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In den Highlands hat die Liebe eigene Spielregeln
Charlotte Fraser hat ihr Leben gern unter Kontrolle, aber als sie auf einer Reise den attraktiven Rob kennenlernt, wirft sie ihre Prinzipien für eine aufregende Nacht über Bord. Unwahrscheinlich, dass sie sich je wiedersehen …
Zuhause in Applemore konzentriert sie sich darauf, das idyllische Midsummer House zu erwerben, das sich schön in ihr Ferienhauskonzept einfügen würde. Frances, die exzentrische Eigentümerin scheint grundsätzlich zum Verkauf bereit, aber unter der Bedingung, dass Charlotte erst einmal drei Monate dort wohnen muss.
Zudem ist Frances die Tante von Rob, der gerade seinen Job losgeworden ist und sich durchaus vorstellen kann, Midsummer House für sich zu behalten. Er fährt nach Applemore und so stehen sich Charlotte und Rob unverhofft wieder gegenüber. Es beginnt ein zähes Ringen um das Haus, keiner von beiden will nachgeben. Zugleich aber ist die gegenseitige Anziehungskraft unübersehbar, und Rob fühlt sich unerwartet wohl in Applemore – vielleicht gibt es doch etwas anderes als das Leben in der Großstadt?Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 316
Rachael Lucas
Midsummer House
Das Erbe von Applemore
Aus dem Englischen von Sabine Schulte
Insel Verlag
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Die Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel Midsummer House.
eBook Insel Verlag Berlin 2024
Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des insel taschenbuchs 5062.
© der deutschsprachigen Ausgabe Insel VerlagAnton Kippenberg GmbH & Co. KG, Berlin, 2024Copyright © Rachael Lucas, 2022
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Umschlagabbildung: FinePic®, München
eISBN 978-3-458-78144-8
www.insel-verlag.de
Für Elise
Cover
Titel
Impressum
Widmung
Inhalt
Informationen zum Buch
Cover
Titel
Impressum
Widmung
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebtes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Dreizehntes Kapitel
Vierzehntes Kapitel
Fünfzehntes Kapitel
Sechzehntes Kapitel
Siebzehntes Kapitel
Achtzehntes Kapitel
Neunzehntes Kapitel
Zwanzigstes Kapitel
Einundzwanzigstes Kapitel
Zweiundzwanzigstes Kapitel
Dreiundzwanzigstes Kapitel
Vierundzwanzigstes Kapitel
Fünfundzwanzigstes Kapitel
Sechsundzwanzigstes Kapitel
Siebenundzwanzigstes Kapitel
Achtundzwanzigstes Kapitel
Neunundzwanzigstes Kapitel
Dreißigstes Kapitel
Epilog
Dank
Informationen zum Buch
Midsummer House
Charlotte Fraser – die sich noch nie im Leben vor irgendetwas gedrückt hatte – lehnte sich von außen an die schwere Tür des Old Officers' Club. Dass aus einer undichten Dachrinne Regenwasser auf das teure kleine Schwarze platschte, das sie erst am Vormittag gekauft hatte, oder dass ihre perfekte Fönfrisur ruiniert wurde, machte ihr nichts aus. Und dass sie ihren Mantel in der Garderobe hatte hängenlassen, war ihr auch egal. Eins allerdings wusste sie ganz sicher: Keine zehn Pferde würden sie in den Veranstaltungssaal zurückbringen, wo in diesem Moment der Besitzer der Happy Holstein Dairy Farm für seine Milchshakes aus dem Bauernhof-Automaten die Auszeichnung »Schottischer Tourismus-Innovator des Jahres« erhielt.
Nicht, dass Charlotte eine spezielle Abneigung gegen Kühe oder gegen Milchbauern gehabt hätte – sie war auf dem Land aufgewachsen, umgeben von beiden. Aber sie hatte bereits eine geschlagene Stunde lang Preisverleihungen über sich ergehen lassen und mit verkrampftem Lächeln an den richtigen Stellen geklatscht, wenn die Gewinner verkündet wurden. Und auch als Applemore Holiday Cottages, ihre florierende Ferienhausvermietung, in der Kategorie Ferienunterkünfte den zweiten Preis bekam, hatte sie ihre Gesichtszüge angemessen positioniert – sie war dankbar für die Nominierung, ganz so wie eine Oscar-Kandidatin. Während der Pause hatte sie dann mit verschiedenen Leuten Smalltalk gemacht und sich dabei im Saal umgesehen, wo alle in Grüppchen zusammenstanden, mit Gläsern in den Händen und steifen Wangen vom Dauerlächeln. Als es dann weiterging, hatte sie ihren labbrigen Gin Tonic mitsamt dem rasch schmelzenden Eis heruntergekippt und sich auf den Rückweg zu ihrem Platz gemacht.
Das Mikro auf der Bühne quietschte laut, als es wieder eingeschaltet wurde. Auf dem Bühnenhintergrund war bisher das typische Postkartenmotiv einer Highlandkuh im Heidekraut zu sehen gewesen, doch jetzt wechselte das Bild, und das exklusive Logo der Firma Barton Granger, welche die Veranstaltung sponserte, wurde gezeigt. Auf ihrem Weg an die Bar fiel Charlotte der Firmentisch auf – drei Männer in schicken Anzügen, die offenbar eine Pflichtübung absaßen. Sie nahmen viel Raum ein, denn sie hatten ihre Stühle zurückgeschoben und in einer behaglichen Demonstration männlicher Dominanz die Beine gespreizt. Während auf allen anderen Tischen jeweils zwei stinknormale Flaschen Tafelwein standen, einmal rot und einmal weiß, hatten diese Lackaffen drei Flaschen Champagner und ein kunstvolles Blumengesteck vor sich. Charlotte quetschte sich gerade hinter einem der Anzugträger durch, als dieser plötzlich aufstand und seinen Stuhl zurückstieß. Er prallte gegen ihr Knie, und sie schrie vor Schmerz auf.
