David im Glück - Eva-Maria Horn - E-Book

David im Glück E-Book

Eva Maria Horn

5,0

Beschreibung

Große Schriftstellerinnen wie Patricia Vandenberg, Gisela Reutling, Isabell Rohde, Susanne Svanberg und viele mehr erzählen in ergreifenden Romanen von rührenden Kinderschicksalen, von Mutterliebe und der Sehnsucht nach unbeschwertem Kinderglück, von sinnvollen Werten, die das Verhältnis zwischen den Generationen, den Charakter der Familie prägen und gefühlvoll gestalten. Mami ist als Familienroman-Reihe erfolgreich wie keine andere! Seit über 40 Jahren ist Mami die erfolgreichste Mutter-Kind-Reihe auf dem deutschen Markt! Vanessa Michels hatte sich auf die breite Fensterbank gesetzt. Sie sah sich in ihrem neuen Zuhause um; zwei Jahre würde sie vermutlich die wortkarge Frau Ruge als Vermieterin haben. Es sollte ihr recht sein, wenn die Frau sie in Ruhe ließ, aber ganz so kurz angebunden musste sie auch nicht sein. Aber hier würde sie ihre Ruhe haben und gut arbeiten können. Ihr Zimmer war geräumig; es war alles da, was sie brauchte. Vanessa war nicht gewohnt, Ansprüche zu stellen, und es war Unsinn, dieses Zimmer mit dem Zimmer bei Dr. Steffen zu vergleichen. Und wenn sie an Dr. Steffen dachte, an das praktische Jahr, das sie bei ihm absolviert hatte, dachte sie unweigerlich auch an einen hochgewachsenen Mann, der mit seinen schwarzen Haaren und den grauen Augen einfach umwerfend aussah. Vanessa ärgerte sich. Sie war doch nun wirklich kein schwärmerischer Backfisch mehr. Es dauerte gar nicht mehr so lange, dann konnte sie sich Tierärztin nennen, und für Männer hatte sie in den folgenden Jahren überhaupt keine Zeit. Da musste sie an ihrer Karriere arbeiten. Außerdem verkehrte dieser Gutsbesitzer, der ihr einfach nicht aus dem Kopf ging, in Kreisen, die ihr verschlossen waren. Ärgerlich auf sich selbst sprang sie von der Fensterbank, warf aber noch einen Blick in den Garten. Alte Bäume standen auf sorgfältig bearbeiteten Beeten, Blumen, deren Namen sie nicht einmal kannte, blühten üppig. Aber ihr Blick flog zu dem Jungen hinunter. Er hockte neben einem Johannisbeerstrauch, aber er pflückte die Beeren nicht, die knallrot an den Zweigen hingen. Was er so interessiert musterte, konnte Vanessa nicht sehen. Ihr fiel nur auf, dass er keinen Blick zu seiner Großmutter warf, und die alte Dame schien sich auch nicht um ihn zu kümmern.

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Mami Bestseller – 15 –

David im Glück

Ein einsamer Junge wird mit Liebe überschüttet

Eva-Maria Horn

Vanessa Michels hatte sich auf die breite Fensterbank gesetzt. Sie sah sich in ihrem neuen Zuhause um; zwei Jahre würde sie vermutlich die wortkarge Frau Ruge als Vermieterin haben. Es sollte ihr recht sein, wenn die Frau sie in Ruhe ließ, aber ganz so kurz angebunden musste sie auch nicht sein.

Aber hier würde sie ihre Ruhe haben und gut arbeiten können. Ihr Zimmer war geräumig; es war alles da, was sie brauchte. Vanessa war nicht gewohnt, Ansprüche zu stellen, und es war Unsinn, dieses Zimmer mit dem Zimmer bei Dr. Steffen zu vergleichen. Und wenn sie an Dr. Steffen dachte, an das praktische Jahr, das sie bei ihm absolviert hatte, dachte sie unweigerlich auch an einen hochgewachsenen Mann, der mit seinen schwarzen Haaren und den grauen Augen einfach umwerfend aussah.

Vanessa ärgerte sich. Sie war doch nun wirklich kein schwärmerischer Backfisch mehr. Es dauerte gar nicht mehr so lange, dann konnte sie sich Tierärztin nennen, und für Männer hatte sie in den folgenden Jahren überhaupt keine Zeit. Da musste sie an ihrer Karriere arbeiten. Außerdem verkehrte dieser Gutsbesitzer, der ihr einfach nicht aus dem Kopf ging, in Kreisen, die ihr verschlossen waren.

