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Wenn der Wind sich dreht, wirst du die Freiheit finden, du selbst zu sein. In Island, der Insel der Winde, treffen sie am Walfjord aufeinander: die deutsche Touristin Swea, deren Ehe gerade auf der gemeinsamen Reise zerbrochen ist, der ehemalige Lehrer Einar Pálsson und der scheue Jón Árnarsson. In Einars Haus am Meer versucht Swea noch einmal ganz neu anzufangen. Früher hat sie Kunst studiert, wollte malen, Liebhaber sammeln und auch sonst in jeder Hinsicht frei sein. Aber kann man wirklich alles auf Null setzen? Auf der Suche nach Antworten entdeckt Swea das Leben und das Lieben neu und wagt es schließlich, ihre eigenen Geister zurückzulassen und dem Weg des Windes zu folgen.
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Das Wörterbuch des Windes
NINA BLAZON, geboren 1969, studierte Slawistik und Germanistik in Würzburg und lebt inzwischen in Stuttgart, wo sie als freie Journalistin, Autorin und Trainerin für kreatives und therapeutisches Schreiben arbeitet. Nina Blazon ist Autorin zahlreicher Jugendromane. Zu ihren großen Erfolgen zählen "Faunblut", "Totenbraut" und "Der Winter der schwarzen Rosen". Ihr Roman "Liebten wir" wurde von der Presse hymnisch besprochen.
In Island, der Insel der Winde, treffen sie am Walfjord aufeinander: die deutsche Touristin Swea, deren Ehe gerade auf der gemeinsamen Reise zerbrochen ist, der ehemalige Lehrer Einar Pálsson und der scheue Jón Árnarsson. In Einars Haus am Meer versucht Swea noch einmal ganz neu anzufangen. Früher hat sie Kunst studiert, wollte malen, Liebhaber sammeln und auch sonst in jeder Hinsicht frei sein. Aber kann man wirklich alles auf Null setzen? Auf der Suche nach Antworten entdeckt Swea das Leben und das Lieben neu und wagt es schließlich, ihre eigenen Geister zurückzulassen und dem Weg des Windes zu folgen.
Nina Blazon
Roman
Ullstein
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Originalausgabe im Ullstein Paperback1. Auflage Oktober 2020© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2020Umschlaggestaltung: Cornelia Niere, Büro für Gestaltung, München Titelabbildung: Landschaft: plainpicture / elektrons 08,Schiff: shutterstock / ShadowBirdAutorenfoto: © Holger StrehlowE-Book-Konvertierung powered by pepyrus.comAlle Rechte vorbehalten. ISBN 978-3-8437-2363-3
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Die Autorin / Das Buch
Titelseite
Impressum
Swea
Einar
Mein Leben im Rückspiegel
Work & Travel
Seiltänzer
Das Gewicht der Worte
Monsoon Point
Nach dem Regen
Fels in der Brandung
Frischer Wind
Heartbreak Beat
Bargeld
Breaking the frame
Brennivín
Manifest
Drei Farben
In fremden Schuhen
Hautwanderer
Elfennacht
Das Wörterbuch des Windes
Strandgut der Nacht
Fjallkonan rules
Neue Räume
Die Kleider fremder Leben
Blauwassersegeln
Tanzen lernen
Töchter und Väter
Doppelleben
Yrsas Geister
Lava und Eis
Tiefe Wasser
Nykur
Party time
Die Gespenster glücklicher Zeiten
Skallagrímsson
Maskenlos
Die Farbe des Windes
Fannar
Neuland
Grauzone
Alte Tänze
Breaking the frame
Manifest
Takk fyrir!
Social Media
Vorablesen.de
Cover
Titelseite
Inhalt
Swea
Es gehörte nicht zum Plan für unseren Hochzeitstag, Henrik auf einem isländischen Lavahügel zurückzulassen. Der Plan war, mit dieser Reise auf eine magische Insel den Neuanfang unserer Ehe zu besiegeln. Aber die Wahrheit ist: Nichts an diesem kahlen Land ist magisch. Und fünfzig Prozent meiner Ehe verschwinden gerade im Rückspiegel.
Henrik hat sich von den ersten Sekunden Fassungslosigkeit erholt und rennt dem Wagen hinterher. Obwohl seine offene Jeans an den Hüften rutscht, holt er schnell auf, während ich mit der Kupplung kämpfe. Sogar durch die geschlossenen Fenster höre ich ihn rufen, dass ich stehen bleiben soll. Im Seitenspiegel sehe ich sein empörtes Gesicht. Aufgerissener Mund mit weiß gebleichten Zähnen. Dieser aufgebrachte Henrik hat nichts mehr gemein mit den Zeitungsporträts, auf denen er seine sensibelste Künstlermiene zur Schau trägt, einen Zug von Weltschmerz um den Mund und dazu diesen intensiven Blick, den eine Journalistin einmal als Wolfsblick des Savants, des gnadenlos Wissenden umschrieben hat.
Tja, aber ein ›gnadenlos Wissender‹ wüsste, wann man sein Smartphone besser ausschaltet, denke ich. Vulkanschotter spritzt, als ich endlich den zweiten Gang finde und das Gaspedal durchtrete. Der Mietwagen röhrt in dem Moment auf, als Henrik versucht, die Fahrertür aufzureißen. Er springt zurück und reißt den Arm vor das Gesicht. Für einen Moment erschrecke ich vor mir selbst. Was mache ich hier? Doch als Henrik mit der flachen Hand hinten aufs Wagendach schlägt und mit zornrotem Kopf losbrüllt, erwacht in mir ein kleiner, beängstigend fremder Teil, der große Lust hätte, ihm gleich noch eine Schotterdusche zu verpassen. Stattdessen beschleunige ich nur, obwohl das Tempo für den steilen Pfad zwischen den Hügeln schon jetzt zu hoch ist. Noch bis zur Kurve am Fuß des nächsten Lavabuckels kann ich Henrik »Swea, verdammt!« brüllen hören. Und dazu einige Worte, die den Elfen in diesen Hügeln sicher zu denken geben werden. Ich bin also eine »eifersüchtige Irre« und »total krank im Kopf«?
In der Kurve kommt der Toyota ins Schlingern. Als ich ihn nach einer Ewigkeit wieder auf Kurs habe, zittere ich, während ich das Lenkrad umklammere. Das Beben setzt sich fort bis in den Rücken, die Beine. Ich muss die Zähne zusammenbeißen, um nicht loszuheulen.
Aber egal, wie krampfhaft ich schlucke, das Bild verschwindet nicht: das Foto einer apfelrunden Frauenbrust, mehr enthüllt als verborgen durch glattes, rotbraunes Haar und eine junge Hand mit metallicblau lackierten Nägeln. Am Daumen steckt ein Silberring in Form einer Schlange, und zwischen Mittel- und Zeigefinger drückt sich eine mädchenhaft rosige Brustwarze hervor.
Unter dem Sicherheitsgurt sticht es – dort, wo sich der Häkchenverschluss meines offenen BHs unter der Bluse in eine Rippe drückt. Ich glaube, Henriks Hand wieder auf der Haut zu spüren, seine Zunge an meinen Lippen und den Atemstoß seiner Worte. »Ach komm schon, Sexy! Niemand sieht uns hier. Und wie lange ist es her, dass wir mal im Auto gevögelt haben?« Die sachlich richtige Antwort würde lauten: Noch nie. Was auch für diese neue, aufgesetzte Art von Sextalk gilt. Aber für Henrik sind Erinnerungen und Fantasien oft nur fließende Konzepte. Wie unser Neuanfang offenbar auch.
Plötzlich schäme ich mich – dafür, diesem Kuss doch noch nachgegeben zu haben, und noch mehr dafür, dass ich Henrik überhaupt zugehört habe, nachdem er mir das Smartphone aus der Hand gerissen hatte. Pech für ihn, dass es in irgendeiner Kurve halb aus seiner Skizzenmappe gerutscht war. Über seine Schulter hinweg konnte ich es auf dem Rücksitz liegen sehen, während seine Hände unter meiner Bluse den BH aufhakten. Warum ist sein Handy in der Mappe? Das schoss mir durch den Kopf. Und hätte ich die Angewohnheit, beim Küssen die Augen zu schließen, das lautlose Leuchtsignal der Nachricht wäre mir entgangen. Aber so hatte ich freie Sicht auf fremde Brüste, während Henrik mich küsste.
Ich war so schnell von ihm runter, dass ich mit dem Knie schmerzhaft gegen die Kupplung stieß. Mit dem anderen Knie landete ich aus Versehen punktgenau in Henriks Schritt. Er keuchte überrascht auf und krümmte sich. Doch als ich sein Smartphone vom Rücksitz schnappte und es ihm vor die Nase hielt, fiel seine schmerzverzerrte Grimasse wie eine Maske. Was blieb, war nackte Ehe, so, wie wir sind – oder besser gesagt: wie wir nie sein wollten.
»Wer ist das, Henrik?«, brachte ich mit zitternder Stimme hervor. »Diese … neue Studentin, die im Atelier jobbt? Mia heißt sie doch?« Ich wünschte, ich hätte nicht so sehr wie die Parodie einer typischen Ehefrau aus einer Drama-Vorabendserie geklungen.
