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Lucy, gestresste Lehrerin, braucht Ruhe. Sie entschließt sich zu einem sechsmonatigen Sabbatical und mietet kurz entschlossen ein Cottage in den Cotswolds, ganz in der Nähe des geschichtsträchtigen Bletchley Park. Dass sie sich noch um Bunty, die 96-jährige Schwiegermutter der Vermieterin, kümmern soll, scheint kein Problem. Schon kurz darauf findet sich Lucy samt ihrem kleinen Hund in Little Maudley wieder, einem Dorf wie aus dem Bilderbuch.
Eigentlich möchte sie sich nur ausruhen, mit ihrem Hund spazieren gehen und lesen. Aber sie kann sich dem Charme des pittoresken Dörfchens nicht entziehen und ohnehin haben die Dorfbewohner ganz andere Pläne. Unversehens findet sich Lucy mitten in einer Kampagne zum Umbau einer alten Telefonzelle in eine Leihbücherei, und Bunty, ihre etwas kratzbürstige Nachbarin, hat ihre ganz eigene Geschichte von Bletchley Park und der baufälligen Telefonzelle zu erzählen. Und so ganz nebenbei verliebt sie sich in Sam, den alleinerziehenden Vater einer halbwüchsigen Tochter und Architekt von Baumhäusern.Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 474
Rachael Lucas
Die kleine Bücherei in der Church Lane
Aus dem Englischen von Sabine Schulte
Insel Verlag
Für meine mutige, weise und schöne Tante June
Cover
Titel
Widmung
Inhalt
Informationen zum Buch
Impressum
Hinweise zum eBook
Cover
Titel
Widmung
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebtes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Dreizehntes Kapitel
Vierzehntes Kapitel
Fünfzehntes Kapitel
Sechzehntes Kapitel
Siebzehntes Kapitel
Achtzehntes Kapitel
Neunzehntes Kapitel
Zwanzigstes Kapitel
Einundzwanzigstes Kapitel
Zweiundzwanzigstes Kapitel
Dreiundzwanzigstes Kapitel
Vierundzwanzigstes Kapitel
Fünfundzwanzigstes Kapitel
Sechsundzwanzigstes Kapitel
Siebenundzwanzigstes Kapitel
Achtundzwanzigstes Kapitel
Dank
Informationen zum Buch
Impressum
Hinweise zum eBook
Wenn man schon in irgendeinem Dorf stranden musste, versuchte Lucy sich zu trösten, gehörte Little Maudley sicherlich zu den schönsten, die man sich vorstellen konnte.
Honigfarben schimmernde Häuserreihen wanden sich den Hügel hinunter bis zur Hauptstraße, und dazwischen standen immer wieder strahlend weiße, strohgedeckte Cottages. Ein Wegweiser, an dem ein prächtiger Geranienkorb hing, zeigte an, dass irgendwo jenseits der Dorfwiese, die sanft zum Friedhof hin abfiel, ein Dorfladen und ein Postamt zu finden waren. Die massive, aus hellem Stein erbaute Kirche stand majestätisch in der Hochsommersonne. Ihr Turm hob sich vom tiefblauen Himmel ab, an dem im leichten Wind weiße Wölkchen dahinsegelten.
Am Rand der Dorfwiese stand eine alte Telefonzelle. Ihr ehemals kirschroter Anstrich war zu einem bräunlichen Rosa verblasst. Eine der Glasscheiben war von einem Spinnennetz aus Rissen durchzogen, und einige fehlten ganz. Lucy schaute hinein und verzog das Gesicht – da drinnen stank es ganz ekelhaft. Selbst das Unkraut, das durch die zerbrochenen Scheiben hineingewachsen war, sah aus, als wollte es wieder fliehen.
Aber soweit Lucy sehen konnte, war die Telefonzelle das Einzige in diesem Dorf, das einen vernachlässigten Eindruck machte. Aus den Blumenkästen vor den Fenstern ergossen sich Blütenkaskaden in geschmackvollen Farben und die sauber gemähten Rasenflächen wurden von Lavendelhecken umrahmt. Die Haustüren waren fast alle in einem mattgraugrünen Farbton gestrichen, so als hätten die Besitzer sich abgesprochen. Blauregen kletterte über die Fenster und in seinen gewundenen Ranken versteckten sich noch einige letzte Blüten. An jedem Haus prangte ein hübsches Schild mit dem Namen darauf: Bell Cottage, Lavender House, The Old Mill … alles war so perfekt, dass es fast zum Lachen war. Wo waren die chaotischen Ecken und die übervollen Mülltonnen? Selbst in der hübschen Straße in Brighton, in der Lucy wohnte, waren nicht alle Häuser tadellos in Schuss. Dieses Dorf dagegen wirkte, als wäre man in eine Episode aus Inspector Barnaby hineingeraten. Und tatsächlich, überlegte Lucy, war keine Menschenseele zu sehen. Ob die Dorfbewohner schon alle umgebracht worden waren? Und sie war als Letzte noch auf den Beinen?
Hamish bellte schrill von der anderen Straßenseite herüber.
»Ich komm ja schon.« Lucy erhob sich von ihrer Bank neben der Telefonzelle. Hamish übertrieb es mit dem Hecheln ein wenig, schließlich waren beide Wagenfenster offen und der Corsa stand im Schatten. Sie öffnete die Wagentür und ließ den Hund herausspringen. Er schnupperte sich die Straße entlang und hob dann das Bein an einem ordentlich beschnittenen Fuchsienstrauch. Lucy sah sich nach wutentbrannten Gärtnern um und seufzte erleichtert, als sich niemand näherte. Hamish hatte die unschöne Angewohnheit, zu pinkeln, wann immer ihm danach war – erst kürzlich hatte er sich in die Handtasche der Freundin ihres Bruders erleichtert. Die junge Frau hatte das gar nicht witzig gefunden, aber Lucy und Tom hatten sich kringelig gelacht. Daraufhin war aus der neuen Freundin ziemlich schnell eine Ex geworden.
Lucy ließ sich auf den Fahrersitz sinken. Sie fühlte sich ausgelaugt. Auch Hamish kletterte wieder ins Auto und machte es sich gemütlich. Als sie vorhin über die Hügelkuppe ins Dorf gefahren war, hatte sie einen Moment lang gespürt, wie ihre Lebensgeister zaghaft erwachten. Dieser Ort war genau so, wie Lucy ihn sich vorgestellt hatte.
Jetzt jedoch saß sie im Wagen und konnte nur abwarten. Lucy seufzte. Dabei hatte alles so schön angefangen.
Eine Stunde zuvor hatte sie ihren Corsa an der Church Lane geparkt. Die Fahrt von Brighton nach Little Maudley war angenehmer gewesen als erwartet. Der Verkehr hatte mitgespielt, die Sonne hatte geschienen und sie war mit der Sonnenbrille auf der Nase über die Autobahn geflitzt und hatte dabei Taylor Swift mitgesungen. Hamish hatte auf dem Rücksitz gelegen und nur ab und zu ein bisschen gebellt. An der Church Lane hatte Lucy ihr kleines Auto dann zwischen zwei dicken schwarzen Geländewagen abgestellt und sich diebisch darüber gefreut, dass ihre Erfahrung mit der Parksituation in Brighton sie gelehrt hatte, in Sekundenschnelle rückwärts einzuparken. Nachdem sie einmal auf und ab gegangen war und die Sehenswürdigkeiten des Dorfes in Augenschein genommen hatte, während Hamish praktisch an jedem Laternenpfahl markieren musste, hatte sie den Hund wieder ins Auto verfrachtet. Und dann hatte Lucy ein letztes Mal auf ihr Smartphone geguckt, hatte durch ihre E-Mails gescrollt, bis sie die gesuchte gefunden hatte. Es konnte nicht schaden, sie als Unterstützung griffbereit zu haben – wobei Lucy eigentlich gar keine Unterstützung hätte benötigen sollen, weil natürlich alles organisiert war …
Neben ihr war eine Elster auf den Zaun gehüpft, hatte den Kopf schräggelegt und sie versonnen betrachtet. Lucy hatte den Vogel gegrüßt, damit er ihr Glück brachte.
Sie hatte noch einen Moment gezögert, tief durchgeatmet und war dann auf die weiß gestrichene Holzpforte des Wisteria Cottage zugegangen. Als sie die Pforte aufschob, spürte sie das raue Holz mit der abblätternden Farbe unter ihrer Hand. Sie ging weiter und schaute durch ein Fenster in einen dämmrigen Raum. Dieses Cottage war ganz klar ein bisschen – nein, deutlich – ungepflegter als seine Nachbarn. Während alle anderen Häuser im Dorf wie aus dem Ei gepellt wirkten, sah dieses aus, als könnte es einen Besuch von Marie Kondo und eine kräftige Entrümpelung gebrauchen. Auf dem Fensterbrett stapelten sich alte Plastikblumentöpfe, daneben lagen zwei Knäuel Bindfaden. Eine graue Katze sah Lucy durch die Scheibe an und blinzelte schläfrig. Mehrere üppige rosa Geranien drückten sich gegen das Glas, als saugten sie den Sonnenschein auf. Und – Lucy stellte sich auf die Zehenspitzen, um einen besseren Blickwinkel zu haben – neben dem Spülbecken konnte sie etwas erkennen, das wie ein Stapel Kartons voller alter Zeitungen aussah. Es war wirklich etwas – na ja, chaotisch war ein passender Ausdruck dafür.