Ärgerlich auf sich selbst sprang sie von der Fensterbank, warf aber noch einen Blick in den Garten. Alte Bäume standen auf sorgfältig bearbeiteten Beeten, Blumen, deren Namen sie nicht einmal kannte, blühten üppig. Aber ihr Blick flog zu dem Jungen hinunter. Er hockte neben einem Johannisbeerstrauch, aber er pflückte die Beeren nicht, die knallrot an den Zweigen hingen. Was er so interessiert musterte, konnte Vanessa nicht sehen. Ihr fiel nur auf, dass er keinen Blick zu seiner Großmutter warf, und die alte Dame schien sich auch nicht um ihn zu kümmern. Komisch, dass sie ein ungutes Gefühl bekam; ihr war, als spürte sie mehr zwischen den beiden als nur eine räumliche Distanz.

Jetzt hob der Kleine den Kopf. Unwillkürlich verzog Vanessa den Mund zu einem Lächeln, aber er lächelte nicht zurück, sah sie nur aus großen Augen an. Fahrig strich er mit der Hand über sein kurz geschnittenes schwarzes Haar; die Farbe seiner Augen konnte Vanessa nicht erkennen, aber um seine dichten Wimpern würde ihn jedes Mädchen beneiden, dachte sie amüsiert.

Energisch begann sie, ihre Sachen auszupacken. Amüsiert dachte sie: wie gut, dass ich mit leichtem Gepäck reise. Die meiste Zeit beanspruchten ihre Bücher, ihre Unterlagen; die Bücher füllten bald die einfachen Regale an der Wand. Schon sah das Zimmer gemütlicher aus. Nach einer Stunde hatte sie alles an den richtigen Ort geschafft und sah sich zufrieden um. Irgendwann würde sie sich bunte Kissen kaufen, die konnten ja nicht die Welt kosten. Die würden sich auf dem Sofa gut machen, dann sah der graue Bezug nicht mehr so trostlos aus.

Ein Blick zur Uhr. Es war noch nicht einmal zwölf Uhr, Zeit, in Ruhe einzukaufen. Eigentlich war es ihr gar nicht bewusst, dass sie Ausschau nach dem Jungen hielt. Er hockte noch immer im Gras; Spielsachen lagen nicht in seiner Nähe. Ich spinne total, verspottete sie sich selbst, wieso dichte ich ihm an, dass er einsam ist? Der Duft nach gerösteten Zwiebeln trieb durchs Haus. Also war Frau Ruge vermutlich in der Küche.

Sie lief die Treppe hinunter. Die Stufen knarrten, ein Sonnenstrahl fiel durch das schmale Fenster und beleuchtete die vergilbte Tapete.

Musste Vanessa fragen, ob sie den Garten betreten durfte?

Sie klopfte an die Küchentür. Nach dem heiseren »Herein« öffnete sie die Tür. Frau Ruge stand am Herd; mit ausdruckslosem Gesicht sah sie ihrer Mieterin entgegen.

»Fehlt etwas?«

»Aber nein, es ist alles perfekt. Ich wollte nur fragen, ob ich in den Garten gehen darf. Von oben sieht er einfach umwerfend aus. Es muss eine Heidenarbeit sein, so eine große Fläche in einen solch perfekten Zustand zu bringen. Das können Sie doch nicht allein machen.«

Sie nickte und pustete eine Strähne des grauen Haares aus der Stirn. Sie verzog sogar den Mund ein wenig.

»Gartenarbeit macht mir Freude«, war ihre knappe Antwort. Und nach einem Augenblick setzte sie hinzu: »Wer sollte mir denn helfen? David ist noch zu klein. David und ich leben allein hier im Haus.«

Natürlich hatte Vanessa Fragen auf der Zunge. Aber die alte Dame mit dem müden, versorgten Gesicht würde ihr nur ungern Antwort geben. Irgendwann war die Zeit dafür. Vanessa wusste, dass sie Menschen gut zum Reden bringen konnte. In ihrem Beruf war ihr das bestimmt eine Hilfe.

»Gehen Sie nur in den Garten. Einen Liegestuhl habe ich auch, er steht im Schuppen, es braucht ihn ja niemand. Sie können ihn gern herausholen. Stellen Sie ihn hin, wo immer Sie wollen. Dass Sie auf meine Blumen achten müssen, brauche ich Ihnen ja nicht zu sagen.«

»Ganz sicher nicht. Das ist sehr nett von Ihnen, Frau Ruge. Ich bin schrecklich lufthungrig. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, werde ich mit meinen Büchern auftauchen, darauf freue ich mich.«

Sie nickte nur. Wie dünn sie war, die hängenden Schultern passten zu dem müden Gesicht. Nein, müde traf es nicht ganz. Die ganze Erscheinung der Frau drückte Resignation, ja, Hoffnungslosigkeit aus.

