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Gefangen im Hamsterrad des Alltags als Mutter eines fußballverrückten Teenagers und Ehefrau eines Workaholics, fragt sich Hannah, warum eigentlich ihre eigenen Interessen immer auf der Strecke bleiben. Das kann es doch noch nicht gewesen sein, oder? Und als sich überraschend die Möglichkeit ergibt, den Dorfladen samt Postamt in Little Maudley zu übernehmen, zögert sie nicht lange.
Zwar gestaltet sich das Leben auf dem Land nicht ganz so einfach wie erwartet, aber Ben, ihr Sohn, findet dank seines Talents rasch Anschluss in der örtlichen Fußballmannschaft, und Hannah schmiedet Pläne, um ihren heimlichen Traum von einer eigenen kleinen Buchhandlung zu verwirklichen. Und die finden so großen Anklang im Dorf, dass sie kaum bemerkt, dass sich ihr Ehemann extrem rar macht.
Und als dann noch Jake Lovatt, gutaussehender, charmanter Ex-Fußballstar, das Training der Jungen übernimmt, sind die Verwicklungen vorprogrammiert …Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 401
Rachael Lucas
Die kleine Buchhandlung im alten Postamt
Aus dem Englischen von Sabine Schulte
Insel Verlag
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Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel The Village Green Bookshop bei Pan Macmillan Books, London.
eBook Insel Verlag Berlin 2022
Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des insel taschenbuchs 4900.
insel taschenbuch 4900Deutsche ErstausgabeErste Auflage 2022© der deutschen Ausgabe Insel Verlag Anton Kippenberg GmbH & Co. KG, Berlin, 2022Copyright © Rachael Lucas 2021Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.
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eISBN 978-3-458-77346-7
www.suhrkamp.de
Für James, mit aller Liebe
Die kleine Buchhandlung im alten Postamt
Cover
Titel
Impressum
Widmung
Inhalt
Informationen zum Buch
Cover
Titel
Impressum
Widmung
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebtes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Dreizehntes Kapitel
Vierzehntes Kapitel
Fünfzehntes Kapitel
Sechzehntes Kapitel
Siebzehntes Kapitel
Achtzehntes Kapitel
Neunzehntes Kapitel
Zwanzigstes Kapitel
Einundzwanzigstes Kapitel
Zweiundzwanzigstes Kapitel
Dreiundzwanzigstes Kapitel
Vierundzwanzigstes Kapitel
Fünfundzwanzigstes Kapitel
Sechsundzwanzigstes Kapitel
Siebenundzwanzigstes Kapitel
Achtundzwanzigstes Kapitel
Neunundzwanzigstes Kapitel
Dreißigstes Kapitel
Einunddreißigstes Kapitel
Zweiunddreißigstes Kapitel
Dreiunddreißigstes Kapitel
Vierunddreißigstes Kapitel
Fünfunddreißigstes Kapitel
Drei Monate später
Dank
Informationen zum Buch
»Ich fasse es nicht, dass du da allein hinfahren musst. Wie können die beiden dich bloß so hängen lassen?«
Hannah Reynolds nutzte die Gelegenheit, dass sie gerade im Stau stand, um im Rückspiegel ihres etwas unordentlichen Autos einen Blick auf ihr Gesicht zu werfen. Mit ihren fünfunddreißig Jahren konnte sie immer noch wie ein Schulmädchen aussehen, das – wieder einmal – ermahnt wurde, weil es im Unterricht geschwätzt hatte. Sie verdrehte die Augen. Inzwischen hatte dieses Mädchen sich irgendwie in eine recht hübsche Frau verwandelt, oder jedenfalls schätzte sie sich selbst so ein, wenn sie sich bemühte, diese »Liebe dich selbst«-Bewegung auf Instagram mitzumachen. Allerdings mischten sich in ihre ungebärdigen dunklen Locken hier und da schon vorwitzige graue Sprenkel.
Die Schlange setzte sich langsam wieder in Bewegung, und Hannah winkte dankbar, als ein Lastwagenfahrer ihr Platz ließ, sodass sie sich in die linke Spur einfädeln konnte, um die Ausfahrt nach Oxford zu nehmen. Währenddessen tat ihre Freundin Katie über die Freisprechanlage weiter murrend ihr Missfallen kund.
»Du bist einfach zu weich, das ist dein Problem.«
»Ich weiß«, sagte Hannah geduldig, obwohl sie das eigentlich nicht so sah. Hätte man sie gefragt, was die liebevolle, aber manchmal etwas übergriffige Katie eher selten tat, dann hätte Hannah zugegeben, dass sie zwar oft leicht rumzukriegen war, ja – aber in wichtigen Fragen blieb sie standhaft. Und wenn Phil, ihr Gatte, der als Geschäftsmann immer irrwitzigere Überstunden machte, es zeitlich nicht hinkriegte, mit zu Tante Jess’ Beerdigung zu kommen, sodass sie allein hinfahren musste, na gut, in modernen Familien war das eben so. Oder jedenfalls sagte Hannah sich das.
»Aber Phil muss arbeiten. Und Ben hat eine Prüfung, und noch mehr Ärger in der Schule kann er im Moment wirklich nicht gebrauchen.«
Hannah sah Ben vor sich, wie er heute Morgen das Haus verlassen hatte, mit seinen wirren dunklen Locken, die er von ihr geerbt hatte, und dem Rucksack lässig über der Schulter. Sie staunte immer wieder darüber, dass sie einen fünfzehnjährigen Sohn hatte, während sie sich selbst noch gar nicht richtig erwachsen fühlte. Aber irgendwie war der kleine Junge zu einem stattlichen Teenager herangewachsen, einsachtzig groß, mit einem feinen Sinn für sarkastischen Humor und einer zunehmenden Tendenz, sich Ärger einzuhandeln, sowohl in als auch außerhalb der Schule.
»Ich sag ja bloß, wenn in Phils Familie jemand gestorben wäre, wärst du unter allen Umständen beim Begräbnis dabei.«
Wieder verdrehte Hannah die Augen. Katie hatte ja recht. Wie immer.
»Ja, das stimmt. Ich bin das Dummerchen und er ist ein Idiot, Ende.«
Sie wusste genau, worauf dieses Gespräch hinauslaufen würde – und Katie, die solche Themen mit großer Verbissenheit verfolgte, würde nicht aufgeben.
»Ach komm, jetzt werd nicht gleich pampig.« Katies Tonfall wurde ein wenig sanfter.
»Werd ich doch gar nicht. Verdammt noch mal!« Ein Motorradfahrer hatte sich mit einem eleganten Schlenker vor sie gesetzt, sodass sie eine Vollbremsung machen musste. »Hab nicht dich gemeint, sondern den Verrückten auf dem Motorrad da vorne.«
»Da bin ich beruhigt.« Katie lachte. »Hör mal, ich mag Phil sehr. Ich finde, er ist ein total netter Ehemann und Vater und so weiter. Aber dich mag ich noch viel lieber, und es macht mich sauer, dass du dich darauf spezialisiert hast, so was auf die leichte Schulter zu nehmen.«
Jetzt komm mir bloß nicht mit deiner hieb- und stichfesten Logik, dachte Hannah kopfschüttelnd.
»Kannst du dir vielleicht ausnahmsweise mal überlegen, dich selbst an erste Stelle zu setzen? Mir zuliebe?«
»Abgemacht.« Schon während Hannah das sagte, wusste sie, dass die Chancen dafür verschwindend gering waren. Und Katie wusste das auch – schließlich waren sie beide in Salford, einer Trabantenstadt von Manchester, aufgewachsen und seit der Schulzeit befreundet. Der Unterschied war nur, dass Katie etwas aus ihrem Leben gemacht hatte, während Hannah immer noch mehr oder weniger da stand, wo sie beide angefangen hatten, nur dass bei ihr die Schwangerschaftsstreifen und die Stirnfalten der Mutterschaft hinzugekommen waren.
