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Ein Osterei im Winter? Anja staunt nicht schlecht, als sie das blaue Ei im Schnee entdeckt. Doch wer hätte gedacht, dass sie in ihrer Wollmütze hinter der Heizung kein Küken, sondern einen Drachen ausbrütet? Zum Glück verschlingt der winzige Kerl am liebsten Lavendelmilcheis anstatt Prinzessinnen und badet lieber im wohlig warmen Nudelwasser, als Feuer zu speien. Oder etwa nicht? Immerhin ist Lavundel ja ein richtiger Drache, wenn auch ein sehr kleiner ...
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Inhalt
Impressum
Ein Osterei im Schnee
Es kichert
Bo, der Retter
Die Spaghetti-Rutsche
Drachen gibt es nicht
Die Prinzessin auf der Erbse
Im Drachenrestaurant
Das Rodeo
Ein neues Familienmitglied
Es war einmal …
Lavundel wandert aus
Pirat ahoi!
Der Schrecken der Nachbarschaft
Mitternachtsfußball
Frühlingsgrüne Drachenfüße
Der Drache bringt Glück
Bo-Frosch
Der Maulwurf greift an
Tulpensalat
Was ein Drache lernen muss
Familie Lukas macht einen Abflug
Die grünen Männchen aus dem All
Warum kein Zeugnis?
Die Drachenschule
Der heißeste Tag des Jahres
Lavundel taucht ab
Das blaue Wunder
Frau Heck-Schaube packt aus
Was nun?
Lupi-Lavundel
Ferien bei Oma Filiz
Neue Freunde
Das Luftmatratzenrennen
Willkommen zu Hause!
Der Bratapfelbaum
Goldgelb und feuerrot
Sturnschnippen und Grillkohle
Alexander lässt den Drachen steigen
Heimweh
Käpt’n Feuerblitz zeigt sein Können
Es schneit
Ein Denkzettel aus Schnee
Das perfekte Weihnachten
Oh Palmenbaum!
Güle güle, Lavundel!
Autoreninformation
Als Ravensburger E-Book erschienen 2012 Die Print-Ausgabe erscheint in der Ravensburger Verlag GmbH © 2012 Ravensburger Verlag GmbH Alle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH Lektorat: Iris PraëlISBN978-3-473-38476-1www.ravensburger.de
Ein Osterei im Schnee
„Ich lebe in einem Irrenhaus!“, rief Mama. So verrückt wie heute Morgen ging es oft bei Familie Lukas zu. Anja konnte gut verstehen, dass ihre Mutter genervt war. Ihre beiden Brüder benahmen sich wirklich wie die Irren. Alexander war schon fast elf und hielt sich für superschlau. Leon war dreieinhalb. Papa nannte ihn Haribo, weil er für sein Leben gern Gummibärchen aß. Für Anja und Alexander war er aber nur Baby-Bo.
„Beeilt euch, los, los, los!“, schrie Mama und setzte Baby-Bo einen orangefarbenen Fahrradhelm auf den Kopf. Damit sah er aus wie ein Kürbis auf Wanderschaft, wenn er hinter Mama in seinem Kindersitz auf dem Fahrrad saß. Alle Kindergartenkinder hatten solche Helme.
„Schau mal, Kürbishausen auf Rädern!“, sagte Alexander, wenn die Kleinen von ihren Eltern vom Kindergarten abgeholt wurden.
„He, Tomatengesicht!“, schrie Alexander jetzt. „Bist du endlich fertig?“
Alexander sagte nie „Anja“ zu seiner Schwester, sondern dachte sich ständig neue Namen für sie aus. „Tomatengesicht“ hieß sie, weil sie gestern mit der Spaghettisoße gekleckert und lauter Tomatenspritzer im Gesicht gehabt hatte. Immerhin war das besser als der Spitzname von letzter Woche. Da hatte Alexander sie nur noch „Rülpsimurz“ genannt.
Anja schnappte sich ihre Winterjacke und rannte los.
Es war der erste Schultag nach den Weihnachtsferien, draußen war es noch dunkel. Anja stapfte los.
„Tschüss, ihr Schätzchen!“, rief Mama ihnen hinterher.