»Wollen Sie den ganzen Tag da rumstehen?«
Lucy schreckte zusammen.
Eine winzige, vogelähnliche Frau mit grauem, zu einem strubbeligen Knoten aufgestecktem Haar stand in der Haustür. Sie trug ein kariertes Männerhemd und darunter grüne Polyesterhosen. Eine dicke Strickjacke hing ihr wie eine Decke von den Schultern. Aus schmalen, wässrigen Augen starrte sie Lucy an.
»Nein, ich – ich bin wegen des Häuschens hier. Ich bin Lucy Evans und ich suche eine Frau namens Margaret.« Lucy streckte der alten Frau ihr Handy hin.
Die Frau wich ein wenig zurück. »Warum halten Sie mir das Ding unter die Nase?«
»Hier sind die Details, sehen Sie?«, sagte Lucy.
Die Frau griff nach der Brille, die sie an einem Band um den Hals hängen hatte, setzte sie auf und blinzelte auf das Display hinunter.
»Kann nichts erkennen. Die Schrift ist viel zu klein für mich.«
Lucy bemühte sich um einen Ton, der ihr Autorität gab, aber nicht herablassend war. »Da steht: Schönes Haus in einem Dorf in den Cotswolds zu vermieten. Mietminderung gegen leichte Betreuung einer älteren Nachbarin. Dazu gehören Einkaufen, Aufräumen und tägliche Gesellschaft. Weitere Einzelheiten bei Margaret Nicolson.«
Die alte Dame sah Lucy an. Ihr Blick hatte etwas Entschlossenes. In jüngeren Jahren musste sie ganz schön respekteinflößend gewesen sein.
»Margaret Nicolson? So heißt hier niemand. Ich fürchte, Sie haben eine falsche Adresse. Tut mir furchtbar leid, aber Sie sind umsonst hergekommen.«
Die Haustür wurde geschlossen.
Verdutzt blieb Lucy davor stehen. Die Frau hatte nicht so ausgesehen, als würde es ihr auch nur im Geringsten leidtun.
Eine Sekunde später ging die Haustür wieder auf. Lucy bemühte sich, ein herzliches, ermutigendes Lächeln aufzusetzen. Puh, ein Glück.
»Sind Sie immer noch da?«
Die alte Frau bückte sich und stellte eine Milchflasche vor die Tür, richtete sich dann auf, warf Lucy einen bösen Blick zu und schloss die Haustür.
Ende. Das war nicht ganz nach Plan gelaufen. Lucy wählte die Nummer, die in der Anzeige gestanden hatte, und schnitt den Worten in der E-Mail eine Fratze. »Sollten Sie irgendwelche Schwierigkeiten haben«, hieß es da, »rufen Sie mich bitte an, dann kläre ich alles.« Bei diesem Satz hatte Lucy sich nichts weiter gedacht, aber während sie jetzt darauf wartete, dass Margaret Nicolson abnahm, wurde ihr klar, dass sie zwischen den Zeilen hätte lesen sollen. Offenbar hatte diese Margaret von vornherein mit Ärger gerechnet. Einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul – oder wie hieß das alte Sprichwort noch? Ihre Mutter hatte es gern verwendet. Hier aber passte wohl Von nichts kommt nichts besser. Ein traumhaftes Häuschen in einem Bilderbuchdorf für eine winzige Monatsmiete? Das war doch zu schön, um wahr zu sein.
Und jetzt, eine halbe Stunde später, saß Lucy wieder im Auto und überlegte, was sie bloß machen sollte. Margaret ging immer noch nicht ans Telefon. Hamish war wieder wach geworden und kratzte an dem einen Spaltbreit geöffneten Autofenster herum. Erst winselte er missmutig, dann kläffte er frustriert. In der Stille wirkte sein Gebell unglaublich laut, dabei wäre Lucy, nachdem sie gerade so abgeblitzt war, am liebsten unbemerkt geblieben. Mit einem solchen Empfang hatte sie nicht gerechnet. Als sie ihren Kolleginnen in der Schule erzählt hatte, sie würde ein Sabbatical nehmen, um auf dem Land für ihr Forschungsprojekt zu recherchieren, hatte das romantisch und originell geklungen. Nun aber war sie hier gestrandet und wusste nicht weiter, und das mit einem Wagen voller Taschen und Kartons und einem ziemlich ungehaltenen West Highland Terrier.
»Du wartest hier«, sagte sie schließlich zu Hamish und stieg wieder aus. Sie setzte sich erneut auf die etwas wacklige Bank neben der alten Telefonzelle und schrieb eine E-Mail. Hamish streckte die Nase durch den Fensterspalt und schnupperte hoffnungsvoll. »Ich hol dich gleich raus. Sofort.«
Während Lucy noch tippte, meldete sich das Handy.
»Hallo?«
»Oh, das ging aber schnell. Es hat nicht einmal geklingelt. Lucy? Hier ist Margaret Nicolson. Es tut mir so leid. Sie sind also da? Haben Sie alles im Griff?«
Lucy biss sich auf die Lippe. »Nicht so ganz.«
Vom anderen Ende der Leitung kam ein Stöhnen. »Ach du meine Güte.«
»Tut mir leid«, sagte Lucy automatisch. Doch warum entschuldigte sie sich eigentlich? Schließlich war sie es, die jetzt in der Luft hing.
»Nein, nein. Ich muss mich entschuldigen. Ich bin gleich bei Ihnen. Wenn Sie vielleicht zum Dorfladen hochfahren und eine Tasse Kaffee trinken wollen? Dann sehen wir uns da in etwa einer halben Stunde.«
»Schon gut – ich muss sowieso mit dem Hund gehen. Wollen wir uns direkt vor dem Cottage treffen?« Lucy straffte die Schultern. Sie war nicht den ganzen Weg hergefahren und hatte nicht einen wirklich guten – na ja, inklusive Oberstress und Wahnsinnsdruck – Lehrerjob aufgegeben, um sich schon beim ersten kleinen Hindernis ins Bockshorn jagen zu lassen. Was auch immer da im Cottage los war, musste schlicht geklärt werden. Sie holte tief Luft. Ihr ganzes Arbeitsleben lang hatte sie mit aufmüpfigen Teenagern zu tun gehabt, da würde sie doch wegen so eines Problemchens nicht aufgeben. Sie nickte entschieden, wie um sich selbst zu bestätigen. Das würde schon irgendwie klappen. Es musste klappen.
Lucy guckte auf die Uhr und nahm Hamish zu einer weiteren Erkundungstour mit. Er schnupperte an den Laternenpfählen, während sie die Ankündigungen darauf las: Filmabend, Themenabend 50er Jahre, Sommerfest des Elternbeirats. Für ein so winziges Nest schien eine Menge los zu sein. Eine Horde Kinder rannte vorbei, sie lachten und hörten Musik aus einem Bluetooth Speaker. Als Hamish sie ärgerlich anbellte, ruckte Lucy an der Leine und zerrte ihn in die entgegengesetzte Richtung.
Am Rand des Dorfes entdeckte sie etwas zurück liegend hinter einer hohen Lorbeerhecke ein großes Anwesen. Sie lugte durch das Tor. Eine geschwungene, kopfsteingepflasterte Auffahrt führte zu einem schönen Haus im Queen-Anne-Stil. Die schwere hölzerne Haustür wurde von zwei ordentlich gestutzten Lorbeerbäumen flankiert. Eine kräftige Frau in einem Ringelshirt, die blonden Haare zu einem perfekten Bob geschnitten, stand auf einer kleinen Leiter und goss die Blumenampeln. Offenbar spürte sie Lucys Anwesenheit, denn sie drehte sich um und winkte.
»Hallo! Was für ein schöner Nachmittag!«
»Mhm«, sagte Lucy. »Herrlich.« Sie spürte, wie sie rot wurde. Sie hatte nicht gaffen wollen, aber alles war so piekfein und aufgeräumt – es sah aus wie eine Kulisse für einen Film von Richard Curtis. Fast rechnete sie damit, dass gleich ein junger Hugh Grant auftrat, eilig und ungekämmt, und sich mit verlegenem Grinsen entschuldigte.
»Haben Sie sich verlaufen?« Die Frau war von der Leiter heruntergestiegen und ans Tor gekommen. Mit einem freundlichen Lächeln hob sie die Augenbrauen.
Lucy schüttelte den Kopf. »Nein, ich mache bloß einen kleinen Spaziergang.«
»Ein wundervoller Tag dafür«, sagte die Frau fröhlich.
Mit knirschenden Schritten ging sie über die Auffahrt zurück. Lucy hatte das deutliche Gefühl, dass sie einer gründlichen Musterung unterzogen worden war. Vielleicht gehörte diese Frau zu einer Art Nachbarschaftswache? Lucy ging weiter und bog in eine Nebenstraße ein. Auf einem Mäuerchen saß eine schwarzweiße Katze und putzte sich die Pfoten. Als Hamish sie sah, schoss er sofort los.
