Das Winter-Cottage - Rachael Lucas - E-Book

Das Winter-Cottage E-Book

Rachael Lucas

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Beschreibung

Ein zauberhaftes Cottage in den Highlands - Winter-Romance für knisternde Kaminabende

Rilla macht sich nach dem Tod ihres Vaters auf die Reise nach Schottland, um das Cottage in dem kleinen Dorf Applemore auszuräumen, in dem sie ihre Kindheit verbracht hat. Allzu lange will sie jedoch nicht bleiben, zu viele bittersüße Erinnerungen verbinden sie mit diesem Ort.

Auch das Herrenhaus »Applemore House« ist gerade verwaist. Lachlan Fraser ist nicht gerade begeistert darüber, den Titel Laird of Applemore geerbt zu haben. Er möchte das heruntergekommene Anwesen am liebsten so schnell wie möglich verkaufen und den Gespenstern der Vergangenheit den Rücken kehren. Aber seine drei Schwestern hängen an dem alten Haus, und als dann noch Rilla, seine Jugendliebe, auftaucht nimmt die Geschichte einen ganz anderen Verlauf als geplant: Alte Freundschaften und verborgene Gefühle werden wach in einem Winter voller Wunder …

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Seitenzahl: 355

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Cover

Titel

Rachael Lucas

Das Winter-Cottage

Aus dem Englischen von Sabine Schulte

Insel Verlag

Impressum

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eBook Insel Verlag Berlin 2023

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des insel taschenbuchs 4998.

Deutsche Erstausgabe© der deutschsprachigen Ausgabe Insel VerlagAnton Kippenberg GmbH & Co. KG, Berlin, 2023Copyright © Rachael Lucas, 2021Alle Rechte vorbehalten.Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.

Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Umschlaggestaltung: zero-media.net, München

Umschlagabbildungen: FinePic®, München; Getty Images, München

eISBN 978-3-458-77808-0

www.suhrkamp.de

Widmung

Für Jude, mit aller Liebe

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Inhalt

Informationen zum Buch

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Prolog

Erstes Kapitel

Zweites Kapitel

Drittes Kapitel

Viertes Kapitel

Fünftes Kapitel

Sechstes Kapitel

Siebtes Kapitel

Achtes Kapitel

Neuntes Kapitel

Zehntes Kapitel

Elftes Kapitel

Zwölftes Kapitel

Dreizehntes Kapitel

Vierzehntes Kapitel

Fünfzehntes Kapitel

Sechzehntes Kapitel

Siebzehntes Kapitel

Achtzehntes Kapitel

Neunzehntes Kapitel

Zwanzigstes Kapitel

Einundzwanzigstes Kapitel

Zweiundzwanzigstes Kapitel

Dreiundzwanzigstes Kapitel

Vierundzwanzigstes Kapitel

Fünfundzwanzigstes Kapitel

Epilog

Dank

Informationen zum Buch

Prolog

Das Türschloss war eingerostet, na klar. Nachdem sie so weit gereist und endlich am Applemore Cottage angekommen war – und sich, vom Jetlag angeschlagen, wie ein Zombie fühlte –, hatte Rilla den Eindruck, dass ihr Vater ihr einen letzten Streich spielte. Sie stellte sich vor, dass er in sich hineinlachte, während er von oben beobachtete, wie seine älteste Tochter kämpfte, um ins Haus zu gelangen.

Hoffnungsvoll rüttelte sie noch einmal am Schlüssel und drückte dann mit der Schulter gegen die Tür. Sie gab kein bisschen nach.

»Aua!«, sagte Rilla laut.

Eine Elster hüpfte auf den Ast der Eberesche, die mitten auf dem verwilderten Rasen stand, und legte nachdenklich den Kopf schräg.

»Na toll. Genau, was ich jetzt brauche.« Rilla schob sich eine Locke aus dem Gesicht, und weil sie abergläubisch war, begrüßte sie den Vogel eiligst. »Guten Morgen, Herr Elster, wie geht's Ihrer Frau?« Sie wollte nicht riskieren, dass heute noch etwas Schlimmeres passierte.

Die Elster erwiderte Rillas Blick und zwinkerte mit ihren glänzenden schwarzen Augen.

Das war wirklich perfekt. Das Taxi hatte sie mit Sack und Pack und einem Handy ohne Empfang im Nirgendwo abgesetzt, und nun stand sie nicht nur vor verschlossener Tür, sondern im Garten saß auch noch ein schlechtes Omen und guckte sie böse an. Und um dieser Ungerechtigkeit die Krone aufzusetzen, fielen jetzt erste Regentropfen.

Rilla trat einen Schritt zurück, riss sich zusammen und betrachtete das Cottage einen Moment lang.

»Bitte, lass mich rein.« Sie kam sich ein bisschen lächerlich vor, als sie das sagte.

Von der Haustür und den Fensterrahmen blätterte die grüne Farbe ab. Rosen rankten sich an einem Gitter hinauf, hingen vom hölzernen Verandageländer hinab und trotzten mit späten blassrosa Blüten der herbstlichen Kühle. Der Garten war ungepflegt und zugewuchert, und der Rasen musste unbedingt gemäht werden. Das Gemüsebeet an der Seite des Hauses hatte man anscheinend einfach wachsen lassen – ein riesiger Kürbis wurde zur Hälfte von Blattwerk verdeckt, und an einem Tipi aus Bambusstangen kletterte ein Gewirr von Bohnen hinauf. Vermutlich hatte ihr Vater die Samen in dem Bewusstsein ausgesät, dass er wahrscheinlich nicht mehr da sein würde, um ihre Früchte zu ernten. Bei diesem Gedanken überkam Rilla eine Welle der Traurigkeit. Sie seufzte tief und warf sich dann mit einem Verzweiflungsschrei noch einmal gegen die Tür.

»Ver-dammt!«

Die Tür rührte sich nicht.

Rilla lehnte die Stirn dagegen und rieb sich die Schulter. Jetzt war sie ausgesperrt, litt unter Jetlag und hatte noch dazu einen blauen Fleck.

»Es hilft, wenn man aufschließt.«

Rilla fuhr herum. Vorne am Gehweg zum Haus stand, eine Hand auf den Torpfosten gestützt, ein hochgewachsener, dunkelhaariger Mann, ein sonnengebräunter Outdoor-Typ in blauem Pullover, Jeans und robusten Arbeitsstiefeln. Er strich sich über seinen Dreitagebart und sah sie mit einem rätselhaften Blick an. Dann legte er den Kopf leicht schräg, als versuche er, sie einzuordnen. Rilla überlegte kurz, ob die Elster vielleicht Menschengestalt angenommen hatte, doch dann wurde ihr klar, dass Schlafmangel und Jetlag sie allmählich unzurechnungsfähig machten, und vor verschlossener Tür zu stehen gab ihr den Rest. Und jetzt auch noch – Unglücksvogel hin oder her – dieser Besserwisser, typisch Mann!