„Tschüss, ihr Blödis!“, schrie Baby-Bo. Bei Mama fühlte er sich wirklich sehr sicher.
Der Weg zur Schule führte durch den Stadtpark. Dort lag noch Schnee. Überall sahen sie die verkohlten Reste von Silvesterraketen.
„He, Tomatengesicht!“, rief Alexander und schaufelte klebrig nassen Schnee zu einem klumpigen Ball zusammen. „Hier kommt die weiße Rakete!“
Schon flog das Matschgeschoss in Anjas Richtung. Die Kälte und der erste Schultag waren schon widerlich genug. Aber Matsch und klebrige Schneebälle? Igitt! „Na warte!“, schrie Anja.
Sie zielte nicht schlecht und traf Alexander sogar einmal am Kragen. Das eisige Schmelzwasser lief ihm unter den Pulli. Es sah lustig aus, wie Alexander im Schnee herumtanzte. Dabei brüllte er und das hörte sich ziemlich wütend an.
Anja ging zwischen zwei Büschen in Deckung und wäre fast auf etwas Blaues getreten. Im letzten Moment konnte sie zur Seite springen. Dann staunte sie nicht schlecht. Mitten im Schnee lag … ein Ei! Die Schale leuchtete wie der Himmel an einem Sommertag. Anja zog sich die Handschuhe aus und hob das Ei auf. Und in ihrer Hand wurde es plötzlich ganz warm.
„Was ist das denn?“ Alexander war wie aus dem Nichts neben ihr aufgetaucht. „Gib her!“ Und schon hatte er sich das Ei geschnappt!
„Wetten, ich treffe damit den Ast da drüben?“, rief er und holte zum Wurf aus.
„Nein!“, kreischte Anja. „Gib es wieder her!“
Aber Alexander lachte nur sein fieses Großer-Bruder-Lachen, hob das Ei über seinen Kopf und tanzte um sie herum. „Hol’s dir doch, Zwerghuhn! Aber beeil dich, denn das hier ist die blaue Rakete! Und sie fliegt in zehn Sekunden! Zehn … neun … acht …“
So, das reichte! Alexander hüpfte immer noch wie ein Bekloppter herum. Anja machte einen Satz und stürzte sich auf ihn. Sie krallte sich mit aller Kraft an seinem Schulranzen fest. Wie ein Klammeraffe hing sie auf seinem Rücken. Alexander bockte und versuchte seine Schwester abzuschütteln.
„Gib auf!“, keuchte Anja.
Plötzlich rutschte Alexander im Schnee aus. Sie fielen hin. Oh nein, das Ei! Es wurde Alexander aus der Hand geschleudert und flog in die Luft. Anja landete kopfüber neben Alexander im Schnee. Sofort rollte sie sich herum und sah gerade noch, wie das Ei in hohem Bogen herabfiel. Sie kam wieder auf die Beine, stieß sich ab und warf sich nach vorne wie ein Torwart. Gerade noch rechtzeitig! Als sie das Ei auffing, verlor sie das Gleichgewicht. Unsanft landete sie auf dem Bauch. Ihr Schulrucksack drückte sie zu Boden. Weil sie die Hände nicht frei hatte, konnte sie sich nicht abstützen. Also schlitterte sie weiter. Sie rutschte mit dem Kinn über gefrorenes Gras und bekam matschigen Schnee in den Mund. „Bäh!“, keuchte sie und spuckte den Schnee aus. Aber zumindest war jetzt das Ei in Sicherheit. Bevor Alexander es ihr wieder abnehmen konnte, kam sie auf die Beine und rannte davon.
„He, stehen bleiben!“, rief Alexander ihr hinterher.
Aber Anja machte, dass sie davonkam. „Ätsch, gewonnen!“, schrie sie über die Schulter. „Das Ei gehört mir.“
Es kichert
Völlig außer Atem kam Anja in der Schule an. Das Ei lag sicher und warm in ihrer Wollmütze, die sie in beiden Händen trug. Sie konnte es kaum erwarten, diesen Fund ihrer Freundin Yasemin zu zeigen. Zusammen gingen die beiden Mädchen in die dritte Klasse. Weil Anja so schnell gerannt war, kam sie früh an. Die meisten anderen Kinder waren noch nicht da. Aber als sie ins Klassenzimmer stürmte, sah sie Yasemins wilde schwarze Locken. Anja fand, es waren die schönsten Locken der Welt. Sie selbst hatte leider nur glatte karamellbraune Strähnen so wie Papa und dazu grüne Augen und Sommersprossen wie ihre Mutter.