»Nicht schon wieder!« Lucy zog ihn an der Leine zurück. Bevor sie in Brighton zu ihrem letzten Arbeitstag hatte aufbrechen wollen, hatte ihn ebenfalls das Jagdfieber gepackt und er war verschwunden. Irgendwann hatte Lucy schließlich sein wütendes Blaffen gehört und ihn in einer Weißdornhecke entdeckt. Daraufhin war sie eine Viertelstunde zu spät in die Schule gekommen und hatte die kleine Überraschungsfeier verpasst, die die Kollegen im Lehrerzimmer für sie organisiert hatten. Im Nachhinein erschien es ihr geradezu tollkühn, dass sie sich eine sechsmonatige Auszeit genommen hatte, auch wenn ihre Stelle ihr erhalten blieb. Zum ersten Mal im Leben hatte sie sich für ein Abenteuer entschieden und war ein echtes Risiko eingegangen. Und das hatte sie jetzt davon – die Sache entwickelte sich etwas anders, als sie es sich vorgestellt hatte.
Lucy bog nach links ab und fand sich auf der Hauptstraße wieder. Möglichst unauffällig überquerte sie die Straße und stellte sich neben die Telefonzelle. Von hier aus konnte sie die alte Frau sehen, eine schmächtige Gestalt, die hinter ihrem Küchenfenster hantierte.
Trotz seines heruntergekommenen Zustands war das Cottage wirklich schön – ein langgestrecktes, niedriges Gebäude, dessen obere Fenster unter dem Strohdach hervorschauten wie die schwermütigen Augen eines zottigen Hundes. Um die Haustür rankte sich eine blassrosa Kletterrose, und eine niedrige Mauer begrenzte ein Beet mit einer bonbonbunten Blumenmischung. Winzige blaue Blüten purzelten über den Mauerrand und bildeten einen perfekten Kontrast zu dem Gold des Kalksteins, der für die Cotswolds so typisch war. Die Pforte führte auf einen schmalen Plattenweg, der sich durch hohe Fingerhutstauden wand. An einem Gerüst an der Hauswand rankte eine Clematis. Es war – jedenfalls von außen gesehen – ein Traum von einem englischen Cottage.
Lucy packte Hamish wieder hinten ins Auto, sank auf den Fahrersitz und wartete. Nach wenigen Minuten hielt gegenüber ein schnittiger BMW. Auf der Fahrerseite stieg eine Frau aus und entfaltete sich graziös, mit geschlossenen Knien, als hätte sie wie die Royals eine Benimmschule absolviert.
Lucy stieg ebenfalls aus und ging zu ihr hinüber. »Das tut mir alles furchtbar leid«, sagte Margaret Nicolson. Nachdem sie sich die Hände gegeben hatten, trat Lucy zurück und betrachtete ihr Gegenüber. Margaret Nicolson trug eine blau-weiß gestreifte Bluse, eine makellos saubere, beigefarbene Hose und dunkelblaue Segelschuhe. Das aschblonde Haar fiel ihr in schön geföhnten Wellen bis auf den aufgestellten Kragen. Lucy hatte am Morgen einfach die Jeans vom Vortag angezogen und dazu ein ärmelloses graues Top, denn der Corsa hatte keine Klimaanlage und auf der Autobahn mussten die Fenster geschlossen bleiben, sonst hätte der Fahrtwind Taylor Swift übertönt. Über das Top hatte Lucy jetzt eine leicht verknitterte Leinenjacke gezogen. Sie kam sich schmuddelig und ungepflegt vor.
»Leider kann meine Schwiegermutter recht – besser gesagt, sehr – schwierig sein.«
»Schon gut«, sagte Lucys Mund. In ihrem Kopf rief es: Wie merkwürdig, dass Sie das in der Anzeige nicht erwähnt haben.
»Sie … na ja, sie wird nicht jünger. Sechsundneunzig ist sie jetzt. Sie hat sich nie was sagen lassen und ist felsenfest überzeugt, dass sie immer noch sehr gut ohne jede Hilfe zurechtkommt. Ich habe es geschafft, sie zu einer Putzhilfe zu überreden, die zwei Mal in der Woche kommt, aber eigentlich wünschen wir uns jemanden ganz in der Nähe, der mal schnell reinguckt, ihr was aus dem Supermarkt besorgt und so – der Dorfladen ist natürlich sehr gut sortiert, aber alles kriegt man da nicht. Wahrscheinlich kommen Sie mit etwa einer Stunde pro Tag aus, denke ich.«
Ja, das hatte in der Anzeige gestanden. Und als Gegenleistung ein winziges Häuschen für eine Warmmiete, die halb so hoch war wie die übliche Miete für ein Zimmer in Brighton. Und das Beste war, dieses Häuschen befand sich in einem Ort am Rande der Cotswolds, nicht weit von Milton Keynes und Oxford entfernt. Am wichtigsten für eine Geschichtslehrerin, die sich glühend für die Heimatfront während des Zweiten Weltkriegs interessierte, war dabei, dass Bletchley Park von hier aus gar nicht so weit war. Lucy hatte sich vorgenommen, so viele Informationen zu sammeln, wie sie konnte, und vielleicht sogar ihren Master zu machen. Davon träumte sie schon seit Jahren.
»Kommen Sie«, sagte Margaret. »Ich nehme Sie mit rein, und wir regeln das. Kann Ihr kleiner Hund einen Moment draußen bleiben oder –« Margaret warf einen zweifelnden Blick auf das Cottage – »wollen Sie ihn mit ins Haus nehmen?«
»Er kann im Auto warten.«
»Mutter?« Margaret klopfte kurz, drehte dann energisch den Türknauf und trat ein.
Lucy folgte ihr. Sie wollte etwas sagen, stellte aber fest, dass sie kein Wort herausbrachte.
»Halloo!«, rief Margaret und wandte sich dann an Lucy. »Tut mir leid. Alles etwas unordentlich, wie Sie sehen.« Sie deutete auf die Berge mit alten Gummistiefeln, die im Flur lagen. »Eigentlich sollte die Putzhilfe hier auch aufräumen, aber vermutlich gibt's gerade Streit darum, was noch gebraucht wird und was –«
»Das liegt einfach daran, dass ich keine Hilfe benötige, wie ich dir schon gesagt habe.« Eine ärgerliche Stimme näherte sich hinter der Glastür am Ende des Flurs. »Ich kann es nicht leiden, dass du oder Gordon ständig hier ankommen und meine Sachen aufräumen und alles abwickeln wollen, bevor ich dazu bereit bin. Ihr benehmt euch wie zwei verdammte Geier, ihr beide!«
Die Glastür wurde aufgestoßen. Im Rahmen stand die alte Frau mit einem Glas Honig in der einen und einem klebrigen Messer in der anderen Hand. Sie wich Lucys Blick aus.
»Ich glaube, Sie haben meine Schwiegermutter schon kennengelernt. Bunty, das ist Lucy«, sagte Margaret mit zusammengebissenen Zähnen.
»Ja, wir kennen uns schon«, sagte Bunty, wandte sich ab und ging in die Küche. Margaret und Lucy warfen sich einen Blick zu und folgten ihr.
»Noch einmal hallo.« Lucy wappnete sich gegen einen erneuten Ausbruch von Ablehnung.
Aber Bunty ignorierte sie. »Margaret, ich habe euch immer wieder gesagt, dass ich kein Kindermädchen brauche«, sagte sie wütend. »Und auch keine Pflegerin. Und keine Haushaltshilfe. Ich bin hier glücklich und zufrieden, und zwar allein.«
»Niemand sagt, dass du ein Kindermädchen brauchst.« Margaret nahm ein Geschirrtuch vom Tisch, faltete es zusammen und legte es auf einen Stapel von sepiabraunen Fotos in einem alten Holzkasten. Bunty wieselte durch den Raum, nahm das Geschirrtuch wieder aus dem Kasten, schüttelte es aus und hängte es über die Messingstange am Küchenherd, der in der Wölbung eines großen gemauerten Kamins stand.
»Kein Gordon heute?« Sie hob das Kinn ein wenig und betrachtete Lucy jetzt mit hartem Blick. Verlegen trat Lucy von einem Bein aufs andere.
»Nein«, sagte Margaret. »Er spielt heute Golf. Aber er lässt dich herzlich grüßen.«
»Er weiß genau, wann er mir besser nicht in die Quere kommt«, brummelte Bunty. »Das ist ja eine richtige Verschwörung.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich brauche keinen Babysitter.« Wieder sah sie Lucy böse an, als wolle sie das ganz klarstellen. »Mir geht's hier gut.«
»Natürlich«, sagte Margaret, offenbar überzeugt, dass ihre Worte beschwichtigend klangen. »Aber du wirst nicht jünger, und …«
»Und ich ziehe nirgendwo anders hin. Basta.« Bunty klang bockig wie ein Kind, aber doppelt so stur.
»Niemand verlangt, dass du umziehst.«
»Du willst mich doch in ein Altersheim verfrachten, damit ihr mein Haus verkaufen und euch eine goldene Nase verdienen könnt.«
»Das ist nicht wahr. Ehrlich nicht. Keine Ahnung, wie du auf solche Gedanken kommst.«
»Das hab ich neulich in der Zeitung gelesen. Es passiert doch ständig. Und du weißt ja, was als Nächstes kommt, wenn alte Menschen in solche Heime abgeschoben werden – ich nenne sie Gottes Wartezimmer. Das mache ich nicht mit.«
Obwohl Lucy die Situation peinlich fand, konnte sie ein belustigtes Zucken der Mundwinkel nicht verhindern.
