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Seit über 40 Jahren ist Mami die erfolgreichste Mutter-Kind-Reihe auf dem deutschen Markt! Buchstäblich ein Qualitätssiegel der besonderen Art, denn diese wirklich einzigartige Romanreihe ist generell der Maßstab und einer der wichtigsten Wegbereiter für den modernen Familienroman geworden. Weit über 2.600 erschienene Mami-Romane zeugen von der Popularität dieser Reihe. Es war ein sonniger, aber nicht warmer Septembertag, an dem der alte Doktor Wilfried Beckmann die Kreisklinik von Finsterwalde betrat, um der jungen Mutter Gitti Steiger und ihrem kleinen Sohn einen Besuch abzustatten. Er trug einen bunten Strauß bei sich und durchwanderte die langen Korridore recht gemächlich. Seitdem er nicht mehr praktizierte und nur noch wenige Freunde behandelte, kam er kaum noch aus seinem Heimatdorf Tanneck heraus und auch nicht mehr in diese große Klinik. Sie war im letzten Jahr frisch renoviert worden und bot einen erfreulichen Anblick. Das beruhigte ihn. Gitti und ihr Neugeborenes waren hier also gut aufgehoben. So schlecht, wie die Leute auf Schloß Tanneck es sich zuraunten, konnte es der jungen ledigen Mutter also nicht gehen. »Wie wird der Kleine denn heißen?« fragte er Minuten später die Wöchnerin ein wenig hilflos. Gitti Steiger drückte den Säugling zunächst an sich, als müsse sie ihn vor dem freundlichen älteren Herrn beschützen. Dann erst verrieten ihre scheu lächelnden Augen, wie gern sie sich an den alten Arzt erinnerte und wie sehr sie sich über seinen unerwarteten Besuch freute. »Moritz«, hauchte sie nach einer Weile. Schwester Ruth von der Entbindungsstation ordnete seine Blumen gerade in eine Vase. Sie sah sich um und lachte. »Moritz? Er soll wirklich Moritz heißen? Was ist das denn für ein Name! Dann heißt der Vater des Kleinen wohl Max, wie?« Gitti zuckte zusammen.
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Seitenzahl: 136
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Es war ein sonniger, aber nicht warmer Septembertag, an dem der alte Doktor Wilfried Beckmann die Kreisklinik von Finsterwalde betrat, um der jungen Mutter Gitti Steiger und ihrem kleinen Sohn einen Besuch abzustatten. Er trug einen bunten Strauß bei sich und durchwanderte die langen Korridore recht gemächlich. Seitdem er nicht mehr praktizierte und nur noch wenige Freunde behandelte, kam er kaum noch aus seinem Heimatdorf Tanneck heraus und auch nicht mehr in diese große Klinik. Sie war im letzten Jahr frisch renoviert worden und bot einen erfreulichen Anblick. Das beruhigte ihn. Gitti und ihr Neugeborenes waren hier also gut aufgehoben. So schlecht, wie die Leute auf Schloß Tanneck es sich zuraunten, konnte es der jungen ledigen Mutter also nicht gehen.
»Wie wird der Kleine denn heißen?« fragte er Minuten später die Wöchnerin ein wenig hilflos. Gitti Steiger drückte den Säugling zunächst an sich, als müsse sie ihn vor dem freundlichen älteren Herrn beschützen. Dann erst verrieten ihre scheu lächelnden Augen, wie gern sie sich an den alten Arzt erinnerte und wie sehr sie sich über seinen unerwarteten Besuch freute.
»Moritz«, hauchte sie nach einer Weile. Schwester Ruth von der Entbindungsstation ordnete seine Blumen gerade in eine Vase. Sie sah sich um und lachte.
»Moritz? Er soll wirklich Moritz heißen? Was ist das denn für ein Name! Dann heißt der Vater des Kleinen wohl Max, wie?«
Gitti zuckte zusammen. Es war nicht das erste Mal, daß sie eine hämische Bemerkung ertragen mußte. Nur konnte sie sich einfach nicht daran gewöhnen.