Es war toll, Yasemin nach den Ferien wiederzusehen. Aber Anja war viel zu aufgeregt für lange Begrüßungen.
„Schau mal!“, rief sie und hielt ihrer Freundin die Mütze hin. „Hab ich gerade im Park gefunden!“
Yasemin grinste. „Das sieht ja aus wie ein Osterei. Meinst du, jemand hat es bei der letzten Ostereiersuche im Frühling im Park vergessen?“
Anja schüttelte den Kopf. „Dann wäre ja Schnee daraufgefallen und ich hätte es gar nicht gefunden. Aber das Ei lag obendrauf, als hätte es jemand einfach im Park weggeworfen.“
„Hm“, machte Yasemin und beugte sich tief über die Mütze. „Das sieht eigentlich auch nicht aus wie Farbe. Die Schale scheint tatsächlich so blau zu sein!“ Vorsichtig streichelte sie das Ei und zog sofort den Finger wieder zurück. „Das ist ja heiß!“
„Wirklich? Eben war es noch ganz kalt!“, antwortete Anja verwundert. Vorsichtig tippte sie das Ei an und wunderte sich noch mehr. Hatte Yasemin sich geirrt? Jetzt war das Ei nämlich wieder so kalt wie ein Eiswürfel.
„Das ist ja komisch“, sagte sie. „Es wird immer wieder mal von selbst kalt und dann wieder warm. Vielleicht ist ja etwas Lebendiges drin …“
„Gib mal her!“, sagte Yasemin. Behutsam wog sie das Ei in der Hand, dann schüttelte sie den Kopf. „Nein, erstens schlüpfen Küken nie im Januar. Und zweitens müsste das Ei ganz leicht sein, wenn ein Küken drin wäre.“
„Woher weißt du das?“
„Meine Oma in der Türkei kennt sich mit Vögeln aus“, erklärte Yasemin.
„Hm“, machte Anja. Ehrlich gesagt war sie ein bisschen enttäuscht. Klar wusste sie, dass Vögel im Winter keine Eier legten. Aber insgeheim hatte sie doch gehofft, dass das hier ein ganz besonderes Ei war.
Plötzlich stutzte Anja. „Was war das?“
Yasemin runzelte die Stirn. „Was denn?“
„Da war ein Geräusch! Es kam aus dem Ei!“
„Echt?“ Yasemin grinste. „Oder ist das wieder eine von deinen Geschichten?“
Anja schüttelte heftig den Kopf. „Da war wirklich was!“
„Rrrriiiiiing!“
Die Schulglocke erschreckte sie so sehr, dass sie mit einem Schrei zurückprallte. Yasemin zuckte zusammen.
„Puh, hast du mich erschreckt!“, rief sie. „Was hast du gehört?“
„Ich weiß es nicht genau“, antwortete Anja. „So was wie ein Fiepen. Das ist wirklich was drin! Hör mal!“
Anja hielt ihrer Freundin das Ei ans Ohr, aber Yasemin schüttelte den Kopf. „Ich höre gar nichts. Vielleicht hast du es dir doch nur eingebildet? Komm, wir müssen zum Unterricht!“
Auf dem Flur trampelten und schlurften die Kinder zu den Klassenzimmern. Anja steckte rasch das Ei in die Mütze und sprang auf. Sie mussten sich beeilen, um noch rechtzeitig zur ersten Stunde zu kommen. Es war Kunst, ihr Lieblingsfach, aber Anja konnte sich heute gar nicht auf die Malfarben konzentrieren. Immer wieder griff sie verstohlen in ihre Mütze und streichelte das Ei. Es war erstaunlich: Jedes Mal fühlte es sich anders an – abwechselnd frostig und lauwarm, regenkalt und sonnenheiß, badewannenwarm und bibbergänsehautkalt. Plötzlich ertönte wieder das Geräusch. Anja begriff, was sie vorher gehört hatte: ein leises, freches, keckerndes Kichern!
