren, die mit so viel Liebe hergestellt zu sein schienen, dass sie am liebsten jeden einzelnen Laden betreten hätte.

Cat war so versunken in das, was sie tat, dass volle zwei Stunden verstrichen, ehe sie sich überhaupt der Zeit bewusst wurde. Das war ihr schon eine ganze Weile nicht mehr passiert.

Bis sie in den Tuilerien zurückgekehrt war und sich dort an einem Stand ein Schinken-Käse-Baguette gekauft hatte, hatte sie bloß noch eine halbe Stunde Zeit. Sie ließ sich zum Essen auf einen dunkelgrünen Metallstuhl nieder und sah den Kindern zu, die, warm eingepackt, am Teichufer ihre Spielzeugboote schwimmen ließen. Die Bäume, die die breiten Wege im Park in Richtung Place de la Concorde säumten, waren frei von Laub, doch tatsächlich gab die Wintersonne, die von der glitzernden Wasseroberfläche reflektiert wurde, ein wenig Wärme ab. Paris steckte so voller Geschichte, dass es leicht war, sich in die Vergangenheit zu träumen und sich vorzustellen, wie die Menschen damals durch diesen Park geschlendert waren.

»Ich hoffe, dass Sie mit Ihrem déjeuner zufrieden waren.« Monsieur Lapointe stand ihr um exakt drei Uhr wieder zur Verfügung.

»Ja, danke. Sehr.« Cat verbarg die Kamera unter dem Mahagonitisch.

»Maintenant«, begann er, »kommen wir zur Verlesung des Letzten Willens, Mademoiselle Jordan.«

»Ich bin bereit.«

»Madame de Florians Testament stammt aus dem Jahr 1940.«

»Wie bitte?«

Monsieur Lapointe wirkte, als trage er einen innerlichen Zwist mit sich aus.

»Alors«, setzte er erneut an, »unsere Anweisungen sind eindeutig. Ihr gesamter Besitz geht an Sie über. Und ich denke, Sie werden gleich verstehen.«

»Aber … Isabelle de Florian hat meiner Großmutter alles hinterlassen, als sie wie alt war?«

»Mitte zwanzig, Mademoiselle.«

»Aber … was war mit ihren Eltern?«

»Madame de Florians Eltern starben beide an – wie sagt man bei Ihnen? – der Grippe, wie mein verschiedener Vorgänger hier angemerkt hat.«

»Oh«, flüsterte Cat. Also war Isabelle allein gewesen. Genau wie Cat. Etwas regte sich in ihr. Es war nie gut, an ihre Eltern zu denken – sich an jenen Tag zu erinnern –, doch manchmal hatte sie einfach keinen Einfluss darauf. Die Zeit nach dem Unfall, durch den beide umgekommen waren, war die schlimmste in Cats Leben gewesen. Wie musste Isabelle de Florian es damals hier in einem Europa erlebt haben, das zunehmend vom Krieg bedroht worden war?

Cat wandte ihre Aufmerksamkeit wieder Monsieur Lapointe zu.

»Die Menschen sind damals nicht davon ausgegangen, die Besetzung zu überleben. Wenn Sie das in Betracht ziehen …«

»Ja, natürlich«, sagte Cat leise. »Sie hatte bereits ihre Eltern verloren. Sie konnte unmöglich vorhersehen, ob sie überleben würde oder nicht.«

»Also, sind wir jetzt so weit, das Testament zu verlesen?« Monsieur Lapointe warf seiner Assistentin einen Blick zu. »Möchten Sie noch etwas, Mademoiselle Jordan? Einen Kaffee vielleicht?«

»Nein, danke.« Mitgefühl für Isabelle de Florian machte sich in Cat breit. Für sie war die erste Zeit ohne ihre Eltern in New York furchtbar gewesen. Doch bestimmt hatte Isabelle de Florian ebenfalls jemanden gefunden, den sie lieben und mit dem sie eine Familie gründen konnte, oder? Aber was war dann aus den Nachkommen geworden? Oder hatte Isabelle ihr ganzes Leben allein verbracht?

Die Atmosphäre in dem Besprechungszimmer schien sich zu verändern, als Monsieur Lapointe nach dem Testament griff.