Energisch schüttelte Vanessa die Gedanken ab. Sie würde sich ganz sicher nicht mit den Sorgen ihrer Vermieterin befassen. Dazu hatte sie weder Zeit noch Lust. Außerdem sah Frau Ruge aus, als würde sie auf fremdes Mitleid keinen Wert legen. »Es ist nett von Ihnen, dass ich Ihren Garten und den Liegestuhl benutzen darf«, sagte sie lächelnd und ging rasch hinaus. Leise schloss sie die Tür und atmete tief durch. Und ihre Stimmung hob sich. Sie hörte, wie der Wind in den dicht belaubten Bäumen spielte, sie sog begeistert den Duft von Erde und Blumen ein. Schön war es hier. Und ganz bestimmt würde sie oft hier im Garten sitzen und lernen. Sie musste nur darauf achten, dass sie nicht zum Störenfried wurde.

Die üppig blühenden Blumenbeete waren sorgfältig mit Buchsbaum eingefasst. Der Junge hockte immer noch im Gras, aus großen Augen sah er ihr entgegen.

»Hallo.« Sie war mehr den Umgang mit Tieren gewohnt, mit Kindern kannte sie sich nicht aus. »Ich bin Vanni, ich wohne für eine Weile bei euch.«

Er nickte. »Weiß ich doch.« Seine Stimme klang ein wenig heiser, als hätte er schon eine Weile nicht gesprochen. »Oma wollte nicht vermieten, weil Frau Biermann gesagt hat, dass es gefährlich ist, Fremde ins Haus zu holen. Aber Oma sagt, sie muss vermieten, sie muss Steuern bezahlen.« Er krauste seine hohe Kinderstirn, eine Locke seines schwarzen Haares strich er mit seiner erdverschmierten Hand zurück. »Wer Omas Geld will, weiß ich nicht. Wenn ich ihn kennen würde, dann würde ich zu ihm gehen und ihn bitten, von Oma kein Geld zu nehmen. Weil sie es doch braucht. Und ich koste auch viel Geld, weil ich doch Schuhe und Hosen brauche.« David staunte über sich selbst. Er konnte sich nicht erinnern, jemals mit einer fremden Frau so viel gesprochen zu haben. Aber eigentlich war diese Vanni noch gar keine Frau. Sie sah wie ein großes Mädchen aus.

Und sie gefiel ihm.

Sie trug Jeans, einen bunten Pulli, und Strümpfe hatte sie nicht an. Aber lieb sah sie aus. Er hatte noch nie ein Mädchen mit grünen Augen gesehen. Bei ihrem Lächeln verzog auch er den Mund.

Sie hockte neben ihm und legte die Hände zwischen die Knie. »Ich hab dich vom Fenster meines Zimmers gesehen und ich war neugierig …«

Er unterbrach sie ernsthaft. »Das ist aber nicht für immer dein Zimmer. Das ist eigentlich Omas Schlafzimmer, darin standen zwei Betten, da hat sie mit meinem Opa geschlafen.«

Er verkrampfte die Finger ineinander und sah Vanessa nicht an dabei. Er starrte auf die Erde, die zu einem kleinen Haufen geformt war. »Opa ist tot. Und jetzt schläft Oma in einem anderen Zimmer, aber sie hat die Betten nicht allein nach oben gebracht. Dabei hat ihr ein Mann geholfen. Aber ich durfte nicht zusehen, weil ich im Weg stand und sowieso nicht helfen kann.«

»Tut mir leid, dass deine Oma für mich ihr Zimmer geräumt hat. Es ist wirklich ein schönes Zimmer.«

»Der Schreibtisch gehörte meiner Mutter, daran hat sie ihre Schularbeiten gemacht. Und wenn ich in die Schule komme, arbeite ich auch daran.«

Er zog die Stirn in Falten und krauste die Nase. »Aber wenn du so lange bei uns bleiben willst, kann ich meine Schularbeiten auch am Küchentisch machen. Ich glaube, es ist in Ordnung, dass du jetzt in dem Zimmer wohnst. Weißt du«, setzte er altklug hinzu, »Oma war ja eigentlich immer nur nachts da drin.«

Auch Vanessa hatte die alte Frau nicht gehört. Wie aus dem Boden gewachsen stand sie da und sah nicht gerade freundlich aus. »Es ist eine Weile her, dass ich dich so viel reden hörte, David. Wir hatten eine Abmachung, nicht wahr?«

Der Junge sah ängstlich von seiner Großmutter zu Vanessa.