Bo, der Retter
Das Ei gab in der Pause keinen Laut von sich und auch nach Schulschluss blieb es still. Und trotzdem: Anja war sich sicher, dass sie sich nicht verhört hatte. In diesem Ei steckte etwas Lebendiges!
Doch jetzt musste sie es erst mal in Sicherheit bringen. Zu Hause wollte sie ihren Schatz an ihren Brüdern vorbeischmuggeln. Dummerweise war nämlich auch Alexander früh aus der Schule zurückgekommen und lümmelte auf dem Sofa herum. Baby-Bo baute im Wohnzimmer aus Legosteinen ein Haus für seine Gummischildkröte. Noch hatten die Jungs ihre Schwester nicht entdeckt. Anja zog leise die Stiefel aus und huschte auf Zehenspitzen zur Treppe. Das war gar nicht so einfach, denn überall lagen Legosteine herum. Kaum hatte sie mit Hüpfern und Verrenkungen die Treppe erreicht, steckte plötzlich Mama den Kopf aus der Küchentür und rief: „Hallo, kleine Schleichkatze!“
Alexander und Baby-Bo hoben sofort die Köpfe. Alexander grinste fies.
„Ihr könnt gleich den Tisch decken“, sagte Mama gut gelaunt. „In einer halben Stunde gibt’s Spaghetti!“ Mit diesen Worten verschwand sie wieder in der Küche.
Jetzt ging es um Sekunden. Anja flitzte die Treppe hoch.
„Stehen bleiben, Eierkopf!“, rief Alexander. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie er vom Sofa hochschoss.
„Eierkopf! Eierkopf“, wiederholte Baby-Bo begeistert. Na klasse! Schon wieder ein neuer Spitzname! Natürlich ließ auch Baby-Bo seine Legosteine sofort fallen und wetzte hinter Alexander und ihr her. Alle drei donnerten die Treppe hinauf.
„He, was ist denn mit euch los?“, hörte Anja noch Mamas Stimme von unten. Aber da war sie schon bei ihrem Zimmer am Ende des Flurs angelangt. Sie schlüpfte hinein und warf sich mit voller Wucht gegen die Tür. Blöderweise hatte Alexander genau dieselbe Idee. Sie stöhnten beide vor Anstrengung, während sie sich von verschiedenen Seiten gegen die Tür pressten. Schließlich gelang es Anja, die Tür wenigstens ein Stück zuzudrücken.
„Gib auf!“, brüllte Alexander.
„Nein! Du fasst das Ei nicht noch mal an!“, schrie Anja und hielt mit aller Kraft die Tür zu.
„Ich will auch die blaue Rakete sehen!“, quengelte Bo auf dem Flur herum.
„Los, Bo, hilf mir!“, rief Anja. „Dann zeige ich sie dir!“
Na also, das wirkte! Ihr kleiner Bruder quetschte sich durch den Türspalt ins Zimmer und drückte nun auch von innen gegen die Tür.
„Fieser Verräter!“, schimpfte Alexander vom Flur aus.
Aber jetzt hatte er keine Chance mehr. Mit einem Knall fiel die Tür ins Schloss und Anja drehte blitzschnell den Schlüssel um.
„Das wird euch noch leidtun!“, kam Alexanders Stimme dumpf von der anderen Seite. Bo grinste unter seinem Fahrradhelm hervor.
Tja, versprochen war versprochen. Anja nahm den Schulranzen ab und holte die Mütze hervor, in der das Ei sicher gepolstert lag. „Es ist gar keine Rakete, sondern ein Ei“, flüsterte sie ihrem kleinen Bruder zu. „Es lag im Schnee.“
Bo bekam große Augen und streckte die Hände danach aus.
„Nur ansehen!“, warnte Anja.
„Ich will es aber anfassen!“, maulte er und bibberte vorsichtshalber mit der Unterlippe. Das war Bos Art, mit Geheul zu drohen. Wenn er loslegte, würde das sofort Mama auf den Plan rufen. Bo war ein richtiger Erpresser!