»Niemand schiebt dich irgendwohin ab«, sagte Margaret mit einem Seitenblick zu Lucy hinüber.
Es würde anscheinend doch kein spottbilliges Häuschen geben, das wurde immer deutlicher. Lucys idyllische Auszeit in den Cotswolds würde nicht ganz so verlaufen, wie sie es sich erhofft hatte. Sie hatte sich ausgemalt, wie sie mit einer gütigen alten Dame mit Apfelbäckchen gemütlich Tee trank und plauderte, während die Katze auf ihrem Schoß schnurrte und die Scones im Backofen dufteten. Die reale Bunty Nicolson jedoch passte überhaupt nicht in dieses Bild.
»Ich habe viel zu tun«, erklärte die alte Frau jetzt, und irgendwie gelang es ihr, Lucy und Margaret zurück in den Flur zu scheuchen.
»Aber wir müssen doch etwas verabreden«, protestierte Margaret.
»Das könnt ihr auch ohne mich«, sagte Bunty schroff. »Bisher hast du das ja auch ganz gut hingekriegt.«
»Es tut mir sehr leid, dass –«, begann Lucy in der Hoffnung, die Wogen ein wenig glätten zu können.
»Ist nicht Ihre Schuld«, sagte Bunty.
Ein unbehagliches Schweigen entstand. Lucys Blick wanderte über die glatten, abgetretenen Steinplatten auf dem Fußboden und die Gemälde von Pferden und Hunden an den Wänden. Die Garderobe quoll über von abgenutzten Wachsjacken verschiedener Altersstufen, und ein kariertes Hundebett, das schon bessere Tage gesehen hatte, lehnte gefährlich an der Wand.
»Wenn du hier nicht Ordnung machst«, versuchte Margaret es noch einmal in versöhnlichem Tonfall, »dann fällst du irgendwann über die Sachen und brichst dir die Hüfte oder was anderes, und dann landest du im Krankenhaus.«
»Ich geh nie und nimmer ins Krankenhaus.« Bunty wirkte rebellisch.
»Nein. Ich glaube, das wäre das Allerschlimmste für dich. Und deswegen«, Margaret hob eine Augenbraue, »ist es vielleicht besser, wenn wir noch ein bisschen hierbleiben dürfen, damit du Lucy kennenlernen kannst. Vielleicht könnten wir ihr auch eine Tasse Tee anbieten. Sie ist nämlich die ganze Strecke von Brighton hergefahren.«
»Sie hätte den ganzen Weg von Timbuktu herkommen können, das wäre mir auch egal.«
Trotzdem machte Bunty brummelnd Platz, sodass Margaret zurück in die Küche gehen konnte. Lucy bemühte sich, unauffällig zu folgen.
Als Bunty schließlich mit dem Rücken zum Fenster auf einem alten Küchenstuhl saß, konnte Lucy sich umsehen. Überall standen und lagen Dinge herum. Im Spülstein stand eine Geranie und auf der Arbeitsfläche lagen auf einem Zeitungsstapel umgedreht zwei Paar Schuhe. Daneben stand ein Holzkasten, zu dem sich eine Dose mit Schuhcreme und ein paar Schuhputzbürsten gesellten. Die graue Katze, die Lucy durchs Fenster gesehen hatte, saß jetzt auf einem Stapel gefalteter Geschirrtücher auf dem AGA. Lucy verstand zwar, dass Margaret sich an diesem Durcheinander störte, aber sie fand es eigentlich nicht schlimm, sondern sogar ganz behaglich. Als sie ihre Leinenjacke auszog, rutschte sie ihr aus der Hand. Bevor sie zugreifen konnte, hatte Margaret sich schon gebückt und die Jacke aufgehoben.
»Legen Sie Ihre Sachen hierhin.« Margaret schob eine Zeitung, Bindfäden und einen alten Schuhkarton voll Samentütchen zur Seite und schaffte so etwas freien Platz auf dem großen Eichentisch. »Und Ihre Jacke –« Margaret sah sich nach einem sicheren Platz für das Kleidungsstück um, »die kann da drüben auf die Anrichte.«
»Nicht!« Bunty richtete sich auf. Mit schmalen Augen schaute sie zu dem großen alten Küchenschrank hinüber.
»Doch, da liegt sie gut.« Margaret warf die Jacke auf das Büfett. Erst rutschte sie ein bisschen, als wolle sie gleich wieder auf den Fußboden fallen, dann jedoch schien sie sich aus eigener Kraft in die Luft zu heben. Lucy wich zurück.
»Ich hab doch gesagt –« Bunty stieß ihren Stuhl zurück, sodass die Holzbeine über den Fliesenboden quietschten – »nicht dahin.« Lucy beobachtete, wie ihre Jacke weiter in die Höhe stieg, als würde ein gespenstischer Arm sie langsam anheben. Ihre Nackenhärchen sträubten sich. Sie befand sich in einem offenbar verlassenen Dorf am Ende der Welt, allein mit zwei fremden Frauen. Und jetzt war ihre Jacke verhext. Das lief wirklich überhaupt nicht nach Plan.
»Tut mir furchtbar leid, Stanley.« Bunty nahm die Jacke vom Schrank und pfefferte sie über eine Stuhllehne. »Manche Leute haben einfach ganz schlechte Manieren.«
Stanley blinzelte langsam und nachdenklich und züngelte ein paarmal. Lucy schreckte zusammen und ließ sich auf einen Stuhl sinken, bevor ihre Beine unter ihr nachgaben.
»Vermutlich hat Margaret nicht daran gedacht, Stanley zu erwähnen, oder?« Bunty legte den Kopf schräg. Um ihre Mundwinkel spielte der Anflug eines Lächelns.
Lucy schüttelte den Kopf. Sie presste die Lippen zusammen. Schlangen waren in Ordnung. Schlangen waren absolut in Ordnung. Unerwartet, aber in Ordnung. Viele Leute hielten sich Schlangen als Haustiere.
Margaret wirkte etwas betreten. »War keine Absicht, dass ich sie nicht erwähnt –«
»Ihn nicht erwähnt«, unterbrach Bunty.
Lucy warf rasch einen Blick auf Stanley, der sich wieder zusammengerollt hatte – oder sagte man zusammengeringelt?
»Ihn nicht erwähnt habe«, korrigierte Margaret sich. »Ich – also, es muss mir entfallen sein.«
Wie war es möglich, dass einem ein so großes Biest einfach entfiel? dachte Lucy. Stanley musste fast zwei Meter lang sein, und er gehörte auch nicht zu diesen netten, dünnen, entspannten Schlangen. Er schien von der Sorte zu sein, die Menschen erst in aller Ruhe abchecken und sie dann eines Nachts im Bett mit Haut und Haaren verschlingen.
Margaret lief hin und her, stellte den Kessel auf den AGA und suchte diverse Tassen und eine Teekanne zusammen. Bunty saß mit gefalteten Händen auf ihrem Stuhl und machte ein leicht amüsiertes Gesicht.
»Tee?« Margaret hob die Kanne.
»Ich – ich weiß nicht.« Lucy wollte aufstehen, aber weil ihre Knie noch so weich waren, setzte sie sich wieder hin.
»Ein Tässchen würde Ihnen nicht schaden«, sagte Bunty nicht unfreundlich. »Sie scheinen einen ordentlichen Schreck bekommen zu haben. Haben Sie denn noch nie eine Schlange gesehen?«
»Nur im Zoo.« Lucy nickte. »Mir war nicht bewusst, dass ich mit Schlangen ein Problem habe.«
»Wenn sie hinter Glas sind, hat kaum jemand Angst vor ihnen. Aber sobald sie sich frei bewegen, neigen viele Leute zu Überreaktionen.« Bunty sagte das mit mildem Tadel in der Stimme.
Margaret stellte die Teekanne auf den Tisch. »Nicht viele Leute in deinem Alter besitzen eine Boa Constrictor, Mutter. Das ist doch einfach albern.« Ärgerlich sah sie ihre Schwiegermutter an. Sie schob einen Stapel vergilbender Zeitungen beiseite, um für die drei Tassen Platz zu machen.
»Wo ist dein Milchkännchen?«
»Keine Ahnung.« Hörte Lucy da ein angedeutetes Kichern? Offenbar genoss Bunty diese Szene. Margaret kramte im Kühlschrank herum.
»Vorsicht, im untersten Fach liegen die Küken zum Auftauen«, sagte Bunty und fügte an Lucy gewandt hinzu: »Stanleys Mittagessen.«
Lucy nickte schwach.
Mit einer Milchflasche in der Hand schloss Margaret die Kühlschranktür. Sie war ein klein wenig grün im Gesicht. »Tut mir sehr leid, wir müssen die Milch aus der Flasche einschenken.« Das schien ihr wirklich Stress zu bereiten. Lucy dagegen war es schnurzegal. Sie erholte sich immer noch von dem Schock, dass eine echte Schlange ihrer Jacke als Ablage gedient hatte, und nahm die Tasse dankbar entgegen. Der erste Schluck Tee war belebend, wenn auch noch zu heiß.