»Moritz ist ein hübscher Name«, kam ihr Doktor Beckmann zu Hilfe. »Ihr Bruder hieß so, nicht wahr?« Sie nickte, und er fügte leise hinzu: »Ich erinnere mich noch gut an seinen tragischen Tod.«
»Das ist zehn Jahre her«, erwiderte sie flüsternd. »Und gleich danach wurde Mutter krank. Sie kamen damals täglich in unser Haus, Herr Doktor, und konnten ihr am Ende doch nicht helfen.« Sie schluckte. »Danke, daß Sie mich besuchen. Sonst kümmert sich ja niemand um mich.«
Wieder sah sie ihren winzigen Sohn voller Zärtlichkeit an, dann hob sie den Blick ihrer großen grünblauen Augen zu dem alten Arzt auf, wandte den Kopf aber flink nach rechts und links zu den beiden anderen Betten im Raum, in denen zwei Patientinnen lagen, die sie und den alten Herrn neugierig beobachteten.
»Ich schlage vor, wir setzen unser Gespräch auf dem Korridor fort.« Doktor Beckmann ahnte, was in ihr vorging.
»Ja, gern.« Behutsam und noch etwas unbeholfen legte sie das Baby in das kleine Bettchen neben ihrem. Dann ließ sie sich von ihm in den Morgenmantel helfen und schlüpfte in ihre Pantoffel.
»Sie sind wirklich der einzige Mensch, der mich besucht«, flüsterte sie. »Alle in Tanneck lassen mich nur noch Verachtung spüren, weil ich den Vater meines Kindes nicht nennen will. Aber ich muß doch schweigen. Sonst wird es für Moritz und mich alles noch schwerer.«
»Das kann ich mir denken. Bestimmt wissen Sie auch nicht, wie es weitergehen soll«, stellte er mit einem Seufzer fest und nahm ihren Arm. »Ist es nicht so? Deshalb bin ich gekommen.«
»Deshalb? Etwa, um mir zu helfen?« staunte Gitti. »Ich dachte, Sie besuchen mich aus purer Neugier. Jeder im Dorf und Umgebung will doch wissen, wer der Vater meines Kindes ist. Das kommt daher, weil ich einen so schlechten Ruf habe«, fügte sie trotzig hinzu. »Ist ja nicht mal so schlimm. Schrecklich ist nur die Schadenfreude, die aus jeder Bemerkung spricht. Ich war nie sehr beliebt im Dorf. Nun triumphieren alle. Sie gönnen mir aus vollem Herzen diese Last, die ich mir mit dem Kind aufgeladen habe.«
»Last? Ein Kind bedeutet doch Glück, Gitti.«
Sie blieb stehen und sah ihn lange an. An dem alten Arzt waren die letzten zehn Jahre auch nicht spurlos vorübergegangen, aber er strahlte immer noch die vertrauenerweckende Güte aus, wie sie sie aus ihrer Kindheit erinnerte.
»Wie wollen Sie mir denn helfen, Herr Doktor?« fragte sie kaum hörbar.
Er räusperte sich. »Nun ja, Gitti, es ist so. Also, Herr Berthold Hollbach schickt mich.«
Gittis sowieso schon blasses Gesicht wurde kreidebleich. Sie schluckte mehrmals, um dann seinem bohrenden Blick auszuweichen und sich mit einem erschrockenen Laut durch das Haar zu fahren.
»Wieso Hollbach? Kennen Sie den Alten denn?«
Er nickte. »Hollbach wurde doch auf Schloß Tanneck geboren. Wir kennen uns noch aus unserer frühen Jugendzeit. Als er Ende der Dreißiger Jahre in den Krieg zog, war ich noch ein kleiner Bub.« Gitti rechnete im stillen nach. »Letztes Jahr wurde er fünfundachtzig.«
Doktor Beckmann lächelte kaum merklich. Mit dieser Bemerkung verriet sie doch schon genug. Ob sie es nicht begriff?