Anja schnaubte und hielt ihm das Ei hin. „Na gut. Aber nur streicheln, und zwar ganz vorsichtig!“, ermahnte sie ihn. Sie hatte ein ganz mulmiges Gefühl, als sie seine kleinen Wurstfinger über das schöne Ei patschen sah. Und natürlich musste er es dann auch noch ablecken.
„Iiih!“, schrie Anja. „Du Sabberbacke!“
Sie zog das Ei weg von ihm und rieb es an ihrem Pulli trocken. Doch da hörte sie es wieder, das Kichern. Ganz leise. „Hehehe.“ Als wäre das Ei kitzlig.
„Schau mal!“, quietschte Bo und deutete aufgeregt darauf.
„Was macht ihr da drinnen?“, schrie Alexander. Wütend trommelte er gegen die Tür.
Anja hob das Ei ins Licht. „Es bekommt eine andere Farbe!“, sagte sie erstaunt. Tatsächlich: Je länger es in ihrer Hand lag, desto mehr veränderte sich das Blau. Das Ei wurde erst lila und schließlich feuerrot. Und als ob das noch nicht seltsam genug gewesen wäre, leuchteten auf dem feuerroten Ei auf einmal sonnengelbe Sprenkel.
Bo machte schon den Mund auf. Vermutlich wollte er „Mama, guck mal!“ schreien und in Richtung Tür loslaufen. Aber Anja hielt ihn zurück. „Hör zu, Bo, das ist ein Geheimnis“, flüsterte sie und sah ihrem Bruder ernst in die Augen. „Alexander darf das Ei nicht in die Finger bekommen, sonst macht er es kaputt. Vielleicht ist ein blaues Küken darin. Wir müssen gut darauf aufpassen. Hast du verstanden?“
Bo riss die Augen noch weiter auf und nickte dann ernsthaft.
„He, was flüstert ihr da?“, donnerte Alexander.
Bo sah sich im Zimmer um und zupfte dann an Anjas Ärmel. „Wir müssen das Ei schnell verstecken“, sagte er besorgt.
Jetzt musste Anja doch lächeln. Wenn es darum ging, Tiere zu beschützen, konnte sie sich auf ihren kleinen Bruder verlassen. „Gute Idee. Das machen wir!“, sagte sie leise.
„Mama!“, rief Alexander. „Anja und Bo haben die Tür abgeschlossen. Und hier riecht es ganz komisch nach Streichhölzern. Ich glaube, die machen Feuer da drin!“
Das sah Alexander ähnlich! Wenn er gewinnen wollte, war ihm jedes Mittel recht. Schon erklangen Mamas feste Schritte auf der Treppe. Gleich darauf ertönte ein hartes, aber nachdrückliches Klopfen. „He, sofort aufmachen! Wehe, ihr zündelt da drin!“
„Wir zündeln doch gar nicht“, rief Anja und stürzte mit dem Ei in der Hand zur Heizung.
„Ach wirklich?“, rief Mama streng. „Und warum sperrt ihr dann die Tür zu? Ihr wisst, dass ich das nicht mag! Bo? Lass mich ins Zimmer!“
Bo bekam einen Schreck und vergaß auf der Stelle, dass er ein Küken-im-Ei-Beschützer war. Er witschte zur Tür und drehte den Schlüssel im Schloss herum. Anja versteckte die Mütze mit dem Ei blitzschnell hinter der Heizung. Gerade noch rechtzeitig, bevor Alexander und Mama hereinkamen. Mama sah sich kurz um, schnupperte misstrauisch und schüttelte dann verärgert den Kopf. „Die zwei zündeln doch gar nicht!“, sagte sie streng zu Alexander.
Alexander tat so, als würde er schuldbewusst den Kopf senken. Aber Anja fiel natürlich auf, dass er den Schulranzen anstarrte. Tja, das hatte er sich so gedacht! Das Ei würde er hinter der Heizung nicht so schnell finden.
„Ein für alle Mal: Ich will nicht, dass sich hier noch einmal jemand einsperrt“, sagte Mama streng. Sie zog den Schlüssel aus dem Schloss und ließ ihn in die Hosentasche ihrer Jeans gleiten. „Und jetzt alle nach unten! Wenn ihr herumstreiten könnt, dann könnt ihr auch den Tisch decken.“
Die Spaghetti-Rutsche
Während Anja und ihr großer Bruder den Tisch deckten, beobachteten sie einander mit Argusaugen. Und als Alexander angeblich aufs Klo musste und nach oben verschwand, schlich Anja ihm sofort nach. Sie erwischte ihn dabei, wie er ihren Schulranzen durchsuchte.