»Also, zur Sache.« Margaret legte die Fingerspitzen zusammen und sah Lucy über den Tisch hinweg an. »Mutter, wir haben das alles schon mal durchgekaut. Das Bluebell Cottage steht leer, und du brauchst wirklich Hilfe.«
»Blödsinn«, sagte Bunty bestimmt und trank ein Schlückchen Tee. »Igitt. Du kochst wirklich scheußlichen Tee, Margaret. Ich weiß nicht, wie Gordon das aushält.«
»Er kocht sich seinen Tee selbst.« Margaret verdrehte entnervt die Augen und wandte sich hilfesuchend an Lucy.
»Auch gut«, sagte Bunty und sah Lucy ebenfalls an. Lucy wusste nicht so recht, wie sie auf diese Blicke reagieren sollte, daher schaute sie in die Tiefen ihrer Teetasse. Erst als die Pause sich erneut zu einem peinlichen Schweigen ausdehnte, hob sie den Kopf und sah sich um. Nein, aufgeräumt war diese Küche nicht, aber sie steckte voller Erinnerungen an ein intensiv gelebtes Leben. Ausgeblichene Fotos in verstaubten Rahmen zeigten einen kleinen Jungen auf einem mit Rosetten geschmückten Pony. Rosetten, genauso ausgeblichen und verstaubt, hingen auch oben über dem Herd – waren es die von den Fotos? Das Bücherregal ächzte unter mehrfachen Lagen von Kochbüchern und Ordnern, und das Trockengestell, das von der Decke herabhing, war mit Kräuterbündeln und schweren gusseisernen Töpfen und Pfannen beladen. Es war ein geschichtsträchtiges Haus. Lucy verstand, warum Margaret diese Küche als Aufräumprojekt betrachtete, aber in Lucys Augen hatte der Raum etwas Magisches.
»Ich will nicht, dass ihr alles auf den Kopf stellt«, sagte Bunty plötzlich.
Margaret beugte sich ein wenig vor, und sie und Lucy warteten ab, was nun kommen würde.
»Ich bin absolut in der Lage, hier allein zu leben. Ich brauche niemanden, der auf mich aufpasst, und ich will nicht, dass irgendein Kindermädchen mich betreut oder versorgt oder hier aufräumt oder sonst irgendwelchen Quatsch.«
»Natürlich nicht«, sagte Margaret.
»Ich sehe, dass Sie hier viele besondere Erinnerungsstücke haben«, begann Lucy vorsichtig. »Wenn ich herkäme, würde ich nichts anderes tun, als nachsehen, ob Sie irgendwas aus dem Supermarkt brauchen oder ob ich sonst etwas für Sie tun könnte …«
»Hmmm.« Bunty schaute sie nachdenklich an.
»Na, das klingt doch gut, oder?« Margarets Gesicht hellte sich auf.
»Schön.« Bunty stellte ihre Teetasse ab und rieb sich kurz die Hände. »Also, wenn Sie sich einigermaßen von Ihrem Schock erholt haben, bringen wir Sie auf den Weg und ich kann weiter den Meerschweinchenstall saubermachen. Freya von gegenüber kommt heute Nachmittag vorbei, und ich hab zu tun.«
Und damit waren sie entlassen. Lucy nahm ihre Jacke von der Stuhllehne und warf einen letzten Blick auf den zusammengerollten Stanley. Bunty blieb in der Küche sitzen, sichtlich zufrieden, dass sie es gewesen war, die letztlich die Entscheidung getroffen hatte.
»Sehen Sie«, sagte Margaret lächelnd, als sie die Haustür hinter sich zuzogen, »Hunde, die bellen, beißen nicht.«
»Aber ich weiß nicht, ob das auch für Stanley gilt.«
»Der kann ja nicht bellen«, sagte Margaret. »Tut mir wirklich leid, dass ich vergessen hatte, ihn zu erwähnen. Ich gebe zu, es ist ungewöhnlich, dass eine Frau in Buntys Alter sich eine Schlange hält, aber sie war schon immer verrückt nach Tieren. Bis vor Kurzem hatte sie noch drei Hündinnen, drei Schwestern, aber die sind leider alle innerhalb von einem Jahr gestorben.«
»Das muss sehr schlimm gewesen sein.«
Margaret nickte kurz. »Ja, Bunty war ziemlich aufgelöst.«
»Vielleicht hat sie Freude daran, wenn ich Hamish mal mitbringe.«
»Wie reagiert Ihr Hund denn auf Schlangen?«
»Ich habe keine Ahnung – komisch, oder?« Beide Frauen lachten.
»Hier entlang«, sagte Margaret.
Neben Buntys Cottage standen einige Häuschen mit steilen Schieferdächern. Das erste Haus in der Reihe war genauso hübsch wie auf dem Foto, das Margaret geschickt hatte. Sie schloss die Tür auf und ließ Lucy den Vortritt.
Das Häuschen war winzig und einfach fantastisch. Lucy blieb in der Haustür stehen, die gleich ins Wohnzimmer führte, und sah sich alles an. Links von ihr befand sich die schmale, gewundene Treppe nach oben. Man konnte sie hinter einem schweren Vorhang verstecken, der jetzt mit einer dicken Kordel zurückgebunden war. Daneben ging man durch einen Rundbogen in eine Schlauchküche und weiter bis zu einer Tür in den Garten, durch deren Glasscheiben das Sonnenlicht fiel. Die Wände bestanden aus kühlem Stein. Das Spülbecken war ein richtiger eckiger Spülstein, und es gab einen alten Küchenschrank für Geschirr. Die Wände waren mit blauweißen Porzellantellern dekoriert. Im Gegensatz zu Buntys Küche war dieser Raum staubfrei und wirkte merkwürdig leer. Lucy strich über das glatte Eichenholz der Arbeitsplatte.
»Wir hatten das Bluebell Cottage eine Weile an ein Paar vermietet, die beide in London gearbeitet haben. Sie sind immer gependelt, deswegen waren sie kaum hier. Sie haben alles renoviert, daher wirkt es sehr neutral, wie Sie sehen. Der Herd ist neu, und wir haben den Kühlschrank ausgetauscht.«
Es war perfekt. Ein ungebetener Gedanke blitzte in Lucy auf. Zuhause standen die Prüfungen bevor, und ihre Schüler arbeiteten hart. Der ganze Fachbereich stand unter Stress, und der Chef drängte die Kolleginnen, zusätzlich Nachhilfegruppen einzurichten, weil er versuchen wollte, den Notendurchschnitt anzuheben. Die momentane Angst, dass Bunty ihre Chance auf Befreiung von alldem zunichtemachen könnte, hatte dazu geführt, dass Lucy sich wieder sorgte – dabei sollte ihr Aufenthalt hier doch genau das verhindern.
Ja, deswegen bin ich hier, ermahnte sie sich. Ich habe sechs Monate Zeit, um runterzukommen und nicht mehr zu glauben, die Welt ginge unter, bloß weil ich nicht schon vorgestern alles geschafft habe. Ich will mich auf das Leben konzentrieren. Sie legte sich eine Hand auf die Brust, um sich zu beruhigen, und drehte sich mit einem Lächeln zu Margaret um.
»Sieht superschön aus.«
In dem winzigen Wohnzimmer stand vor einem niedrigen Holzofen ein kleines zweisitziges Sofa mit einer weichen grauen Wolldecke darauf. Neben dem Ofen gab es einen gemütlichen Sessel und ein rundes Tischchen mit einer bestickten Tischdecke und einer alten grünen Bankerlampe, wie Lucy sich schon immer eine gewünscht hatte. Auf einer Kommode, die für das Zimmerchen eigentlich zu groß war, stapelten sich Bücher, und das kleine Fenster ging auf die Straße hinaus, die Sonne schien hindurch auf den Teppich. Lucy wusste jetzt schon, dass Hamish dieses Sonnenplätzchen für sich beanspruchen würde.
Das Häuschen war so niedlich und so ideal, dass Lucy die kapriziöse Bunty und die Tatsache, dass sie um ein Haar wieder nach Hause geschickt worden wäre, ohne Bluebell Cottage auch nur von innen gesehen zu haben, schon vergessen hatte. Sie wandte sich wieder zu Margaret um, die noch vor der Tür wartete.
»Ich finde es ganz süß.«
»Jetzt sehen Sie, warum Fotos diesem Haus nicht gerecht werden.«
Lucy hatte bereits aufgrund der schiefen, unscharfen Handyfotos, die Margaret ihr geschickt hatte, beschlossen, dass sie das Häuschen lieben würde – aber in der Realität war es noch tausendmal schöner. Sie strich mit der Hand über die Steinwand.
»Darf ich Hamish holen? Er wartet noch ganz geduldig im Auto.«
»Aber selbstverständlich!« Margaret machte ihr Platz.
Hamish galoppierte ins Haus hinein, beschnupperte alles und ließ sich, wie Lucy es vorhergesehen hatte, auf dem Teppich nieder.
»Ich zeige Ihnen noch, wie die Dusche funktioniert – da gibt's einen kleinen Trick.« Margaret winkte Lucy, ihr die Treppe hinauf zu folgen.