»Okay. Muss auflegen. Wir sprechen wieder. Hab dich lieb!«
Für die Freundin war es einfach, überlegte Hannah, während sie vom Zubringer abbog und beobachtete, wie die grüne Landschaft von den ausufernden Randbezirken Oxfords abgelöst wurde. Katie war Single, kinderlos, hatte einen super Job als Leiterin der Forschungsabteilung in einem multinationalen Unternehmen und ließ sich nicht die Butter vom Brot nehmen. Seit sie ihr Studium erwartungsgemäß mit Auszeichnung abgeschlossen hatte, hatte sie daran gearbeitet, sich nichts gefallen zu lassen, und war mit verbissener Entschlossenheit die Karriereleiter hochgestiegen.
Aber es war nicht so einfach, Durchsetzungskraft zu entwickeln, wenn man fünfunddreißig war und sein Leben lang die Liebenswürdige, Nachgiebige gespielt hatte. Hannah ging eine Liste der Dinge durch, auf die sie aus irgendwelchen Gründen verzichtet hatte. Die alte Universitätsstadt Oxford löste stets dieselbe Sehnsucht in ihr aus. Mit neunzehn, im ersten Semester, hatte sie festgestellt, dass sie schwanger war. Damals hatte sie ihr Ziel, in der Stadt der träumenden Türmchen Literaturprofessorin zu werden, aufgegeben und stattdessen Phil geheiratet, der seit der letzten Klasse ihr Liebster gewesen war und sich zu jener Zeit an einer neu gegründeten Uni in Lancashire durch ein BWL-Studium kämpfte. Phil hatte sein Studium beendet, während sie eine Teilzeitstelle in einer Kita angenommen hatte. Als Ben dann geboren war, hatte sie ihn mit zur Arbeit genommen, ins Babyzimmer gelegt und ihn in ihren Pausen gestillt. Vernünftig, strukturiert, zuverlässig. Das waren Worte, mit denen andere sie beschrieben. Immerhin waren es keine schlechten Eigenschaften, tröstete Hannah sich.
Während sie weiterfuhr, riss der graue Himmel auf und tauchte die Stadt in helles, mildes Licht. Die goldenen Steine saugten den Sonnenschein auf, als wäre er das Mindeste, was ihnen zustand. Das Hotel war ein altes Herrenhaus mit einer hübschen, von Bäumen gesäumten Zufahrt. Hinter dem Gebäude lag eine Weide mit Kühen, die paradoxerweise vor einer Kulisse aus verfallenen Läden und Studentenwohnheimen grasten. Hannah parkte, zerrte ihre Reisetasche aus dem Kofferraum und betrat das Foyer, um einzuchecken.
Wenn es etwas gab, was die Familie Reynolds gut konnte – ja, worin sie sich selbst übertraf –, dann waren das Beerdigungen. Im Foyer hatten sich bereits diverse entfernte Freunde und Verwandte versammelt. Die meisten hatte Hannah seit der Beerdigung ihrer Mutter vor zwei Jahren nicht mehr gesehen, doch alle begrüßten sie mit herzlichem Lächeln.
»Heute ohne Phil?«
»Kommt er später?« Vetter Andy hob das Kinn und musterte sie über sein Pint Guinness hinweg.
»Er arbeitet. Konnte sich nicht losmachen. Anruf in letzter Minute.« Hannah presste die Lippen zusammen und wartete ab.
»Ach, wie schade. Und Ben?«
»Schule. Eine Prüfung.« Dieses Gespräch werde ich vor der Trauerfeier noch ungefähr achtzehn Mal führen, dachte Hannah, während sie höflich lächelte und auf den Empfangstresen deutete. »Ich will eben schnell einchecken.«
»Hannah Reynolds.« Sie zog ihre Kreditkarte heraus und reichte sie der jungen Frau hinter dem Tresen.
»Und wird Mr Reynolds später zu ihnen stoßen?«
Hannah unterdrückte einen Wutschrei.
»Heute nicht«, sagte sie freundlich. »Dieses Mal nicht.«
Die Trauerfeier war so bewegend, wie Hannah es erwartet hatte. Es gab Tränen, denn Tante Jess, die Schwester ihrer Mutter, war nur achtundsiebzig geworden, überhaupt kein Alter, wie alle sich sagten. Und es gab Gelächter, denn Jess’ Tochter Beth, überschwänglich, laut und mitteilsam wie eh und je, zeigte eine Reihe von Fotos, die sie mit Musik unterlegt hatte, und alle prusteten vor Vergnügen darüber, was Jess so angestellt hatte. Als ein Foto von ihr Arm in Arm mit ihrer Schwester, Hannahs Mutter, erschien, bildete sich in Hannahs Kehle ein dicker Kloß. Die beiden Schwestern waren beste Freundinnen gewesen, und als Einzelkind hatte Hannah eine derartige Bindung nie erlebt.
Während sie sich, bevor es zum Büfett ging, auf der Toilette die Hände wusch, dachte sie an Ben und seine Probleme in der Schule. Wäre das anders gelaufen, wenn er einen Bruder oder eine Schwester gehabt hätte? Hätte er besser Wurzeln schlagen können, wenn sie nicht von London erst nach Inverness und später dann nach Manchester gezogen wären? Was wäre gewesen, wenn sie sich mehr angestrengt hätte, um herauszufinden, warum sie nicht wieder schwanger geworden war – aber nein. Daran war sie eigentlich nicht schuld gewesen. Sie hatte sich bemüht. Sie hatte die empfohlenen Vitamine und Lebensmittel zu sich genommen, aber der blöde Phil hatte es sich in den Kopf gesetzt, dass es unmöglich seine Schuld sein konnte, weil es einfach ihr Problem sein musste, und …
»Alles in Ordnung? Du siehst aus, als wärst du ganz weit weg.«
Als Hannah aufblickte, sah sie im Spiegel ihre Kusine Beth. Hannah schüttelte den Kopf. Sie war in ihre eigenen, egozentrischen Gedanken vertieft, und da kam Beth, die gerade ihre Mutter verloren hatte, und erkundigte sich nach ihrem Wohlbefinden.
Sie drehte sich um und nahm Beth in die Arme. »Doch, alles gut. Aber wie geht es dir? Die Trauerfeier war schön, oder?«
Beth stieß ein respektloses Prusten aus, sodass Hannah lachen musste. »Das sagt man immer, oder? Stell dir mal vor, wir würden eine TripAdvisor-Bewertung für Beerdigungen machen. Einer von zehn Punkten: Entsetzlich langweilige Trauerfeier, beschissenes Essen. Vier von zehn Punkten: Leckere Sandwiches, todlangweilige Gäste.«
Hannah kicherte. »Du weißt doch, wie ich das meine.«
»Klar. Wie ich sehe, konnte Phil sich nicht dazu durchringen, in letzter Minute alles abzusagen und als Überraschungsgast zu erscheinen.«
»Jetzt fang nicht damit an.« Hannah schüttelte den Kopf.
»Er hat dich nicht verdient, weißt du.«
»Das sage ich ihm auch immer.« Was gar nicht stimmte. Hannah folgte Beth in den Saal, wo alle mit lauwarmem Weißwein und Sandwiches durcheinanderwuselten. Beth wechselte ein paar Worte mit der Frau hinter der Theke und kam mit einer gekühlten Flasche Pinot Grigio zurück.