„Lass meinen Schulranzen in Ruhe!“, fauchte sie. Alexander grinste nur und kickte so hart gegen den Ranzen, dass Hefte und Bücher herausrutschten.
„Lass Mama bloß dein Durcheinander nicht sehen“, sagte er hämisch, doch dann lief er wieder nach unten.
Anja atmete auf und sah sich in ihrem Zimmer um. Er hatte Recht, bei ihr war es wirklich nicht besonders ordentlich. Aber sie selbst wusste immer, wo sie ihre Sachen fand. Rasch schlich sie zur Heizung. Fast hätte sie einen Schrei ausgestoßen. Ihre Mütze und das Ei waren nicht mehr da! Anja wurde eiskalt. Alexander konnte es nicht gewesen sein. Er hatte ja eben noch nach dem Ei gesucht. Sollte Baby-Bo etwa … Na klar! Ihr kleiner Bruder musste das Ei mitgenommen haben, als sie noch im Zimmer gewesen waren. Oh nein! Hoffentlich ging es dem Ei gut.
Sie rannte zur Treppe und spähte ins Wohnzimmer hinunter. Alexander verschwand gerade in der Küche, um Besteck zu holen. Und links von der Treppe saß Bo neben dem Sofa und räumte brav seine Stofftiere auf. Er hatte den Fahrradhelm abgenommen – sehr verdächtig. Sein dunkelbraunes Haar stand ihm nach allen Seiten vom Kopf ab. Noch verdächtiger kam ihr vor, dass er so leise war. Still türmte er seine Stofftiere zu einem riesigen Berg neben dem Sofa auf.
Anja rannte die Treppe hinunter und schnappte sich einen Stofflöwen, der ganz oben auf dem Berg thronte. „Warum hast du das Ei gestohlen?“, zischte sie Bo zu. „Wo ist es?“
Bo sprang auf und riss ihr empört den Löwen aus der Hand.
„Lupi passt auf!“, sagte er ernst. Keiner wusste warum, aber Bo nannte alle seine Stofftiere Lupi. Jetzt sprang er vor, hob den Lupi-Löwen hoch über den Kopf und setzte ihn dann mit Schwung wieder auf die Spitze der Kuscheltier-Pyramide. Es war wohl etwas zu viel Schwung, denn Bo verlor das Gleichgewicht und landete mit dem Bauch auf den Stofftieren. In diesem Moment hörten sie es beide: ein deutliches Knacken, so als würde eine Schale zerbrechen.
Bo sah genauso erschrocken drein wie Anja. Jetzt gab es kein Halten mehr. Anja zog ihren Bruder herunter, dann packte sie ein Stofftier nach dem anderen und warf es zur Seite. Lupi-Krokodil, Lupi-Löwe, Lupi-Katze, Lupi-Hund und Lupi-Frosch flogen durch die Luft und landeten auf dem Sofa. Endlich kam der Fahrradhelm zum Vorschein. Im Fahrradhelm lag Anjas Wollmütze. Und in der Mütze …
„Oh nein!“, entfuhr es ihr.
Ein Lachen ließ sie zusammenzucken. „Da war Bo wohl schneller als ich“, feixte Alexander. „Jetzt ist das Ei kaputt. Sieht ja fast aus, als wäre es explodiert.“
Anja brachte kein Wort heraus, sie starrte immer noch auf die unzähligen Eierschalenstücke. Sie hingen überall: an der Mütze, im Helm und an den ganzen restlichen Lupis. Bo fing an, herzzerreißend zu schluchzen. Auch Anja war ganz elend zumute.
Mama kam aus der Küche. „Was ist denn jetzt schon wieder los?“
Bo stürzte zu ihr und umklammerte ihre Knie. „Es … es war blau“, stammelte er. „Und dann rot und gelb. Und dann heiß und kalt. Und jetzt ist es zerbrochen.“
Mama runzelte die Stirn. „Ich verstehe kein Wort“, sagte sie und strich Bo über den Kopf. „Was war blau?“
„Eierkopf hat irgendein faules Ei im Park gefunden und Bo hat es zerdeppert“, erklärte Alexander und grinste.