»Was?« Henrik nahm das Phone an sich. »Keine Ahnung, wer das ist. Herrgott, denkst du im Ernst, ich würde mit Mia …« Er schüttelte so verärgert den Kopf, als könnte diese Idee nur der Fantasie einer Wahnsinnigen entspringen. Die wäre dann wohl wieder mal ich.
»Das ist Arbeit, Swea! Ich sammle seit einem Jahr Originaltexte für meine Installation. Jeder meiner Mitarbeiter schickt mir gerade solches Zeug, wenn er es im Internet findet, das ist Fundus.«
Für einen Moment stellte ich mir vor, wie mein Abteilungsleiter Herr Schöttle seiner altehrwürdigen Gattin erklärt, dass die Nackte auf seinem Smartphone Fundus ist. Aber das ist das Verrückte an der Ehe mit einem Künstler: Manchmal bedeuten fremde, nackte Körper tatsächlich nichts. Sie können Material, Fragment und Projektionsfläche sein. Oder der Grund, warum ich vor einem Jahr meinen Ehering in einem Gulli in Hamburg-Altona versenkt habe.
Wie Gegner, die einander einschätzten, starrten wir einander nun an. Es war, als würden in unserem Schweigen alle Wahrheiten und Worte hallen, Sätze wie Wunden, die längst schon verheilt sein sollten. Zumindest hatte ich mir das eingeredet.
Henriks Augen haben immer noch dieses seltene, kristalline Blau, in dem ich mich vor achtzehn Jahren sofort verloren hatte. Die Farbe ist Teil seines Markenzeichens, sie schafft die Aura von Henriks hypnotischem, luzidem Blick, der früher zwischen rabenschwarz gefärbten Haarsträhnen hervorblitzte. Auf Porträts wirken starke Kontraste aggressiv, aber auch attraktiv, das war meine erste Lektion im Kunststudium gewesen. Doch erst als ich Henrik begegnete, verstand ich dieses Prinzip ganz. Inzwischen mischt sich in seinem Haar erstes Grau in zahmes Dunkelbraun. Und wenn Henrik sich unbeobachtet glaubt, erlischt sein Blick und wird wasserblass und hart. Ja, Henriks Leuchten verblasst, auch wenn er immer noch genug Sternenstaub aus dem Ärmel schütteln kann, um seine Gegner zu blenden.
»Du versteckst dein Smartphone also neuerdings in der Skizzenmappe, damit ich deine Arbeit nicht sehe?«, brach ich schließlich das Schweigen.
Henrik seufzte. »Meine Güte, ich wollte einfach nicht, dass du sauer bist, weil ich auch im Urlaub Arbeitsmails bekomme.« Er zog den linken Mundwinkel nach oben. »Tja, das hat ja toll funktioniert.«
Ich wünschte mir, ihm glauben zu können. Aber wir kennen uns lange genug, um zu wissen, dass die Wahrheit manchmal beschämend banal ist. Seit jeher gibt es ein ehernes Vertrauensgesetz zwischen uns. Niemals würde ich einen Blick in seine Mappe werfen. Unfertige Kunstwerke sind heilig und verletzlich. Das versteht niemand besser als ich.
Ein kurzes Aufleuchten am unteren Rand meines Blickwinkels gab mir einen kleinen heißen Stich. Noch eine Nachricht. Ich zwang mich dazu, nicht nach unten zu schauen, gab vor, nichts zu bemerken, wie ein Kind, das glaubt, etwas, das man nicht sieht, existiere nicht. Doch während Henrik meinem Blick standhielt, veränderte sich der Ausdruck seiner Augen. Ein Aufflackern von Angst. Und während er mir gewinnend zulächelte, drehte er beiläufig das Display nach unten. Mein Herz raste los, als hätte es einen Zeitsprung in die Vergangenheit gemacht. Und auch alles andere war wieder da: der Geschmack von Galle im Mund, das leere Stolpern zwischen Kehle und Bauch, als würde mein Herz in Erwartung des endlosen Falls schon jetzt den Takt verlieren.
»Swea, hör zu«, begann er mit dieser geduldigen Sanftheit, die mich noch jetzt zur Weißglut bringt. »Du verstehst das völlig falsch. Es gibt keinen Grund, wieder hysterisch zu werden. Du kennst doch das Konzept der Ausstellung.« Er strich mir mit den Knöcheln zärtlich über die Wange. »Hey, du bist mein Venus girl! Wir haben den ganzen Mist hinter uns gelassen. Sonst wären wir jetzt doch kaum auf unserer zweiten Hochzeitsreise, oder?« Er klang genau in der richtigen Dosis gekränkt, dass ich mir normalerweise wie ein Idiot vorgekommen wäre. Normalerweise. Als er sich vorbeugte, um mich zu küssen, erwischte ich sein rechtes Handgelenk, bevor er das Smartphone unauffällig ins Off schicken konnte. Bingo. Das Selfie war nur Teil eins der Nachricht gewesen. »Lügner!«, hörte ich mich sagen. Und ab da zerfällt meine Erinnerung in ein fließendes Konzept von Swea.
Ein Fingernagel ist tief eingerissen und blutet. Das muss beim Handgemenge mit Henrik passiert sein, als er mich daran hindern wollte wegzufahren. Ich ersticke fast an der Aschewolke in meiner Brust, Lava glüht auf meinen Wangen; mein Seidenhalstuch fühlt sich an wie eine Schlinge, ich kann meinen Puls dort pochen fühlen, wo der eng geknüpfte Seitknoten sitzt. Betrüger! Ich hätte gute Lust, es laut herauszuschreien. Der Fahrersitz ist noch auf Henriks lange Beine eingestellt, ich liege halb, während das Auto Kilometer verschlingt, drei, vier auf dem holperigen Schotterpfad, bis endlich die Straße wieder in Sicht kommt und auch mein Zittern aufhört. Mit dem Heulen dauert es länger. Der Blick auf meinen neuen Ehering verschwimmt, ich blinzle Träne um Träne weg und gebe noch mehr Gas.
Links rasen Trümmerhügel vorbei, halb verschüttet von dunkelgrauem Lavasand. Blutleeres, fast weißes Gras duckt sich unter den jähen Windböen. Zusammen mit dem ausgewaschenen Regenhimmel und dem bleiernen Band der Straße wirkt das Draußen wie ein monochromes Gemälde. Horizonte der Hoffnungslosigkeit, denke ich. Das wäre ein passender Titel. Rechts erstreckt sich Wasser, eine Einöde aus Grau, gesäumt von kahlen Bergen. Das Einzige, was Wirklichkeit und Leben zu haben scheint, ist dieser verfluchte Wind. Er wirft sich von der Meerseite gegen den Wagen, als wollte er mich von der Straße drängen, während ich wie ein angeschossener Vogel schräg in diesem Sitz hänge.
Hinter mir hupt es, als ich scharf bremse und ohne Blinken rechts ranfahre. Ich hatte den Kleinwagen nicht gesehen, der Rückspiegel zeigt noch Henriks Horizont. Das Auto zieht vorbei, Gesichter wenden sich mir zu. Ein Jugendlicher starrt mich aus dem Rückfenster an. Bestimmt sehe ich aus wie eine verheulte Wetterhexe. Hastig stelle ich den Sitz ein und kippe den Rückspiegel. Fast schrecke ich vor mir selbst zurück. Ich schaue in ein kühles, perfekt geschminktes Gesicht, dank diverser Beauty-Behandlungen zu glatt für eine Frau von zweiundvierzig. Nicht einmal meine Frisur ist zerzaust, der rundgeföhnte dunkle Langbob sitzt; die wasserfeste Wimpertusche und der Long Lasting Lippenstift sind unberührt von Tränen und Küssen. Herzförmiger, akkurater Mund, der überhaupt nichts preisgibt. Und das ist vielleicht das Erschreckendste von allem.
Ich muss Anna anrufen, schießt es mir durch den Kopf. Doch als ich mein Smartphone aus der Handtasche vom Rücksitz hangle, spüre ich Luft an blanker Haut. Jetzt weiß ich, was es für den Teenager zu sehen gab. Die obersten zwei Knöpfe meiner Bluse sind abgerissen. Mein Push-up-BH sitzt völlig verrutscht auf halb acht und beult sich aus dem Marineblau des Kragens. Der BH leuchtet im exakt selben Rot wie mein Lippenstift und das seitlich gebundene Halstuch.
Sexy Hostessen-Look, den Henrik liebt. Doch halsabwärts sehe ich nun aus wie ein Experiment von Picasso – völlig defragmentiert. Eine gepolsterte Schale sitzt über meiner linken Brust, die ohne diese Stütze bis zum unteren Rippenbogen hängt. Es wirkt, als hätte ich drei Brüste, und Nummer drei ist ein höhnisches Zitat des Selfie-Bildes. Nur in Alt.
Wieder steigen mir die Tränen in die Augen, aber ich beiße die Zähne zusammen und setze mich wieder zu einer Frau zusammen, zupfe und hake, streiche den Rock glatt und ziehe auch meinen taillierten Blazer wieder an. Sobald ich den letzten Knopf geschlossen habe, bekomme ich zum ersten Mal wieder Luft. Das enge Kostüm ist eine schützende Hülle, die mich zusammenhält – zumindest äußerlich. Doch als mein Handy klingelt, hätte ich es vor Schreck fast weggeschleudert. Henrik?
Aber es ist nur meine Mutter.