»Hollbach geriet in Gefangenschaft«, erzählte er weiter. »Gegen Ende des unseligen Krieges mußten seine Eltern das Schloß verlassen. Sie flüchteten wie viele andere gen Westen.«
»Ja, das weiß ich auch. Das ist alles so lange her.«
»Dann wissen Sie auch, daß Herr Hollbach das Schloß nach der Vereinigung wieder in seinen Besitz brachte und sich dort jetzt ein Dutzend Handwerker aufhalten?«
Gitti nickte. »Herr Hollbach läßt es von Grund auf renovieren. Er ist schrecklich reich, nicht?«
Doktor Beckmann schmunzelte über diese fast kindliche Frage. Denn sie ermutigte ihn auch, sich endlich ein Herz zu fassen.
»Thomas Hollbach hat Ihnen davon erzählt, nicht wahr?«
»Thomas Hollbach?« Gitti stellte sich unwissend und wurde rot.
»Ja, Thomas Hollbach. Er kam doch vor knapp einem Jahr zum Geburtstag seines Großvaters. Nur konnte er nichts mit der Abgeschiedenheit und Ruhe auf Schloß Tanneck anfangen. Er hielt sich manchmal, wie ich inzwischen hörte, im Dorf auf. Und so lernte er Sie an der Kasse des Supermarkts kennen und verbrachte einige Abende mit Ihnen im Gasthof ›Zum Langen Kerl‹. War es nicht so, Gitti?«
»Unsinn!« Ihr Blick flackerte auf. »Diesen Thomas kenne ich doch gar nicht.«
Er führte sie ans Ende des Ganges, wo sie wirklich von keinem gestört werden konnten. Dort nahm er ihre Hände zwischen seine.
»Warum streiten Sie es ab, Gitti? Das ganze Dorf weiß doch, daß Thomas Hollbach viel Zeit mit Ihnen verbrachte, weil er sich bei seinem Großvater im Schloß langweilte.«
Sofort begriff er, daß er sich falsch ausgedrückt hatte. Seine Worte mußten sie verletzen.
»Das sind doch dumme Gerüchte!« fuhr sie auf. »Hier will mir jeder was anhängen. Die Leute mögen mich nicht, weil ich anders bin als die Frauen im Dorf. Ich seh’ eben besser aus. Na und? Außerdem hab’ ich Spaß am Leben!«
»Das ist nur gut, Gitti. Nur soll auch der kleine Moritz Spaß am Leben haben.«
»Dafür sorge ich schon.«
Da legte er die Hände auf ihre Schultern und sah sie lange und sorgenvoll an. »Thomas Hollbach war vor genau neun Monaten hier, im letzten Dezember, kurz bevor er von seinem Großvater nach Amerika geschickt wurde.«
»Und? Was hab’ ich damit zu tun?«
Er neigte seinen Kopf auf die Brust, so daß Gitti direkt auf die Glatze des alten, zierlich gewachsenen Arztes schauen konnte. Dabei hämmerte ihr Herz so heftig, daß sie fürchtete, er könnte es hören.
Ob es wirklich noch mehr Menschen im Dorf gab, die die Geburt ihres kleinen Moritz mit dem jungen Hollbach in Verbindung brachten?
Warum war gerade der alte Millionär Berthold Hollbach auf die Idee gekommen, Doktor Beckmann zu ihr ins Krankenhaus zu schicken?