»Tut mir leid, ich habe Sie nicht gesehen.« Der Übeltäter wandte sich um und blickte Charlotte über seine teuer bekleidete Schulter hinweg an. Sie stutzte, weil er völlig fehl am Platz wirkte – er war groß, und das etwas verstrubbelte dunkle Haar hing ihm in die sonnengebräunte Stirn. Sie bemühte sich, cool zu bleiben.
»Schon gut.« Ihre Stimme klang piepsig.
Ein Lächeln spielte um seine Mundwinkel, als er ihr in die Augen sah. Seine Augen waren tiefbraun und blitzten übermütig, als führe er etwas im Schilde. Charlotte bekam Herzklopfen. Sie senkte den Kopf, ging weiter und widerstand dem Drang, sich umzudrehen und zu überprüfen, ob er wirklich so gut aussah, wie es ihr vorgekommen war.
Sie kehrte an ihren Tisch zurück und setzte sich widerstrebend neben den rotgesichtigen Mann aus Aberdeen. Seine Fliege saß mittlerweile etwas schief, und sein Jackett spannte unter den Achseln.
»Ein Gläschen Rotwein, meine Dame?« Bei seinem anzüglichen Grinsen zeigte sich zwischen seinen Zähnen ein Stückchen von etwas Grünem, und sein Atem stank nach Knoblauch. Er hatte in der Pause offenbar bei den Canapés zugeschlagen. Er rückte mit seinem Stuhl so dicht an Charlotte heran, dass sein Schenkel gegen ihren stieß, woraufhin sie ihren Stuhl zur Seite schob, um ihm zu entkommen. Während er sich zu ihr beugte, um ihr Rotwein einzuschenken, schaffte er es jedoch, seinen Stuhl noch weiter in ihre Richtung zu bewegen, sodass Charlotte noch weiter zur Seite rutschen musste. Wenn das so weiterging, befürchtete sie, würde sie gleich bei ihrem Nachbarn zur Linken auf dem Schoß sitzen, bloß um dem Mann zur Rechten auszuweichen, was vermutlich eine Menge weiteren Ärger nach sich ziehen würde. Der Mann links von ihr wandte sich ihr bereits zu und wollte etwas sagen. In diesem Moment kam ihr die Erleuchtung: Mit dem Spruch Das Gute geschieht am Rand deiner Komfortzone war bestimmt nicht diese Situation hier gemeint. Nein, Lebe wild und gefährlich musste etwas anderes bedeuten.
»Vielen Dank, dass Sie heute Abend gekommen sind«, ertönte eine Stimme von der Bühne, gerade als ihr Fluchtinstinkt sich meldete. Wenn sie jetzt nicht abhaute, saß sie für den restlichen Abend in der Falle. Sie brauchte nur so zu tun, als habe sie einen dringenden Anruf erhalten. Charlotte holte ihr Handy aus der Handtasche und tippte mit gequältem Gesicht auf dem Display herum. Dann stieß sie hastig ihren Stuhl zurück und stand auf.
»Wo wollen Sie denn jetzt hin?« Der Rotgesichtige wirkte bestürzt.
»Ich muss telefonieren«, wisperte sie, bemüht, eine Miene aufzusetzen, die gleichzeitig Panik und die Bitte um Entschuldigung ausdrückte. Jetzt musste sie bloß noch auf die andere Seite des Saals gelangen. Hinter der riesigen Doppeltür winkte die Freiheit.
»'tschuldigung«, murmelte sie, während sie sich zwischen den Tischen durchdrängte und versuchte, das missbilligende Kopfgeschüttel zu ignorieren. »Tut mir leid«, sagte sie wieder und schwenkte dabei ihr Handy, als wäre es der Entlassungsschein aus einer Strafanstalt.
Ein Mann vom Sicherheitsdienst sah, wie sie sich zwischen den Tischen hindurchwand. Er nickte zur Flügeltür hin, trat diskret darauf zu und legte schon vorbereitend die Hand auf den Griff, um sie im letzten Moment zu öffnen und die Flüchtende hinauszuschieben. Hinter sich hörte Charlotte Gelächter, und ihre Wangen brannten, denn die Leute am Tisch neben ihr starrten sie an. Zwischen zwei Stühle eingeklemmt, blieb sie stehen.
»Mir scheint, ich brauche einen neuen Redenschreiber.«
Schon bevor sie sah, wer da oben auf der Bühne stand, wusste sie Bescheid – der Redner war niemand anders als der gutaussehende Anzugträger, der ihr seinen Stuhl gegen das Knie gerammt hatte. Seine dunklen Augen fixierten sie. Er hob eine Augenbraue, und sie sah ihn schmunzeln, bevor sie den Kopf senkte, sich zwischen den letzten beiden Tischen hindurchzwängte und durch die geöffnete Tür aus dem Saal schoss.
*
Als Charlotte am Morgen das kleine Dörfchen Applemore in den Highlands verlassen hatte, hatte sie keineswegs vorgehabt, so schnell und heimlich aus der festlichen Veranstaltung zu flüchten. Hätte sie diesen überstürzten Abgang geplant, dann hätte sie erstens daran gedacht, ihren Mantel mitzunehmen, und zweitens hätte sie sich schon in der Pause verdrückt und nicht erst, während der schönste Mann im Saal mit seiner Festrede begann.
Als die Nominierung für die Applemore Holiday Cottages eingetroffen war, hatte Charlotte sofort den Impuls gehabt, sich hinzusetzen und eine Liste der Dinge aufzustellen, die jetzt zu tun waren, denn mit einer Liste wusste man, woran man war. Doch gleich darauf befiel sie fast etwas wie Panik, denn was sollte sie anziehen? Es war ewig her, dass sie das Dorf oder seine unmittelbare Umgebung verlassen hatte, und sie besaß nichts weiter als ihre Alltagsgarderobe. Diese bestand aus Jeans, im Sommer abgeschnitten und mit Flip-Flops an den Füßen und im Winter lang und mit robusten Stiefeln, und dazu trug sie bequeme Hemden, im Sommer mit hochgekrempelten Ärmeln und im Winter mit langen Ärmeln plus Steppweste.