»Swea, na endlich!« Auf der Stelle bereue ich es, rangegangen zu sein. Ihre Stimme klingt zu hoch und aufgesetzt munter. Was bedeutet, sie hat sich wieder wegen irgendetwas aufgeregt und kämpft gegen die Tränen.
»Hallo Mama. Was gibt’s?« Ich will nicht so kühl klingen. Und prompt höre ich, wie sie auf der anderen Seite des Meeres gekränkt nach Luft ringt.
»Störe ich etwa? Ich wollte doch nur wissen, wie es euch geht. Ihr meldet euch ja seit zwei Tagen nicht!«
Aus dieser Nummer komme ich jetzt nur auf eine Art wieder raus. Ich atme sehr tief durch und ziehe die Mundwinkel hoch. Lektion eins im Bank-Business: Man hört am Telefon, wenn der Berater lächelt. »Lieb, dass du anrufst, Mama. Es geht uns gut. Danke. Und bei euch auch alles in Ordnung?«
Fehler, Swea. Fragen sind Gesprächsangebote.
»Machst du Witze?«, startet prompt das Lamento. »Ich habe mich den ganzen Tag in der Küche abgerackert. Wir haben nämlich die Kleine zum Abendessen da. Papa will mit ihr die Bewerbung für ihren Praktiumsplatz durchsprechen. Und Insa sollte schon seit einer Stunde hier sein. Man sollte doch meinen, dass deine Schwester es schafft, wenigstens einmal im Leben pünktlich zu sein! Bestimmt macht sie das mit Absicht, nur um mich zu quälen und mir den Abend zu verderben. Sie geht nicht einmal an ihr Handy. So geht das nicht mehr weiter, ich werde hier noch krank! Du musst mit Insa reden. Auf mich hört sie ja nicht!«
Ich schließe die Augen. Als wäre meine jüngere Schwester jemals pünktlich gewesen!Und was meine siebzehnjährige Nichte davon hält, von Oma als Kleine bezeichnet zu werden, kann ich mir denken.
»Ist gut, Mama. Ich kümmere mich darum. Aber jetzt atme mal tief durch und beruhige d …«
»Wo seid ihr gerade?«
»Auf der Ringstraße hinter Borgarnes. Siebzig Kilometer vor Reykjavík.«
Vermutlich wollte sie keine Koordinaten hören, aber die Alternative, Ich habe deinen vergötterten Schwiegersohn im Nirgendwo aus dem Auto geworfen, klingt auch nicht viel besser. »Auf dem … Rückweg von den Lava-Wasserfällen«, setze ich hastig hinzu. »Wir haben eine Tagestour gemacht.« Immerhin ist das die Wahrheit.
»Ihr wart bei den Hraunfossar-Wasserfällen?« Tja, im Gegensatz zu mir hat meine Mutter die Reiseführer natürlich auswendig gelernt. Warum habe ich nur wieder dieses komische Gefühl, dass es eigentlich ihre Reise ist? »Du musst endlich Fotos schicken, hörst du?«, sagt sie vorwurfsvoll. »Und was macht ihr denn heute Abend zur Feier eures großen Tages?«
Die Scheidung einreichen? »Wissen wir noch nicht, Mama.«
Seltsamerweise scheint das eine gute Nachricht zu sein. »Ach, Gott sei Dank! Ich habe Papa nämlich gesagt, er muss euch erst fragen, ob ihr schon feste Pläne habt, aber er macht ja immer, was er will. Jedenfalls: In Reykjavík gibt es doch dieses schöne Konzerthaus am Hafen, und Papa hat heute für euch Karten reservieren lassen, Jazz, das hört Henrik doch so gerne. Die Karten warten an der Rezeption im Hotel auf euch. Das ist unser kleines Bonus-Geschenk zum Hochzeitstag. Na, was sagst du?«
Plötzlich wirkt der Himmel wie Blei, und ich spüre sein ganzes Gewicht auf meinem Nacken. »Danke, das ist … wirklich nett von euch.«
Sie lacht, und ihre Stimme bekommt diesen aufgekratzten, euphorischen Singsang, der nur die Kehrseite ihres Kummers ist. »Ach, ich beneide euch! Island ist so … besonders. Und dann diese weißen Sommernächte! Scheint bei euch wirklich noch um Mitternacht die Sonne?«
Wenn es hier Sonne gäbe. »Mhm«, antworte ich vage. Mein Lächeln ist längst erstarrt. Der Wind tobt, als wollte er mich packen und aus dem Auto zerren. Die ersten Tropfen zerplatzen auf der staubigen Windschutzscheibe.
»Gefällt euch das Hotel?«, sprudelt meine Mutter weiter. »Wir haben bei der Buchung extra darauf geachtet, dass es fünf Sterne hat, aber in Island sind die Hotels ja alle fast unbezahlbar, und man weiß ja nie, ob fünf Sterne im Ausland auch unseren Standards entsprechen. Ich hoffe, Henrik ist zufrieden damit?«
Es bricht mir fast das Herz, so hoffnungsvoll und zugleich ängstlich klingt sie. Und in der nun folgenden, erwartungsvollen Pause schwingt ihre eigentliche Frage mit: Ist die Welt für mich wieder ein sicherer Ort?
Die Wahrheit wäre, dass Henrik das Zimmer in seiner ironischen Art nur »Klaustrophobia Lounge« nennt, dass die Armaturen im Bad mit gelblichen Ablagerungen verkrustet sind und ich es kaum ertragen kann, wie stechend das Duschwasser nach Schwefel riecht.
Wenn ich ehrlich wäre, würde ich meiner Mutter außerdem sagen, dass diese Insel nicht die romantische Bühne aus Feuer und Eis ist, die sich Henrik für die Inszenierung unseres Neuanfangs vorgestellt hat. Ich würde ihr sagen, dass ich alleine im Auto sitze und heule, dass der Sommer hier windig und kalt ist und grellweiße Nächte nur noch deutlicher die Risse in den Fassaden zeigen.
Aber das könnte ich meiner Mutter niemals antun. Das vergangene Jahr war für sie vermutlich härter als für mich; die Wahrheit wäre der reinste Todesstoß. Und wie maßlos enttäuscht mein Vater wäre, will ich mir überhaupt nicht vorstellen. Schließlich hat er uns diese Reise geschenkt, inklusive der teuren Flüge in der Saga Class von Iceland Air. Ja, Papa Löwe sorgt für seinen Clan. Meine Familie setzt wirklich alles daran, dass unsere Ehe funktioniert, damit alle endlich wieder zur Ruhe kommen und weiterleben können. Und aus irgendeinem Grund fühle ich mich plötzlich so schuldig, als wäre ich diejenige, die es gerade vermasselt. Meine Mundwinkel zittern und verziehen sich nach unten, ohne dass ich etwas dagegen tun kann, und jetzt hilft auch kein Lippenbeißen mehr gegen das aufsteigende Schluchzen. Verdammt.
»Swea, hallo? Kind, bist du noch dran?«
Ich überlege, ob ich auflegen und später behaupten soll, die Verbindung sei abgebrochen, aber dann rettet mich mein Vater. »Herrgott noch mal, Gisela!«, höre ich ihn schimpfen. »Dachte ich es mir doch, dass du gar nicht mit Insa telefonierst. Lass doch die jungen Leute in Ruhe. Wenigstens im Urlaub.«
Selten war ich so dankbar, seine Stimme zu hören. Und auch heute berührt es mich, dass Henrik und ich für ihn immer noch die jungen Leute sind, obwohl Insa sich schon seit Jahren gnadenlos darüber lustig macht. »Jung im Verhältnis zu wem?«, ätzt sie dann. »Der Freiheitsstatue?«
Es raschelt, als meine Mutter das Telefon verteidigt, dumpf höre ich Protest und hitzige Streitworte, dann habe ich meinen Vater am Ohr. »Na, mein Mädchen? Sag nur ganz schnell: Hotel okay?«
»Ja«, bringe ich heraus.
Sein dröhnendes Lachen übertönt den Wind. »Freut mich. Gib mir mal den Joker!«
So nennt er Henrik, ein liebevoll brüsker Spitzname für den Sohn, den er nie hatte. »Henrik ist … gerade nicht da.«
»Wo ist er?«
Bei den Elfen verschollen. Vom Winde verweht. »Er … sieht sich die Gegend an.«
Zum Glück ist mein Vater völlig taub für Zwischentöne. »Na dann wünsch ihm von mir einen schönen Hochzeitstag. Macht endlich die Handys aus. Wir sehen uns nächste Woche, wenn ihr wieder da seid. Und Gruß auch von Bekka.«
»Lass es krachen, Tante Hätti!«, schreit meine Nichte im Hintergrund. Keine Ahnung, warum sie mich schon seit ihrer Kindheit so nennt. Noch bevor mein Vater auflegt, höre ich meine Mutter zetern, dass sie mich noch einmal sprechen will. Doch dann knackt es, und ich bin endlich erlöst. Erst jetzt fällt mir auf, dass der Motor im Leerlauf immer noch vor sich hin surrt. Ich bin wirklich völlig durch den Wind. Verständnislos starre ich auf das Profilbild von Anna auf meinem Smartphone. Ach ja, fällt mir ein. Ich wollte sie gerade anrufen. Anna, meine Zuflucht, mein Rettungsanker, mein sicherer Ort. Der einzige Mensch auf der Welt, bei dem ich mich nie verstellen muss und mich nicht wie eine Verliererin fühle, nicht einmal mit einer Wahrheit wie dieser. Doch plötzlich habe ich Angst. Denn wenn das vergangene Jahr mich eines gelehrt hat, dann das: Eine Wahrheit laut auszusprechen heißt auch immer, ihr Wirklichkeit zu geben, einen Ort, von dem sie sich nie wieder vertreiben lässt.