»Aufgeschlossen habe ich.« Ärgerlich deutete Rilla auf den Sicherheitsschlüssel, der im Schloss steckte. Mit mehr als ein bisschen Gewalt und voll verzweifelter Entschlossenheit hatte sie es geschafft, ihn umzudrehen.

»Stimmt«, der Mann nickte, »aber es ist deutlich leichter, ins Haus zu kommen, wenn man auch den Hauptschlüssel benutzt.« Er kam mit großen Schritten den Gehweg entlang und hob einen der Blumentöpfe an, die neben der Tür standen. Darunter lag ein großer, rostiger Eisenschlüssel. Der Unbekannte richtete sich auf und reichte ihn Rilla mit einem amüsierten Blick.

Sie nahm den Schlüssel entgegen und verschränkte die Arme. »Von zwei Schlüsseln hat mir niemand was gesagt.«

»Ach so.« Er wirkte ein wenig verlegen. »Als David weg ist – also, als er ins Krankenhaus kam –, ging das alles etwas schnell. Wir mussten noch ein paar Dinge regeln, und dieser Schlüssel ist in dem ganzen Chaos wohl übersehen worden. Das tut mir leid.«

Rilla hielt die Arme weiter verschränkt und sah ihn an. Ihr Gesicht verriet sie, so wie immer, sie schaffte es einfach nicht, eine neutrale Miene aufzusetzen. »Mir wurde mitgeteilt, dass ich problemlos ins Haus hineinkommen würde.« Sie klang eingeschnappt und sauer, denn genau das war sie auch. Und dazu müde und benommen, und außerdem meldeten sich gerade Tausende von Gefühlen, die sie tief in sich verschlossen hatte – bis zu diesem Nachmittag, an dem sie nach über zehn Jahren zum ersten Mal wieder vor dem Applemore Cottage stand. Und da kam ihr dieser nervige Mensch in die Quere. Sie wollte nur noch ins Haus, sich aufs Sofa schmeißen und mindestens hundert Jahre lang schlafen. War das denn zu viel verlangt?

»Soll das heißen, es ist meine Schuld?« Immer noch zuckte ein leicht belustigtes Lächeln um seine Mundwinkel.

»Haben Sie denn etwas zu verbergen?«

Er sah sie an, und etwas huschte über sein Gesicht, das sie nicht recht deuten konnte. »Nein, nichts zu verbergen, keine Hintergedanken. Die ganze Sache war einfach ein Versehen.«

»Hm.« Immer noch misstrauisch betrachtete Rilla den Schlüssel. Dann schob sie ihn in das alte Schloss unterhalb des Sicherheitsschlosses, das ihr vorher gar nicht aufgefallen war, und drehte ihn um. Als sie jetzt kräftig mit der Schulter gegen die Tür drückte, schwang diese weit auf, sodass sie fast in den Hausflur gestürzt wäre. Auf der Fußmatte lag ein Haufen Post. »Okay.« Sie drehte sich um. »Tut mir leid, ich wollte Sie nicht –«

Aber der Mann war verschwunden, genauso wie vor ihm die Elster, und Rilla stand mutterseelenallein im Flur des Pförtnerhauses von Applemore.

Erstes Kapitel

»Also, worum geht's?«

Lachlan Fraser schaute aus dem Fenster der Wohnung, in der er seit vier Jahren gemeinsam mit seinem Freund und Geschäftspartner Gus lebte. In der ganzen Zeit war ihm der Ausblick über die Wohnhäuser und Gebäude hinweg auf das schiefergraue Wasser des Firth of Forth nie langweilig geworden. Edinburgh war ihm die liebste Stadt auf der ganzen Welt, und er schätzte sich glücklich, hier zu leben. Oder besser, vorerst hier gelebt zu haben. Er wandte sich vom Fenster ab.

Gus krempelte die Ärmel seines blauweiß gestreiften Hemds auf und warf einen flüchtigen Blick in den Spiegel. Er war so blond, wie Lachlan dunkelhaarig war, und obwohl er Mitte dreißig war, waren seine Versuche, sich am Kinn mehr als einen hellen Stoppelflaum wachsen zu lassen, kaum der Rede wert. Seiner äußerst kostspieligen Freundin Lucinda schien das allerdings nichts auszumachen. Lachlan stöhnte innerlich, wenn er daran dachte. Sich eine Wohnung zu teilen hatte durchaus seine Schattenseiten, und dazu gehörte unter anderem, morgens um zwei mit einem Kissen über dem Kopf im Bett zu liegen, in dem Versuch, zu ignorieren, wie sein bester Kumpel und dessen Freundin, die praktisch bei ihnen eingezogen war, sich miteinander vergnügten.

»Lachlan?« Gus unterbrach ihn in seinen Gedanken.

Lachlan unterdrückte ein Gähnen. Er hatte ungefähr vier Stunden geschlafen, und die Aussicht auf den heutigen Tag war nicht gerade erfreulich. »Es geht um das Haus.«

»Mit Haus meinen wir vermutlich«, Gus zog sardonisch eine Augenbraue hoch, »eine imposante Burg mit Türmen in den Highlands?«

»Es ist keine Burg«, begann Lachlan zum hundertsten Mal, »es ist ein –«

»Na dann eben ein Schloss. Jedenfalls hat es Türme. Ist doch das Gleiche.«

»Du hast wohl einen im Turm!«

»Und du hast einen Dachschaden.« Gus lachte.

»Im wahrsten Sinne des Wortes. Aber du hast gleich auch was an der Backe!« Lachlan bewarf Gus mit einem von Lucindas teuren Untersetzern. Er flog wie ein Frisbee durch die Luft, nur knapp an seinem Ohr vorbei. Mit der blitzschnellen Reaktion des ehemaligen Rugbyspielers fing Gus das Flugobjekt auf.

»Schloss oder Burg – also, was ist los?«

»Sie haben die Erbschaftssteuer ausgerechnet.« Lachlan seufzte. »Und wir sollen über zweihundert Riesen aus dem Nichts herbeizaubern.«

»Super.« Gus setzte sich an den Küchentisch und streckte die langen Beine aus. »Du kannst ja einen alten Meister oder so was verkaufen. In eurer Halle hängen doch jede Menge Gemälde, ist da denn nichts dabei, was Geld bringt?«

»Du würdest dich wundern.« Lachlan dachte an die schäbige, früher so großartige Halle von Applemore House. Die einst in einem satten Weinrot gestrichenen Wände waren zu einem pudrigen Dunkelrosa verblasst, auf dem nur eine Reihe von Rechtecken noch das ursprüngliche Rot zeigte. Jedes dieser Rechtecke zeugte von einem finanziellen Desaster in der Familie Fraser – sie hatten praktisch alles verkauft, was irgendeinen Wert besaß. Jetzt hingen nur noch einige politisch inkorrekte Tierköpfe an den Wänden – einem davon baumelten bei Lachlans letztem Besuch zu Hause ganz unzeitgemäß Weihnachtskugeln am Geweih – sowie eine Sammlung von Porträts eindeutig glanzloser Vorfahren, die in Kilts und Jagdkleidung finster auf die Hausbewohner hinunterstarrten.