»Also, bloß damit ich das richtig verstehe …«, hatte Fiona, ihre rechte Hand, später gesagt, als sie im Café des Hofladens von Gut Applemore saßen. Fiona hatte Charlotte nachdenklich betrachtet und die Hand auf einen Notizblock gelegt. »Also, wir haben hier eine allgemeine To-do-Liste, eine To-do-Liste, falls etwas schiefgeht, und eine Liste für den Fall, dass mir die beiden ersten Listen nicht weiterhelfen. Und außerdem noch eine Liste mit Leuten, die ich kontaktieren kann, wenn irgendwas kaputtgeht.«
Fiona brach ein Stück von ihrem Croissant ab, blickte es einen Moment lang hingerissen an und steckte es dann in den Mund. Blättrige Stückchen fielen auf ihren Pullover, und Charlotte juckte es in den Fingern, sie fortzuwischen. Fiona dagegen hatte nichts bemerkt und aß weiter.
»Was willst du damit sagen?« Charlotte reckte das Kinn.
»Ich weiß das doch alles. Du bist ein Kontrollfreak und sehr wahrscheinlich eine Psychopathin. Bei einem von diesen Tests im Internet kämst du auf ungefähr fünfundneunzig Prozent, wetten?« Fiona gab Zucker in ihren Kaffee, rührte um und leckte versonnen den Löffel ab. Sie fuhr sich durch ihr kurzes graues Haar, sodass ihre handgearbeiteten silbernen Ringe in den Strahlen der Frühlingssonne glänzten.
»Und du bist von diesen Tests im Internet besessen. An guter Organisation ist doch nichts verkehrt.« Charlotte beobachtete, wie ihre Schwester Beth mit einer Ladung Flechtkörbe in den Armen durch den Hofladen ging, um die Regale neu zu bestücken. Beth hatte die ganze Woche ihre jüngste Schwester Polly vertreten.
Jetzt lächelte sie Charlotte zu, bevor sie wieder in dem kleinen Lagerraum hinter dem Hofladen verschwand.
»Aber du bist nicht mehr gut organisiert, sondern schon zwanghaft pedantisch«, erwiderte Fiona.
»Findest du?«
»Allerdings. Mel hilft mir bei den Bettenwechseln, und wir haben alles im Griff.« Mel war Fionas Freundin, eine Künstlerin, die winzige Aquarelle von der schönen schottischen Landschaft malte. Wenn in der Hochsaison viel zu tun war, half sie häufig in den Cottages aus.
Charlotte warf einen Blick aus dem Fenster auf das Weideland, das sich in sanften Hügeln bis zum Kiefernwald hinunterzog. Sie hatte wirklich geschuftet – nicht nur am Schreibtisch die geschäftliche Seite ihres Unternehmens aufgebaut, sondern auch bei der Renovierung der alten Landarbeiterkaten die Ärmel hochgekrempelt und mit angepackt. Fiona war ihr perfektes Gegenstück. Sie blieb gelassen und entspannt, wo Charlotte dazu neigte, sich zu verkrampfen und in Einzelheiten zu verbeißen. Und auch jetzt fiel es ihr schwer, loszulassen und darauf zu vertrauen, dass Fiona und Mel die Sache schon wuppen würden. Sie hatte schon so lange nicht mehr richtig Urlaub gemacht, dass sie vergessen hatte, wie man abschaltet.
»Kürzlich hast du gesagt, du hättest beschlossen, neue Gelegenheiten beim Schopf zu packen und von jetzt an wild und gefährlich zu leben.« Fiona sah sie scharf an.
Charlotte seufzte resigniert. »Das hab ich nicht so gemeint. Ich hatte zwei Gläser Wein intus.«
Fiona kniff die Augen zusammen. »Ich weiß, du glaubst, ich hätte eine Vorliebe für kluge Sprüche und Lebensweisheiten, aber solche Sätze sind nun mal so beliebt, weil sie schlicht und einfach wahr sind.«
»Schön.« Charlotte lehnte sich stöhnend zurück und verschränkte die Arme. »Ich fahre nach Edinburgh, ich genieße die Zeit da, und ich höre auf, mich um jede winzige Kleinigkeit hier zu kümmern. Zufrieden?«
»Ja. Ich möchte, dass du mir was Interessantes erzählen kannst, wenn du nach Hause kommst.«
Charlotte verzog das Gesicht. »Kann ich dir nicht einfach ein paar von den berühmten Edinburgher Zuckerstangen mitbringen?«
»Klar, das natürlich auch. Und könntest du jetzt bitte verschwinden, damit ich weitermachen kann? Im Nether Glenton kriegen wir in einer halben Stunde Gäste, sie wollten früher anreisen.« Fiona leerte ihre Kaffeetasse.
Beth kehrte aus dem Lagerraum zurück, dieses Mal mit Kartons beladen. Sie setzte sie neben der Kasse auf dem Fußboden ab und wandte sich zwei älteren Leuten zu, um sie zu bedienen. Charlotte erkannte das Paar, sie wohnten nämlich in einem der Feriencottages, und winkte kurz. Der Mann wuchtete einen bis an den Rand gefüllten Einkaufskorb auf den Tresen und sah mit liebevollem Kopfschütteln seiner Frau nach, die offenbar noch etwas entdeckt hatte, das sie kaufen wollte. Das passierte im Hofladen häufig – Kundinnen kamen, weil sie etwas Bestimmtes suchten, und verließen den Laden dann mit einem ganzen Berg der guten regionalen Produkte, die hier angeboten wurden.
»Vielleicht sollte ich doch hierbleiben und dafür sorgen, dass die Gäste alles haben, was sie brau–«
Mit einem vielsagenden Blick brachte Fiona Charlotte zum Schweigen, und sie schloss mitten im Wort den Mund. Sie trank mit einem Schluck ihren Kaffee aus und griff dann über den Tisch nach ihrem Notizblock.