»Komm, wir schleichen uns nach draußen. Ich halte dieses höfliche Geschwafel nicht mehr aus. Jetzt will ich alles über dein Leben hören.« Sie schenkte Hannahs Glas bis zum Rand voll. »Schade, dass Ben nicht kommen konnte – Lauren und er haben sich seit Jahren nicht gesehen … Was?«
Hannah deutete mit dem Kopf auf ihr Glas. »Wenn das so weitergeht, hab ich morgen immer noch zu viel Promille.«
»Quark.« Beth schenkte ihr eigenes Glas genauso voll. »So, liebes Kusinchen, was ist in deiner Welt so los?«
»Du hast gerade deine Mutter verloren«, begann Hannah. »Da sollten wir jetzt nicht über mich reden.«
Es war herrlich, mit Beth zusammen zu sein. Da sie beide ohne Geschwister aufgewachsen waren, hatten sie trotz aller Verschiedenheit eine enge Beziehung. In vieler Hinsicht waren sie das genaue Gegenteil voneinander: Beth hatten Klatschgeschichten immer magnetisch angezogen, sie war rotzfrech und hatte keine Angst zu sagen, was sie dachte, und andere damit vor den Kopf zu stoßen; Hannah dagegen hatte so ziemlich alles getan, um sich das Leben einfach zu machen.
»Das ist jetzt nicht witzig gemeint, aber ich habe sie schon im Laufe der letzten anderthalb Jahren verloren. Krebs ist eine böse Sache. Ehrlich, zum Schluss war es, als würden wir auf einen Zug warten, der viele Stunden Verspätung hat. Mutter hat es gehasst, ich habe es gehasst. Ich hab sie schon vor Ewigkeiten verloren, nicht erst im vorigen Monat.« Frustriert schüttelte Beth den Kopf.
»Ich weiß, aber …«
»Ehrlich, es ist eine Erleichterung, über was anderes reden zu können als über Medikamente, Palliativpflege oder Bestattungen. Ich habe das Gefühl, dass in den letzten anderthalb Jahren der Krebs mein Leben bestimmt hat.«
»Verstehe.« Hannah trank einen großen Schluck Wein und blickte über die Terrasse auf die Wiese. »Komisch, dass es hier mitten in der Stadt Kühe gibt.«
»Ja, das ist, als wäre ich wieder auf dem Dorf, bloß mit allen ruhmreichen Errungenschaften der gegenwärtigen Zivilisation.«
»Ich dachte, du würdest gern in Little Maudley leben?«
»Ist ja auch so.« Beth wirkte nachdenklich. »Oder jedenfalls war es bisher so. Aber ich bin so viel hin- und hergefahren und … Keine Ahnung, bei der ganzen Sache ist mir einfach klar geworden, dass ich mehr will.« Sie blickte wieder auf die Stadt, die sich in die Ferne erstreckte.
»Und Lauren?«
»Lauren erst recht.«
Als hätte sie ihren Namen gehört, erschien Lauren – hochgewachsen, gertenschlank, mit langem Haar, das ihr in perfekt frisierten Locken über den Rücken wallte, und unglaublich schick in einem schmalen schwarzen Kleid.
»Hast du was dagegen, wenn ich mit Ellie in die Stadt gehe?« Sie lächelte Hannah kurz zu. Vor der Trauerfeier hatten sie sich zur Begrüßung umarmt, und Hannah war erstaunt gewesen, wie groß ihre Nichte geworden war und wie selbstbewusst sie wirkte. Das kleine Mädchen, das im schlammverschmierten Regenmantel mit Ben im Garten herumgetollt war, war nicht wiederzuerkennen.
»Meinetwegen gern.« Beth griff nach ihrem Smartphone und tippte auf dem Display herum. »Da, ich hab dir ein bisschen Geld überwiesen. Besorgt euch was Nettes zu essen.«
»Danke, Mum.« Lauren strahlte. »Du bist Spitze.«
»Ich kann bloß nicht nein sagen, das ist alles.« Beth verabschiedete sich mit einem Luftkuss von ihrer Tochter, und beide Frauen schauten Lauren nach, als sie wieder in den Saal tänzelte und sich bei ihrer ebenso glamourösen Freundin einhakte. Die Mädchen machten sich auf den Weg in die City.
»Du meine Güte, wir waren mit achtzehn Jahren nicht halb so selbstbewusst, oder?«
»Das kannst du laut sagen.« Beth lachte in sich hinein. »Aber das ist mit ein Grund, warum ich beschlossen habe, wieder nach Oxford zu ziehen. Lauren braucht einfach mehr, als das Dorf zu bieten hat.«
»Du willst nach Oxford ziehen? Und der Laden?«
»Ich muss bloß jemanden finden, der ihn übernimmt. Ist ja keine Hexerei.« Beth rieb sich nachdenklich das Ohr, dann zog sie ihre Ohrringe aus und ließ sie im Seitenfach ihrer Handtasche verschwinden. »Ich hasse es, mich für solche Veranstaltungen in Schale zu werfen.«
»Ihr zwei seid so verschieden wie Tag und Nacht.« Hannah neigte den Kopf Richtung Tür, wo Lauren gerade in einer Wolke von Parfümduft verschwunden war.
»Da hast du recht. Wie kommt es, dass ich eine Tochter geboren habe, die aussieht, als würde sie in Love Island mitspielen, während ich mich in Jeans und Turnschuhen am wohlsten fühle?«
»Wie kommt es, dass ich einen genialen Fußballer geboren habe, obwohl weder Phil noch ich so was wie die Abseitsregel kapieren und ich von Grasplätzen Heuschnupfen kriege?«
»Mutter zu sein ist seltsam.«
»Das kann man wohl sagen.« Hannah hob ihr Glas und stieß zur Bekräftigung mit ihrer Kusine an.
»Mum hatte vor einer Weile mal erzählt, dass ihr mit Ben Schwierigkeiten habt?«
Hannah strich sich das Haar aus dem Gesicht, ihre übliche Geste, wenn sie gestresst war oder nachdachte. In letzter Zeit hatte sie es so oft getan, dass sie schon fast damit rechnete, plötzlich lange Haarsträhnen in der Hand zu haben.
»Er ist ja erst fünfzehn. Eben ein typischer Fünfzehnjähriger.«
Beth nickte, wie es nur andere Eltern oder vielleicht auch Lehrer konnten. »Verstehe.«
»Es gibt ein paar Jungen bei uns in der Nachbarschaft, mit denen er nach der Schule rumhängt – Lernen hat bei denen nicht gerade Priorität. Sie konzentrieren sich eher darauf, was für Unfug sie anstellen können, verstehst du?«
»Drogen?« Beth riss erschrocken die Augen auf.
»Nein, nein.« Hannah schüttelte energisch den Kopf. »Aber sie trinken Alkohol, obwohl sie noch minderjährig sind, und …«
»Weißt du noch, wie wir uns auf der Silberhochzeit von Oma und Opa Miller haben volllaufen lassen?«, unterbrach Beth zu Hannahs Erleichterung. Die Liste von Bens Verfehlungen wurde von Woche zu Woche länger, und auf der Autofahrt, nur mit dem Radio als Gesellschaft, hatte sie Zeit gehabt, darüber nachzudenken.
Hannah lachte. »Allerdings.«
»Ein bisschen Alkohol ist kein Weltuntergang – auch wenn Ben noch minderjährig ist.« Beth hob eine Augenbraue. »Lauren hat auch allen möglichen Blödsinn gemacht. Das ist ganz normal.«
»Klar, das weiß ich ja. Aber wenn die Polizei ihn aufgreift, weil er mit diesen Jungs in einem Laden was geklaut hat, ist das schon ein Problem.« Hannah ließ die Schultern ein wenig sinken. Es war eine riesengroße Erleichterung, es endlich einmal auszusprechen, denn bisher hatte sie es geheim gehalten.