»Okay. Ich nehme an, dass ihr nirgends zweihundert Riesen rumfliegen habt, und ich weiß, dass auch wir von solchen Beträgen nur träumen können – also, was hast du vor?«

Lachlan griff nach seinem Handy, weil gerade eine Nachricht gekommen war. Seine Schwester Charlotte – er würde sie später anschauen und legte das Handy mit dem Display nach unten auf den Küchentisch.

»Ganz ehrlich? Ich hab keine Ahnung.« Doch Lachlan war weder sich selbst noch Gus gegenüber vollkommen ehrlich. Er wusste genau, was er tun musste – das Problem war nur, dass ihn das zum größten Arschloch der Welt machen würde.

»Du musst doch irgendeine Idee haben.«

Lachlan zögerte. »Erinnerst du dich an Felix Lowther? Meinen Freund aus Studienzeiten?«

»Vage.« Gus überlegte. »Langer Lulatsch, Golfspieler?«

Lachlan nickte. »Genau. Er ist jetzt oben in Perth Immobilienmakler. Verkauft Landhäuser und Gutshöfe und so.«

Gus fiel die Kinnlade herunter, als ihm klar wurde, was Lachlan da andeutete. »Du darfst nicht verkaufen!«

»Ach, verdammt noch mal.« Lachlan legte den Kopf in die Hände. Er lachte. »Jetzt fang bitte nicht damit an.«

»Aber es ist doch dein Erbe. Und euer Familiensitz. Es ist –«

»Eine marode, unpraktische, geldfressende alte Br…«

»Genau, eine Burg«, sagte Gus triumphierend.

»Du bist mir keine Hilfe.« Lachlan hob den Kopf wieder. Er betrachtete den Stapel Getränkedosen auf dem Tisch. »Ist es noch zu früh für ein Bier?«

»Es ist erst halb neun. Auf jeden Fall zu früh. Außerdem dürfen wir nicht anfangen, unsere Gewinne zu versaufen – zum Wahnsinn führt der Weg, wie Shakespeare schon sagte. Oder in den Alkoholismus.«

»Ja, ich weiß. War nicht ernst gemeint.« Oder doch?, dachte Lachlan und griff nach einer Bierdose. Er drehte sie in der Hand und betrachtete nachdenklich das neue Design.

»Du sitzt also voll in der Scheiße, mit einem Berg an Schulden und einer Burg, die du nicht verkaufen kannst …«

»Natürlich kann ich die alte Bruchbude verkaufen«, sagte Lachlan vernünftig. »Und ich werde noch diese Woche mit Felix sprechen.«

»Okay. Ich würde ja zu gern kommen und Mäuschen spielen, wenn du den drei Schwestern sagst, dass du sie obdachlos machen willst.«

»Prost, Kumpel.« Darüber wollte Lachlan jetzt wirklich nicht nachdenken.

»Es muss doch eine Lösung geben, auch ohne dass du die Frauen auf die Straße setzt. Ich meine, Charlotte käme schon klar – sie ist zäh wie altes Stiefelleder. Aber von Beth kannst du nicht erwarten, dass sie mit ihrer Gärtnerei mit allem Drum und Dran und sämtlichen Pflanzen umzieht. Sie hat so viel Zeit investiert, um die Sache zum Laufen zu bringen.« Damit sagte Gus ihm überhaupt nichts Neues, trotzdem rutschte Lachlan unbehaglich auf dem Stuhl herum, als er seine eigenen Gedanken laut ausgesprochen hörte.

»Und über Polly haben wir noch gar nicht gesprochen.«

»Ach, die liebe kleine Polly.« Gus hatte für die Jüngste in der Familie immer eine besondere Zuneigung empfunden, so als wäre er ihr großer Bruder. »Was hat sie denn jetzt vor?«

»Nicht viel«, sagte Lachlan. »Aber was auch immer es ist, sie tut es unter meinem Dach. Na gut, unter unserem Dach.«

»Sie soll mal lieber nicht zu lange die Füße stillhalten, sonst wird sie nass. Das Dach ist immer noch undicht, oder?«

»Überall.« Lachlan stöhnte. Das undichte Dach war nur eins der zahlreichen Probleme.

»Dieses Gespräch«, sagte Gus, indem er aufstand und Lachlan mit tadelndem Blick eine weitere Bierdose aus der Hand nahm, »führt zu nichts Gutem.«

Lachlan verzog das Gesicht und sah seinen Freund an. Seit er es Gus mitgeteilt hatte, war es eine Tatsache, und es gab kein Zurück.

»Ich glaube, ich muss für eine Weile nach Applemore und sehen, was ich tun kann, um da alles zu organisieren und –«

»Und mich mit einer Brauerei ohne Brauer alleinlassen.«

Lachlan wand sich. »Ja-a.«

»Woher hab ich gewusst, wo dieses Gespräch hinführen würde?« Gus stöhnte.

Lachlan und Gus waren seit Jahren befreundet. Sie hatten zusammen in Edinburgh studiert und mit den gleichen Leuten in Kneipen und Restaurants abgehangen. Lachlan hatte die Universität mit einem Abschluss in Geologie verlassen und mit der Überzeugung, dass er nicht die geringste Lust hatte, irgendetwas in Richtung Geologie anzufangen – was ein bisschen unglücklich war. Aber er kochte liebend gern. Er nahm einen Job im Restaurant eines Freundes an, und bevor er sich's versah, managte er das Lokal. Er hatte eine Nase für gutes Essen und gutes Bier und besaß die Gabe, interessante Craftbiere von kleinen, unabhängigen Brauereien auszuwählen. Daher war niemand überrascht, als er zusammen mit Gus – der zu der Zeit als Wissenschaftler in einem Forschungslabor der Universität arbeitete – beschloss, sich einen Nebenerwerb aufzubauen und eine Mikrobrauerei zu eröffnen. Schon die ersten Biere waren überraschend erfolgreich gewesen – von gelegentlichen Bierfassexplosionen abgesehen – und bald hatten die beiden den Sprung in die Selbständigkeit gewagt. Sie hatten ihre Jobs aufgegeben und ihr Erspartes in eine eigene kleine Brauerei investiert. Sie nannten ihre Marke Hedgepig Beers, und fünf Jahre später florierte das Unternehmen.