»Ich bin zu David gegangen, weil ich mich mit ihm bekannt machen wollte, Frau Ruge. Immerhin sind wir für eine Weile Hausgenossen.

»Ich will nicht, dass er Sie stört.«

»Das tue ich ganz bestimmt nicht«, brummelte er.

»Davor habe ich auch keine Angst.« Vanessa lachte beruhigend. »Ich bin neugierig, David. Was machst du hier? Ich hab dich vom Fenster aus beobachtet.«

»Meistens dummes, nichtsnutziges Zeug«, murmelte Frau Ruge und ging zum Haus.

Über die Schulter befahl sie: »Ich decke schon den Tisch, wasch dir die Hände.«

Offensichtlich war er den unfreundlichen Ton gewohnt. Jedenfalls zeigt sein Gesicht keine Regung. Es war ein ausgesprochen hübsches Gesicht. Die braunen Augen waren umrahmt von langen, dunklen Wimpern, auf seiner Stupsnase tummelten sich Sommersprossen. Als er auf die Füße sprang, fühlte Vanessa eine lächerliche Rührung. Er war offensichtlich sehr klein für sein Alter und sehr zart. Am liebsten hätte sie den Arm um ihn gelegt. Natürlich tat sie es nicht.

»Vielleicht erzählst du mir später, wenn du Lust hast, was du unter dem kleinen Berg von Erde versteckt hast.«

»Eine Schnecke.« Er dämpfte die Stimme und sah ängstlich zum Haus. »Oma will keine Schnecken im Garten. Sie sagt, die sind Schädlinge, die fressen ihren Salat.«

Er flüsterte: »Sie ist so winzig klein, und Oma hat genug Salat. Und Schnecken müssen doch auch essen, sonst gehen sie doch tot.«

Vanessa strich sein schwarzes Haar am Ohr zurück und lächelte ihn an. »Ich habe früher auch versucht, die Schnecken zu retten. Mein Vater hatte ihnen auch den Krieg erklärt. Ich glaube, es geht jedem Gartenliebhaber so.«

Sie ging neben ihm, seine Hand streifte ihren Arm. »Wohin hast du sie gebracht?«

Sie kicherte wie ein albernes Mädchen. »Zu Anfang in den Garten unserer Nachbarin. Leider hat sie das gesehen und ein furchtbares Theater gemacht. Mir hat es Hausarrest eingebracht.«

»Was ist das?«

»Geh jetzt besser ins Haus, sonst wird deine Oma noch ärgerlich.«

»Das wird sie gleich sowieso«, seufzte er. »Heute Mittag gibt es Weißkohlgemüse, da ist immer furchtbar viel Speck und Zwiebeln drin. Und wenn ich nicht richtig esse, regt sie sich furchtbar auf.«

»Das ist leider so, David. Ich konnte Rosenkohl und Möhrengemüse nicht ausstehen. Das hat mir auch viel Ärger eingebracht.«

»David, kommst du jetzt endlich?«

Bei dem ungeduldigen Ton zuckte der Junge zusammen und rannte los.

Vanessa hatte plötzlich keine Lust mehr, sich im Garten umzusehen. Sie ging in ihr Zimmer zurück und schob ärgerlich die Gedanken an den Jungen aus ihren Kopf. Aber sie hatten sich selbstständig gemacht, genauso wie die Erinnerungen an einen Mann mit schwarzen Haaren.

Sie setzte sich an den Schreibtisch, dem man trotz aller Pflege das Alter ansah. Sie dachte an Davids Mutter, und Mitleid mit dem Jungen quälte sie.

Ihre gedrückte Stimmung hob sich, als sie einkaufen ging. Diese Gegend ist wie ein kleines Dorf in der Stadt, dachte sie begeistert. Die Häuser, die sich wie schutzsuchend aneinander drückten, schienen nach einem Schema gebaut worden zu sein. Sie hatten alle die gleichen Klinker, die von Wind und Wetter etwas unansehnlich geworden waren. Aber vor den kleinen Fenstern hingen blütenweiße Gardinen, bei allen Häusern stand die blau gestrichene Haustür offen, als hofften die Bewohner auf Besuch.