»Ach so.« Beth verzog das Gesicht. »Aber er war nicht beteiligt, oder?«
»Oh, doch.« Hannah nickte. »Und noch schlimmer ist, dass er bei solchen Sachen genau so wenig Grips hat wie ich – das heißt, die anderen sind so davongekommen und alles wurde ihm angehängt.«
»Oh, Gott.«
»Genau. Also wurde die Schule eingeschaltet, und das Jugendamt ist gekommen, um zu sehen, ob ich meine Sache als Mutter gut genug mache –«
»Halt mal – und was war mit Phil?«
»Na ja, es ging natürlich auch um ihn, aber er hat gearbeitet, wie immer, deswegen war ich allein zuständig.«
»Ja, ich verstehe. Ehrlich, Hannah, du bist wie eine alleinerziehende Mutter, bloß dass du die Vorteile nicht hast.«
»Sag bloß, das hat auch Vorteile.«
»Aber sicher doch. Keiner klaut dir die Bettdecke, keiner furzt im Bett, wenn er zum Sonntagsdinner Pastinaken gegessen hat, ich hab die Fernbedienung ganz für mich und –«
»Würdest du nicht gern jemanden kennenlernen?«
Beth schenkte ihnen die Gläser wieder randvoll. »Doch, natürlich. Glaub mir, auch das ist ein Grund, weshalb ich überlege, hierherzuziehen.« Sie zuckte mit den Augenbrauen. »Onlinedating in Little Maudley bringt nicht viel. Ich vermute mal, dass die Chance, einen tollen, reichen und charmanten Mann zu finden, hier in der Stadt größer ist, meinst du nicht?«
»Na ja, jedenfalls theoretisch. Bei der Hälfte meiner Freundinnen klappt das allerdings nicht so richtig – sie klagen dauernd, dass die Männer auf den Datingseiten entweder verheiratet sind oder Bindungsangst haben.«
»Ich riskiere es einfach mal. Ein bisschen Action kann nicht schaden«, sagte Beth, und beide kicherten los.
»Und wie genau planst du deine Flucht aus dem Landleben?«
»Ach, das ist einfach.« Beth schnitt eine Grimasse. »Ich muss bloß jemanden finden, der den Dorfladen übernimmt, und unsere Sachen in Mums Haus transportieren, und die Sache ist geritzt.«
»Es kann nicht so schwer sein, jemanden für den Laden zu finden, oder?« Hannah folgte Beth und der Seite für den Dorfladen auf Facebook. Das Geschäft im alten Postamt schien der Mittelpunkt der kleinen Dorfgemeinschaft zu sein, und ihre Kusine führte es mit militärischer Effizienz.
»Sollte man meinen.« Beth schüttelte den Kopf. »Aber in Little Maudley sind sie ein bisschen – na ja …«
»Hochnäsig?« Hannah war seit Jahren nicht mehr dort gewesen, aber sie erinnerte sich an das Bilderbuchdorf und die vorbildliche Ordnung, in der kein Lavendelstängel aus der Reihe tanzte.
Beth schüttelte prustend den Kopf. »Speziell war das Wort, das ich suchte. Sie haben zu allem und jedem viele verschiedene Meinungen.«
»Aber das Dorf ist wunderschön.«
»Stimmt. Allerdings gibt es da diese vertrackte Regelung, dass ich zwar das Postamt gepachtet habe, der Laden selbst aber dem Dorf gehört.«
»Wie geht denn das?«
»Der Laden ist als Kooperative organisiert. Ist eine lange, sehr komplizierte Geschichte. Aber Flo führt das Café, das ist also geregelt, und ich führe den Laden. Wir haben sogar eine Dorfschreiberin.«
»Sehr vornehm. Wie kommt ihr dazu?«
»Sie ist vor ein paar Jahren ins Dorf gezogen, nach ihrer Scheidung. Sie hatte sich in Little Maudley verliebt, nachdem sie von unserer kleinen Bücherei im Telefonhäuschen gehört hatte – du weißt ja, in der Church Street. Sie hat zwei Schulkinder, und zu Hause kann sie nicht arbeiten, also kommt sie regelmäßig ins Café, setzt sich in eine Ecke und schreibt.«
»Traumhaft.« Hannah stützte das Kinn in die Hände und schloss die Augen. Es klang tatsächlich wie das Leben, von dem sie immer geträumt hatte. Aber irgendwie saß sie am Rand von Manchester fest, in einer Doppelhaushälfte aus den 1930er Jahren, mit einem Mann, der ihr nicht mal eine SMS geschrieben hatte, um zu fragen, wie die Beerdigung gewesen war.
»Du kannst gern nach Little Maudley kommen und den Laden übernehmen.«
Hannah riss die Augen wieder auf.
»Wie bitte?«
»Ja, natürlich!« Beth richtete sich auf und klatschte begeistert in die Hände. »Das sollte ein Scherz sein, aber – es wäre perfekt! Du möchtest Ben doch von diesen zwielichtigen Burschen wegholen. In Little Maudley würden solche Sachen nicht laufen.«
»Nach allem, was du erzählt hast, läuft in Little Maudley überhaupt nichts«, zog Hannah ihre Kusine auf.
»Gut, das stimmt auch wieder, aber – die Idee ist einfach genial. Phil ist beruflich viel unterwegs, oder?«
»Stimmt.« Irgendwo in Hannahs tiefstem Innern entzündete sich ein winziger Freudenfunke. Sie spürte, wie die kleine Flamme sie bereits wärmte – oder war es der Wein?
»Also«, Beth spann ihre Idee weiter aus, »für Phil ist es nicht wichtig, wo er wohnt, weil er keinen festen Arbeitsplatz hat, zu dem er hinpendeln müsste, oder?«
»Hm, nein …«, sagte Hannah langsam. »Er ist immer unterwegs.«
»Komm doch morgen auf dem Nachhauseweg vorbei und sieh dir den Laden an.« Beth wirkte wieder wie vierzehn, so strahlte sie. »Machst du das?«
Die Vorstellung, in ein idyllisches Dorf am Rand der Cotswolds zu flüchten, war himmlisch. Hannah stellte sich die Hügellandschaft vor, einen blauen Himmel mit flauschigen Wolken und den warmen, honiggelben Stein der Cottages, die sich rings um die schöne alte Kirche von Little Maudley an den Hang schmiegten. Dort zu wohnen wäre wie das Leben in einem herzerwärmenden Fernsehfilm am Sonntagabend.
Doch dann schüttelte sie sich und fand in die Realität zurück. In ihrem Leben war so etwas nicht denkbar.
»Ich kann doch nicht einfach unser ganzes Leben umkrempeln und aus einer Laune heraus mit Ben in ein Dorf in den Cotswolds ziehen.«
»Warum nicht? Das Leben ist so kurz.« Beth schüttelte den Kopf. »Ganz im Ernst. Sieh dir unsere Familiengeschichte an. Unsere Mütter sind beide jung gestorben. Mit siebzig haben wir beide vielleicht schon den Löffel abgegeben. Möchtest du dir in deinen restlichen Jahren immer ausmalen, was hätte sein können?«
Hannah atmete langsam aus und gestattete sich noch einen weiteren Moment lang die Vorstellung, wie es wäre, wenn Phil und sie einmal im Leben etwas tun würden, weil sie es wollte, nicht, weil es seiner Karriere nutzte oder weil es so richtig war. Aber es kam überhaupt nicht in Frage, dass sie alles zusammenpackte und in eine ganz andere Gegend zog. Oder doch? In der Vergangenheit hatte ihre kleine Familie das oft genug gemacht. Ja, in Manchester hatte sie ihre Freundinnen, aber schließlich würde sie ja nicht nach Australien auswandern.
»Na schön.« Hannah stellte ihr Glas auf den Tisch und verschränkte entschlossen die Arme. »Ich komme morgen vorbei und sehe mir deinen Laden an. Aber mehr auch nicht.«
Beth boxte vor Freude in die Luft. »Ja!«
»Ich will nur mal gucken!«
»Ich glaube, unsere Mütter wären beeindruckt.« Beth hob ihr Weinglas und stieß damit an Hannahs fast ganz geleertes Glas.