»Mir fällt gerade etwas ein, was ich noch auf die Liste –«
Mit einem Knurren hielt Fiona den Block fest und wedelte dann belustigt damit herum. »Wir haben hier alles unter Kontrolle, versprochen«, sagte sie. »Jetzt zisch endlich ab. Viel Spaß!«
»Ich weiß nicht, ob diese Preisverleihung wirklich ein Vergnügen sein wird.«
»Lass dich überraschen.« Fiona legte den Notizblock wieder auf den Tisch, gerade außerhalb von Charlottes Reichweite.
Mit gerunzelter Stirn ging Charlotte im Geiste die Liste der Dinge durch, die sie für die beiden Nächte in Edinburgh eingepackt hatte. »Na gut, wenn du das sagst.«
Anschließend hatten die beiden Frauen das Café verlassen und waren nach draußen zu Charlottes Land Rover gegangen, der abfahrbereit auf sie wartete. Es war ein frischer, sonniger Frühlingstag, und die Narzissen nickten im leichten Wind. Plötzlich hatte Charlotte Fiona die Hand auf den Arm gelegt und war stehen geblieben:
»Ich muss Beth noch Bescheid sagen, dass sie die Blumenkästen für mich bepflanzt.«
Fiona hatte ihr mit der Faust gedroht. »Hau ab! Und komm erst wieder, wenn du ein Abenteuer erlebt hast!«
Die schwere Tür, an der Charlotte lehnte, bewegte sich. Um nicht rücklings ins Foyer zu fallen, trat sie einen Schritt vor. Ein Strom von Regenwasser, der vom Vordach herabfloss, ergoss sich kalt über ihre Stirn und tropfte von ihrer Nasenspitze herunter. Sie wischte sich mit dem Handrücken das Gesicht ab. Bisher machte dieses Abenteuer jedenfalls nicht so richtig Spaß.
»Sie sind ja noch da«, sagte eine tiefe Stimme hinter ihr. Charlotte hätte sich nicht umdrehen müssen, um den Sprecher wiederzuerkennen. Ihr Bauch sagte ihr deutlich, wer es war. »Na ja«, er nickte in den Regen hinaus, »ich verstehe gut, dass Sie bei diesem Wetter lieber hier vor der Tür stehen wollten, als sich meine Rede anzuhören.«
Klar, von allen Menschen im Saal musste ausgerechnet er jetzt nach draußen kommen.
»Nehmen Sie es nicht persönlich«, begann sie, aber er hob die Hand und gebot ihr Schweigen.
Er schüttelte langsam den Kopf und sah sie mit seinen warmen dunklen Augen an. Gleich darauf wandte sie widerstrebend den Blick ab, doch sie spürte, dass es zwischen ihnen knisterte, und das brachte sie total aus der Fassung. Verlegen strich sie sich eine feuchte Haarsträhne hinters Ohr und senkte den Kopf.
»Ich nehme an, dass Sie für den Rest des Abends etwas Interessanteres vorhaben?«
Charlotte öffnete den Mund und schloss ihn wieder. »Ich –« Sie blickte auf. »Nein, eigentlich nicht. Ich muss bloß noch rauskriegen, wie ich wieder in mein Hotel komme.«
»Das könnte schwieriger werden, als Sie glauben. Sobald sie hier in Edinburgh nämlich mit den Straßenbauarbeiten fertig sind, fangen sie wieder von vorne an.«
Männer in leuchtend orangen Neonwesten stellten gerade Absperrkegel auf die Straße, und in der Ferne hörte man das Rumoren großer Maschinen.
Charlotte rieb sich die Arme.
»Sie frieren.«
»Alles gut«, log Charlotte. Es war März, und der Wind war noch beißend kalt. Die Straße schien jetzt komplett gesperrt zu sein – wie sollte sie da bloß an ein Taxi kommen? Und sie war schon jetzt klatschnass.
»Ich habe gehört, dass es in letzter Zeit immer schwieriger wird, ein Taxi zu finden«, sagte er, als könne er Gedanken lesen. Er zog sein Handy aus der Tasche und tippte eine kurze Nachricht, sah stirnrunzelnd aufs Display und hob dann wieder den Kopf. »Sorry, ich wollte nicht unhöflich sein. Ich habe bloß gerade ein Problem mit meinem Fahrer.«
Fahrer? Charlotte betrachtete ihn von der Seite. Das klang ja verdammt vornehm. Es war paradox – sie selbst war im Applemore House aufgewachsen, das wie ein Märchenschloss aussah, und alle hatten angenommen, dass ihre Familie steinreich war, aber in ihrer Kindheit hatten sie zu Hause nie Geld gehabt und im Winter immer gefroren. Dieser Mann jedoch wirkte, als wäre er mit allem aufgewachsen, was man sich nur wünschen konnte. Als es plötzlich donnerte, trat Charlotte reflexhaft einen Schritt zurück und stieß dabei gegen seinen Arm. Doch er schien das gar nicht zu bemerken, denn er tippte wieder konzentriert auf seinem Handy herum. Charlotte blickte die verregnete Straße entlang und überlegte, wie sie ohne Unterkühlung in ihr Hotel zurückkommen sollte. Ihr würde wohl nichts anderes übrig bleiben, als irgendwie zu Fuß bis ans andere Ende der Princes Street zu gelangen.
»Tut mir leid, dass ich Ihre Rede unterbrochen habe«, sagte Charlotte, wischte sich einen Regentropfen von der Nase und bereitete sich auf eine lange, nasse Wanderung vor. Aber immerhin könnte sie im Hotel heiß duschen und beim Zimmerservice etwas bestellen. Bei dieser Aussicht knurrte ihr leise der Magen.