Hedgepig Beers bekam gute Kritiken, und Lachlans Fähigkeit, die Zutaten sorgsam aufeinander abzustimmen und so für eine gleichbleibend gute Qualität zu sorgen, führte dazu, dass ihr guter Ruf sich schnell verbreitete. Der quirlige, kontaktfreudige Gus war ein Genie in allem, was soziale Medien und Marketing betraf, und so wurde die Brauerei von Tag zu Tag bekannter. Sie konnten es überhaupt nicht gebrauchen, dass die Hälfte des Teams jetzt die Bühne verließ und in die Highlands verschwand, wo die Transportverbindungen schlecht und der Handyempfang noch schlechter war.

»Das bedeutet ja wohl, dass ich vorübergehend einen Ersatz für dich finden muss.« Gus seufzte.

»Für den Unersetzlichen.« Lachlan grinste.

»Achtung, dein Ego«, parierte Gus. »Niemand ist unersetzlich.«

»Hab gehofft, dass du genau das sagen würdest.« Lachlan sah seinen Freund an. »Da hab ich dich jetzt schön reinmanövriert, was?«

»Also gut.« Gus schüttelte den Kopf. Er nahm eine Bierdose in die Hand und las die Zutaten. »Das kann doch nicht so schwer sein.«

»Ist es auch nicht«, sagte Lachlan. »Du hast mir tausendmal dabei zugeguckt. Und du bist doch Chemiker, zum Teufel. Das müsstest du im Schlaf hinkriegen.«

»Für den Anfang würde ich es lieber im Wachzustand versuchen«, erwiderte Gus trocken. »Vielleicht können wir Lucinda überreden, das Marketing zu übernehmen? Sie hat ihren jetzigen Job bis oben hin satt.«

»Vielleicht.« Lachlan versuchte, unbeteiligt zu klingen. Gus' Freundin war bezaubernd, aber nur das Teuerste war ihr gut genug, und sie konzentrierte sich ganz darauf, das zu bekommen, was sie wollte. In letzter Zeit war ihr oberstes Ziel gewesen, Lachlan aus der Wohnung zu vertreiben, weil sie selbst einziehen wollte – sie würde bestimmt froh sein, überlegte er, wenn sie hörte, dass er auf dem Weg in den Norden war. Aber sie hatte ständig neue Ideen, wie die Brauerei mehr Geld abwerfen und größer werden könnte. Lachlan und Gus hatten schon viel Zeit darauf verwendet, ihr in aller Ruhe auseinanderzusetzen, dass eine Erhöhung der Produktion bei solchem Bier, wie sie es brauten, nicht unbedingt eine gute Sache war. Lachlan seufzte, als er daran dachte, wie es mit Hedgepig weitergehen würde, wenn Lucinda dauerhaft mit am Firmentisch saß, doch dann verdrängte er den Gedanken. Er musste sich jetzt auf Applemore konzentrieren, alles andere konnte bis später warten. Und im Moment hieß das, dass er irgendwie die kleine Summe von zweihunderttausend Pfund auftreiben musste …

»Ich rede mit ihr.« Bei diesem Gedanken hellte Gus' Gesicht sich auf. »Sie wird sich riesig freuen, weißt du.«

»Ja.« Lachlan unterdrückte seine Bedenken und beschloss, sich auf das Positive zu konzentrieren. »Das ist toll, Gus, ich bin dir wirklich dankbar.«

»Kein Problem.« Gus stand auf und legte Lachlan die Hand auf die Schulter. »Du fährst nach Hause und kümmerst dich um alles, was mit Tod, Schulden und Verwahrlosung zu tun hat. Und ich halte hier alles am Laufen, bis du wiederkommst, und dann wird es so sein, als wärst du nie weg gewesen.«

Lachlan vermutete, dass das äußerst unwahrscheinlich war, aber er sagte nichts. Er musste seine Sachen packen und einen ganzen Haufen Dinge regeln, die mit der Brauerei zu tun hatten, bevor er in die Highlands aufbrechen konnte. Er sah zu Gus hoch und nickte ihm noch einmal dankbar zu.

»Du würdest das auch für mich tun«, sagte sein Freund. Zumindest in dieser Hinsicht waren sie absolut auf einer Wellenlänge.

*

Ein paar Tage später lud Lachlan seine Taschen ins Auto. Gus stand mit Lucinda auf der Treppe zur Wohnung. Er hatte ihr den Arm um die Taille gelegt und wirkte nachdenklich.

»Bleib nicht zu lange weg«, sagte er und klatschte Lachlan ab. »Ich werde meinen Saufkumpan vermissen.«

Lucinda tätschelte Gus den Bauch. »Vielleicht kriegst du deinen Rugbyspieler-Sixpack zurück, wenn du nicht mehr mit Lachlan auf Kneipentour gehst«, sagte sie spitz. »Er soll sich mit dem Wiederkommen lieber nicht beeilen.«

Lachlan wusste, dass das nicht nur scherzhaft gemeint war, und lächelte schwach. »Ehe ihr's euch verseht, bin ich zurück. Und ihr könnt jederzeit kommen und mich besuchen. Es ist ewig her, dass Gus bei uns oben im Norden war.«

»Sehr gerne«, sagte Lucinda, die von Landhäusern und allem, was dazugehörte, fasziniert war. Lachlan glaubte allerdings, dass die abblätternde Farbe, der äußerst launische Boiler und der feuchte Keller sie weniger begeistern würden, aber er war nicht frei von Schadenfreude, und so stellte er sich genüsslich vor, wie ihr Gesicht aussehen würde, wenn sie ankam.

»Das ist ernst gemeint«, schob er nach. »Gebt mir die Chance, ein bisschen klar Schiff zu machen, und kommt dann mal übers Wochenende hoch.«

»Uuh«, gurrte Linda und wandte sich an Gus. »Ich muss mir unbedingt was Neues zum Anziehen besorgen. Das ist die Gelegenheit! Auf Balmoral ziehen sie sich offenbar dreimal am Tag um – als ich neulich beim Friseur war, hab ich das in der Hello! gelesen.«

Gus sah Lachlan an und zog eine Augenbraue hoch. »Zieht ihr euch auf Applemore auch noch dreimal am Tag um?«

»Wir haben das auf zweimal pro Tag beschränkt«, sagte Lachlan trocken. »Die Waschmaschine kam nicht mehr mit, und es ist furchtbar lästig, wenn man am Ende der Welt wohnt und den Abendanzug immer in die chemische Reinigung bringen muss.«

»Siehst du, Schätzchen.« Gus lachte. »Du wirst dein Ballkleid auf Applemore nicht brauchen.«

»Schade«, antwortete Lucinda pikiert.