Oben war ein schnuckeliges kleines Bad mit einer Sitzbadewanne und einer Dusche, die ihre Mucken hatte. »Sie funktioniert, wenn man diesen Hahn zuerst aufdreht«, erklärte Margaret. Das Milchglasfenster ging auf den Garten hinaus. Im Schlafzimmer stand ein altmodisches Eisenbett. Über das weiße Bettzeug war eine Patchwork-Tagesdecke gebreitet.
»Wir haben die Matratze für Sie ausgetauscht. Ich hoffe, dass sie bequem ist.«
»Sie ist bestimmt perfekt.«
»Und hier ist noch ein kleines Gästezimmer, falls Sie Übernachtungsbesuch bekommen.« Margaret öffnete die Tür zu einer Kammer, die gerade groß genug war für ein Einzelbett und eine hohe Kommode mit einer Lampe darauf.
Lucy senkte den Kopf. Wie sollte sie das erklären? Die Arbeit hatte sie völlig in Anspruch genommen und war zu ihrem einzigen Lebensinhalt geworden, sodass sie zwar eine Menge Bekannte in der Schule hatte, aber besuchen würde sie keine der Kolleginnen. Das klang ziemlich dramatisch, aber sie war immer eher introvertiert gewesen und hatte auch die Zeit an der Uni meistens in der Bibliothek verbracht. Der Kontakt zu Anna und Dawn, den Freundinnen, mit denen sie in einer WG gewohnt hatte, war zwar geblieben, aber die eine war jetzt verheiratet und lebte in Inverness, und die andere unterrichtete an einem College in Sydney. Keine der beiden würde zu Besuch kommen. Lucy hob den Kopf und lächelte so tapfer, wie sie konnte. »Danke.«
»Ich finde es ziemlich mutig von Ihnen, dass Sie diesen Sprung wagen. Ich wünschte, ich hätte das in Ihrem Alter auch mal gemacht.«
»Danke.« Lucy biss sich in die Wange. Anscheinend wirkte sie viel überzeugender, als sie sich fühlte. Im Moment kriegte sie nämlich innerlich gerade wieder das Flattern. Was hatte sie sich da bloß eingebrockt?
»Sie haben geschrieben, dass Sie in Bletchley Park recherchieren wollen?«
»Ja, ich freue mich darauf, Zeit dafür zu haben. Ich möchte über die Frauen und ihre Arbeit in Bletchley Park forschen – und über die Heimatfront.«
»Da sind Sie hier genau richtig. Im Dorf gibt es viele Frauen, die dazu vermutlich etwas zu sagen haben. Und wenn Sie Bunty in der richtigen Stimmung erwischen, hat sie auch so einige Geschichten zu erzählen.«
»Tatsächlich?«
»Oh ja. Ist jedenfalls einen Versuch wert. Normalerweise ist sie bei diesen Themen sehr zugeknöpft – ist wohl typisch für ihre Generation. Lass uns nicht vom Krieg reden und so. Aber soweit ich weiß, lebt sie hier schon seit fast achtzig Jahren.«
»Dann stammt sie ursprünglich nicht aus Little Maudley?«
»Nein, nein. Aus London.«
Lucy nahm sich vor, Bunty ganz behutsam zu bearbeiten und so viel wie möglich von ihr zu erfahren. Wenn sie geistig so fit war, wie sie eben gewirkt hatte, dann musste sie über einen riesigen Schatz an Erinnerungen verfügen.
»Wie auch immer, ich glaube, das ist jetzt alles. Wenn Sie keine Fragen mehr haben –« Margaret sah auf ihre Armbanduhr –, »dann sollte ich jetzt wirklich weiter. Ich komme im Laufe der Woche wieder vorbei und schaue, wie Sie sich einleben, aber ich bin sicher, dass Sie keine Probleme haben werden.«
Dass Margaret sich so eilig wieder davonmachte, lag vermutlich auch an ihrer Erleichterung darüber, dass sie ein wenig von ihrer vermeintlichen Verantwortung für Bunty hatte abgeben können, überlegte Lucy. Bunty war wohl keine einfache Schwiegermutter.
Lucy schloss die Tür hinter Margaret, schob den Riegel vor und drehte sich zu Hamish um.
»Wir haben's geschafft!«
Sie zog die Schuhe aus und stand einen Moment lang mit bloßen Füßen auf den Steinplatten des Küchenbodens. Angekommen. Das war ihr Zuhause – jedenfalls für die nächsten sechs Monate.
Sie schleppte die Kartons aus dem Auto ins Haus, stellte sie aufs Sofa und erinnerte sich dann daran, was der Arzt über den Ausgleich zwischen Arbeit und Entspannung gesagt hatte. Daher holte sie sich ein großes Glas Wasser und pflanzte sich in den Sessel. Von sich aus hatte Lucy nie Ruhepausen gemacht. Sie hatte immer noch ein schlechtes Gewissen, weil sie die anderen im Stich gelassen hatte, aber überall in ihrer Umgebung wurden Lehrer wegen stressbedingter Leiden krankgeschrieben. Sie hatte sich mit aller Kraft angestrengt, unter zunehmend schwierigeren Bedingungen einen möglichst guten Job zu machen, aber irgendwie war sie nie darauf gekommen, dass sie eines Tages selbst zu den Opfern gehören könnte. Als sie jetzt für einen Moment die Augen schloss, erlebte sie alles noch einmal nach.
»Nein.«
Dieses für Lucy so ungewöhnliche Wort war ihr entschlüpft, bevor ihr bewusst wurde, was sie da sagte.
»Na komm, Lucy. Das gibt mehr Geld, ist doch klar, und in deiner Beurteilung wird es auch gut aussehen.« Nicks Stimme war sanft und charmant. Er war es gewohnt, seinen Willen durchzusetzen, und er wusste, dass »nein« in Lucys Wortschatz eigentlich nicht vorkam. Ja gern, hätte sie sagen sollen, als er sie fragte, ob sie, als Leiterin des Fachbereichs Geschichte, freundlicherweise in den Ferien einen Bericht zusammenstellen könnte. Aber nein, ihr fiel auf, dass sie immer nur nein sagte.
»Das kann ich nicht.«
»Lucy«, sagte Nick noch leiser, »na komm. Du bist absolute Spitze. Bisher konnte ich mich immer auf dich verlassen.«
»Nein, dieses Mal nicht.«
Mit einem Klicken sprang der Zeiger auf der Wanduhr auf acht Uhr dreißig, und auf Nicks Schreibtisch summte etwas. Genervt griff er danach und stellte es aus. Draußen stieg der Energiepegel, während der Tag Gestalt annahm: Die ersten Schüler gingen an Nicks Bürofenstern vorbei, die letzten Lehrer hasteten über den Schulhof und warfen rasch einen Blick durchs Fenster, dankbar, dass der Schulleiter am Schreibtisch saß und nicht mit der Uhr in der Hand auf dem Parkplatz stand. Nick war dem Kollegium als Superchef vor die Nase gesetzt worden, als Retter dieser heruntergekommenen Sekundarschule. Er leitete die Schule wie ein Wirtschaftsunternehmen und erzielte gute Ergebnisse – jedenfalls auf dem Papier. In Wirklichkeit jedoch machte er die erfahrensten, engagiertesten Lehrer der Schule krank. Lucy unterrichtete jetzt seit fast zehn Jahren hier. Inzwischen war sie dreiunddreißig, und ihr war klar, was Nick als Nächstes sagen würde.
»Ich bitte dich ja nur, es für dieses Schuljahr zu übernehmen. Ich verspreche dir, dass du ein paar Freistunden bekommst und dass wir zusätzliche Unterstützung für dich organisieren.«
Lucy wusste, dass das Unsinn war – die Hälfte der Assistentinnen an der Schule war zum Ende des letzten Schuljahrs entlassen worden, weil die Schule durch Budgetkürzungen eine Menge Geld verloren hatte. Lucy drehte den Ehering ihrer Großmutter, den sie am kleinen Finger der rechten Hand trug. Er beruhigte sie, wenn sie gestresst war, was zurzeit eigentlich immer der Fall war. Sie rieb sich den Nacken, sah aus dem Fenster und hörte nur mit halbem Ohr, dass Nick immer noch redete. Wie üblich hatte sie Kopfschmerzen, und sie war so müde, dass sie sich unter seinem Schreibtisch hätte zusammenrollen und einschlafen können. Wahrscheinlich hätte Nick das nicht einmal bemerkt.
»… ich weiß ja, dass das nicht ideal ist«, sagte er gerade. Er redete und redete, um sie mürbe zu machen. Und sie musste noch einen ganzen Stapel Unterrichtsvorbereitungen von den Junglehrern durchsehen.
»Ach Gott. Also gut.« Lucy wollte nur, dass er endlich den Mund hielt. Anschließend konnte sie nicht glauben, was sie da gesagt hatte. Es war überhaupt nicht gut. In der ersten Stunde hatte sie einen achten Jahrgang, eine Rabaukenklasse, und auf ihrem Handy waren drei verpasste Anrufe von einer unbekannten Nummer. Von Nick hatte es bereits E-Mails über diverse Besprechungen der Fachbereichsleiter gehagelt.