»Keine Ursache. Wir gehen zu solchen Veranstaltungen und ziehen unser Ding als Sponsoren durch. Die meisten Zuhörer warten bloß darauf, dass die Preisverleihung und die Reden vorbei sind, damit sie sich kostenlos volllaufen lassen und Unmengen an Canapés verschlingen können.«
Charlotte lächelte. »Na, das kann man von mir jedenfalls nicht behaupten.«
Er lachte. »Nein, Sie haben es vorgezogen, hier unten vor der Tür im Regen zu stehen. Ich werde dem Team vom Veranstaltungsmanagement berichten, dass Sie dem Event nur einen Stern geben.«
Charlotte biss sich auf die Lippe und blickte zu ihm hoch. Er sah wirklich wahnsinnig gut aus, mit seiner Größe von fast eins neunzig, den breiten Schultern, dem dunklen Haar und dem von der Sonne gebräunten Gesicht – vermutlich noch vom letzten Skiurlaub oder von Winterferien in den Tropen.
Sein Handy klingelte. »Entschuldigen Sie«, sagte er. »Hallo, George. Was gibt's denn?«
Charlotte rieb sich wieder die Arme, um sich etwas aufzuwärmen. Wenn sie das nächste Mal in der Stadt auf Abenteuersuche ging, würde sie auf jeden Fall einen Regenmantel mitbringen.
»Okay. Nein, keine Sorge, ich lasse mir was einfallen. Ja, gut. Kein Stress.« Er sah auf seine klobige Uhr, die ein Vermögen gekostet haben musste. Dann blickte er die Straße entlang, wo in der Ferne warm und einladend die Lichter eines Lokals leuchteten. Er schien zu überlegen.
»Heute Abend geht verkehrstechnisch offenbar so einiges schief«, sagte er dann. »Mein Fahrer hat einen Platten, und ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber ich hab es satt, mir hier im Regen den Arsch abzufrieren. Also, wie wär's? Haben Sie Lust auf einen Drink?«
Die vernünftige, maßvolle Charlotte, die jedem Risiko aus dem Weg ging, wollte gerade sagen, nein, ich gehe einfach zu Fuß ins Hotel, doch dann erinnerte sie sich an Fionas Ermahnung, sie solle wild und gefährlich leben und ihre Komfortzone verlassen.
»Ich verspreche Ihnen, ich bin vollkommen solide. Ich meine –«, er machte eine Kopfbewegung in Richtung Veranstaltungsräume, »– wenn Sie wieder reingehen wollen, da sitzen zahllose Leute, die Auskunft über meinen Charakter geben können. Allerdings müssten Sie sich dann vielleicht noch mehr langweilige Reden anhören.«
Dieser Mann besaß ein unbekümmertes Selbstvertrauen – das Resultat von Geld, Privilegien und gutem Aussehen. Er wusste, dass sie nicht nein sagen würde. Charlotte hatte den Eindruck, dass er alles bekam, was er wollte. Sie schüttelte den Kopf. »Ist schon in Ordnung. Wenn ich mich zwischen einem wahnsinnigen Axtmörder und noch mehr von dieser Veranstaltung da drinnen entscheiden müsste, würde ich es mit dem Axtmörder versuchen.«
»Sie haben Glück, ich hab meine Axt heute zu Hause gelassen.« Er zog seinen Mantel aus. »Hier, nehmen Sie den, ich bestehe darauf.«
Er legte ihr den kurzen Mantel um die Schultern und hüllte sie so in seine Körperwärme und den holzigen Duft seines Aftershaves ein.
»Danke.«
»Gern. Ich würde ja sagen, wir könnten schnell rüberrennen, aber mit Ihren Absätzen könnte das problematisch werden.« Er ließ den Blick langsam über ihren Körper bis zu ihren Füßen hinunterwandern, sodass ihre Wangen ganz heiß wurden. Dann bot er ihr den Arm. »Nur zu Ihrer Beruhigung, da oben ist eine Überwachungskamera –« Er machte eine Geste zum Vordach hin, »und da drüben neben dem Laternenmast hängt auch noch eine. Falls Ihnen also irgendetwas Schreckliches zustoßen sollte, wird alles auf Video festgehalten.«
»Wie tröstlich«, sagte Charlotte trocken.
»Ich versichere Ihnen, ich habe eigentlich nicht die Angewohnheit, hübsche Frauen von nervtötend langweiligen Veranstaltungen wegzulocken«, sagte er, als sie die Straße überquerten.
Charlotte war dankbar für die Dunkelheit, denn sie spürte, wie sie schon wieder rot wurde. Sie hatte den Verdacht, dass ihr Begleiter mit seinem Aussehen und seiner Unbekümmertheit sehr wohl diese Angewohnheit hatte.
Er machte einen Schritt rückwärts und ließ ihren Ellbogen los, damit sie vor ihm das gut besuchte Lokal betreten konnte. »Und ich hätte mich längst vorstellen sollen – tut mir leid, ich bin Rob.«
Der Barkeeper nickte respektvoll, als er Robs teuren Anzug sah, und lächelte in Charlottes Richtung. Auch die anderen Gäste waren alle gut gekleidet. Nur sie selbst fand, dass sie wie eine ertrunkene Ratte aussah.
»Lottie«, sagte sie nach kurzem Überlegen.
»Lottie«, wiederholte Rob. »Hübscher Name. Da drüben am Fenster ist ein Tisch frei. Wenn Sie sich schon mal setzen wollen, ich sorge für etwas zu trinken.«
Charlotte war klar, dass sie ein wenig fehl am Platz wirkte, daher verkroch sie sich in die Ecke am beschlagenen Fenster und beobachtete, wie das Regenwasser an der Scheibe hinunterfloss, in schmalen Rinnsalen, zwischen denen nur das Licht einer Straßenlaterne und sonst nichts als samtschwarze Dunkelheit zu sehen war. Rob erschien mit einer Kellnerin, die eine Flasche Champagner, einen Sektkühler und zwei Gläser brachte.
»Überlassen Sie das mir«, raunte er der jungen Frau zu, als sie das Tablett auf dem Tisch absetzte.