»Ich habe Sie immer gern gehabt, Gitti, und mir nie etwas aus dem Getratsche über Sie gemacht. Darum war ich auch gern bereit, die Bitte von Berthold Hollbach zu erfüllen und Sie aufzusuchen«, erklärte er, ohne sie anzuschauen. »Machen Sie es mir nicht so schwer. Keiner will Ihnen Vorwürfe machen!«
»Das glaube ich nicht! Darum hört kein Mensch von mir, wer Moritz’ Vater ist. Sie und Herr Hollbach auch nicht. Wenn Sie nur gekommen sind, um mich auszuhorchen, dann sollten Sie lieber gleich wieder gehen!«
»Das will ich gewiß nicht. Denn wenn Sie den Namen von Moritz’ Vater nicht preisgeben wollen, ist das Ihre Privatsache, Gitti. Ich bin hier, weil Herr Hollbach eine zusätzliche Haushaltshilfe sucht. Er macht Ihnen ein Angebot.« Jetzt sah er sie wieder an. »Sie können sofort ein Zimmer im Schloß beziehen, wenn sie mit Moritz die Klinik verlassen müssen. Sechs Wochen Pause gesteht er Ihnen zu, dann erwartet er, daß Sie Rosi zur Hand gehen, so, wie es Ihr Zustand und Ihre Fürsorge für das Baby zuläßt.«
»Was?« preßte Gitti hervor. Sie schloß den Kragen ihres alten Morgenmantels mit einer jähen Bewegung und starrte ihn entsetzt an. »Ich soll Rosi zur Hand gehen? Etwa Rosi Runge, der Schlachtersfrau?«
»Ja, Rosi und Kurt Runge haben nach der Schließung ihres Schlachterladens im Schloß Arbeit gefunden. Rosi kocht und führt den Haushalt, ihr Mann macht sich als Gärtner und Chauffeur nützlich.«
»Beide sind schreckliche Menschen. Sie können mich nicht leiden«, stieß Gitti fassungslos hervor. Dann änderte sich ihr Gesichtsausdruck, denn plötzlich wurde ihr klar, daß sie den Besuch des befreundeten Arztes hauptsächlich diesen Runges zu verdanken hatte. Hatte das Schlachterpaar sie nicht immer scharf beobachtet und nie ein gutes Haar an ihr gelassen?
Nachdem sie die Lippen sekundenlang fest zusammengepreßt und gequält geseufzt hatte, sagte sie kühl und entschlossen: »Zum Teufel mit den Runges! Und Sie, Herr Doktor, bestellen dem alten Herrn Hollbach bitte, daß ich ihm für sein Angebot danke, es aber nicht annehmen kann.«
»So. Das heißt wohl, daß Sie staatliche Hilfe erwarten, wie?«
»Etwas anders bleibt mir nicht übrig.«
Sie trat einen Schritt zurück. Doktor Beckmann griff nach ihrem Arm und hielt sie fest.
»Berthold Hollbach wird Ihnen keine Fragen stellen, Gitti. Dafür verbürge ich mich. Er bietet Ihnen Kost, ein gemütliches Zimmer und das übliche Gehalt. Sie werden im Schloß ein Heim finden, wie Sie es seit dem Tod Ihrer Mutter nicht mehr hatten. Überlegen Sie sich Ihre Entscheidung gut.«
»Das habe ich bereits.«
Sie nickte ihm zu, dann schlurfte sie, so schnell es ihre ausgelatschten Pantoffeln zuließen, in das Krankenzimmer zurück. Doktor Beckmann blieb wie versteinert stehen.
War das das Ende? Oder nahm sie diese Chance am Ende doch noch wahr? Der kleine Junge sollte Moritz heißen wie Gittis verunglückter Bruder. Langsam wollte er sich der Treppe zuwenden. Wie klug, daß sie ihn nicht Thomas genannt hatte.
Da öffnete sie die Tür des Zimmers noch einmal. Gitti steckte den Kopf heraus und sah ihn an. Zwischen ihren Brauen grub sich eine Falte in ihr hübsches Gesicht.