In der Pause blieb sie in ihrem Klassenraum und hörte ihre Mailbox ab. Hallo, Lucy? Hier ist Amal, aus der unteren Wohnung. Ich will dir keinen Schrecken einjagen, aber anscheinend tropft es bei uns durch die Decke, und ich dachte, vielleicht –
Ach, verdammt!
Lucy steckte das Handy wieder in ihre Handtasche. Das hübsche viktorianische Haus, in dem sie mit ihrem Bruder Tom wohnte, war ein Abschiedsgeschenk ihrer Mutter gewesen, bevor sie nach Australien gegangen war. Es hatte zwei Wohnungen. Die obere teilte sie sich mit Tom und die untere hatten sie vermietet. Das Problem war bloß, dass dauernd irgendwas repariert werden musste, und Tom war nie da, um sich darum zu kümmern. Seufzend legte Lucy den Kopf auf die kühle Platte ihres Pults. Vielleicht würde es niemand merken, wenn sie einfach einen Moment lang …
»Miss!«
Sofort schoss sie hoch.
»Tyler, hallo! Was kann ich für dich tun?«
»Ham Sie geschlafen?«
»Nein.« Oder doch? Verflixt. Nein, sie hatte ihre Augen ausgeruht. Und warum tat ihr der Kopf so weh? Diese Schmerztabletten taugten nichts. Lucy griff in ihre Handtasche. Vielleicht hatte sie noch Ibuprofen, das sie zusätzlich einnehmen konnte.
»Wollt bloß fragen, ob Sie noch welche von den Wiederholungsblättern für die Stunde letzte Woche haben. Ich konnt ja nich kommen, weil ich auf meine kleine Schwester aufgepasst hab, aber …«
»Sekunde.« Lucy kramte in ihrer Handtasche, zog ein Päckchen heraus, warf zwei weitere Pillen ein und schluckte sie mit einem kräftigen Zug aus der Wasserflasche auf dem Pult hinunter. »Ja. Ich habe noch ein paar Blätter im Auto, die hole ich dir in der Mittagspause. Kannst du nachher noch mal kurz reinkommen?«
Tyler strahlte. Er gehörte zu den Kindern, die sie daran erinnerten, warum sie mit Leib und Seele Lehrerin war. Seine häuslichen Verhältnisse waren schwierig, er bekam keine Unterstützung von den Eltern, und neun von zehn Malen vergaß er seine Hausaufgaben, aber Geschichte faszinierte ihn. Lucy konnte seine Liebe zu dem Fach sehr gut nachvollziehen. Vor Kurzem hatte er ihr dafür eine Begründung geliefert, die es auf den Punkt gebracht hatte.
»Is nämlich so, Miss, die Geschichte verändert sich ja nich. Alles«, er hatte mit seinem kräftigen Arm zum Fenster gezeigt, vor dem die anderen gerade zum Mittagessen unterwegs waren, »alles is ja irgendwie – unvorhersehbar, verstehn Sie? Aber die Geschichte – also –, die bleibt immer gleich.«
Lucy hatte gelächelt und zum Abschied die Hand gehoben. Mit einem Seufzer hatte sie Tyler nachgesehen, als er den Klassenraum verließ. Oh ja, sie wusste genau, was er meinte. Ihre eigene Liebe zur Geschichte stammte aus der Kindheit, als sie sich im Haus ihres Großvaters in alte Bücher vertieft hatte. Er hatte leidenschaftlich Memorabilien aus dem Zweiten Weltkrieg gesammelt und sie mit seiner Faszination für dieses Thema angesteckt. Später hatte sie dann in Brighton Sozialgeschichte studiert und viele Stunden lang das Nationalarchiv in Kew durchforstet. Schließlich war sie Lehrerin geworden, weil sie ihre Leidenschaft für das Fach weitergeben wollte und weil sie sehr gern mit Jugendlichen arbeitete. Doch sie hatte völlig übersehen, dass der Stress, der Papierkram und die Verwaltungsaufgaben, die zu ihrem Job gehörten, immer mehr Raum einnahmen. Und seit der wohlwollende, aber ineffiziente Schulleiter abgelöst worden und der neue Superchef eingetroffen war, weil die Schule auf Vordermann gebracht werden sollte, arbeitete sie zwölf Stunden am Tag und schlief abends vor dem Fernseher ein. Das war kein Leben mehr. Und nun nickte sie sogar schon mitten in der Pause ein. Und außerdem lief ihr die Nase.
Lucy zog ein Papiertuch aus der Box auf ihrem Schreibtisch, schnäuzte sich und schleuderte es in den Müll. Nur weil sie nicht traf und das Papiertuch auf den Boden fiel, sah sie, dass es blutrot war. Ihre Nase tropfte weiter, und sie nahm sich ein zweites Taschentuch, drückte es unter die Nasenlöcher und legte den Kopf in den Nacken. Oder sollte man sich vorbeugen? Sie konnte sich nicht erinnern, was bei Nasenbluten besser war. Aus dem Papiertuch tropfte es nass über ihre Finger.
Als Lucy wieder aufwachte, überprüfte eine freundliche Sanitäterin gerade die Gurte, mit denen sie festgeschnallt war. Sie lag in einem Krankenwagen auf einer Liege, und Knäuel aus blauen Papiertüchern waren wie ein Lätzchen um ihr Kinn herum festgestopft. Sie versuchte, sich aufzusetzen, aber die Gurte und eine Welle von unerträglichen Kopfschmerzen und Übelkeit hinderte sie daran.
»Nein, lieber nicht, junge Frau«, sagte die Sanitäterin. »Bleiben Sie schön still liegen, und machen Sie sich mal gar keine Sorgen. Wir haben alles im Griff.« Sie blickte auf einen Monitor an der Seite der Liege und nickte. »Okay, Dave, wir sind so weit. Kannst losfahren.«
Die Türen an Lucys Fußende schlossen sich zischend.
»Was? Wo fahren wir denn hin?«
»Keine Sorge. Bleiben Sie einfach still liegen, wir kümmern uns um Sie.«
Ganz schön viel Theater wegen ein bisschen Nasenbluten, dachte Lucy. Sie erinnerte sich nur, dass ihre Nase getropft hatte, und jetzt lag sie auf einmal im Krankenwagen. Und sie war unglaublich müde und ihr Kopf fühlte sich an, als würde er gleich explodieren. Bevor sie wieder in Schlaf sank, fiel ihr noch ein, dass sie den Test für den 8. Jahrgang im Kofferraum hatte liegen lassen.
»Ach, Lucy, was machst du bloß für Sachen.«
Das Licht war gedämpft, und sie nahm vage ein Rascheln hinter dem Vorhang wahr. Ihr Bruder Tom saß vorn auf der Kante eines Plastikstuhls und fuhr so abrupt hoch, dass der Stuhl über den Fliesenboden schurrte.
»Alles okay?«
»Mmpf«, hörte Lucy sich sagen. Sie hob den Arm, aber als ihr klar wurde, dass ein Schlauch heraushing, verzog sie das Gesicht und guckte weg.
»Ich dachte, du magst diese ganzen Livesendungen mit Notarzteinsätzen nicht?« Tom grinste und verdrehte die Augen. »Du hast mir einen Wahnsinnsschreck eingejagt.«
Undeutliche Bilder von der freundlichen Frau im Krankenwagen zogen ihr durch den Kopf und dazu der Klang der Sirene.
»Was ist denn passiert?«
»Du arbeitest zu hart, das ist passiert.« Tom zog die Brauen zusammen und kaute auf seinem Daumennagel herum. Er war ungewöhnlich ernst. »Dein Blutdruck war plötzlich ganz hoch, wahrscheinlich weil du unter diesem Megastress stehst. Offenbar kann Nasenbluten eine Nebenwirkung sein.«
Ach du meine Güte, dachte Lucy, als sie sich an das Papiertuch, die Tropfen auf ihrem Pult und den kleinen roten See, der immer größer wurde, erinnerte.
»Wie bin ich denn in den Krankenwagen gekommen?«
»Ein Schüler hat dich gefunden. Er hatte etwas vergessen, und als er zurück in die Klasse kam, lagst du ohnmächtig in einer Blutlache. Ich denke, damit wirst du bis in alle Ewigkeit Schulgespräch sein.«
Lucy spürte, wie ihre Augenlider wieder schwer wurden. »Ich bin so müde.«
»Kein Wunder.« Tom drückte ihr den Arm. »Ich hab nur noch dich, Schwesterchen. Du musst besser auf dich aufpassen.«
Sie wollte nicken, war aber so schläfrig, dass sie diese Absicht nicht mehr in die Tat umsetzen konnte.
So also hatte es angefangen. Und als sie dann mal im Internet gesurft hatte – wie genau es dazu gekommen war, wusste Lucy nicht mehr –, war sie auf Margarets Anzeige gestoßen. Vor ihrem Zusammenbruch hatte sie sich immer eingeredet, es sei vernünftig, das Geld, das sie von ihrem Opa geerbt hatte, zu sparen, um ein kleines Polster für schlechte Zeiten zu haben. Nun machte Tom, der sein Erbe für eine Weltreise und ein schickes BMW Cabrio ausgegeben hatte, ihr klar, dass die schlechten Zeiten jetzt da waren und dass sie diesen Weckruf gebraucht hatte.