»Ich bin sicher, dass du eine Gelegenheit findest, es zu tragen.« Auch Lachlan musste jetzt lachen. Er warf seine Schlüssel in die Luft und fing sie wieder auf. »Gut, ich hab alles.«

»Melde dich, wenn du angekommen bist, damit ich weiß, dass du nicht nach Peru oder sonst wohin emigriert bist, um der dreifachen Bedrohung durch deine zornigen Schwestern zu entgehen.«

»Das wäre echt eine Möglichkeit.« Bei dem Gedanken an seine Schwestern wurde ihm etwas mulmig. »Sie werden sich kein bisschen freuen, vermute ich, ganz egal, was ich mir einfallen lasse. Ist ja auch kein Wunder, schließlich ist Applemore ihr Zuhause.«

»Hast du schon mit Felix gesprochen?« Sie waren so sehr damit beschäftigt gewesen, die letzten Dinge für die Brauerei zu planen und zu regeln, dass vieles andere unter den Tisch gefallen war.

»Ja, wir haben uns getroffen.«

Lachlan hatte Felix angerufen, und der war so scharf auf ein Gespräch gewesen, dass er gleich am nächsten Tag in sein schweineteures, superschnelles Sportcabrio gesprungen und aus Perth nach Edinburgh gekommen war. Nach einem köstlichen Mittagessen, von Felix bezahlt, hatte Lachlan seine missliche finanzielle Lage erläutert, und Felix hatte ihm versichert, dass reiche Amerikaner sich nach einem Landsitz wie Applemore die Finger lecken würden. Sie kauften große Anwesen in den schottischen Highlands auf und renovierten die dazugehörigen Schlösser oder Landhäuser im Handumdrehen. Lachlan hatte ein leichtes Ekelgefühl hinuntergeschluckt, als er sich vorstellte, wie das Zuhause seiner Familie mit teuren Tapeten in fünfzehn verschiedenen Tartan-Mustern tapeziert wurde, und er hatte sich bemüht, an die positiven Seiten dieses Verkaufs zu denken.

»Ich rede ausführlicher mit ihm, sobald ich mir das Haus richtig angesehen habe und weiß, was gemacht werden muss.«

»Guter Plan.«

Lachlan stieg ein. Lucinda stand immer noch neben Gus auf der Treppe. Offensichtlich konnte sie es kaum erwarten, wieder ins Haus zu gehen – für Ende September war es kalt, und bei dem Wind, der vom Firth of Forth heraufpfiff, war man schnell bis auf die Knochen durchgefroren.

»Geht wieder rein, ihr beiden. Ich melde mich im Laufe der Woche und berichte euch, wie es läuft.«

»Fahr vorsichtig«, sagte Lucinda mit einem winzigen Winken.

Gus klopfte zum Abschied auf das Autodach, und sie verschwanden im Haus.

Es gab Lachlan einen Stich, als er erkannte, dass es nie wieder so werden würde wie vorher. Dann drehte er den Schlüssel im Zündschloss und ließ die Stadt hinter sich.

Zweites Kapitel

Im Flur roch es nach Holzfeuer und alten Zeitungen. Als Rilla auf einen Lichtschalter drückte, wurde ihr klar, dass hier im Haus niemand etwas angerührt hatte, seit ihr Vater gestorben war.

Sie hob den Stapel Briefe von der Türmatte auf und ging in die Küche. Auf dem großen Küchentisch stand die Obstschale aus Keramik, die sie damals, als sie noch Kinder gewesen waren, auf einer Griechenlandreise gekauft hatten. Sie strich mit dem Finger über den Rand. Dann rückte sie sich einen Stuhl zurecht und setzte sich. Sie war viele Stunden unterwegs gewesen, und der Jetlag machte sie ganz wirr im Kopf. Die Augen fielen ihr zu. Wenn sie sich jetzt einen Moment ausruhte, konnte sie sich vielleicht gleich um alles kümmern …

»Hallo?«

Schlagartig war Rilla hellwach. Sie legte die Hände auf die Tischplatte und stemmte sich mit einem Ruck hoch.

»Ist hier jemand?« Die Stimme war scharf, aber die Sprecherin hatte den vertrauten Akzent der Highlands, den Rilla so lange vermisst hatte.

»Äh – ich – ja, hallo.« Sie trat in den Flur. Da stand eine kleine Frau mit kurzem grauem Haar und einer übergroßen Schildpattbrille. Sie schien zu überlegen.

»Na so was«, sagte sie dann. »Unsere kleine Rilla Clark.«

Rilla musterte die Frau stirnrunzelnd und entschuldigte sich dann mit einem kurzen Lachen. »Verzeihen Sie, ich will nicht unhöflich sein …« Wie sagte man denn bloß einigermaßen verbindlich: Ist ja schön, dass Sie mich kennen, aber ich kann Sie nicht einordnen?

»Joan Grant.« Jetzt lächelte die Frau und ihr Gesicht hellte sich auf. In diesem Moment erkannte Rilla sie.

»Joan!«

»Ganz genau. Du hast dich kein bisschen verändert, aber ich bin zurzeit nicht wiederzuerkennen. Du hast eine Weile gebraucht, stimmt's?«

»Nur einen Moment«, flunkerte Rilla, »und auch nur, weil ich gerade am Küchentisch aufgewacht bin. Ich hab keine Ahnung, wie spät es hier ist, aber in meinem Kopf ist Schlafenszeit.«

»Und deswegen bin ich hier.« Joan betrachtete Rillas Gepäck, welches das Durcheinander im Flur noch vergrößerte. »Als ich von Ray hörte, dass er dich mit seinem Taxi hergebracht hat, dachte ich, ach, das arme Mädelchen, nach so einer langen Reise ist sie bestimmt fix und fertig, also bin ich rübergekommen. Mal sehen, ob wir etwas zum Abendbrot und ein bequemes Bett für dich finden.«

»Aber – hier ist doch ein Bett.« Das klang abweisender, als Rilla beabsichtigt hatte. »Ich meine, ich hab gedacht, ich mache mir das zurecht und fange dann morgen früh gleich mit der Arbeit an.«

»Dieses Cottage steht seit Monaten leer. Wenn es nach mir gegangen wäre und ich gewusst hätte, dass du kommst, dann hätte ich hier ordentlich geputzt und aufgeräumt, aber …« Joan machte eine kleine Pause. »Also, ich wollte niemandem im Weg sein, und in letzter Zeit hat es viel Wirbel um Applemore gegeben, und … Na ja, ich erzähle dir alles, wenn du dich ausgeruht hast. Du musst doch fix und fertig sein.«

Rilla nickte schwach. »Ja, ein bisschen schon.« Das Schläfchen am Küchentisch hatte nicht geholfen, eher im Gegenteil – sie fand es lächerlich, dass sie, obwohl sie so viel in der Welt herumreiste, vom Jetlag völlig platt war, aber von Westen nach Osten zu fliegen war einfach mörderisch. Ihr war schlecht, als wäre sie seekrank, und sie kam sich vor wie ein Heliumballon, der gleich in den Himmel hochschweben würde, wenn ihn nicht etwas am Boden festhielt.