»Kann sein.« Hannah kaute gedankenverloren auf der Unterlippe. Sie dachte bereits an die vielen Gründe, warum es nicht klappen konnte. Bis morgen würde sie es schaffen, sich dieses Hirngespinst auszureden – aber im Moment, beschloss sie, wollte sie sich einfach mal darauf einlassen. Immerhin machte es Beth glücklich, und gerade heute war das am allerwichtigsten.
Auf dem Küchentisch lagen zwei Handys, und beide brummten beharrlich. Jake griff danach, schaltete sie stumm und schubste sie zurück auf die gescheuerte Eichenplatte, wo sie wie Bobschlitten weitersausten, zusammenstießen und gegen eine Glasschüssel mit glänzend roten Äpfeln knallten.
Die Küche war tadellos sauber – das hatte er Jenna zu verdanken, seiner Putzhilfe, aber es hieß auch, dass es hier absolut nichts zu tun gab. Jake nahm sich einen Apfel und biss hinein. Kauend blickte er aus dem Fenster auf die wogende Hügellandschaft der Cotswolds. Diese idyllische Umgebung war ein himmelweiter Unterschied zu der Sozialsiedlung in Manchester, wo er aufgewachsen war. Nach der Schule hatte er in der schmalen Gasse zwischen den Reihenhäusern aus rotem Backstein herumgebolzt, oder – er lächelte reumütig, als er an seinen lückenhaften Schulbesuch dachte – manchmal auch statt der Schule. Wie oft hatte er sich vor dem Unterricht gedrückt und lieber etwas mit den älteren Jungen aus der Siedlung unternommen, die mit sechzehn von der Schule abgegangen waren und eigentlich an Programmen für arbeitslose Jugendliche teilnehmen sollten. Doch sie hatten vor allem herumgehangen, widerlichen billigen Cider getrunken und den Mädchen nachgepfiffen, die zufällig an dem verwahrlosten Grasplatz vorbeikamen, auf dem sie sich trafen.
Wenn Tommo ihn jetzt sehen könnte! Jake schob sich mit einer Pobacke auf den Küchentresen hinauf und schaute sich im Raum um: ein Aga – in Landhäusern ein Muss! –, ein massiver Stahlblock, der die Küche im Sommer unerträglich aufheizte, dabei aber total unzuverlässig war, wenn es ums Kochen ging; zwei schimmernde weiße Keramikspülbecken mit Armaturen in satiniertem Chrom; eine Kücheninsel, in deren Regalen geschmackvolles weißes Porzellan gestapelt war. Diana, seine neueste Exfreundin, hatte Monate damit verbracht, diesen Raum nach ihrem Geschmack einzurichten. Das war Jake entgegengekommen, denn er hatte eigentlich keine Meinung dazu, welche Fliesen sie als Spritzschutz verwenden oder ob sie sich für feine oder eher für rustikale Gläser entscheiden sollten. Er war mit allem einverstanden gewesen, denn nach seinem Abschied vom Fußball hatte er immer noch unter Schock gestanden.
Viele Spieler betrachteten ihre Karriere als Pyramide: Sie fingen unten an, kletterten bis an die Spitze hoch und stiegen dann in unbedeutenderen Mannschaften wieder ab. Dabei ging es ihnen nicht um Geld oder Ruhm, sondern einzig und allein um die Möglichkeit, weiter ihrer geliebten Tätigkeit nachzugehen. Jakes Verletzung jedoch hatte alldem ein Ende bereitet. Zerstreut rieb er sich das Schienbein. Der tragische Unfall in einem Spiel gegen Manchester United hatte Schlagzeilen gemacht – der grässliche Moment, als zwei Spieler gleichzeitig grätschten und gegen ihn prallten, war für das Internet ein gefundenes Fressen gewesen. Für Jake jedoch hatte er das Aus bedeutet. Nachdem die monatelange physiotherapeutische Behandlung ergeben hatte, dass er nie wieder ganz oben spielen würde, hatte er sich entschieden, dem Fußball den Rücken zu kehren, seine Mannschaft einen anderen Verteidiger suchen zu lassen und würdevoll in den Ruhestand zu gehen.
»Ich hab jemand anders kennengelernt«, war eigentlich nicht eingeplant gewesen. Er hatte Diana geliebt, mehr oder weniger jedenfalls. Sie war hübsch und tüchtig, auch wenn er ihre eiserne Entschlossenheit etwas befremdlich fand. Sie war die perfekte Spielerfrau – mit seidigem blondem Haar, groß, langbeinig und immer tadellos angezogen. Eine Frau, bei deren Anblick Jack als Zwölfjähriger Stielaugen bekommen hätte.
»Jemand anders – wo?«
»Ist das wichtig?« Sie steckte sich eine Kirsche in den Mund und lächelte betörend, was Jake nervös machte.
»Vermutlich nicht.« Er zuckte die Achseln. »Ich hatte nur – ich hatte gedacht, wir wären ein Paar?«
»Waren wir ja auch«, sagte sie bedauernd. »Aber ich hab Adam kennengelernt, und …«
Adam Leyland war der Kapitän einer anderen Premier League-Mannschaft, hochgewachsen, mit kurz geschorenem schwarzem Haar und einer etwas bedrohlichen Ausstrahlung. Er hatte häufiger die rote Karte kassiert, als sein Manager zählen wollte, und Jake und er konnten sich nicht ausstehen. Eines Abends war Adam bei einem Sponsorendinner geradewegs auf Diana zugesteuert und hatte recht deutlich zu verstehen gegeben, dass er sie ins Visier genommen hatte. Sie hatte die Naive gespielt und Ahnungslosigkeit vorgetäuscht, doch Jake war aufgefallen, dass sie seitdem ihr Smartphone immer gut im Auge behielt und dass ihre Mädelsabende sich verdoppelt hatten. Dann passierte der Unfall, und als man ihn in aller Eile in die Chirurgie transportiert hatte, war sie nirgends zu sehen gewesen. Während er fortgerollt wurde, kalkweiß vor Schmerzen und nach einer Dosis Lachgas schon halb weggetreten, hatte Max, sein Agent, ihm noch versprochen, dass er Diana sofort kontaktieren würde.
»Tut mir leid«, hatte Max dann später gesagt und war sich mit der Hand durch das gegelte hellblonde Haar gefahren, »ich habe es überall probiert und sie nicht erreicht. Dann habe ich Charlotte angerufen. Sie glaubt, dass Diana irgendwo ein Schweigewochenende mitmacht.«
Jake war von der Narkose immer noch schlecht gewesen. Er hatte die Augen geschlossen und sich erneut der Bewusstlosigkeit überlassen.
Man hätte meinen sollen, dass es vollauf genug gewesen wäre, den Abschied von seinem Beruf zu bewältigen, zusätzlich zu den Geschichten aus der Vergangenheit, die stets am Rand lauerten und nur darauf warteten, aufzutauchen und alles zu verderben. Aber nein. Am nächsten Tag war Diana dann in die Privatklinik am Rand von Oxford gekommen, in sein Krankenzimmer, das ein Fünf-Sterne-Hotel beschämt hätte. Sie war niedlich errötet, hatte einen Blumenstrauß auf ein Tischchen gelegt und an dem Band, das die Blumen zusammenhielt, herumgenestelt. Schließlich hatte sie sich ihm zugewandt.
»Tut mir leid, Schatz, ich war –«
Und in diesem Augenblick wusste Jake Bescheid. »… mit Adam Leyland zusammen?«
»Auf einem Achtsamkeits-Wochenende«, beendete sie den Satz kleinlaut. Sie schob sich eine Haarsträhne hinters Ohr, was ihn daran erinnerte, wie sie sich kennengelernt hatten.