Ich schalte das Phone aus und lege den Gang ein. Der Scheibenwischer zieht einen rostbraunen Regenbogen über das Straßenpanorama. Du musst sofort zurückfahren, mahnt meine vernünftige Stimme. Es wird gleich in Strömen regnen, du kannst Henrik nicht mitten im Gewitter in der Kälte stehen lassen. Aber diesmal schaffe ich es nicht, das einzig Logische und Richtige zu tun. Vielleicht ist es das, was mich am meisten überrascht: dass Swea Schwarzenberg diesmal nicht vernünftig sein kann. »Siebzig Kilometer bis Reykjavík«, flüstere ich. Und fahre los.
Ich hoffe, mein Mieter entdeckt den Zettel mit der Erklärung, warum der Pickup verschwunden ist. Noch immer sitzt mir der Schreck in den Knochen. Ich hatte gehofft, es würde besser, sobald ich auf der Ringstraße bin, aber die schemenhaften Gesichter der anderen Autofahrer hinter gewitternassen Scheiben wirken nur wie andere Gespenster. Ich muss ein vertrautes Gesicht sehen. Irgendeines.
Kurzerhand biege ich scharf in eine schmale Abfahrt ein und folge einem vollgestopften Kleinbus bergauf. Ich frage mich, was so viele Menschen in den Hügeln wollen, ganz oben am Ende der felsigen Straße steht doch nur Gunnars einsames Gehöft. Der Bus beschleunigt und verschwindet an der Biegung aus meinem Blick. Donner grollt, als ich nun auch Gas gebe und den Pickup die Kuppe hochjage. Ich kann mich nicht erinnern, dass die Strecke so kurvig war. Und ist der Weg zum Teil neu verlegt worden? In einer Kurve hätte ich um ein Haar einen Weidezaun gestreift. Windschief ist er hier im Boden abgesteckt, ein Konstrukt aus Stangen und grellen Plastikbändern. Auch das ist neu. Hält Gunnar auf seine alten Tage wieder Pferde? Aber weit und breit kein lebendes Wesen, nur Wegmarken-Figuren aus aufgestapelten Steinen schauen mir im Rückspiegel nach.
Am Ende der Zufahrtsstrecke hatte ich den kleinen Einsiedlerhof erwartet, umso überraschter bin ich, stattdessen zwei längliche Containerbauten mit einem Zwischenstück zu sehen, ein klotziges U, das jemand vor eine Anhöhe gesetzt hat, umgeben von gut befestigten Koppeln. Zäune aus Metallstangen unterteilen das Terrain. Der Kleinbus ist auf dem Parkplatz vor dem Gebäude zum Stehen gekommen. Eine junge Frau in Wetterkleidung springt heraus und entlässt eine bunt zusammengewürfelte Truppe von Menschen in den Regen. Unter Kapuzen und Mützen schielen sie besorgt zum Himmel. »Beeilen Sie sich!« Die Frau winkt mich ungeduldig zu der Truppe. Ihr Englisch hat einen harten Akzent. Regen fängt sich auf meiner Brille, als ich aussteige, nur verschwommen sehe ich im Vorbeigehen das Schild am Tor des rechten Gebäudes. The Icelandic Experience – Riding tours to remember.
Aus einem Torspalt rauscht mir wie Brandung weiches Schnauben und Scharren entgegen. Ich kann nicht anders als stehen zu bleiben. »Nein, nicht in den Stall«, weist mich die Wetterfrau harsch zurecht. »Gehen Sie mit den anderen in den Aufenthaltsraum und warten Sie dort auf Martina.«
Bevor ich etwas sagen kann, dirigiert sie mich sanft, aber resolut ins Mittelgebäude. Und dann fühle ich mich in den Flughafen zurückversetzt. Alle reden in fünf Sprachen durcheinander und drängeln beim Versuch, in einem schlauchartigen Umkleideraum genug Platz zu ergattern. Wie abgestreifte Häute eines anderen Lebens hängen Reihen grüner Regenjacken mit passenden Gummihosen auf Garderobenstangen. Auf Bänken sitzend ziehen sich ein paar Touristinnen bereits die Montur über die Kleidung.
»Wir warten besser noch zehn Minuten, bis das Gewitter ganz vorbeigezogen ist«, ruft die Wetterfrau in die Runde. »Nehmen Sie sich so lange vorne in der Küche Kaffee und Tee.«
In dem Nebenraum, zu dem sie zeigt, drängelt sich eine Gruppe von Kindern, die offenbar schon länger hier festsitzt. »… looking for Fabian?«, dringt es an mein Ohr. Ein burschikoses Mädchen um die zwanzig steht vor mir. Auf ihrem Namensschild am Kragen lese ich das Wort GUIDE und darunter: Hello, I’m Martina. Erst jetzt merke ich, dass sie mich schon zum zweiten Mal etwas fragt. »Are you Fabian’s Grandpa?«
»No, I’m not«, rufe ich gegen das Stimmengewirr an. »Ich will zu Gunnar.«
Sie sieht mich an, als hätte ich nach den Weihnachtskerlen gefragt.
»Gunnar Svensson!«, schreie ich noch lauter. »Wo ist Gunnar Svensson?«
»Mister Svensson?« Sie schüttelt den Kopf und erklärt etwas, aber im Hintergrund lachen ein paar Damen kreischend laut los, und ein Kind fängt an zu heulen. Also trete ich fluchtartig den Rückzug an. Fast hätte ich einen untersetzten Mann umgerannt, der mich nun freundlich angrinst. Typ jovialer Verkäufer. »Du willst zu Gunnar, ja? Bist du ein Freund von ihm?«
Unglaublich, wie froh ich bin, dass endlich jemand mit mir in meiner Sprache spricht. Ich versuche, sein rotes, glattes Gesicht einzuordnen, aber ich habe ihn noch nie gesehen.
»Ich bin Gunnars ehemaliger Nachbar«, bringe ich heraus.
Er lacht und schlägt mir auf die Schulter. »Sieht man gleich, dass du nicht zum Reiten hier bist. Ich bin Kári. Und dich nennt man …?«
»Einar Pálsson.«
»So förmlich, was?« Er grinst noch breiter. »Kannst sicher einen Kaffee vertragen, ja?«
Er holt eine Thermoskanne aus der Küche und bedeutet mir, ihm zu folgen. Es tut gut, die Gruppe hinter mir zu lassen. Auf dem Blechdach trommelt der Regen mit dem davonziehenden Donner um die Wette. Mit einem Tritt stößt Kári die Tür zu einem Nebenzimmer auf, eine Art Büro. Das Größte darin ist der Bildschirm, die Wand ist mit Kalendern und Karten tapeziert.
Kári schiebt mir einen Stuhl hin und kramt Tassen aus einem Schrank. »Sollte man nicht glauben, dass sich bei dem Wetter heute so viele Touristen hierher verirren, was?« Ich starre nur auf eine Liste mit Arbeitsplänen und den Namen der vier Guides. Daneben prangt eine Weltkarte mit Pins und Fähnchen: Martina kommt offenbar aus der Schweiz, eine Helen aus Kanada, dann gibt es noch Steffi aus Paderborn und Naomi aus England.
»Seit wann steht denn hier ein Reiterhof, Kári?«
Er zuckt mit den Schultern und schenkt schwungvoll ein, eine irgendwie tänzerische Geste, ähnlich wie seine Art zu gehen. »Erst seit einem Jahr. Aber es läuft gut an. Nächstes Jahr werden wir noch zehn Pferde dazunehmen.« Er drückt mir die Tasse in die Hand und lässt sich in einen Bürostuhl fallen. Für einige Sekunden kehrt wunderbare Stille ein. Der erste Schluck Kaffee macht mich schwindelig. Zum ersten Mal spüre ich, wie müde ich bin.
Gemeinsam lauschen wir dem Regen und Martinas Stimme. »Don’t worry«, ruft sie draußen den Touristen fröhlich zu. »Der Regen hört sicher bald auf. Bei den Isländern gibt es ein Sprichwort: Wenn dir das Wetter nicht passt, warte fünf Minuten.«
»Wir hätten die Nachmittagstour wohl doch besser abgesagt«, murmelt Kári beim Blick aus dem Fenster. »Na ja, notfalls bekommen die Leute das Geld zurück oder Gutscheine für morgen.«
»Was ist aus Gunnars Haus geworden?«
»Was soll daraus geworden sein? Du hättest nur am Hof vorbei und noch ein Stück weiterfahren müssen, Einar. Die direkte Zufahrt wurde vor drei Jahren für die Baufahrzeuge umgeleitet. Wir haben auch neue Reitwege aufschütten lassen.« Er deutet mit dem Daumen zur Wand. Elfentour, lese ich auf einer comicbunt gezeichneten Landkarte. Vulkantour, Panorama-Tour. »Du warst wirklich lange nicht mehr hier, was?«
»Offenbar zu lange«, murmle ich.