»Schön. Hast du eine Tasche mit den Dingen, die du heute Nacht brauchst?«

Rilla nickte.

»Gut, alles andere kann bis morgen warten. Komm, wir fahren zu mir.«

Als Rilla in Joans Auto stieg, war ihr, als wäre sie wieder zwölf Jahre alt. Sie schnallte sich an und steckte die Schlüssel zum Cottage in ihre Handtasche, dann lehnte sie sich zurück und legte den Kopf an die Kopfstütze. Ihre Lider waren so schwer, dass sie ihre ganze Energie brauchte, um während der Fahrt nicht einzudösen. »Wo fangen wir an?« Joan klopfte mit ihren pink lackierten Fingernägeln aufs Lenkrad, während sie an einer Kreuzung wartete, bis ein Traktor mit Anhänger vorbeigerumpelt war. »Dein Vater würde sich wahnsinnig freuen, dass du wieder hier bist, das weißt du, oder?«

Rilla nickte.

»Es ist furchtbar schade, dass er seinen Ruhestand nicht hier oben verbringen konnte, so wie er es geplant hatte. Er war ein guter Mann.« Joan schüttelte den Kopf. »Und Krebs ist schrecklich. Ganz schrecklich.«

»Schrecklich«, stimmte Rilla zu.

»Ich hab selbst eine kleine Kostprobe davon gehabt«, erklärte Joan und deutete auf ihr Haar. »Deshalb die neue Frisur.«

Ach so – daher hatte Rilla sie nicht erkannt. Als sie Joan, die nicht nur eine Stütze des Dorfes, sondern auch sehr gut mit ihrem Vater befreundet gewesen war, das letzte Mal gesehen hatte, war ihr Haar lang und kastanienbraun gewesen. Dieser neue Kurzhaarschnitt hatte sie völlig verändert.

»Neue Frisur – ich staune selbst, aber das Grau gefällt mir recht gut. Und ich hab jetzt diese Brille, die mag ich eigentlich nicht so, und ich bin auch nicht mehr so rank und schlank wie damals, als wir uns zum letzten Mal gesehen haben.« Sie tätschelte sich den Bauch.

»Du siehst toll aus«, erklärte Rilla. »Die Brille steht dir super, finde ich. Sie passt sehr gut zu deiner Gesichtsform.«

»Findest du?« Joan wirkte etwas beschwichtigt.

»Ganz bestimmt.«

»Das ist sehr nett von dir.« Jetzt strahlte Joan.

Zehn Minuten später rumpelten sie die gepflasterte Zufahrt zu Joans Haus hinauf, das auf einem Hügel mit Blick über die Applemore Bay stand. Der Septemberabend war kühl, und über dem Schornstein kräuselte sich Rauch. Rilla zitterte vor Müdigkeit und Kälte.

»Komm rein«, sagte Joan und nahm ihre Tasche aus dem Kofferraum. »Jetzt mache ich dir ein Häppchen zu essen, und dann geht's ab ins Bett.«

»Das ist wirklich ganz lieb von dir«, sagte Rilla, als sie ins Haus und dann weiter in ein hübsches Wohnzimmer geschoben wurde. Auf schmucken, anscheinend neuen Sofas hockten dicke Kissen.

»Nicht der Rede wert. Ich war sehr gut mit deinem Vater befreundet, und wenn er noch hier wäre, würde er das Gleiche für meine Leute tun.«

»Na ja, er würde Tee kochen«, Rilla lächelte wehmütig, »aber ich bezweifle, dass er mehr zustande bringen würde.«

»Na gut, andere zu verpflegen war nie seine Stärke.«

»Wenn ich an die Sommer hier oben denke, erinnere ich mich vor allem an Instant-Nudeln, die man bloß mit kochendem Wasser aufgießen musste, und ab und zu gab es mal eine Steak-&-Kidney-Pastete von Fray Bentos aus der Dose.«

Joan lachte leise. »Also, ich habe eine schöne schottische Graupensuppe mit frischem Brot für dich, und vorhin habe ich Früchtekuchen gebacken. Das gibt dir eine gute Grundlage für die Nacht, und morgen früh überlegen wir uns dann, was nötig ist, um das Cottage bewohnbar zu machen.«

»Ach, ich bleibe nicht lange«, begann Rilla, aber Joan war bereits in die Küche verschwunden, wo sie fröhlich mit Tellern und Besteck klapperte und dabei vor sich hin trällerte. Rilla war zu müde, um ihre Pläne weiter zu erläutern, daher setzte sie sich einfach hin und wartete ab. Eigentlich hätte sie Joan ihre Hilfe anbieten sollen, aber daran hatte sie gar nicht gedacht, und …

»Oh, sieh mal einer an, du Schlafmützchen.«

Rilla riss die Augen wieder auf. »Ach je, tut mir leid.« Sie blickte auf die Uhr oben auf dem Kaminsims. Viertel nach fünf. Ihr Hirn schaffte es nicht, auszurechnen, wie spät es jetzt in Maine war oder wie viele Stunden sie vom Haus ihrer Schwester in Marblehead nach Boston und von da aus nach Edinburgh und dann mit Zug und Taxi in die Highlands hinauf gebraucht hatte. Sie wusste nur, dass sie nicht, auf gar keinen Fall, über dem Teller, den Joan ihr gerade so freundlich vorsetzte, einschlafen durfte.

»Wie geht's deiner kleinen Schwester?«, fragte Joan.

»Sally?«

Joan nickte.

»Gut. Sie ist verheiratet und lebt mit ihrem Mann in New England. Er ist Investmentbanker oder so was in der Art. Immer im Anzug und verdient einen Haufen Geld.«

»Dein Vater hat damals erzählt, dass sie eine gute Partie gemacht hat. Er sagte, in der Beziehung würde sie ihrer Mutter ähneln, während du eindeutig nach ihm kommst.«

»Schmuddelig und etwas chaotisch?« Mit einem Lächeln nahm Rilla sich ein Stück von dem selbstgebackenen Brot, das Joan auf einen kleinen Teller gelegt hatte.