Er richtete seinen Blick auf Cat. »Freundschaften, die in den Kriegsjahren oder auch in den Jahren zwischen den Kriegen geschlossen wurden, waren oft außergewöhnlich innig. Die Generation vor unserer ist … nicht mehr präsent, wodurch wir vieles wohl nicht mehr nachvollziehen können.«

»Könnte es wohl sein, dass …« Sie holte tief Luft. »Ich meine, gibt es irgendwelche Hinweise darauf, dass Isabelle und meine Großmutter ein … ein Paar waren?«

»Mademoiselle. Wirklich. Es steht mir nicht zu, dazu etwas zu sagen.« Er hob den Blick zur Decke.

Cat ließ sich auf ihrem Stuhl zurückfallen. »Entschuldigung«, sagte sie, »das spielt keine Rolle. Mir kommt es nur dermaßen traurig vor. Selbst nach so vielen Jahren hatte diese Frau niemanden außer meiner Großmutter, der sie ihren gesamten Besitz vermachen konnte?«

Monsieur Lapointe legte die Finger zu einer Pyramide aneinander. »Mademoiselle, Isabelle de Florian ist vor zwei Monaten gestorben, wie wir durch eine Kopie der Sterbeurkunde, die uns anonym zugesandt wurde, erfahren haben. Außerdem erhielten wir ein aktualisiertes, von Isabelle de Florian und einem beglaubigten Zeugen unterzeichnetes Dokument, das uns anweist, ihren Letzten Willen genau so auszuführen, wie sie es 1940 entschieden hat.« Monsieur Lapointes Gesicht rötete sich. Cats Bedenken schienen sich auf seine Contenance auszuwirken. »Eine Kopie der Sterbeurkunde befindet sich also in unserem Besitz, und es gibt keinerlei Hinweise auf lebende Nachkommen. Um sich auch in dieser Hinsicht abzusichern, hat mein Kollege den Bürgermeister von Saint Revel in der Provence kontaktiert, wo Isabelle gestorben ist. Doch unsere vor sechs Wochen gestellte Anfrage bezüglich möglicher Verwandter ist bisher unbeantwortet geblieben.«

»Also gut«, sagte Cat, »dann hat wohl alles seine Richtigkeit.« Eine anonyme Quelle? Keine Verwandten und keine Antwort des Bürgermeisters ihres Wohnorts? Cat lehnte sich zurück und fächelte sich mit einem Blatt Papier Luft zu.

3. Kapitel

Kleinwagen und Roller sausten durch die schmale Straße vor Monsieur Lapointes Büro, und wer zu Fuß ging, schien ein Ziel zu haben. Es hatte sich zugezogen, und der Nachmittagshimmel war bleigrau. Cat stand auf der Treppe vor dem Gebäude und drehte den Schlüssel zwischen ihren Fingern. Dass er zu einer Wohnung in Paris gehörte, hatte sie noch nicht richtig realisiert, und dass diese Wohnung ihr gehörte, kam ihr noch seltsamer vor. Bis zu der Testamentseröffnung war Cat sich sicher gewesen, dass das Erbe nichts von echter Bedeutung beinhalten konnte.

Sie griff in ihre Handtasche, um ihr Telefon hervorzuholen, doch als sie gerade die internationale Vorwahl eingetippt hatte, um Christian anzurufen, gingen die Lichter auf den Straßen an. Die Geschäfte zogen eins nach dem anderen nach, und wenig später drang warmes, gelbes Licht durch die Schaufenster auf die Gehwege, und das, was sie von außen sehen konnte, wirkte so einladend, dass sie das Telefon wegsteckte und stattdessen ihre Kamera zückte.

Über eine Stunde und gut fünfzig Fotos später blickte Cat auf die Uhr. Es wäre vernünftig, bis morgen früh zu warten, um sich die Wohnung anzusehen. Aber wenn sie vernünftig gewesen wäre, wäre sie gar nicht erst nach Paris gekommen.

Als Monsieur Lapointe, so nüchtern seine Art zu reden auch war, ihr die Adresse vorgelesen hatte, war Cat allein vom Klang der »Rue Blanche« bezaubert gewesen. Umgehend waren vor ihrem geistigen Auge Bilder von Mädchen in weißen Musselin-Kleidern aufgetaucht, die über die Pariser Bürgersteige des 19. Jahrhunderts trippelten. Sie hob die Hand, um ein sich näherndes Taxi anzuhalten.