Kári kneift die Augen zusammen. »Du kommst nicht aus unserer Gegend, oder?«
»Nein, meine Familie stammt aus der Nähe von Sauðárkrókur.«
»So, aus dem Norden. Und was führt dich her? Besuch bei Freunden? Wo wohnst du?«
»Unten in Gunnars alter Siedlung, das dunkelgraue Steinhaus am Hang.« Und nur, um das Wort auszusprechen, füge ich noch hinzu: »Sumarhús.«
Zu meiner Verblüffung hellt sich Káris Miene auf, als hätte sich ein Puzzle zu einem Bild gefügt. »Ach, das Haus des Deutschen! Dann besuchst du also Jón?«
Für einen Moment hatte ich tatsächlich vergessen, dass Island die Insel der Augen ist. Jeder beobachtet jeden, auch in losen Nachbarschaften wie diesen. Das Haus des Deutschen. Insgeheim seufze ich auf. Ich bin in Island geboren und aufgewachsen, aber Gunnar hat schon immer den Scherz mit dem Deutschenhaus gemacht – so lange, bis er die Runde machte und zum geflügelten Wort wurde. Doch da mein Name keinerlei Echo bei Kári hervorruft, ist mein Mieter offenbar nicht sehr gesprächig.
»Ja, ich … wohne bei Jón.«
»Habe ihn lange nicht gesehen. Geht’s ihm gut?«
Ich nicke nur vage.
Kári holt tief Luft. »Hatte ja wirklich kein Glück mehr, seit er wegen der Kreppa mit seiner Firma bankrott gegangen ist und … na ja, nach dieser ganzen Sache. Ist schon tragisch, wie jemand so viel Pech im Leben haben kann.«
Beim Wort Kreppa kehrt meine Erinnerung zurück. Richtig, auch das war ein Grund, dass Gunnar damals für seinen jungen Verwandten so dringend eine Unterkunft brauchte.
»Na ja, aber einiges hat er sich ja auch selber eingebrockt«, fährt Kári fort. »War schon eine ziemlich krude Geschichte damals, nicht wahr?« Er sieht mich erwartungsvoll an.
»Er war nicht der Einzige, den die Finanzkrise arm gemacht hat«, erwidere ich nur. »Und du, Kári? Gehörst du zu Gunnars Familie?«
»Oh nein, ich bin eine Art Geschäftspartner und kümmere mich um alles, Gunnar wohnt ja nicht mehr hier. Eigentlich bin ich die Woche über im großen Reiterhof bei Selfoss, da habe ich über den Sommer vierzig Tiere und zehn Guides. Hier habe ich nur fünfzehn Pferde, und es reicht, wenn ich zweimal die Woche nach dem Rechten sehe. Die Mädchen kommen alleine klar …«
»Gunnar ist weggezogen? Hat er das Haus verkauft?«
»Nein. In der Reitsaison wohnen darin die Guides, und im Winter vermietet er es an Touristen. Er lässt mich auf seinem Gut hier schuften und hat sich eine schöne Wohnung in Reykjavík gekauft. Mitten im Botschaftsviertel.«
Jetzt hätte ich mich fast am Kaffee verschluckt. »Na, das Geschäft mit den Touristen scheint sich ja zu lohnen.«
Kári ist wohl völlig taub für Sarkasmus. »Der Hof ist für uns beide eine Goldgrube. Und die Mädels reißen sich um die Arbeit.«
»Die Mädels«, murmle ich.
»Ja, es sind fast nur Mädchen, die sich bewerben«, plaudert Kári völlig unbekümmert weiter. »Viele sind Studentinnen. Sie reisen auf eigene Kosten an und arbeiten ein paar Monate gegen Kost und Logis. Work & Travel – hast du sicher schon mal gehört. Ist ein gutes Konzept: Sie machen die Touren mit den Gästen, kümmern sich um die Pferde und den Hof. Und dafür dürfen sie kostenlos in Gunnars Haus wohnen und bekommen sogar ein Taschengeld.«
Während ihr die fetten Gewinne einstreicht. »Ist ja wie in den guten alten Zeiten«, bemerke ich trocken. »Junge Frauen aus dem Ausland anwerben, damit sie für wenig Geld die schwere Arbeit auf den Höfen machen.«
Kári versteht die Anspielung nicht. Vielleicht ist er einfach zu jung dafür, ich schätze ihn auf höchstens vierzig. »Was ist verkehrt daran?«, fragt er völlig arglos. »Für die Mädchen ist es Abenteuerurlaub. Und wir brauchen sie. Ohne Arbeitskräfte von außerhalb wäre der Tourismusboom doch längst nicht mehr zu bewältigen.« Er grinst über das ganze Gesicht und springt auf. »Na also! Der Regen hat aufgehört.«
Draußen hat sich schon Stimmengewirr erhoben, Dutzende von Gummistiefeln trampeln nach draußen, dann hört man das erste Klappern von Hufen. »Hey-ho, Wikinger!«, sagt ein Mann und lacht.
»Schau mal, Moni«, ruft eine deutsche Dame entzückt aus. »Die Pferde sind ja wirklich so klein!«
In dem Begeisterungschaos gibt Martina stoisch Anweisungen für den Ausritt. »Nie die Zügel loslassen. Keine Fotos während des Reitens, dafür machen wir extra Pausen an Panorama-Plätzen …«
Ohne es zu wollen, knalle ich die leere Tasse so hart auf den Tisch, dass ich im ersten Moment fürchte, sie wird zerbrechen. Ich weiß nicht, warum ich plötzlich so zornig bin. Aber auf eine seltsame Art fühle ich mich betrogen.
Kári bemerkt nichts, er kritzelt Zahlen auf einen Zettel. »Hier, Gunnars Adresse und Telefonnummer. Ich lasse dich am besten hinten bei den Koppeln raus.«
Ich bin tatsächlich dankbar, den Reitern im Innenhof ausweichen zu können. Doch bis zur Rückseite der Ställe dringen Hufgeklapper und das erwartungsvolle Lachen der Reiter.
Zum Abschied schlägt mir Kári freundschaftlich auf die Schulter. »Immer an den Koppeln entlang, vorne rechts kommst du zum Parkplatz zurück. Und grüß Gunnar von mir!«
Den Teufel werde ich tun. »Danke für den Kaffee, Kári.«
Ich spüre seinen Blick im Nacken, während ich am Metallzaun entlanggehe, und frage mich, was er wohl denkt. Vermutlich ist er einfach froh, den mürrischen Sonderling los zu sein. Ganz am Ende des Gebäudes schiebt ein blondes Mädchen eine Schubkarre vorbei. Auf den ersten Blick hätte ich das Mädchen auf vierzehn geschätzt, aber das liegt nur daran, dass sie sehr zierlich ist und das Haar zu abstehenden Kinderzöpfchen zusammengebunden hat.
Ein schrilles Wiehern lässt mich innehalten. Im Schatten eines Unterstands mitten auf der Koppel regt sich wolkiges Dunkel. Ich kneife die Augen zusammen, horche auf das Schnauben und Scharren. Und als Schatten und Fell sich trennen und das Pferd zur Seite ins Licht weicht, zieht sich mein Herz so jäh zusammen, dass mir der Atem wegbleibt. Für einen Moment glaube ich, in die Vergangenheit zu sehen. Sobald ich blinzle, wird das Trugbild verschwunden sein. Aber als ich die Augen wieder öffne, steht die Stute immer noch dort. Sie ist zierlich und schmal, ungewöhnlich langbeinig für einen Isländer. Und sie hat die schönste Färbung von allen, das Siegel der Insel: sturmwolkengraues, fast schwarzes Fell und eine falbhelle, fast weiße Mähne mit einem Silberschimmer. Windfarben.
Sie scharrt und wiehert ihren gesattelten Artgenossen nach, versucht einen ungelenken Satz, obwohl sie im Unterstand viel zu kurz angebunden ist. Ihr Kopf ruckt zur Seite, ihr Hals verdreht sich auf eine Art, die schon beim Hinsehen wehtut. Und als ich den Riemen sehe, der sich tief in ihre Kehle drückt, laufe ich einfach los.
»Hey!«, gellt der Ruf der Blonden über die Koppel. »You’re not allowed to go there!«
Aber längst habe ich das Tor geöffnet.
»He, hello Mister! Hier ist der Zutritt für Gäste verboten.«
»Soll ich dir sagen, was verboten ist, Pippi Langstrumpf?«, murmle ich. »Pferde zu schinden.«
Mit wehendem Mantel erreiche ich den Unterstand und hätte am liebsten laut geflucht. Aus der Nähe sieht das Ganze noch erbärmlicher aus, die windfarbene Mähne ist zerrauft von viel zu fest gezurrten Halfterriemen. Der Kehlriemen schneidet ein, dazu ist noch ein weiteres Seil um den Nacken der Stute geknotet. Warnend legt sie die Ohren an und weicht vor mir in den Schatten zurück. Vom Seil gebremst schnaubt sie und schlägt mit dem Vorderbein. Und als sie den Kopf wegdreht, so weit es geht, und die Augen misstrauisch in meine Richtung verdreht, bis das Weiße sichtbar wird, flutet eine heiße Welle mein Herz.