»Als Sie sagten, etwas zu trinken …«, setzte Charlotte an, während er bereits mit beiden Daumen den Korken aus der Flasche schob.
»Warum denn nicht?« Er zuckte die Achseln und schenkte ihr ein. »Wird Ihnen wärmer?«
Charlotte nickte. Sie trug immer noch seinen Mantel und genoss das Gefühl, warm darin eingehüllt zu sein.
»Mein Fahrer wird noch eine Weile brauchen. Und während wir auf ihn warten, können Sie mir alles über sich erzählen.«
Die Kellnerin kehrte zurück und reichte Rob eine in schwarzes Leder gebundene Speisekarte. »Ich empfehle Ihnen die Tapas«, sagte sie.
Rob lächelte dankend, und sie senkte den Kopf und huschte fort in Richtung Bar.
Charlotte hatte seit dem Mittag nichts mehr gegessen, und sie spürte wieder, wie ihr Magen knurrte. Sie legte sich eine Hand auf den Bauch und versuchte, nicht an die kleinen Teller mit den köstlichen Vorspeisen zu denken.
»Sind Sie hungrig?«, fragte Rob. Er hatte ihre Bewegung sofort bemerkt.
»Nein, nein, alles gut«, sagte sie mit höflichem Kopfschütteln. Doch in diesem Moment trug ein Kellner ein Tablett mit Brot und Olivenöl vorbei, und der Duft war so köstlich, dass ihr Hunger über ihre übliche Zurückhaltung siegte. »Na ja, vielleicht doch, ein bisschen.«
»Ich hab jedenfalls einen Bärenhunger, und George braucht bestimmt noch eine Ewigkeit.« Rob warf nur einen kurzen Blick in die Speisekarte und bestellte dann bei der Kellnerin die empfohlenen Tapas. Er hatte eine Art, Menschen ganz direkt anzusehen und ihnen so das Gefühl zu geben, sie seien die wichtigsten Personen im Raum. Charlotte beobachtete, wie die Kellnerin eiligst zur Theke zurücklief und ihrer Kollegin etwas zuflüsterte. Kichernd drehten die beiden sich zu Rob um, und er hob amüsiert eine Augenbraue.
Einige Männer in dunklen Anzügen kamen herein und begrüßten Rob mit kurzem Nicken, bevor sie an die Bar traten. Dieses Lokal war himmelweit entfernt von dem gemütlichen, entspannten Restaurant zu Hause – hier bestand die Inneneinrichtung ganz aus blankem Marmor und Chrom, und die Spiegel hinter den Regalen schimmerten.
»Also.« Rob lehnte sich zurück, verschränkte die Hände hinter dem Kopf und musterte sie nachdenklich. »Lottie.«
»Rob.«
Sein Name auf ihren Lippen ließ ihr Herz schneller klopfen. Dieses eine Mal würde sie alle Vorsicht in den Wind schlagen und jemand anders sein – eine Frau, die auf der Straße einen gutaussehenden Mann kennenlernte und spontan einwilligte, mit ihm in ein Restaurant zu gehen.
»Gibt es einen … Mr Lottie?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Nein, nur mich.« Sie ließ ihr Sektglas auf dem Rand des Fußes balancieren, drehte es langsam und betrachtete es dabei. »Oder nein, da gibt's noch Nero. Einen Golden Retriever.«
»Wie schön.« Rob trank einen Schluck Champagner und sah ihr dabei weiter in die Augen, selbstbewusst und unverwandt.
»Und Sie?« Aber Charlotte wusste die Antwort schon, bevor sie die Frage stellte. Der Mann, der ihr gegenübersaß, war nicht der Typ, der sich niederließ und eine Familie gründete – es war eindeutig, dass er sich im Leben nahm, was er wollte, und sich dann auf die Suche nach seiner nächsten Beute machte.
Seine Augen blitzten vor Übermut. »Nein, ich bin allein. Keine Zeit für Beziehungen oder feste Bindungen, schließlich habe ich ein Reich zu verwalten.«
»Ein Reich?« Aus Versehen trank Charlotte einen viel zu großen Schluck, und ganz kurz hatte sie eine Vision, wie sie den Champagner über den blitzblanken Holzfußboden hustete.
Er lächelte ein wenig, und seine Gesichtszüge wurden weicher. »Nein, ich habe kein Reich. Ich arbeite im Finanzsektor. Das ist wahnsinnig viel Stress und Druck und keineswegs so aufregend, wie ich es mir mal vorgestellt hatte.«
»Sie haben gedacht, der Finanzsektor wäre aufregend?« Charlotte beugte sich zur Seite, denn in Rekordzeit erschien jetzt die superaufmerksame Kellnerin. Sie trug ein Tablett mit sechs Tapas-Tellerchen.
»Ja – das war nicht gerade mein klügster Schritt.« Er griff nach einer dreieckigen Scheibe Manchego. »Aber ein Vorteil ist, dass ich ab und zu spannende Preisverleihungen besuchen kann.«
»Wirklich?« Charlotte warf einen Blick auf die Tapas, aber erst trank sie noch einen Schluck. Weil sie lange nichts gegessen hatte, stieg ihr der Champagner schnell zu Kopf, aber sie fand das Gefühl angenehm. Dann spießte sie ein Miniwürstchen auf ein Cocktailstäbchen und musterte es. Als sie aufsah, begegnete sie Robs Blick, und er musste lachen.
Er beugte sich vor, füllte ihr Glas erneut und schenkte sich dann selbst nach. »Dieser Abend entwickelt sich viel interessanter, als ich erwartet hatte.« Sein Bein berührte ihres, und plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie im Mantel dieses Mannes in einem exklusiven Restaurant in Edinburgh saß.
»Also, Sie besuchen Preisverleihungen und sind Single, und was machen Sie sonst noch so?«
»Na ja, meine Axtmorde nehmen viel Zeit in Anspruch.«
»Sie sollten wirklich auf Ihren guten Ruf achten.« Charlotte steckte sich eine Olive in den Mund.