»Ach, er hatte immer eine Schwäche für dich, das weißt du ja. Er war so stolz auf deine vielen Reisen. Es ist bloß schade, dass ihr in den letzten Jahren so wenig Zeit miteinander hattet.«

»Ich weiß.« Plötzlich wurde Rilla von Schuldgefühlen gepackt, und sie schämte sich. Sie hatte über E-Mails und FaceTime-Anrufe Kontakt zu ihrem Vater gehalten und ihm von ihren Abenteuern berichtet. »Man denkt immer, man hätte noch Zeit, oder?«

»Das stimmt.« Joan legte ihr die Hand auf den Arm. »Aber jetzt hab mal kein schlechtes Gewissen. Er hat sich so gefreut, wenn er von deinen Abenteuern erfuhr, und wer konnte wissen, dass er so schnell von uns gerufen werden würde?«

Rillas Unterlippe zitterte. Verflixt, jetzt bestand nicht nur die Gefahr, dass sie einschlief und ihr der Kopf in den Teller plumpste, sondern gleich würde sie auch noch in ihre Suppe flennen. Sie ballte die Fäuste und grub die Fingernägel in die Handflächen, ihre patentierte Methode, um nicht zu weinen. Es funktionierte.

Eine halbe Stunde später kuschelte Rilla sich in Joans Gästezimmer unter die Bettdecke. Ihre Sachen lagen ordentlich gefaltet auf dem Stuhl am Fußende des Bettes, und auf dem Nachttisch stand eine Tasse Tee. »Für den Fall, dass du Durst kriegst«, hatte Joan gesagt. Ganz kurz hatte Rilla das Gefühl, dass das Hinlegen sie von ihrem Jetlag geheilt hatte und dass sie aufstehen, zurück zum Cottage laufen und anfangen könnte, alles auszuräumen. Aber gleich darauf schlief sie tief und fest.

Als Rilla am nächsten Morgen erwachte, war es elf Uhr. Einen Moment lang hatte sie keine Ahnung, wo sie sich befand. Das Bett, in dem sie die letzte Nacht vor ihrer Reise geschlafen hatte, hatte in Sallys makellosem, in neutralen Farben gehaltenem Gästezimmer gestanden. Hier aber waren die Wände rosa, und sie lag unter einer Decke mit einem Muster aus riesigen, knatschroten Hibiskusblüten. An den Wänden hingen Drucke von schottischen Landschaften, und auf dem Nachttisch lag ein etwas furchterregendes, kirschrot besticktes Deckchen, das aussah, als hätte man es aus dem Jahr 1964 herübergerettet.

Als Rilla sich aufsetzte, fiel ihr Blick auf den kalten Tee, und sie rieb sich die Augen. Wie hatte sie nur – sie zählte an den Fingern ab – fünfzehn Stunden schlafen können? Und noch dazu in einem fremden Haus?

Sie stieg aus dem Bett, zog sich an und überlegte, wo das Bad sein könnte. Gestern Abend war sie noch aufs Klo gegangen, aber sie war so jenseits von Gut und Böse gewesen, dass sie sich nicht recht erinnern konnte, welche Tür es gewesen war, und sie wollte nicht versehentlich in Joans Schlafzimmer hineinspazieren.

»Aha«, sagte Joan, als hätten Rillas Gedanken sie herbeigerufen. »Na bitte. Ausgeschlafen? Geht's dir jetzt besser?«

Rilla nickte. »Ja, danke. Viel besser.«

Joan deutete auf eine Tür im Flur. »Im Bad sind frische Handtücher, und in dem Körbchen auf der Fensterbank ist auch eine Zahnbürste, falls du eine brauchst. Shampoo und das alles ist in der Dusche. Bedien dich einfach. Ich mache dir was zum Frühstück.«

Rilla hatte vorgehabt, sich einfach zum Cottage davonzumachen, aber jetzt legte sie sich überrascht die Hand auf den Bauch, als wolle sie ihr lautstarkes Magenknurren dämpfen. »Das wäre wunderbar, danke.«

Sie spülte alle Gerüche von Flugzeugen und von der Reise ab und ersetzte sie durch die Düfte von Joans Shampoo und der Duschlotion von Marks & Spencer. Als sie nach unten kam, fühlte sie sich so gut wie seit Tagen nicht mehr.

Während Rilla am Tisch saß und darauf wartete, dass Joan ihr das Frühstück brachte, überlegte sie, wie seltsam es war, dass sie Hilfe von einem relativ fremden Menschen annehmen konnte. Aber Joans unkomplizierte Freundlichkeit machte es ihr leicht. Bei Sally dagegen hatte sie immer ein vages Schuldgefühl, als wäre sie nicht gut genug, und daher glaubte sie, sich ihrer Schwester alle fünf Sekunden als Babysitterin anbieten zu müssen, als Gegenleistung für ihren Aufenthalt dort … Sally würde natürlich sagen, dass sich das ausschließlich in ihrem Kopf abspielte. Grund dafür war vermutlich ihre Mutter mit ihrer merkwürdigen, etwas distanzierten Art den Kindern gegenüber. Ihr Vater war chaotisch, aber liebevoll gewesen, ihre Mutter dagegen spröde, ständig besorgt, was andere Leute denken könnten, und immer sehr kritisch. Das machte Besuche bei ihrer Familie so anstrengend, dass Rilla versuchte, sie weitestgehend zu vermeiden. Kein Wunder, dass sie einen großen Teil der letzten zehn Jahre in der ganzen Welt unterwegs gewesen und damit alldem aus dem Weg gegangen war.

»Du freust dich bestimmt darauf, die Frasers wiederzusehen, hab ich recht?« Joan musterte sie über ihren Teebecher hinweg.

»Sind sie denn noch hier?« Das hatte Rilla sich schon auf der Reise gefragt – ob die Frasers noch auf Applemore lebten? Würden sie sich überhaupt noch an sie erinnern? Es war so lange her …

»Aber natürlich, sie schwirren weiter hier herum, jede auf ihre Weise. Weißt du eigentlich schon, dass Hector Fraser nicht lange nach deinem Vater verstorben ist?«

Rilla schüttelte den Kopf.

»Dass wir die beiden so kurz nacheinander verloren haben – das war ein schwerer Schlag. Und jetzt hat der junge Lachlan die Zügel in der Hand, aber davon merkt man nicht viel. Er ist meistens in Edinburgh. Ein Glück, dass die Mädchen da sind und dafür sorgen, dass alles läuft. Ein Anwesen wie Applemore ist nicht gerade pflegeleicht.«

Rilla kaute nachdenklich ihren Toast. Sally und sie hatten früher häufig die Sommer auf Applemore verbracht und viel mit den Fraser-Mädchen, die etwa im gleichen Alter gewesen waren, gespielt. Lachlan war ein paar Jahre älter gewesen und mehr für sich geblieben, aber Beth, Charlotte und Polly hatten mit ihr und ihrer Schwester herumgetobt, sie hatten sich von Kopf bis Fuß mit Schlamm eingeschmiert und sich jede Menge Ärger eingehandelt. Ihre gemeinsamen Abenteuer hatten Rilla immer an das Buch Der Kampf um die Insel erinnert, das sie als Kind verschlungen hatte. Sie hatten gezeltet, Boote gebaut und einmal aus Versehen den Heuschober angezündet. Bei der Erinnerung daran verzog Rilla das Gesicht. Was für ein Glück, dass Hector, der Vater der Mädchen, genau im richtigen Augenblick vorbeigekommen war, um das Feuer zu löschen. Er hatte sie zornig angebrüllt, mit einem Temperament, das zu seinem roten Haarschopf passte. Das war in ihrem letzten Sommer auf Applemore gewesen, überlegte Rilla. Danach war ihre Mutter so verärgert gewesen, dass sie Sally und ihr nicht mehr erlaubt hatte, nach Applemore zu fahren. Im folgenden Jahr hatte ihre Mutter in letzter Minute umorganisiert, sodass die Schwestern die Ferientage mit ihrem Vater in Edinburgh verbrachten statt in den Highlands.