Ganz von selbst tragen mich meine Beine zur Seite, ein vorsichtiger Tanz, dessen Schritte ich immer noch beherrsche. Ich nähere mich der Stute fast beiläufig, so, dass sie mich immer im Blick hat und ich sie trotzdem nicht bedränge. »Svona-Svona«, murmle ich dabei den Zauberspruch aller isländischen Pferdefänger, »So-So«. Es ist das erste Versprechen, das ein wildes Pferd von einem Menschen erhält, eine Beruhigung, dass ihm nichts Böses geschehen wird. »Svona-Svona«, locke ich weiter in dem sanften Singsang, der sie schließlich innehalten und reglos verharrenlässt. Am Ende des straff gespannten Strickes äugt sie schräg zu mir hoch und duldet es, dass ich ihr nun sanft durch die Mähne fahre und den Kehlriemen lockere. Und als meine Hand sich auf das Beben eines Herzschlags dicht unter dem Fell legt, schnürt es mir die Kehle zu. Mein Blick verschwimmt, ein Laut stockt in meiner Brust. Aber alte Männer weinen nicht, also beiße ich die Zähne zusammen. Und dennoch bricht etwas in mir, altes Eis, das mein Herz umschließt – und alles beginnt zu fließen. Zeit zerrinnt, Jahre strömen davon und reißen mich mit sich. Der einzige Halt ist der Herzschlag unter meinen Fingerspitzen und eine Kinderhand, die sich in einer windfarbenen Mähne festkrallt. Es ist meine Hand. Und das Herz, das in meiner Brust schlägt, zittert in einem Taumel aus Furcht und besinnungslosem Glück.
Ich sitze vor dem Sattel auf dem Widerrist, und ich kann nicht fallen, obwohl das Land unter mir so schnell dahinrast und meine im Pferdetakt schlackernden Beine so kurz sind, dass sie nicht einmal bis zur Hälfte des Sattelblattes reichen. Doch der Arm meiner Mutter liegt um meine Brust, sie hält mich sicher und fest an sich gedrückt.
Ich rieche den herben Duft von Leder und Pferdeschweiß. Über mir höre ich die Stimme meiner Mutter, die sich mit dem Schnauben des Pferdes und dem Blöken der Schafe vermischt, ich spüre ihre Wärme an meinem Rücken und ihren Kuss auf meinem Scheitel. Ich schmiege mich an sie, und vor mir öffnet sich die ganze Welt, gefährlich und viel zu groß, lockend, beängstigend und wunderbar zugleich.
»It’s okay, Naomi, I know the guy! Thanks!«
Hastig wische ich mir über die Wangen und drehe mich um. Die Blonde steht am Koppeltor. Erst als Kári ihr im Gehen einen Wink gibt, nickt sie erleichtert und geht.
»Na, Einar? Willst du dir ein Pferd stehlen?«, ruft Kári und lacht.
»Zeigt ihr den Guidesnicht, wie man ein Halfter richtig anlegt?«, blaffe ich ihn an. »Schau dir diesen Galgenstrick an! Und warum bindet ihr das Pferd überhaupt an, statt es auf der Koppel laufen zu lassen?«
Kári hört auf zu grinsen. Langsam reicht es ihm wohl mit mir. »Sie soll nicht laufen. Hast du ihr rechtes Vorderbein nicht gesehen?«
Es ist nicht leicht, einen Blick auf das Bein zu erhaschen, die Stute drückt sich dicht gegen die Seitenwand, als wollte sie mir den Blick verwehren. Ich beuge mich nach unten und zucke zurück. »Wie ist das passiert?«
»Pech beim Pferdekauf.« Kári stößt genervt die Luft aus. »Ich habe sie erst seit Saisonbeginn. Anfangs ist sie einwandfrei gelaufen, war eine unserer Ruhigsten. Aber als eine Gruppe beim Fotostopp am Felsen abstieg, fing sie plötzlich an zu zicken. Der Reiter hat vor Schreck die Zügel losgelassen, und sie ist zur Seite ausgebrochen. Dabei ist sie mit dem Bein im Zügel hängen geblieben und am Fels gestürzt. Hat sich das Knie aufgeschlagen und das ganze Bein bis runter zum Huf aufgerissen, siehst du?«
Ich schaue kein zweites Mal hin. Die Wunde ist zwar gut angeheilt, aber die gezackte Narbe anzusehen tut fast körperlich weh.
»Seitdem lässt sie sich kaum noch anfassen, ist biestig und stur und tritt mit dem lädierten Bein aus, warum auch immer. Eines der Mädchen hat sie sogar gebissen. Und wenn wir sie nicht anbinden, rennt sie wie gestört herum und wird nur noch lahmer dabei. Schöner Mist, was?« Kári spuckt aus und vergräbt die Fäuste tief in den Taschen. »Verlustgeschäft«, sagt er missmutig zu seinen Stiefelspitzen. »Aber ich bin selbst schuld. Warum lasse ich mir auch ein Pferd andrehen, das Frekja heißt?«
Trotz allem hätte ich nun beinahe gelächelt. Frekja bedeutet die Freche, die Unverschämte. »Was macht ihr jetzt mit ihr?«
Kári hebt die Schultern und schweigt. Und natürlich kenne ich die Antwort selbst: Nur ein arbeitswilliges, braves Pferd ist ein gutes Pferd. Niemand in Island braucht ein schwieriges Reittier, das auch noch lahmt. Da sind wir nicht zimperlich. Pferdefleisch gibt es in der Tiefkühltruhe jedes Supermarkts. In gewisser Weise ist es auch der Lauf der Natur, früher war es eine logische Auslese zugunsten des menschlichen Überlebens. Ein gutes Pferd zu haben konnte draußen in der Natur über Leben und Tod des Reiters entscheiden. Aber heute kann ich die Gesetze der Insel zum ersten Mal nicht einfach so hinnehmen.
»Wie viel willst du für sie?«
Ich dachte, der abgebrühte Kári ist nicht leicht zu verblüffen, aber jetzt klappt ihm der Mund auf. »Du möchtest die Krücke kaufen? Was willst du denn mit einem lahmenden Pferd?«
»Das … lass meine Sorge sein.« Ich weiche Káris verständnislosem Blick aus und greife der Stute in die Mähne, als könnte ich sie davor bewahren, in einen Abgrund zu stürzen. Und als die drahtigen Haare in meine Finger schneiden, ist es wieder, als würde ich auf die blühende Hochlandheide meiner Kindheit schauen, auf den Himmel und die Schafe – Wolken auf Beinen, die das Schnauben des Pferdes vor uns herweht.
»Nichts für ungut, aber das kann ich nicht machen«, sagt Kári. »Mit der würdest du keinen Spaß haben. Und außerdem haben wir gerade auch keinen Transportanhänger vor Ort …«
»Ich bin mit meinem Pickup da. Und ich gebe dir den vollen Preis. Wie viel hast du für sie bezahlt?«
Das ist die Sprache, die Geschäftemacher Kári versteht. Seine Augen leuchten auf, er leckt sich die Lippen. Aber dann wird mir klar, dass ich ihn wohl falsch eingeschätzt habe. »Wir wissen beide, dass sie nicht einmal mehr ihr Futter wert ist. Ihr Bein wird nie wieder belastbar sein, die kannst du dir höchstens noch als Dekoration in den Vorgarten stellen. Aber weißt du was? Ich mache dir einen Nachbarschaftspreis: Fünfundzwanzigtausend Kronen, und ich gebe dir noch einen Heusack dazu. Nur sag später nicht, ich hätte dich nicht gewarnt. Deal?«
»Machst du dich über mich lustig?« Der Preis ist kein Deal, es ist ein Almosen, rund zweihundert Euro. Vielleicht tue ich Kári einfach nur leid. Mir ist nicht entgangen, wie er meinen alten Mantel und die abgetretenen Reiseschuhe gemustert hat. Oder vielleicht nutzt er einfach die günstige Gelegenheit, zwei Schwierige auf einen Schlag loszuwerden.
»Nimm es oder lass es, Einar. Zeit ist Geld. Und wie du schon sagtest: Wenn ich dir den Gaul gebe, spare ich mir Zeit und Ärger. Und auf Ärger kannst du dich bei diesem Mistvieh gefasst machen.«
Doch während er das sagt, kämmt er der Stute mit den Fingern beiläufig die Stirnlocke zur Seite und streicht ihr über die Kinnlinie. Vermutlich ist er sich selbst gar nicht dessen bewusst, wie freundlich und sanft diese Geste ist. Das und die Tatsache, dass die Stute sich seine Berührung ohne Misstrauen gern gefallen lässt und sogar die Ohren spitzt, versöhnt mich schlagartig mit ihm. Zum ersten Mal an diesem Tag fühle ich mich, als würde ich nach Hause kommen, als hätte meine Seele mich endlich eingeholt. »Mit Ärger kann ich umgehen, Kári.«
Er sieht aus, als würde er sich ein Grinsen verkneifen. Aber er nickt und streckt mir die Rechte zum Handschlag hin. »Wie du meinst, Einar. Wir verladen sie auf dein Auto. Sobald sie vom Hof ist, ist alles Weitere dein Problem. Kein Rückgaberecht, klar?«
»Deal, Kári«, antworte ich und schlage ein.