»Überlegen werd’ ich’s mir. Ich ruf Sie an, Herr Doktor. Sie wohnen doch noch mit Ihrer Frau in dem Haus neben der Kirche in Tanneck?«
Er nickte. Kaum hatte sie die Tür wieder geschlossen, lächelte er. Also doch! Moritz war der Urenkel von Berthold Hollbach, daran gab es keinen Zweifel. Nur würde diese Wahrheit niemals ausgesprochen werden, auch nicht, wenn Gitti sich tatsächlich entschloß, das Angebot des alten Hollbachs anzunehmen.
*
Vier Jahre waren vergangen. Es war ein strahlender Frühsommertag wie aus dem Bilderbuch, an dem der Unternehmer und Multimillionär Berthold Hollbach auf dem kleinen Friedhof der St. Georgskirche zu Grabe getragen wurde. Die Backsteinkirche gehörte zum Dorf Tanneck, das in einer Autostunde von Berlin aus erreicht werden konnte.
Der Berliner Anwalt Gerd Scholten stand etwas abseits der riesigen Trauergemeinde. Er reckte sich in den Schultern, um die Ansammlung von einigen hunderten Menschen besser übersehen zu können. Es waren fast nur schwarzgekleidete würdige Herren allen Alters, die den Verstorbenen das letzte Geleit gaben. Direktoren und Manager der Hollbach-Werke in Berlin und anderen Großstädten, Geschäftsfreunde aus dem Ausland und eine Vielzahl von Honoratioren aus den umliegenden brandenburgischen Gemeinden hatten sich ebenfalls eingefunden.
Der alte Berthold Hollbach war genau neunzig Jahre alt geworden und hatte die letzte Zeit seines Lebens so verbracht, wie er es sich seit Jahrzehnten gewünscht hatte.
Gerd Scholten hatte den millionenschweren Unternehmer bald nach dem Fall der Mauer kennengelernt. Ganz unerwartet war Berthold Hollbach eines Tages in seiner Kanzlei erschienen und hatte ihm die Abwicklung einiger Immobiliengeschäfte anvertraut. Es ging nicht nur um ein riesiges Gewerbegrundstück, sondern auch um das Schloß Tanneck im Brandenburgischen.
Anfang des Jahrhunderts war Berthold dort geboren worden. Nun, im hohen Alter von fast fünfundachtzig wollte er es wieder für sich in Anspruch nehmen, um dort seinen Lebensabend zu verbringen. Und kaum war ihm das gelungen, hatte er dafür gesorgt, daß das völlig heruntergekommene Gebäude von Grund auf renoviert wurde, und es bereits voller Ungeduld bezogen, als erst drei der achtundzwanzig Räume wieder bewohnbar waren. Berthold Hollbach wußte wohl immer, daß ihm nicht mehr viel Zeit blieb, um die Rückkehr ins Schloß seiner Vorfahren noch genießen zu können. Nun, vor genau einer Woche, war er nach Tagen des Dahindämmerns sanft entschlafen.
Der junge Anwalt blinzelte gegen die Sonne. Zu gern hätte er seine Sonnenbrille aufgesetzt, aber das war wohl nicht angebracht. Langsam und sehr feierlich bewegten sich die Trauergäste auf das Grab zu, um dort mit einem Schäufelchen Erde symbolisch ihren Respekt vor den Toten zu bezeugen. Und nun könnte er sich auch einen Überblick über die Menschenansammlung verschaffen. Er sah einigen ins Gesicht, um herauszufinden, wer wohl der Enkel des alten Hollbachs war. Nur entdeckte er keinen jungen Mann von Mitte zwanzig. Er erkannte nur den Jugendfreund und Arzt von Berthold Hollbach, diesen würdigen, weißhaarigen Doktor Beckmann. Der alte Herr stand zwischen zwei Frauen. Die rundliche Rosi Runge, Hollbachs Haushälterin, verbarg ihr rotgeweintes Gesicht hinter einem feinmaschigem Schleier. Auf der anderen Seite hielt sich eine sehr junge mittelblonde Frau dicht an den Arzt.