»Kann ich dir noch irgendetwas holen?«

Rilla fuhr zusammen. »Tut mir leid, ich habe geträumt.«

»Das wundert mich nicht, meine Liebe, du bist bestimmt immer noch erschöpft. Sag Bescheid, wenn du so weit bist, dann fahre ich dich zum Cottage zurück. Aber das hat keine Eile.«

»Das wäre ganz toll, danke – und überhaupt ganz vielen Dank, Joan. Das ist total nett von dir.«

»Es war das Mindeste, was ich tun konnte.«

»Lass mich wenigstens beim Abwaschen helfen.«

»Nichts da. Dafür hab ich eine Spülmaschine.« Bevor Rilla zugreifen konnte, hatte Joan ihr schon lachend Teller und Tasse vor der Nase weggeschnappt.

»Die Buschtrommeln sind bestimmt schon aktiv, ich denke, da solltest du dich auf eine Menge Besuch gefasst machen, der nur mal eben reinschauen will«, bemerkte Joan weise, als sie über die kurvenreiche Straße Richtung Applemore Estate fuhren. Sie kamen an einer Weide vorbei, auf der die Kühe sich unter einem Baum zusammendrängten, dessen Blätter eine erste Ahnung von Herbstfärbung zeigten. »Du hast einen herrlichen Sommer verpasst. Aber wir haben hier oben auch schöne Winter.«

»Ich …« Rilla öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Warum auch immer, Joan hatte es sich in den Kopf gesetzt, dass sie den Winter hier oben im Cottage, dem früheren Pförtnerhaus des Gutes, verbringen wollte, und Rilla hatte nicht die Energie, ihr zu erklären, dass sie das keineswegs vorhatte. Nur lächelnd zu nicken war einfacher. »Nachdem ich jetzt richtig ausgeschlafen habe, fällt es mir bestimmt leichter, die Sache hier in Angriff zu nehmen«, sagte sie, als Joan vor dem Cottage hielt.

»Bist du sicher, dass ich heute nicht mit anfassen soll?«

Rilla schüttelte den Kopf. »Das ist wirklich lieb von dir, aber ich möchte einfach ein bisschen herumkramen. Ich glaube nicht, dass ich gleich loswirbeln werde.«

Joan nickte. »Klar. Und außerdem brauchst du sicher ein bisschen Zeit mit den Sachen deines Vaters. Ich glaube, es ist alles noch da. Es ist so schade – er hatte immer davon geträumt, ganz und gar hierherzuziehen, und kurz nachdem sich dieser Traum endlich erfüllt hatte, musste er gehen. Man weiß nie, wann das letzte Stündlein geschlagen hat, oder?«

»Dad hätte gesagt, ›wenn deine Zeit um ist, ist deine Zeit um‹«, sagte Rilla nachdenklich.

»Das stimmt. Für Gefühlsduselei hatte er nicht viel übrig.«

»Genau.« Rilla gab Joan zum Abschied einen Kuss auf die Wange. »Danke noch einmal. Ganz lieb von dir.«

»Wenn du möchtest, komme ich in ein paar Tagen vorbei und gucke, wie du vorankommst. Hier ist meine Festnetznummer.« Joan kritzelte Ziffern auf ein Stück Papier und reichte es Rilla. »Ich glaube, das Telefon ist noch angemeldet – wenn nicht, ist das blöd, denn der Handyempfang ist hier ziemlich schlecht. Den besten Empfang hat man, wenn man ein Stück auf den Achiltie da hochgeht.« Joan deutete auf einen Hügel jenseits eines Sträßchens, das von der Straße nach Applemore abzweigte. »Da oben kannst du deine Nachrichten checken.«

Rilla war es gewohnt, sich an abgelegenen Orten aufzuhalten, wo sie keinen Internetzugang hatte, daher machte sie sich deswegen keine Sorgen. Sie winkte Joan zum Abschied und betrat das Haus. Je eher sie hier alles geregelt hatte, desto eher konnte sie Applemore den Rücken kehren …

Als sie am nächsten Morgen unter einer etwas muffig riechenden Decke mit einer Tasse schwarzem Tee im Bett lag – sie musste unbedingt einkaufen, und zwar bald –, überlegte Rilla, dass es wohl am besten war, wenn sie einen Plan machte. Sie hatte keine Ahnung, wo sie anfangen sollte. Vielleicht mit einer Liste? Oder besser mit mehreren Listen. Sie hatte im Haus ein ziemliches Durcheinander vorgefunden, darunter viele Dinge, an die sie sich aus den Ferienzeiten mit ihrem Vater erinnerte, bloß dass alles noch tausendmal chaotischer war als früher. Das Vernünftigste war wohl, einen Container zu mieten, in den sie einfach alles hineinschmeißen konnte. Aber gab es hier oben überhaupt eine Containervermietung? Vielleicht konnte sie die Sachen auch einfach durchsortieren und das, was noch zu gebrauchen war, in einen Laden bringen, der es für wohltätige Zwecke verkaufte. Den Recyclingmüll müsste man wohl – sie verzog das Gesicht bei dem Gedanken – zu einem Verwertungshof fahren. Oder sollte sie alles verbrennen? Es lag zwar eine Menge Krimskrams herum, aber das Zeug einfach anzuzünden erschien Rilla dann doch etwas zu radikal. Im Kopf hörte sie die Stimme ihres Vaters, der ihr sagte, es seien doch bloß Dinge – es war paradox, dass er ein so entspanntes Verhältnis zu Besitztümern hatte, dass sein Haus aber von oben bis unten mit Zeug vollgestopft war, weil er geglaubt hatte, er könnte die Sachen vielleicht irgendwann noch gebrauchen. Wie auch immer, sie würde das Problem nicht lösen, indem sie im Bett liegen blieb und ekelhaften Tee trank. Rilla beschloss, sich zusammenzureißen, aufzustehen, rauszugehen und ins Dörfchen Applemore zu fahren.