Langsam komme ich wieder zu mir, ernüchtert und kopfwund wie nach einer Nacht mit zu viel Alkohol. Seit Kilometer einundvierzig frage ich mich, warum Henrik mich immer noch nicht angerufen hat, und sei es nur, um mich wutentbrannt anzuschreien. Diese lange Funkstille passt nicht zu ihm. Ich versuche mir nicht vorzustellen, dass er gerade mit Mia telefoniert – wer sonst sollte eine SMS mit dem Kürzel MI unterschreiben? Ein Anflug von Panik steigt wieder in mir auf, aber ich dränge ihn mit aller Gewalt zurück und mache mir stattdessen Sorgen, dass Henrik etwas zugestoßen ist.Das Gewitter ist längst vorbei, die Sonne ist ein blutleerer gleißender Fleck am Grauschleierhimmel, doch im Geiste sehe ich meinen Mann im tosenden Gewitter verletzt und ohnmächtig am Fuß des Vulkans liegen – vom Blitz getroffen, böse gestürzt. Oder beides. Hör auf!, befehle ich mir. Das ist nur Island, nicht der Mount Everest im Schneesturm. Henrik hat sein Smartphone dabei und immer genug Notfallgeld für ein Taxi in der Hosentasche. Aber es würde zu ihm passen, melodramatisch durch den Regen zur Ringstraße zu laufen. Die Gelegenheit, mir in triefnassen Klamotten zu demonstrieren, was ich ihm angetan habe, wird er sich nicht entgehen lassen. Vielleicht ist sein Schweigen Teil der Bestrafung. Wir kennen einander wirklich zu gut.
Wieder spüre ich dieses bleierne Gewicht auf meinem Nacken, so müde bin ich von diesen Spielen unserer Ehe. Am liebsten würde ich den Kopf auf das Lenkrad sinken lassen und die Augen schließen in der Gewissheit, dass der Wagen mich einfach weiterträgt – irgendwohin, wo es dunkel ist.
Doch stattdessen muss ich so heftig abbremsen, dass es mich in die Gurte wirft. Vor mir ist wie aus dem Nichts ein grüner Pickup auf die Straße abgebogen. Auf der Ladefläche steht ein Pferd quer zwischen Fahrerhaus und einem eingezogenen Holzbrett. Es hält den Kopf gesenkt, nur ein Stück dunkler Rückenlinie und der Ansatz einer weißen Mähne ragen über die Trennwand – ein Schwarzweißpferd, das wie ein Foto-Negativ wirkt.
Mir bleibt nichts anderes übrig, als dem Pickup im Schneckentempo hinterherzukriechen. Sobald ich nach einer Ewigkeit die Gegenfahrbahn wieder überblicken kann, will ich überholen – und muss gleich noch einmal in die Eisen steigen. Nur das Pferd hält mich davon ab, den Fahrer zusammenzuhupen, weil er ohne zu blinken abbiegt und direkt vor mir die Straße quert. Am Steuer des Pickups hätte ich einen bulligen Kerl mit Bartschatten und Schiebermütze erwartet. Doch es ist ein alter Mann mit feinen Zügen, der sehr aufrecht zu dicht am Lenkrad sitzt. Mit dem braunen Tweedmantel wirkt er wie ein zerstreuter Professor aus einem englischen Film. Irritiert schaut er nach links und macht eine vage Entschuldigungsgeste, ohne mich wirklich wahrzunehmen. Seine Brille à la Herbert Wehner ist sicher ein Original aus den Fünfzigern und würde meiner Hipster-Nichte Begeisterungsschreie entlocken. Der obere Rand und die Bügel bilden eine durchgehende dunkle Hornlinie und geben dem Gesicht etwas Strenges. Der Mann hat die Schultern hochgezogen und ist nun völlig auf den Rückspiegel fixiert, die Stirn gerunzelt und den Mund zu einem Strich fest zusammengekniffen. Als hätten alle seine Sorgen die Gestalt des Pferdes in seinem Nacken angenommen.
Ich schere mit dem Toyota aus und ziehe langsam, um das Pferd nicht zu erschrecken, rechts hinter dem Pickup vorbei. In meinem Rückspiegel schaue ich zu, wie das kuriose Gespann nun einen Schotterpfad in Richtung Hügelkuppe hinaufrumpelt. Der Pickup wendet mir seine Breitseite zu – und ich erhasche einen Blick auf ein schmales Pferdemaul und eine buschige Mähne. Das Schwarzweißpferd versucht auf dem holprigen Weg das Gleichgewicht zu halten, es balanciert wie ein unsicherer Seiltänzer, doch plötzlich knickt es mit einem Vorderbein ein. Unwillkürlich gehe ich vom Gas. Aber dann sehe ich, dass das Tier gar nicht fallen kann, es ist gefesselt und eingepfercht, nicht fähig, sich von der Stelle zu rühren. Sogar der Kopf ist mit einem Seil fixiert. Wie eine Marionette sackt es nur schwer gegen die Trennwand.
Plötzlich flackert mein Sichtfeld, ohne Vorwarnung ist mir schwindelig, und ich bekomme keine Luft mehr. Schotter knirscht unter den Rädern, als ich von der Straße abfahre und zum Stehen komme. Ich schalte den Motor aus, ziehe sogar die Handbremse an. Doch dann kann ich nur noch panisch nach Luft ringen, während sich kaltes Eisen in meinen Magen bohrt und die Lungen zusammendrückt. Angst kriecht in mir hoch: Angst, einen schrecklichen Fehler gemacht zu haben. Angst, dass ich Henrik längst schon verloren habe – an Mia oder irgendeine andere.
Angst, dass meine Ehe vorbei ist.
Kári und die Blonde haben ganze Arbeit geleistet. Ich scheuere mir alle Knöchel auf, als ich die Seile löse. Endlich kann ich auch die letzten Karabinerhaken entsichern. Inzwischen schwitze ich und bin völlig außer Atem.
Ungelenk humpelt die Stute am langen Strick vom Pickup, ihre Schritte sind donnernde Schläge auf der schweren Trennwand, die ich mit viel Mühe heruntergezogen und zu einer provisorischen Rampe umfunktioniert habe. Den letzten Meter schlittert sie und landet mit einem holprigen Satz in den Lupinen. Das Seil ruckt schmerzhaft durch meine Faust und reißt mich nach vorn. Fast wäre ich gestürzt. Im Geiste höre ich Kári spöttisch lachen. Gut gemacht, alter Mann. Und jetzt? Zeigst du ihr das hübsche Gästezimmer im Haus?
Mein Mut sinkt, und vielleicht spürt es die Stute, sie beginnt wieder mit ihrem nervösen Tick, schlägt mit dem vernarbten Vorderbein wie ein Zirkuspferd, das einen Zähltrick aufführt. Jetzt bin ich froh, dass mein Mieter noch nicht da ist, wie sollte ich ihm erklären, warum ich ein verrücktes Pferd gekauft habe?Von dieser Seite des Hügels aus betrachtet ist es nur noch eine dumme, sentimentale Kurzschlussreaktion. Abgesehen davon, dass ich schon jetzt am Ende meiner Kräfte bin, weiß ich ja nicht einmal, wie lange ich hierbleiben werde. Es gibt hier keinen Unterstand, keine Weide, keinen Stall. Wie soll ich das nur schaffen?
Bizarrerweise kommt mir ausgerechnet jetzt der Kinderwitz in den Sinn, den Kim in ihren Grundschulzeiten immer wieder mit einem Zahnlückengrinsen präsentierte: »Wie isst man am besten Elefanten, Pabbi?« Es gehörte zu unserem Spiel, dass ich mich ratlos gab, damit sie triumphierend herausplatzen konnte: »Na, Stück für Stück!«
Seltsamerweise bringt mir diese Antwort etwas Zuversicht zurück. »Eins nach dem anderen«, sage ich laut zu mir.
Ich binde die Stute am Tor an und lockere nun endlich auch das Lederhalfter. Unter den Riemen ist das Fell bis auf die Haut abgescheuert. Hinter den Ohren klafft sogar eine Lücke in der Mähne, genau dort, wo das Genickstück anliegt. »Und immer daran denken: Lieber zu straff als zu locker anbinden!«, erinnere ich mich an Káris mahnende Worte zum Abschied. Schinder, denke ich mir nun.
Es tut gut zu sehen, wie sie sich streckt und den Kopf schüttelt. »Svona, Frekja«, rede ich ihr gut zu, und sie schnaubt mir zufrieden in die Hand. Hinter ihr ragt das Sumarhús auf. Fell und Fassade verschwimmen im selben Dunkelgrau, als versuchte das Haus, sogar mein Pferd an sich zu ziehen. An meinem Rückgrat meldet sich das unheilvolle Ziehen, die Ahnung, im Haus immer noch erwartet zu werden. Und bilde ich es mir ein, oder hat einer der Vorhänge seit meiner Flucht vorhin fast unmerklich seine Lage verändert?
Nun, ein Gutes hat die Gegenwart eines Pferdes, um das man sich kümmern muss: Ich muss das Haus nicht betreten. Zumindest noch nicht.
Irgendwo in der Garage muss noch ein provisorischer Bauzaun verstaut sein. Bevor ich mich auf die Suche mache, vergewissere ich mich noch einmal, dass es der Stute gut geht. Mir wird warm ums Herz, so friedlich steht sie nun am lang durchhängenden Seil da. Sie hebt die Nase in den Wind, spitzt die Ohren und äugt hinüber zum Fjord.
Noch nie in meinem Leben hatte ich eine Panikattacke, aber das, was ich eben erlebt habe, gleicht erschreckend den Schüben meiner Mutter. Langsam kann ich wieder atmen, aber die Eisenfaust im Magen ist geblieben.