Bevor sie sich's versah, hatte Tom in der Tür gestanden und ihr zum Abschied gewinkt. Lucy hatte ihren kleinen Corsa mit Taschen, Bücherkartons und dem aufgeregten Hamish beladen, und nun lag ein ganzes halbes Jahr in einer geschichtsträchtigen Gegend vor ihr, in der es zahllose Geheimnisse der Frauen von Bletchley Park zu entdecken gab. Zum ersten Mal seit einer gefühlten Ewigkeit freute Lucy sich auf etwas. Sie tat etwas für sich selbst – nicht dem Schulleiter zuliebe und auch nicht, um anderen den Weg zu ebnen. Und obwohl sich schwache Schuldgefühle meldeten, begeisterte sie die Vorstellung, dass sie demnächst die Bücher lesen konnte, die stapelweise neben ihrem Bett gelegen hatten, und dass sie interessante Orte kennenlernen würde. Sie würde sich ganz ihrer Liebe zur Geschichte widmen können und außerdem auch noch Zeit zum Entspannen haben. Und vielleicht würde sie sogar Freunde finden.
Und jetzt war sie hier. Sie brauchte nichts weiter zu tun, als jeden Tag einmal nach Bunty zu sehen. Der Rest der Zeit gehörte ihr ganz allein. Sie konnte den Tag im Bett verbringen, wenn sie wollte, oder durch Antiquitätenläden streifen und über Bauernmärkte bummeln. Sechs Monate ganz ohne Termine und Verpflichtungen lagen vor ihr. Lucy stand aus dem Sessel auf. Als sie eine Kommodenschublade aufzog, fand sie ein paar Landkarten von der Umgebung.
So ganz einfach würde das Nichtstun nicht werden. Lucy suchte sich ein paar Bücher über die Regionalgeschichte aus der kleinen Bibliothek auf der Kommode heraus, stapelte sie ordentlich auf dem Tischchen neben dem Sessel auf und brütete dann über den Landkarten. Es gab ein paar schöne Rundwege um das Dorf herum, über die Hamish sich freuen würde. Aber vielleicht sollte sie erst mal weiter auspacken.
Sie trug eine Tasche nach oben, verstaute einen Teil ihrer Kleidung in der Kommode neben dem Bett, hängte anderes in den Schrank und baute ihre Toilettensachen im Bad auf. Die Badewanne war wirklich winzig, wie eine Miniversion einer normalen Badewanne. Lucy betrachtete sich im Spiegel. Sie war immer noch blass, immer noch nicht wieder – na ja, was war schon normal? Sie war so lange gestresst und ausgelaugt gewesen, dass sie sich nicht mehr erinnern konnte, wie sie eigentlich aussah. Sie spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht, rieb es mit einem Handtuch trocken, löste ihr Haar, das sie zu einem lockeren Knoten hochgesteckt hatte, und schüttelte es. Na also. Mit offenen Haaren sah sie nicht mehr ganz so erschöpft aus. Ein bisschen Landluft, und sie würde hoffentlich bald wieder auf dem Damm sein.
Unten war Hamish von seinem Power Nap erwacht und nagte zufrieden an einer Ecke des Teppichs. Als er Lucy hörte, blickte er auf und wedelte. Ach du Schreck, er hatte tatsächlich die ganze Ecke abgekaut.
»Und vermutlich ist das ein antikes Stück«, jammerte Lucy. Hamish senkte den Kopf, um weiter zu knabbern. »Lass das! Und komm mit. Du hast ja ewig im Auto gewartet. Wir gehen auf Entdeckungstour.«
Auf der Bank, auf der Lucy vorhin gesessen hatte, hockte jetzt eine zierliche, offenbar stinksaure Jugendliche. Als Lucy sich mit Hamish näherte, sah sie nicht auf, sondern scrollte weiter auf ihrem Smartphone herum. Das Haar hing ihr in zwei glatten schwarzen Vorhängen vor dem Gesicht. Lucy ging an ihr vorbei. Was für eine Erleichterung, dass sie sich eine Weile mal nicht mit den emotionalen Problemen von Teenagern befassen musste. Nein, sie konnte sich einfach in ihr Häuschen zurückziehen und alles Komplizierte draußen lassen. Nur Ruhe, Entspannung, Frieden und Stille. Ein täglicher Besuch bei ihrer Nachbarin Bunty war dafür wirklich nicht zu viel verlangt. Zum ersten Mal seit langer Zeit fühlte Lucy sich wieder ein bisschen wie früher.
Sam Travis war ziemlich kaputt. Sein Arbeitstag war anstrengend gewesen, und er sehnte sich nur noch danach, mit einem Kaffee und der Fernbedienung für den Fernseher die Füße hochzulegen. Doch jetzt musste er erst mal das Material zum Dachdecken, das er morgen voraussichtlich brauchen würde, auf seinem Pritschenwagen sichern. Er zurrte die Gurte fest, sprang dann von der Ladefläche, landete auf der gepflasterten Einfahrt zum Bell Cottage und hakte die Gurte außen am Wagen ein. Nachdem er die beiden Jungs abgesetzt hatte und wieder zu Hause war, war er zufrieden, dass er alles für den nächsten Arbeitstag vorbereitet hatte. Das nahm ihm morgens, wenn er seine widerstrebende Tochter aus dem Bett holen und sich um vergessene Hausaufgaben kümmern musste, ein bisschen Stress. Zum Glück fingen nächste Woche die Ferien an.
Geschafft. Jetzt konnte er morgen früh gleich losfahren. Zerstreut tätschelte er den Pritschenwagen, als wäre der kleine Laster ein Pferd.
»Freya?«, rief er über den Wagen hinweg ins Küchenfenster. Wie immer stand es offen, damit die Katze ungehindert ein und aus gehen konnte. Trevor, der die Nachbarschaftswache organisierte, hatte Anfang der Woche bei ihm angeklopft, um ihn zu informieren, dass er mit dem offenen Fenster nicht nur sein eigenes Hab und Gut gefährdete, sondern überhaupt Einbrecher ins Dorf lockte. Sam fand es zwar einigermaßen unwahrscheinlich, dass das winzige, abgelegene Dörfchen Little Maudley vom organisierten Verbrechen überrollt würde, aber er hatte Trevor versichert, dass er über eine Katzenklappe nachdenken würde. Wann er sie allerdings einbauen sollte, war Sam schleierhaft, denn er war mit seiner Firma, den Taxifahrten für eine Vierzehnjährige mit regem Sozialleben und der Haushaltsführung als alleinerziehender Vater ziemlich ausgelastet. Wie es bei den meisten selbstständigen Handwerkern der Fall war, ließ sich auch auf sein eigenes Haus der Spruch »Schusters Kinder gehen barfuß« übertragen. Manche Arbeiten warteten schon seit Jahren. Die Backsteine hinter dem Haus, die er für den Bau des längst geplanten Wintergartens vorgesehen hatte, lagen immer noch unberührt da. Auf einem Haufen Mutterboden, den er mit der Absicht, einen richtigen Garten anzulegen, in der Einfahrt abgekippt hatte, wuchs inzwischen Gras. Es sah aus, als wäre da aus dem Nichts ein kleiner Hügel gelandet. Verflixt, er musste sich wirklich zusammenreißen. Und – Sam rieb sich über sein stoppliges Kinn – er musste sich rasieren, aber dazu brauchte er neue Klingen, die er nur bekam, wenn er in den Laden …
»Freya!«, rief er wieder, diesmal lauter.
»Eine Minute!«
Sam rief die beiden Cockerspaniel, die ums Haus herumwuselten, ließ sie in den Land Rover springen, der neben dem Pritschenwagen parkte, und stieg dann selbst ein. Amber ließ ihren Schwanz wie eine Fahne herumwirbeln. Bee, ihre Mutter, kletterte mit lautem Gebell über sie hinweg. Dann drückten beide Hündinnen ihre feuchten Nasen gegen die ohnehin schon verschmierte Scheibe.
»Eine Minute, hat sie gesagt«, erklärte Sam den Hunden schmunzelnd. Mit einem Kopfschütteln lehnte er sich zurück und zog sein Smartphone aus der verschlissenen Jeans. Vier Nachrichten von Annabel Bevan, seiner derzeitigen, sehr anspruchsvollen Kundin. Erst vor einer halben Stunde hatte er ihr Landhaus Green Acres verlassen. Zerstreut scrollte er sich durch ihre Mails.
15.01: Sam, wenn du noch da bist, magst du vielleicht kurz auf eine Tasse Tee und einen Happen Essen reinkommen? xxx
15.08: Bin jetzt im Garten, du bist wohl schon weg. x
15.20: Hab Brownies im Ofen – hol dir einen, bevor du morgen mit der Arbeit loslegst! Xx
15.21: Ob du mich anrufen könntest? Hab dir gemailt! Xxx
Annabel war hartnäckig, das musste er ihr lassen. Leider brachte seine Arbeit es mit sich, dass manche Frauen – ein bestimmter Typ Frauen – glaubten, zu seinen handwerklichen Dienstleistungen gehörten noch gewisse … Extras. Sam hatte herausgefunden, dass es am besten war, so zu tun, als würde er das nicht bemerken. Er legte sein Handy weg und schloss kurz die Augen.