Gerd stutzte. Er sah diese junge Frau zum ersten Mal und überlegte gleich, ob sie wohl die Freundin von Bertholds Enkel Thomas Hollbach war. Sie trug keine Kopfbedeckung, und ihr Haar schimmerte in der Sonne kupferfarben auf. Das zarte Gesicht hob sich blaß von ihrem schwarzen Kleid ab, nur die Augen stachen daraus so bemerkenswert grünblau hervor, so daß nicht mal die rotgeweinten Ränder diesem Leuchten etwas anhaben konnten.
Wer mochte diese junge Schönheit sein? Eine Enkelin des alten Arztes? Oder eine Hausangestellte des verstorbenen Schloßbesitzers? Seine Krankenschwester oder Pflegerin?
Gerd wußte es nicht. Und nun, nur Meter vom Grab entfernt, stellte er fest, daß er recht wenig über die letzten Jahre des Toten wußte. Als er vor drei Tagen die Nachricht vom Ableben des Unternehmers erhalten hatte, galt sein erster Gedanke nur dessen Enkel Thomas Hollbach, dem nun das riesige Erbe zufiel. Vier Firmen, ein üppiges Barvermögen sowie Immobilien im In- und Ausland und auch das Schloß Tanneck bildeten das riesige Erbe. Und Gerd Scholten hatte sich gefragt, ob der junge Mann ihn wohl in Zukunft auch als Rechtsvertreter bei seinen Immobiliengeschäften brauchen würde. Nur, wo steckte der junge Mann?
Eine halbe Stunde später wußte Gerd mehr. Es war die zauberhafte junge Frau, die noch auf dem Friedhof auf ihn zutrat, sich als Gitti Steiger vorstellte und ihn mit wohlgesetzten Worten bat, sich mit den anderen Trauernden zu einem kleinen Imbiß auf dem Schloß einzufinden.
Er sah ihr in die wunderschönen Augen, nickte und fragte zaghaft, ob der Enkel von Berthold Hollbach auch anwesend sein würde. Zu seiner Verwirrung wandte sie sich kurz ab, als wollte sie einen Blick auf die blühenden Jasminbüsche an der Friedhofsmauer werfen. Hatte sie ihn nicht verstanden? Sollte er seine Frage wiederholen?
Aber schon fuhr Gitti Steigers Kopf herum. Und nicht das geringste Wimpernzucken deutete auf ihre Verwirrung hin.
»Wir haben Thomas Hollbach nicht erreicht. Er befindet sich auf einem Segeltörn in der Karibik. Die deutsche Botschaft in Washington und die Konsulate in Los Angeles und San Francisco wurden informiert. Trotzdem wissen wir nicht, wann er vom Tod seines Großvater erfährt.«
»Dann findet die Testamentseröffnung wohl ohne ihn statt«, entfuhr es Gerd Scholten. Sekunden später hätte er sich auf die Zunge beißen mögen. Verriet er mit dieser Bemerkung nicht, wie sehr er schon jetzt an einer Zusammenarbeit mit dem millionenschweren Erben interessiert war?
»Herr Hollbach hat noch vor seinem Tod den Notar Rasmus als Testamentsvollstrecker benannt. Er wird entscheiden, wann das Testament verlesen wird.« Etwas blitzte in ihren wunderschönen Augen auf. War es Argwohn?
»Natürlich. So ist es rechtmäßig.« Gerd merkte, wie dumm er sich benahm. »Ich habe gut mit dem Verstorbenen zusammengearbeitet«, betonte er zur Erklärung.
Gitti Steiger nickte, während ihre Hand an den Kragen ihres Kleides fuhr. »Ja, er sprach manchmal von Ihnen. Und immer voller Anerkennung.«