In der Küche fiel etwas mit einem Mordsgeschepper auf die Fliesen. Mama zuckte zusammen und lief gefolgt von Bo in die Küche. „Huch, der Topfdeckel ist runtergefallen!“, rief sie verwundert ins Wohnzimmer.
Anja starrte immer noch auf den Helm. Komisch, dass nur die Eierschale zu sehen war, aber kein ausgelaufener Dotter.
„Iiih!“, schrie Mama entsetzt in der Küche. Im selben Moment knallte etwas ganz fürchterlich. Geschirr zerbrach, dann ertönte ein dumpfes „Pluff“ und ein Kreischen von Bo. Anja und Alexander stürzten in die Küche. Vor dem Herd standen zwei Gespenster – ein großes und ein kleines. Mama und Bo, über und über mit Mehl bepudert. Eine geplatzte Mehltüte lag auf den Fliesen. Sie musste vom Regal gefallen sein – direkt auf die beiden.
Jetzt hagelten auch die Gewürzdöschen eines nach dem anderen aus dem Regal, als hätte sie jemand geschubst. Pfeffer und Salz, quietschgelber Curry und rotes Paprikapulver rieselten auf die Anrichte und auf den Herd. Mama versuchte noch ein Säckchen mit Lavendel aufzufangen. Doch da ertönte ein lautes „Platsch“ aus dem Spaghettitopf. Er war voller Wasser, die noch festen Spaghetti ragten an einer Seite über den Rand hinaus.
„Das gibt es doch nicht!“, rief Mama ungläubig. „Raus aus der Küche, Kinder!“
Aber weder Anja noch Alexander gehorchten. Denn das, was sie im Topf sahen, war einfach unfassbar. Im Spaghettiwasser paddelte ganz vergnügt ein feuerrotes Schuppentier herum. Es musste aus dem Ei geschlüpft und schnurstracks in die Küche geflitzt sein. Aber es war kein blaues Küken, sondern ein winzig kleiner Drache!
Mama stellte sofort den Herd aus und zog den Topf von der Kochplatte. Das kleine Wesen tauchte unter und glitt in einem eleganten Bogen tiefer zum Topfboden. Winzige Flügel schlugen auf und ab wie Flossen. Er schien sich pudelwohl zu fühlen.
Mama schnappte sich einen Löffel und holte den Drachen aus dem Topf. Sehr begeistert schien er darüber aber nicht zu sein. Er warf Mama einen empörten Blick zu. Dann wollte er mit einem Kopfsprung zurück in den Topf hechten, als wäre der Löffel ein Sprungbrett im Schwimmbad.
„Halt, hier geblieben!“, sagte Mama und legte ihre Finger um den gepanzerten Rücken.
„Autsch!“, rief Mama und schüttelte ihre Hand. „Der ist ja heiß wie ein gekochtes Ei.“
Der Drache machte einen hübschen Sprung und landete bäuchlings auf den Spaghetti, die aus dem Topf ragten. Mit einem Juchzer rutschte er darauf wie auf einer Rutschbahn ins Wasser zurück.
„Jetzt reicht es!“ Mamas Augen funkelten. „Spaghettisieb!“
Alexander holte das Metallsieb aus dem Küchenschrank.
„Aber vorsichtig!“, bat Anja.
Mama schnappte sich zwei Topflappen, packte den Topf an den Henkeln und kippte das ganze Wasser samt den Spaghetti und dem Drachen in das Sieb. Ein wütendes Fiepen erklang. Dann saß der kleine Drache völlig verdattert zwischen den Nudeln. Traurig schaute er zu, wie das Wasser um ihn herum einfach verschwand.