Anna geht erst beim zwanzigsten Klingeln ans Telefon, vielleicht musste sie sich in ihrem Atelier noch die Farbe von den Händen wischen. Oder sie ist nackt aus den Armen ihres Liebhabers gesprungen und hat nach ihrem Kimono gesucht, weil das Telefon immer auf dem Fensterbrett des Schaufensters zwischen ihren Skulpturen liegt. Ihre Stimme verrät nicht, ob ich sie von Kunst oder Liebe fortgelockt habe, sie klingt wie immer rauchig und warm, auch heute muss ich an schwarzen Samt und träge Katzen denken. »Swea, hey! Na, wie ist der Midsommer-Sex bei den Wikingern?«
Sogar über den ganzen Nordatlantik hinweg trifft Anna blind und punktgenau.
»Henrik betrügt mich«, würge ich hervor. »Er hat eine Affäre, Anna! Schon wieder.«
In der folgenden Stille höre ich sogar die Autos, die an ihrem Atelier an der Hauptstraße vorbeibrausen. Kein Wunder, dass es Anna die Sprache verschlägt. Sie kennt unsere ganze Geschichte von Anfang an, sie kennt Henrik und mich in guten und in schlechten Zeiten. Und einen Teil seiner schlechten Zeiten hat Henrik der Tatsache zu verdanken, dass Anna mit Leuten, die ihren Freundinnen wehtun, nicht zimperlich umgeht. »Was?«, fragt sie nach einer Ewigkeit. »Aber … wie kommst du denn darauf …«
Ich lasse sie nicht ausreden, aus mir bricht alles heraus und noch viel mehr, was ich eigentlich gar nicht erzählen wollte. Für meine Mutter wäre es der Horrorfilm-Gegenentwurf zu ihrem heiß ersehnten Happy End. Handy Massaker. Ich beschreibe sogar Mias blau lackierte Fingernägel und ihren Schlangenring. Bevor ich auch noch Nachricht zwei wörtlich zitieren kann, ruft Anna mir »Swea, stopp mal!« ins Ohr.
Es passt gut, ich muss ohnehin Luft holen.
»Jetzt mal langsam«, sagt Anna. »Henrik bekommt irgendeine alberne Porno-SMS, und du rastest gleich dermaßen aus, dass du ihn den Eisbären zum Fraß vorwirfst und abhaust?«
Ich sollte ihr erklären, dass wir hier nicht am Nordpol sind. Aber dafür bin ich viel zu irritiert. Irgendeine alberne Porno-SMS? Mir schießt das Blut in die Wangen. Warum fühle ich mich wieder so, als wäre ich diejenige, die etwas falsch gemacht hat?
»Hast du überhaupt zugehört, Anna? Henrik vögelt diese Studentin, die in der Kunstfabrik arbeitet. Diese … Mia!«
In der nächsten langen Pause höre ich ein Feuerzeug schnappen. Anna steckt sich tatsächlich in aller Ruhe eine Zigarette an. »Swea, jetzt komm mal wieder runter. Erstens: Ich habe Mia mal gesehen, als ich meine Leinwände aus der Kunstfabrik geholt habe. Sie ist blond und …«
»Haare kann man färben. Das weißt du doch am allerbesten!«
»Jetzt atme mal tief durch und denk logisch: Henrik sammelt solche Nachrichten für seine Installation. Wie du weißt, heißt sie Sexting Beat. Klingelt etwas bei dir? Sexting! Die Definition, was das ist, hast du doch selbst für Henriks Kreditantrag bei der Bank ausformuliert. Dirty Talk per Mobile Messaging … die Art, sich im Zeitalter von Social Media erotisch zuzutexten …«
»Aber nicht mit Nachrichten, in denen eine Frau unter das Foto ihrer Brustwarze schreibt: ›Leck sie, Sexy! Your turn, Henrik‹. Und unterschrieben ist das Ganze mit ›MI‹.«
Ich will nicht so bitter klingen, aber ich kann nichts dagegen tun, dass sich wieder das Bild vor meine Augen schiebt: Henrik, der sich über eine nackte Brust beugt und genau das tut, wozu ihn die zweite Nachricht auffordert.
Ein paar Sekunden ist Stille, dann lacht Anna zu meinem Entsetzen einfach los.
»Der Absender ist MI? Ich sage es dir wirklich nicht gerne, aber du bist auf einen kleinen, pickeligen Praktikanten eifersüchtig.«
Jetzt verstehe ich überhaupt nichts mehr.
»Die SMS hat Mika Fennen geschrieben«, erklärt Anna. »Du weißt doch, dieser kleine Irre, der nur wegen seines Idols Henrik Kunst studiert. Über seinen Uni-Prof hat er es geschafft, sich an Henrik ranzuwanzen, und darf jetzt ein bisschen an der Vorbereitung der Installation mitarbeiten. Das heißt: Er zieht erotische Nachrichten von weißgottwelchen Servern und Plattformen und postet selbst welche. Archiv generieren nennt man das. Dein Busenwunder stammt sicher von irgendeiner Dating-Seite.«
Der Name Fennen sagt mir etwas. Und vage erinnere ich mich daran, dass ein Kunststudent Henrik wochenlang mit schrägen Bewerbungsaktionen genervt hat.
»Aber … warum sollte er solche Nachrichten im Urlaub an Henrik schicken?«, frage ich mit schwacher Stimme.
»Weil er ein Idiot ist?« Anna lacht. »Nein, wahrscheinlich ist er nur ein Streber. Henrik hat neuerdings diese Idee, das Publikum an den Computern im Ausstellungsraum mit vermeintlich echten Nutzern live chatten zu lassen. Mika und zwei andere Studenten sollen als Chatpartner fungieren. Mika hat dafür so ziemlich überall Fake-Profile angelegt. Bis zum Ausstellungsstart soll jeder in der Kunstfabrik sich so oft wie möglich einloggen und posten. Henrik macht auch mit – er wollte sogar mich einspannen, irgendwelche Schlampensprüche abzusetzen.« Ihr spöttischer Tonfall sagt deutlich, was sie davon hält.
Mein Mund ist zu trocken, um zu schlucken. »Aber … warum hat er mir nichts davon erzählt?«
Die lange Pause eines tiefen Raucherzugs lässt nichts Gutes ahnen. Und im Grunde weiß ich die Antwort schon. »Warum wohl, Swea?«, sagt Anna schließlich sanft. »Nach dem letzten Jahr hat er wohl befürchtet, dass du auf das Thema nicht gut zu sprechen bist.«
Ich schließe die Augen und sinke in den Sitz, so tief es geht. Aber leider kann ich nicht ganz verschwinden. Und Anna wäre nicht Anna, wenn sie jetzt nicht auch noch unbarmherzig nachtreten würde. »Du weißt, was ich von Henrik halte. Er kann ein echtes Arschloch sein, und glaube mir, ich hätte liebend gerne einen Grund, ihm wieder mal so richtig in den Hintern zu treten, aber diesmal gibt es wirklich keinen Anlass. Du kennst ihn doch: Wenn er für ein Konzept brennt, dann verbeißt er sich Tag und Nacht in die Arbeit. Besessene haben nun mal keinen Urlaub. So war er schon immer.«
»Ich weiß«, sage ich leise. Bei anderen mag es ein abgedroschenes Klischee sein, aber Henrik lebt tatsächlich mit Haut und Haaren für seine Kunst. Sogar ich bin ein Teil davon. Das ist Teil der Faszination, ihn zu lieben.
»In einer Hinsicht liegst du allerdings schon richtig«, setzt Anna süffisant hinzu. »Mika ist ’ne richtige, kleine Kunsthure. Und ich bin ziemlich sicher, dass er alles dafür tun würde, um im Lotterbett seines Meisters zu landen. Aber ich tippe trotzdem darauf, dass du dir bei Henrik nicht allzu große Sorgen machen musst.«
Sie schafft es tatsächlich, mich zum Lächeln zu bringen. Aber warum fühle ich mich trotzdem, als müsste ich jeden Augenblick verrückt werden?
»Swea? Alles in Ordnung?«
Ich muss mich räuspern, und trotzdem klinge ich heiser. »Natürlich.«
»Ja klar, das hört man«, sagt Anna ironisch. Es rumpelt, als sie den Sessel zum Fenster zieht. Rattan knarrt. Wenn ich die Augen schließe, sehe ich sie vor mir: lässig in den zerfransten Sessel geschmiegt, der schon zu Studienzeiten in ihrer WG stand, die bloßen Füße auf das Fensterbrett gelegt und sich keinen Deut darum scherend, dass Passanten, die am Atelier vorbeigehen, sich über ihre mit Farbe befleckten nackten Sohlen wundern. Wahrscheinlich ist ihr Kimono ein Stück über die Schulter gerutscht und gibt den Blick frei auf das Tattoo, das sie sich als Einsatz einer Wette hat stechen lassen. Bestimmt ist ihre schwarz gefärbte Mähne angezaust und die stets zu dramatische Schminke um die Augen verwischt. »Kurtisane für Arme«, hat Henrik sie einmal genannt. Und das war noch einer seiner freundlichen Titel für sie. Normalerweise lässt er sich darüber aus, dass sie keine Künstlerin sein kann, wenn sie ihr Atelier hauptsächlich mit Malkursen für Kinder und Hausfrauen finanziert. Schon zu Studienzeiten waren Annas und Henriks Diskussionen über Kunst und Kommerz wie epische Schlachten: blutig, laut und legendär.