Fragend sah Jake sie an. Er saß mit einem Stapel Kissen im Rücken im Bett, sein operiertes Bein hochgelagert, und er fühlte sich aufgequollen und unwohl. Er sehnte sich nach einem Workout, um den Kopf freizukriegen, aber das stand natürlich gar nicht zur Debatte.
Und dann hatte Diana alles herausgesprudelt. Sie war ein eher schlichtes Gemüt. Jakes Freund Gerry, der in der Stadt arbeitete und einen Verstand wie ein schlaues, berechnendes Frettchen hatte, hätte gesagt: »Hübsch, aber nicht sehr helle.« Für Diana war es daher vollkommen logisch: Sie hatte einen anderen kennengelernt, und jetzt war der richtige Zeitpunkt, um die Sache durchzuziehen, auch wenn Jakes Leben gerade auf den Kopf gestellt worden war.
Und so saß er jetzt hier und sah sich in der Küche um, die nach Dianas Vorgaben renoviert worden war. Er überlegte, ob er vielleicht alles rausreißen und von vorn anfangen sollte. Nicht, dass er es sich nicht hätte leisten können; mit Sponsorenverträgen und aufregenden Abendeinladungen war es zwar vorbei, aber er hatte immer noch genug Geld auf der Bank, von den klug gewählten Kapitalanlagen ganz zu schweigen, sodass er keine Sorge haben musste, jemals wieder pleite zu sein. Es war eine eigentümliche Gewissheit, und trotzdem blieb die nagende Angst, dass etwas schiefgehen könnte. Jedes Mal, wenn er seine Kreditkarte zückte, um etwas zu bezahlen, stiegen Erinnerungen an seine Kindheit und Jugend auf. Ein quälendes Gefühl tief in seinem Inneren warnte ihn, dass dieser ganze Luxus vergänglich war und dass er eines Tages wieder in Manchester landen könnte, in dem winzigen Kabuff, in dem alles angefangen hatte.
Fußball war ein launischer Sport, und Jake hatte genug davon. Jetzt, nach achtzehn Monaten, war er so weit genesen, dass ein normaler Mann sich an seiner Stelle für topfit gehalten hätte – aber als Ex-Profifußballer ärgerte er sich dauernd darüber, was er alles nicht mehr konnte, statt mit dem zufrieden zu sein, was ihm wieder möglich war. Und wo er gerade daran dachte – Jake sah auf die Uhr – es war Zeit zum Joggen.
Er zog seine Laufschuhe an und trabte die lange, von Bäumen gesäumte Auffahrt entlang. Ein stabiler hölzerner Weidezaun hatte das rostende Eisen ersetzt, das er beim Kauf des Hauses vor drei Jahren vorgefunden hatte, und dahinter graste jetzt eine Schafherde. Sie gehörte Jack, dem Farmer, der die zwanzig Hektar, die zum Herrenhaus gehörten, gepachtet hatte. Früher hatte es auf dem Landgut Stallungen gegeben, einen Milchviehbetrieb und eine Reihe von Landarbeiterhäuschen für die Angestellten. In den Nachkriegsjahren war das alles verschwunden, doch die Bewohner von Little Maudley, dem nächsten Dorf, bezeichneten Greenhowes immer noch als das »Herrenhaus«.
Während des Zweiten Weltkriegs war das Gebäude requiriert und als Lazarett verwendet worden. Die Besitzer hatten gern mit angepackt und ihren Beitrag geleistet, um Männern zu helfen, die an Leib und Seele so gebrochen waren, dass Jakes doppelter Bruch und die zahllosen Nägel in seinem Bein dagegen wie ein Sonntagsspaziergang wirkten. Nach dem Krieg jedoch war die Besitzerfamilie irgendwann unter Erbschaftssteuern und horrenden Instandhaltungskosten in die Knie gegangen. Als der Erbe des Anwesens schließlich ein neues Dach bezahlen sollte, das ihn bankrott gemacht hätte, war er einfach weggezogen und hatte Insolvenz angemeldet. Danach hatte das Haus fast zehn Jahre lang leer gestanden.
Etwas an dem verfallenen, ungeliebten Herrenhaus hatte Jake angesprochen. Man hatte ihm geraten, in Immobilien zu investieren – und sein letzter Vertrag hatte ihm pro Tag mehr Geld eingebracht, als irgendjemand aus seiner Familie jemals in einem ganzen Jahr verdient hatte. Selbst wenn er gewusst hätte, wo seine Mutter sich aufhielt, wäre es jetzt zu spät gewesen, um sie zu unterstützen. Ihr war, so schien es, nicht zu helfen. Aber seiner Tante Jane hatte er eine Villa in Spanien eingerichtet. Dort lebte sie jetzt recht zufrieden mit Shaun, ihrem zweiten Mann, und einer bunten Mischung schlanker Ungarischer Vorstehhunde, die am Pool herumlagen und freundlich mit den Schwänzen wedelten. Es fehlte ihr an nichts, und Jake fand, das war das Mindeste, was er für sie tun konnte, nachdem sie jahrelang im Zweitjob als Putzfrau gearbeitet hatte, um seine Fußballschuhe und seine Gaming-Abos bezahlen zu können.
Seine Kusine Lisa lebte in einem teuren Einfamilienhaus auf einem Landgut in Cheshire und ahmte den Lifestyle einer Spielerfrau nach. Sie war in The Real Housewives of Cheshire aufgetreten und führte eine exklusive Beautyklinik, wobei jedes seidenglatte, schön kolorierte Haar an seinem Platz saß. Ihre Stirn, überlegte Jake mit einem Lächeln, war jetzt ebenfalls seidenglatt, denn eine Krankenschwester, die neu in der Klinik war, hatte Lisa eine Überdosis Botox verabreicht. Vor ein paar Tagen hatten sie über FaceTime miteinander gesprochen. Er hatte über ihr maskenhaftes Gesicht Tränen gelacht und fünf Minuten gebraucht, um sich wieder zu beruhigen.
Am Ende der Einfahrt bog Jake links ab und lief den Hügel hinauf zum anderen Ende des Dorfes. Es war Hochsommer, der Zeitpunkt im Juli, wenn die Blätter sich noch nicht färben und an den Spitzen einrollen, und das Sonnenlicht war hell und klar. Seit Jake nicht mehr Fußball spielte, hatte er Zeit, Dinge wahrzunehmen, die ihm früher nicht aufgefallen waren, und das kostete er jetzt nach Herzenslust aus.
Er hatte sich vor drei Jahren in den Charakter des alten Hauses verliebt und die Handwerker, die er mit der Renovierung beauftragte, dementsprechend ausgesucht. Er wollte weder die billigste noch die schnellste Firma, sondern Menschen, welche die Grundsubstanz des alten Gebäudes erkannten und es in seiner früheren Pracht wiederherstellen wollten. Und so geschah es, Stück für Stück: Uralte hölzerne Geländer wurden liebevoll poliert, bis sie wieder matt schimmerten, und die Holzumrandungen der offenen Kamine und die gefliesten Simse glänzten, wenn im Winter die Holzscheite auf dem Feuerrost knisterten. Mittlerweile war er fast am Ziel – er hatte die ideale Kombination aus der Gemütlichkeit eines alten Hauses und allen modernen Annehmlichkeiten geschaffen.
Bis zu jenem Abend war sein Leben nahezu perfekt gewesen. Doch dann hatte er sich das Bein gebrochen und seinen Job verloren, seinen Vertrag verloren, seine Freundin verloren. Und jetzt lebte er hier allein mit seinen Hunden in einem schuldenfreien Haus, das Platz genug für eine zehnköpfige Familie bot. Oder jedenfalls hatte er allein gelebt, bis –
Wie auf Bestellung meldete sich sein Handy.