Rührend fand Vanessa die kleinen Vorgärten, die sorgfältig gepflegt waren. Sie lenkten von der Ärmlichkeit der Häuser ab. Vanessa sah auf das letzte Haus der Kette und stellte erfreut fest, dass es ein Lebensmittelgeschäft war. Und begeistert war sie, als sie es betrat. Es war ein richtiger Tante-Emma-Laden, und auch die schwatzenden Frauen fehlten nicht darin.

Neugierige Augen musterten sie, aber bevor sie noch den Mund geöffnet hatte, rief eine Frau, die eine blaue Schürze über einer dunklen Bluse trug: »Sie sind die neue Mieterin von Frau Ruge, nicht wahr?«

Vanessa war trotz der geballten Neugier der Frauen keineswegs verlegen. Aber sie wollte nicht zeigen, wie amüsiert sie war.

»Ja, richtig. Ich bin heute Morgen eingezogen.«

»Ein junges Mädchen im Haus wird dem Jungen gut tun.« Die Frau trug einen Korb im Arm und sah ein wenig gepflegter aus als die drei anderen Frauen. »Er ist viel zu viel allein.«

»Richtig altklug ist er«, nickte eine andere. Es sollte wohl Mitleid sein, was ihr Gesicht ausdrückte. »Ich glaube nicht, dass Elli mehr als drei Worte am Tag mit ihm spricht. Sie ist so verbittert, das ist wie eine Krankheit, finde ich.«

Hinter der Ladentheke, auf der eine altmodische Kasse stand, stand ein junges Mädchen. Vanessa sah, wie sie genervt die Augen verdrehte. »Was kann ich für Sie tun?«, wandte sie sich Vanessa zu.

»Die Damen waren vor mir.« Vanessa lachte das Mädchen an. Hübsch sah sie aus mit ihren dicken blonden Zöpfen und dem Dirndlkleid, das ihre schmale Taille betonte.

»Die Damen haben nichts dagegen, dass ich Sie zu erst bediene.«

Vanessa hätte gern gesagt, wie gut ihr der Laden gefiel. Beinahe wie ein lebendiges Museum sah er aus. »Ich habe mir einen Zettel gemacht«, erklärte sie humorvoll und spürte die Blicke der Frauen. Vermutlich entging ihnen nicht die kleinste Kleinigkeit.

»Dann schießen Sie man los.« Sie erwiderte Vanessas Lachen. »Ich bin im Übrigen Sarah.«

Vanessa musste sich das Lachen verkneifen, als eine der Frauen erklärte: »Sie ist aber nicht nur die Verkäuferin hier. Sie hilft ihrer Tante im Geschäft.«

»Wie nett«, glaubte Vanessa sagen zu müssen. Es war lange her, dass sie sich so amüsiert hatte. Sarah erfüllte Vanessas Wünsche schnell, es waren auch alle Dinge, die Vanessa kaufen wollte, vorrätig. Ihre Lebensmittel packte sie in ihren Rucksack und verabschiedete sich mit fröhlichem Gesicht.

Sie sprang die zwei Stufen hinunter. Vanessa bemerkte erst, dass eine Frau ihr folgte, als sie angesprochen wurde. »Hoffentlich fühlen Sie sich bei Frau Ruge wohl und bleiben eine Weile dort wohnen.«

Sie warf einen Blick zur Seite. Es war die Frau mit der blauen Schürze. Eigentlich hatte Vanessa für Tratsch nichts übrig und sie mochte es nicht, wenn über andere geredet wurde. Aber zu ihrer Schande musste Vanessa sich eingestehen, dass sie neugierig war.

»Die Absicht habe ich.« Sie nickte freundlich. Die Frau blieb wie selbstverständlich an ihrer Seite.

»Ich bin Frau Biermann. Unsere Gärten liegen nebeneinander, aber ich habe weder Zeit noch Lust, von morgens bis abends im Garten zu arbeiten. Der kleine David kann einem in der Seele leid tun. Wissen Sie, hier in der Ecke, in unserem Viertel gibt es keine Kinder. Wir wohnen hier alle, seit wir verheiratet sind. Unsere Kinder sind erwachsen und längst ausgezogen.«

»David scheint ein sehr aufgeweckter Junge zu sein.«

»Das ist er. Aber wenn er wirklich mal redet, denkt man, er ist schon erwachsen, bevor er ein Kind war. Vielleicht wäre es leichter für Elli, wenn ihr Mann noch leben würde. Aber er und ihre Tochter hatten einen Autounfall, sie waren beide sofort tot. Und jetzt sind David und sie allein.«

»David ist der Sohn ihrer verstorbenen Tochter?«