»Glauben Sie mir, ich bin schon dabei.« Er sah auf sein Handy und runzelte die Stirn. »Allerdings nur im Beruf, nicht im Privatleben.«
Charlotte warf ihm einen Blick zu. Wie er so mühelos die Kellnerinnen becircte und wie die weiblichen Gäste Stielaugen bekommen hatten, als er zur Bar gegangen war – offensichtlich konnte er Frauen um den kleinen Finger wickeln. Sie beugte sich vor und ließ seinen Mantel ein wenig verrutschen, sodass ihre bloße, mit Sommersprossen gesprenkelte Schulter zu sehen war. Als Lottie, entschied sie, konnte sie es sich leisten, eine völlig andere Person zu sein. Schließlich würde sie ihn ja nie wiedersehen. Sie entschuldigte sich und verschwand in die Damentoilette, wo sie ihr Haar ordnete, die verschmierte Wimperntusche abwischte und die Spuren von Regen und Wind so gut wie möglich tilgte. Ihre Wangen waren gerötet, und ihre Augen strahlten und funkelten – sie kannte sich selbst kaum wieder.
»Also, was hat Sie zu Ihrer Flucht veranlasst?«, fragte Rob, als sie sich wieder an den Tisch setzte.
»Aus der Preisverleihung?«
»Ich möchte gern glauben, dass es nicht meine furchtbar langweilige Rede war, schließlich hatte ich gerade erst angefangen, als Sie abgehauen sind.«
Charlotte sah ihn schelmisch an. »Ist mir schon klar, dass Sie das gern glauben möchten.«
»Sie haben den verdammt guten Witz nach der ersten Hälfte verpasst.« Rob schenkte ihr Champagner nach. Er hatte schlanke Finger, bemerkte Charlotte, als er die Flasche umfasste.
Sie trank einen Schluck und genoss das fröhliche Prickeln der Bläschen an der Zunge. Lottie zu sein machte Spaß.
»Vielleicht hätten Sie den Witz am Anfang erzählen sollen, um Ihr Publikum nicht zu vergraulen.«
»Aber Sie waren anscheinend die Einzige, die meine Rede öde fand.«
»Das glauben Sie vielleicht. So wie ich das sehe, hätte es leicht zu einem Massenexodus kommen können, nachdem ich verschwunden war.« Es machte ihr Spaß, ihn zu necken.
»Aber das ist nicht passiert.« Grinsend zeigte er seine schönen weißen Zähne.
»Hmm.«
Sich mit ihm zu unterhalten war erstaunlich leicht. Sie plauderten über das Leben in Edinburgh, über Musik, die sie gern hörten, über Orte, an denen sie gewesen waren oder die sie gern erkunden würden. Bevor sie sich's versahen, war die erste Flasche Champagner leer, und mit diskret erhobenem Zeigefinger signalisierte Rob der Kellnerin, sie möge bitte eine zweite bringen. Als sie mit der Flasche kam, bedankte er sich mit einem Lächeln. Charlotte beobachtete, wie er mit seinen ausdrucksvollen braunen Augen ihrem Blick begegnete. Die Kellnerin fühlte sich durch seine Aufmerksamkeit so geschmeichelt, dass sie verlegen den Kopf senkte. Dieser Mann fühlte sich mit sich selbst wohl.
Kurz darauf, wie es Charlotte schien, beugte Rob sich vor und strich ihr eine lange Haarsträhne hinters Ohr. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals.
»Eine schöne Farbe«, sagte er. »Sehr schottisch.«
»Erdbeerblond.«
Sie schüttelte den Kopf, sodass ihr weitere Strähnen über die Schulter fielen. Begehrt zu werden und begehrenswert zu sein war ein vollkommen ungewohntes Gefühl für sie. Wie gebannt beobachtete sie, dass sie die Hand auf dem Tisch spreizte, sodass ihre lackierten Nägel schimmerten. Diese Situation hier war so anders als ihr normales Leben, dass sie sich selbst nicht wiedererkannte. Sie hob ihr Glas und sah ihn an.
»Also, Rob ohne Nachnamen – danke für den schönen Abend.«
Er stieß mit ihr an und schaute ihr dabei ruhig in die Augen. Sie fühlte sich wie verzaubert.
»Also, Lottie, ebenfalls ohne Nachnamen, bitte schön, sehr gerne.«
*
Eine Stunde später war die zweite Flasche Champagner fast leer – ebenso wie die Tische ringsherum. Rob sah zu den Kellnerinnen an der Theke hinüber, die sich beim Gläserpolieren unterhielten. Er bedachte eine von ihnen mit einem schiefen Lächeln, und sie wandte sich kichernd ab.
»Ich glaube, die Damen da drüben möchten nach Hause, was meinst du?«
Charlotte nickte widerstrebend.
»Wir könnten noch anderswo hingehen, wenn du möchtest, oder du könntest auch auf einen Absacker mit zu mir kommen …«
Unausgesprochenes hing zwischen ihnen in der Luft. Der Vernunftmensch Charlotte hätte es dort hängenlassen. Die Draufgängerin Lottie jedoch entschied sich, mitzuspielen.
»Meinst du?« Sie sah ihn herausfordernd an.
Rob warf einen Blick zur Theke hinüber, und schon war die Kellnerin da, und er unterschrieb die Rechnung.
»Dann komm, lass uns gehen.«
»Hast du nicht gesagt, du müsstest auf deinen Fahrer warten?« Charlotte erinnerte sich plötzlich, dass der Fahrer irgendwo im Regen einen Reifen wechselte.
»Auf George? Der ist draußen.« Rob hielt ihr die Tür auf. Vor dem Restaurant im Halteverbot stand eine große schwarze Limousine. Offenbar hatte dieser George sich irgendwie durch die Absperrung gemogelt.
Ein Mann mit Schlips stieg aus und öffnete ihr die Tür.
»'n Abend«, sagte er mit einem Nicken zu Rob hinüber.