»Wo bist du?«
Aus seinen AirPods ertönte Sarahs Stimme. Jake lief in gleichmäßigem Tempo weiter den Hügel hinauf zum Dorf. Diesmal würde er sich nicht stören lassen.
»Ich jogge gerade.«
»Ich hab ein bisschen – Stress.«
Jake stieß die Luft aus und bemühte sich, sein Tempo durchzuhalten. Doch er spürte bereits, wie sein Verantwortungsgefühl ihn nach Hause zurückzog, und gleich darauf blieb er stehen. Frustriert reckte er die geballten Fäuste gen Himmel, dann machte er auf dem Absatz kehrt.
»Bin in fünf Minuten zurück.«
»Danke.« Es war nur ein Flüstern.
Es kam nicht oft vor, dass Hannah eine ganze Nacht allein in einem Hotelzimmer durchschlafen konnte – oder eigentlich, überlegte sie, als sie im Hotelrestaurant saß und über die Terrasse auf die weidenden Kühe blickte, konnte sie sich nicht erinnern, dass es überhaupt jemals passiert war. Phil und sie waren seit ihrer Teenagerzeit zusammen, und dann war Ben gekommen. Ihre Mutter hatte ihr, obwohl die Beziehung zwischen ihnen sehr eng gewesen war, die Kinderbetreuung nur selten abgenommen, denn sie war mit ihrer Arbeit und ihrem ganzen Leben voll ausgelastet gewesen. Daher hatten Phil, Ben und sie selbst meistens als ziemlich eingeschworenes Dreiergrüppchen agiert.
Folglich hatte Hannah es genossen, in der vergangenen Nacht in dem riesigen Doppelbett zu liegen, alle viere von sich zu strecken und heute Morgen erst um halb neun aufzuwachen, ohne sich Gedanken über Bens Fahrt zur Schule, sein Sportzeug oder sein Geld fürs Mittagessen zu machen. Sie hatte nicht mal Kopfweh, was ein Wunder war, wenn man bedachte, wie viel Wein Beth und sie gestern konsumiert hatten.
Wir sehen uns im Laden, wann immer es dir passt.
Beths Nachricht wartete bereits auf ihrem Handy. Hannah war etwas unbehaglich zumute. Es war unmöglich, da wieder rauszukommen, ohne ihre Kusine zu kränken. Schon beim Aufwachen hatte sie einfach gewusst, dass ihr Gespräch gestern Abend zu diesen albernen »wenn das Wörtchen wenn nicht wär«-Spekulationen gehörte, bei denen man schon im Vorhinein weiß, dass sie zu nichts führen werden. Hannah hatte ihr Zuhause in Salford, und Ben ging dort zur Schule. Phil würde einen Umzug gar nicht erst in Erwägung ziehen, keine Sekunde lang. Sie konnte unmöglich erwarten, dass ihre kleine Familie sich einer Laune von ihr fügte, ganz egal, wie toll es wäre, in einem Bilderbuchdörfchen zu leben und einen kleinen Laden zu führen.
Doch während Hannah jetzt ein üppiges Frühstück mit Speck und Eiern verzehrte, ließen die Gedanken an diese Möglichkeit sie nicht los. Sie hatte in den fünfzehn Familienjahren nie um etwas gebeten. Sie war flexibel und anspruchslos gewesen, hatte sich um die Umzüge und alles andere gekümmert und war bewundernswert gut mit allem klargekommen, was das Leben von ihnen verlangt hatte. Vielleicht war jetzt ihre Zeit gekommen? Ben war fünfzehn und wurde erwachsen. Vielleicht sollte sie sich den Laden einfach mal ansehen und ein bisschen herumfantasieren, wie es wäre, ein anderes Leben zu leben? Das konnte doch nicht schaden, oder?
Hannah checkte aus und fuhr über die A40 nach Westen. Die ganze Gegend stand in starkem Kontrast zu den eintönigen Straßenzügen aus den 1930er Jahren in Salford, wo sie jetzt lebte. Auf den Feldern tuckerten Traktoren, und die hügelige Landschaft war so idyllisch – als wäre sie einem Gedicht entsprungen. Hannah folgte den Anweisungen ihres Navis, und bald bog sie auf eine kurvenreiche Landstraße ab, die nach Little Maudley führte. Die Straße überquerte einen Fluss, und Hannah fuhr über die Brücke und einen Hügel hinauf und wieder in ein Tal hinunter. Dann wartete sie vor einer weiteren schönen Steinbrücke, bis von der anderen Seite her der hundertachtzigste Traktor herübergerumpelt war. Der Farmer winkte ihr ein Dankeschön zu. Das Leben in der Vorstadt von Manchester war hier himmelweit entfernt.
Und dann fuhr Hannah an dem Schild vorbei, das »vorsichtige Autofahrer« in Little Maudley willkommen hieß. Unwillkürlich trat sie auf die Bremse. Ein Mann, der zwei zottige Red Setter ausführte, lächelte ihr wissend zu, und sie gab wieder Gas. Rechts und links säumten hübsche honigfarbene Reihenhäuser die Straße. Ein diskret in eine Fensterscheibe eingeätzter Hinweis besagte, dass dort hinter dem getönten Glas eine Kosmetikerin arbeitete. Alles war unglaublich geschmackvoll und so sauber, dass es Hannah vorkam, als würde ihr etwas schmuddeliger Ford Focus das gepflegte Straßenbild stören. Sie fuhr das schmale Sträßchen hinauf bis zur Hauptstraße. Hier tauchten zwischen weiteren Reihenhäusern ab und zu weiße, strohgedeckte Cottages auf. Und da stand ein Wegweiser, an dem ein Pflanzkorb mit Geranien hing. Der Pfeil deutete in Richtung Laden und Postamt hin.
Auf der anderen Seite der Hügelkuppe, hinter einer mit bunten Fähnchengirlanden dekorierten Mauer, erhob sich eine majestätische, aus hellem Stein erbaute Dorfkirche. Auch in den Bäumen hingen Fähnchen. Anscheinend sollte hier ein Dorffest stattfinden. Bei dieser Vorstellung wurde Hannah ganz kribbelig vor Aufregung, sodass sie über sich selbst lachen musste. Falls sie hierherziehen sollten, könnte sie bald zu den Frauen gehören, die sich im Women’s Institute engagierten, Marmelade für Wohltätigkeitsbasare kochten und grüne Gummistiefel besaßen. Sie stellte sich schon Bens spöttische Miene vor.
Und da, auf der Dorfwiese, leuchtete ihr das berühmte rote Telefonhäuschen entgegen. Es war voller Bücher und ebenfalls mit Girlanden geschmückt. Hannah hielt am Rand der Wiese und ließ das Wagenfenster herunter. Fasziniert las sie das Schild außen an der Tür des Telefonhäuschens. Es ermahnte die Dorfbewohner, bitte keine Bücher in die Regale zu stellen, ohne vorher eine Erlaubnis einzuholen.
Gegenüber von der kleinen Bücherei stand ein weißes, strohgedecktes Cottage. Mit seinen vor Blüten überquellenden Blumenkästen an den Fenstern sah es unglaublich malerisch aus. Hannah fiel auf, dass sämtliche Türen und sonstige Holzarbeiten an den Häusern in der gleichen Farbe gestrichen waren. Sie fuhr weiter, bog nach links ab und bekam richtig Herzklopfen, als sie das Schild des Dorfladens sah.