Sobald sie auf dem Rücksitz saß, rief sie Christian an. Als sie direkt auf die Mailbox umgeleitet wurde, verdrängte sie den Hauch von Erleichterung, dass sie ihm noch keine Erklärung zu liefern brauchte, und hinterließ ihm eine kurze Nachricht, dass alles in Ordnung sei.

»Rue Blanche, Mademoiselle?«, fragte der Taxifahrer und betonte seine Worte derart, dass es in ihrer Magengrube, in der ohnehin schon nervöse Unruhe herrschte, erneut aufflatterte.

Nach nur wenigen Minuten hielt das Taxi wieder an, und der Fahrer drehte sich zu ihr um. »Sind Sie sich sicher?«

Cat wühlte in ihrer Handtasche nach dem Portemonnaie. »Oui, oui«, sagte sie barscher, als sie es beabsichtigt hatte. Sie zahlte, stieg aus und blickte zum ersten Mal auf das Haus, vor dem sie gehalten hatten.

»Ach du lieber Gott«, murmelte sie. »Hilfe.«

Das Gebäude war vollkommen anders als die anderen Häuser in jener Straße. Ein eleganter schwarzer halbhoher Zaun aus Schmiedeeisen mit wehrhaften Eisenspitzen zierte die gesamte Breite. Direkt in der Mitte befand sich ein Tor, hinter dem die geschlossene Eingangstür lag.

Aber auch sonst passte das Gebäude nicht ins typische Pariser Stadtbild, das sich durch stattliche alte Bürgerhäuser mit symmetrischen Fensterreihen und elegante Haussmann-Fassaden auszeichnete. Stattdessen war der Stil eigen und besonders, die Front mit teils gewölbten Bogenfenstern versehen, die schwarze Eingangstür verziert mit kunstvollem Schmiedeeisen, das über den Rahmen hinausragte und ein Vordach bildete. Die Läden der riesigen Fenster oben waren verschlossen. Selbst die Größe der Mauersteine war ungewöhnlich. Das Gebäude war dreistöckig und wirkte, als sei es von einem fremden Planeten herabgefallen.

Würde Cats Schlüssel in die Eingangstür passen? Dass die Wohnung darin kein simples Appartement war, stand wohl außer Zweifel.

Cats Neugier wuchs ins Unermessliche. Also würde sie hineingehen und sich wenigstens einen ersten Eindruck verschaffen.

Sie hatte gerade das Tor wieder hinter sich geschlossen, als sie eine Stimme hörte.

»Catherine Jordan?«

Verblüfft erstarrte Cat. Noch während sie sich wunderte, wer sie hier in Paris wohl kennen mochte, fiel ihr auf, dass derjenige, der sie gerufen hatte, keinen französischen Akzent hatte. Tatsächlich klang er ausgesprochen britisch. Langsam wandte sie sich um. Hinter ihr auf dem Gehweg stand ein großer Mann. Er trug einen schwarzen Kaschmirmantel und einen grauen Schal, und seine markanten Gesichtszüge wären wohl jeder Frau aufgefallen. Doch die braunen Augen, die sie anstarrten, blickten so verwirrt, dass Cat automatisch die Stirn runzelte.

Wer war das? Einer der Mitarbeiter des Notars? Hatte sie dort etwas liegen lassen? Gab es noch ein weiteres Dokument zu unterschreiben? Dass er Notar oder Anwalt war, schien ihr nicht abwegig – sein makelloses Äußeres hätte zu dem Beruf gepasst. Und außerdem wusste er ihren Namen … oder war ihr Verstand noch immer so durch den Jetlag beeinträchtigt, dass sie es sich nur eingebildet hatte?

Der Mann war derart attraktiv, dass sie ein Prickeln verspürte und unwillkürlich näher an ihn herantreten wollte. Aber das ging natürlich nicht. Stattdessen sollte sie etwas sagen.

»Ähm … verzeihen Sie?« Nicht gerade geistreich, doch etwas Besseres fiel ihr nicht ein.

»Das sollte ich eigentlich zu Ihnen sagen, oder?«

»Aber ich dachte, Sie …« Cat legte ihre Hand aufs Tor.