Er lächelte Charlotte zu, und als sie auf den mit hellem Leder bezogenen Rücksitz glitt, hatte sie den Eindruck, dass sie nur ein weiterer Strich auf Robs vermutlich recht langer Liste war. Der Fahrer George brauchte nicht zu wissen – und Rob übrigens auch nicht –, dass dieser Abend sich so sehr von ihrem üblichen geregelten Alltag unterschied, als würde sie in eine Marsrakete steigen. Sie strich ihr kurzes Kleid über den Schenkeln glatt. Rob stieg auf der anderen Seite ein, rutschte neben sie und sah sie an.
»Oder sollen wir dich lieber zu deinem Hotel bringen?«
Mittlerweile suchte George sich bereits mit unergründlicher Miene einen Weg durch die Baustelle.
Charlotte schüttelte den Kopf. »Nein, ein Absacker wäre schön.«
»Ich weiß, wir haben bloß Witze darüber gemacht, aber ich möchte trotzdem einmal ganz deutlich sagen, dass ich kein Axtmörder bin«, sagte Rob. Dabei grinste er so frech, dass Charlotte innerlich ganz kribbelig wurde. Eine nie gekannte Erregung erfasste sie. Er griff nach ihrer Hand, drehte sie um und hob die Innenseite ihres Handgelenks an die Lippen. Es war eine ganz zarte Berührung, aber als seine Bartstoppeln über ihre weiche Haut strichen, durchzuckte sie heftiges Verlangen.
»Und du wirst morgen früh nicht voller Reue aufwachen?«
Sie sah ihn von der Seite an.
»Wer hat denn was von Schlafen gesagt?« Oje, wer war bloß diese Person, die so anzügliche Bemerkungen machte? Noch nie im Leben hatte sie etwas getan, was der normalen Charlotte so wenig entsprach. Aber schließlich würde sie ihn ja nie wiedersehen.
»Gut gekontert.«
Rob beugte sich vor, schloss die gläserne Trennscheibe und wandte sich dann zu Charlotte um. Sie ließ sich in seine Umarmung sinken.
Als Rob am nächsten Morgen aufwachte, sich umdrehte und den Arm ausstreckte, war da – nichts. Er riss die Augen auf. Im Licht des frühen Morgens brauchte er einen Moment, um etwas zu erkennen. Er richtete sich auf, legte den Kopf schräg und horchte. Kein Geräusch, er hörte weder die Dusche noch die Klospülung. Die Tür, die von seinem großen, perfekt eingerichteten Schlafzimmer ins Bad führte, stand weit offen. Er sprang aus dem Bett und blinzelte ins Badezimmer hinein, um sich zu vergewissern. Dann fuhr er sich durchs Haar und gähnte ausgiebig. Ein Blick in den Spiegel sagte ihm, dass eine Rasur nicht verkehrt wäre, denn die dunklen Bartstoppeln auf Kinn und Wangen waren auf der Grenze zwischen modisch und ungepflegt, und um neun Uhr hatte er eine Besprechung.
Auch unten fand er kein Zeichen von ihr – es war, als hätte Lottie sich in Luft aufgelöst. Ein ganz ungewohntes Bedauern stieg in ihm auf – nicht nur, weil er sich vor dem Frühstück eine Wiederholung der nächtlichen Aktivitäten gewünscht hätte. Normalerweise wäre er über diese Lösung des Problems erleichtert gewesen, aber er hatte diese Lottie gemocht, mehr, als er erwartet hatte. Rasch schrieb er George eine Nachricht und fragte, ob er sie nach Hause gebracht hatte.
Bin schon auf dem Rückweg, war die Antwort. Soll ich Frühstück mitbringen?
Gern, bitte das Übliche.
Rob duschte, rasierte sich, holte ein perfekt gebügeltes Hemd aus dem Ankleidezimmer und setzte sich in seiner riesigen Küche an die Frühstückstheke. Den Schlips hatte er sich umgehängt, aber noch nicht gebunden, als George mit einer braunen Tüte und zwei Bechern Kaffee erschien.
»Ist sie gut zurückgekommen?«
»Ja, hab sie vor dem Hotel abgesetzt.«
Rob packte einen Bacon & Egg-McMuffin aus und betrachtete ihn einen Augenblick. »Danke.«
»Gehört alles zum Service«, sagte George auf seine gewohnt ruhige Art. Er schlug die Zeitung auf, die auf der Theke lag, und blätterte zu den Sportseiten um.
»Ich meinte, danke für das Frühstück. Aber danke auch, dass du sie ins Hotel gebracht hast. Ausnahmsweise wünschte ich tatsächlich, sie wäre hiergeblieben.«
»Anscheinend wirst du auf deine alten Tage zum Softie.« George trank von seinem Kaffee. »Da solltest du aufpassen, sonst bist du ruck, zuck in festen Händen. Ich warte draußen, bis du fertig bist.«
»Bin schon fertig«, sagte Rob. »Dann will ich diesem Tag mal ins Auge sehen.«
Als er auf dem Rücksitz seines Wagens saß, während das anhaltende Brummen seines Handys eine Flut neuer Nachrichten ankündigte, erlaubte er sich einen Moment lang sein Bedauern darüber, dass er Lottie nicht nach ihrer Telefonnummer gefragt hatte. Es war klar, dass sie die unausgesprochene Abmachung genauso gut kannte wie er – es gab genügend hübsche Frauen in teuren Outfits, die bereit waren, sich für eine Nacht mit gutbetuchten Börsenhändlern in Maßanzügen einzulassen. Die Transaktion fand so gut wie immer nur auf der physischen Ebene statt, nicht auf der mentalen und schon gar nicht auf der emotionalen. Aber Lottie hatte ihm wirklich gefallen. Ihr trockener Humor war anziehend, genauso wie die Tatsache, dass sie etwas zu verbergen schien. Vielleicht hatte auch sie ihre Geheimnisse, so wie er selbst.