Sie parkte vor dem Geschäft und sah aus dem Wagenfenster. Soeben lud ein Mann Postsäcke hinten in ein Postauto. Es war, als wäre sie in eine Folge von Postbote Pat hineingeraten; fast rechnete sie damit, dass seine schwarzweiße Katze Jess auftauchen und sich an ihre Waden schmiegen würde, sobald sie den Laden betrat. Stattdessen jedoch kam Beth herausgestürzt. Sie war ungeschminkt und strahlte über das ganze Gesicht. Hier trug sie wieder ihr übliches Outfit, das aus einer weiten Hemdbluse und Jeans bestand. Das Haar hatte sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Sie wischte sich die Hände an einer schwarzen Schürze ab, auf die in moderner, stilvoller Schrift »Das Alte Postamt« gestickt war.
»Super, du hast es wirklich geschafft!«, rief sie Hannah entgegen. »Ehrlich, ich hatte schon befürchtet, dass es bloß eine Eintagsfliege war – was man eben so redet, wenn man einen kleinen Schwips hat, und am nächsten Morgen bereut man es dann.«
Hannah schüttelte den Kopf. »Nein, du siehst ja, dass ich tatsächlich hier bin.« Eine merkwürdige Bangigkeit überfiel sie. Dieses kleine Geschäft war noch hübscher, als sie es in Erinnerung hatte, und das Dorf war fast zu schön, um wahr zu sein.
»Dann komm, ich zeig dir alles.«
Der Laden war tadellos in Schuss. Unter einer hübschen, mit Kreide beschriebenen Tafel standen frisches Brot und frische Eier aus der Region, und die Regale beherbergten nicht nur hochpreisige Delikatessen, sondern auch Waschpulver, Baked Beans in Dosen und Kerzen. Neben den Sechserpacks mit weißen Tischkerzen für den Fall, dass der Strom ausfiel, stand eine Kollektion teurer, handgegossener Dosenkerzen aus Sojawachs und ätherischen Ölen.
»Die stellt Helen Bromsgrove hier aus dem Dorf her, das ist ihr neues Hobby. Eigentlich hat sie so was gar nicht nötig, aber sie ist unermüdlich. Es ist ein Fundraising-Projekt.«
An einer Pinnwand hingen schön geordnet Zettel und Ankündigungen für Events im Dorf sowie eine Erinnerung daran, dass das Treffen des Women’s Institute aufgrund unerwarteter Ereignisse in diesem Monat eine Woche später stattfinden musste.
Beim Frühstück hatte Hannah kurz in die Facebook-Gruppe von Little Maudley hineingeschaut. Es war klar, dass es allen hier ziemlich wichtig war, gute Mitglieder der Dorfgemeinschaft zu sein, paradox dabei allerdings war, wie viele spitze Bemerkungen zu übervollen Mülltonnen oder nicht perfekt gepflegten Gärten abgegeben wurden. Mehrere Namen waren immer wieder aufgetaucht, und wenn Hannah sich richtig erinnerte, war Helen Bromsgrove auch darunter gewesen. Die Frau stellte nicht nur Kerzen her, sondern schien sich in allen Bereichen des Dorflebens sehr zu engagieren.
Die Türglocke bimmelte, und eine schlanke, gut gekleidete Frau mit modischen Strähnchen trat ein. Sie sah von Beth zu Hannah hinüber und lächelte selbstbewusst. »Hallo«, sagte sie und griff nach einem der geflochtenen Weidenkörbe, die an der Ladentür gestapelt waren.
»Wenn man vom Teufel spricht«, sagte Beth ganz leise, und dann in normaler Lautstärke: »Ist ja witzig, Helen – wir haben gerade von Ihren Kerzen gesprochen.«
»Ach, wirklich?« Helen war sichtlich erfreut.
»Ja.« Hannah nahm eine Kerze in die Hand und atmete den Duft von Lavendel und Jasmin ein. »Sie sind wunderschön.«
»Finden Sie?«, sagte Helen sichtlich geschmeichelt.
»Die gehen weg wie heiße Semmeln«, sagte Beth, »oder wie heiße Kerzen«, fügte sie hinzu.
»Schön, schön.« Helen packte einen Karton mit Eiern und ein frisches Brot in ihren Einkaufskorb. »Das höre ich gern.« Sie wanderte durch den Laden, checkte ihre Liste und stellte den Korb dann auf die Theke. Hannah war reglos stehen geblieben und versuchte sich vorzustellen, wie ihr Leben hier aussehen könnte. Alles war so friedlich, überschaubar und schön. Draußen heulten keine Martinshörner, und der Verkehr, den sie durchs Fenster sah, bestand nur aus einem Traktor, der einen ratternden Anhänger voller Heuballen zog.
»Ich muss mit George über die nächste Gemeinderatsversammlung sprechen«, sagte Helen. Sie zog eine rot gepunktete Geldbörse von Cath Kidston aus der Handtasche und wartete, während Beth ihre Einkäufe in die Kasse eintippte. »Wir benutzen im Dorf immer noch viel zu viele Plastiktüten. Dauernd sehe ich, wie Leute mit solchen Tüten aus dem Laden kommen.«
»Aber ich habe auch viele Stoffbeutel verkauft.« Beth zeigte auf die verschiedenen Tragetaschen an der Wand hinter dem Tresen. Sie waren mit einem Bild vom Dorfladen und den Worten »Little Maudley liebt die Umwelt« bedruckt.
»Ja, ja, ich weiß. Aber die Leute geben sich einfach nicht genug Mühe.« Helen schnalzte missbilligend mit der Zunge. »Beth, Sie müssen versuchen, ein bisschen mehr Druck zu machen, sonst bekommen wir das Geld für die neue Küche im Dorfgemeinschaftshaus nie zusammen.« Helen warf Hannah einen Blick zu und streckte dann die Hand aus.
Hannah schüttelte sie. »Hallo, ich bin Hannah Reynolds, Beths Kusine.«
»Du meine Güte, Sie sehen sich aber überhaupt nicht ähnlich.« Staunend betrachtete Helen die beiden Frauen.
»Das stimmt«, sagte Beth.
»Wie schön, Sie kennenzulernen, Hannah. Vielleicht sehen wir uns mal wieder.«
Beth warf Hannah einen listigen Blick zu und gab ihr einen Stups. »Vielleicht eher, als Sie denken«, sagte sie, woraufhin Helen leicht die Stirn runzelte. »Aber das ist eine lange Geschichte.«
Beth wartete, bis die Ladentür zugefallen war, und prustete dann los. »Puh, Helen ist das perfekte Beispiel dafür, warum ich lieber heute als morgen aus diesem elenden Nest weg will.«
»Auf mich hat sie eigentlich recht nett gewirkt.« Hannah blickte Helen nach, die gerade die Dorfwiese überquerte und dann an dem Telefonhäuschen voller Bücher stehen blieb. Sie rückte das Schild an der Tür gerade und bewunderte ihre Tat mit verschränkten Armen. »Sie hat sehr viel … Gemeinschaftssinn.«
»So kann man es auch nennen. Sie ist ein echtes Alphatier.« Beth beugte sich über die Theke und stützte das Kinn in die Hände. »Sie hat das Herz auf dem rechten Fleck, aber sie gehört zu den Menschen, die einfach immer ihre Finger im Spiel haben müssen. Verstehst du, was ich meine?«
»Was hat es mit dieser Küche im Dorfgemeinschaftshaus auf sich?«
»Also, Ziel ist, mit den Stofftaschen und Helens Duftkerzen so viel Geld zu verdienen, dass wir die alte Küche rausreißen und eine neue einbauen können. Aber ich fürchte, das ist nicht zu schaffen. Wir kriegen zwar einen Zuschuss – alles, was wir bis zum Jahresende zusammenbekommen, wird noch mal obendrauf gelegt –, aber …« Beth bremste sich. »Keine Ahnung, warum ich dir das alles erzähle. Mit solchen Dingen werde ich dich wohl kaum überreden können, herzuziehen und hier zu leben, oder?«