„So, jetzt lassen wir ihn erst einmal abkühlen“, sagte Mama und nahm Bo hoch, damit er auch endlich etwas sehen konnte. Anja beugte sich über das Spaghettisieb und betrachtete den Drachen. Was für ein hübscher, kleiner Kerl! Noch nie hatte sie so schöne Augen gesehen! Sie waren blau mit Pupillen wie dunkle Sterne. Außerdem hatte er winzig kleine Krallen und eine geschwungene Schnauze, fast wie ein Seepferdchen. Nun schüttelte er sich, sodass auch noch die letzten Tropfen von seinen Schuppen rollten. Dann machte er „Brrrr!“. Eben war er noch feuerrot gewesen, jetzt aber verblasste seine Farbe. Als er ganz abgekühlt war, strahlte er schneeweiß. Er hatte graue und schwarze Flecken auf dem Rücken, die aussahen wie dunkle Schneeflocken. An den Beinen hatte er schwarze Streifen – als würde er Ringelsocken tragen. Tropfnass hangelte er sich am Rand des Spaghettisiebs hoch und flitzte über die Anrichte. Das heißt, er versuchte zu flitzen. Doch dann rutschte er auf einem kleinen Fleck Olivenöl aus, landete auf dem Bauch und schlitterte geradewegs in das offene Lavendelsäckchen. Es machte „Uffz-Ömpf“, dann stieg eine Lavendel-Staubwolke hoch. Ein schwaches Husten erklang.
„Alexander, schnell, geh in den Keller und hol den alten Hamsterkäfig!“, befahl Mama.
Der Drache sperrte das winzige Maul sperrangelweit auf und holte tief Luft. Und dann – „Hatschi-Pfffiiitt!“ – nieste er Anja eine Lavendelwolke ins Gesicht.
Drachen gibt es nicht
„Es kann kein Drache sein. Drachen gibt es nicht!“ Wie oft hatte Papa diesen Satz heute schon gesagt? Seit er nach Hause gekommen war, blätterte er zusammen mit Mama in Tierbüchern. In Mamas Arbeitszimmer gab es unzählige Bücher, außerdem viele Computer. Wenn sie hier arbeitete, entstanden am Bildschirm endlose Zahlenreihen, Bilder und Geheimzeichen. War sie damit fertig, hatten sich die ganzen Zahlen und Bilder in ein neues Computerspiel verwandelt. Und das durften Alexander und Anja als Erste ausprobieren.
„Vielleicht ist es ja ein … äh … Komodowaran“, murmelte Papa nun. Er hatte immer noch den dunkelgrauen Anzug an, den er im Büro trug. Sein sonst so strubbeliges blondes Haar war glatt gekämmt.
„Hier steht, die werden drei Meter lang und sind gefährlich.“ Papa rückte seine Brille zurecht und verglich das Bild einer riesenhaften grünen Echse mit dem weißen Winzdrachen. Dann schüttelte er ratlos den Kopf und fuhr sich mit beiden Händen durchs Haar. Die glatte Frisur löste sich auf. Jetzt, mit den verwuschelten Haaren, sah er schon eher aus wie sonst. „Nein, es ist kein Waran, keine Rieseneidechse und auch kein Feuersalamander.“
„Ich sage dir doch, es ist ein Flugdrache“, sagte Anja. „Ganz bestimmt!“
„Die gibt es nur in Büchern und Filmen“, beharrte Papa.
„Hatschi-Pfffiiittt!“, nieste der Drache. Mama hatte ihm ein kleines Handtuch in den Käfig gelegt und der Drache hatte sich bis zur Nasenspitze darin eingewickelt. Im Käfig sah er aus, als würde er im Gefängnis sitzen. Er tat Anja leid. Aber ihre Eltern wollten nicht, dass er in der Wohnung herumlief.
„Ist doch klar, dass es ein Drache sein muss“, sagte Alexander. „Ein normales Tier würde doch niemals freiwillig in heißem Wasser schwimmen.“
Mama nickte nachdenklich. „Das stimmt natürlich.“
„Jetzt muss sich unser Eierkopf aber in Acht nehmen!“, rief Alexander mit einem feixenden Grinsen. „Denn was fressen Drachen? Kleine Mädchen!“
Bo riss erschrocken den Mund auf. Alexander stampfte wie das Monster Godzilla bedrohlich auf Anja zu. „Ich fress dich, Eierkopf!“, grunzte er und verzerrte das Gesicht zu einem grässlichen Fauchen.