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Wie geht man einen neuen Weg, wenn alles anders ist als erwartet? Kristiansund, Anfang des 20. Jahrhunderts: Emmas Talent als Schneiderin hat sich in der Stadt herumgesprochen. Dennoch sehnt sie sich auch weiterhin danach, Malerin zu werden. Während Emma versucht, ihren Weg zu finden, muss sie auch mit der Sorge um ihren Liebsten, Olav, leben – denn er arbeitet für seinen Onkel Kåre Dal, dem Emma wegen seiner zwielichtigen Kontakte zutiefst misstraut. Auch zuhause auf dem Hof von Emmas Familie geht es unruhig zu: ihr ältester Bruder weigert sich, den Hof zu übernehmen – und ihr Zwillingsbruder Johannes begibt sich auf die gefährliche Suche nach dem Mann, der die junge Nachbarstochter angegriffen hat ... Die große Norwegen-Saga über einen Inselhof und die dramatischen Schicksale, die dort unter weitem, blauem Himmel ihren Lauf nehmen. Der dritte Band dieser Familiensaga wird Fans von Ines Thorn und Charlotte Jacobi begeistern.
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Seitenzahl: 269
Über dieses Buch:
Kristiansund, Anfang des 20. Jahrhunderts: Emmas Talent als Schneiderin hat sich in der Stadt herumgesprochen. Dennoch sehnt sie sich auch weiterhin danach, Malerin zu werden. Während Emma versucht, ihren Weg zu finden, muss sie auch mit der Sorge um ihren Liebsten, Olav, leben – denn er arbeitet für seinen Onkel Kåre Dal, dem Emma wegen seiner zwielichtigen Kontakte zutiefst misstraut. Auch zuhause auf dem Hof von Emmas Familie geht es unruhig zu: ihr ältester Bruder weigert sich, den Hof zu übernehmen – und ihr Zwillingsbruder Johannes begibt sich auf die gefährliche Suche nach dem Mann, der die junge Nachbarstochter angegriffen hat ...
Über die Autorin:
Harriet Hegstad, Jahrgang 1944, ist eine norwegische Autorin. Bevor sie sich dem Schreiben widmete, arbeitete sie als Kindergärtnerin. Viele ihrer populären Kurzgeschichten und Romane sind bereits in skandinavischen Wochenzeitschriften erschienen und sie hat an mehreren nordischen Roman- und Kurzgeschichtenwettbewerben erfolgreich teilgenommen. Harriet Hegstad liebt die Natur, das Angeln und Bücherlesen, Handarbeiten und auf Reisen gehen. Sie hat vier erwachsene Kinder und sieben Enkel.
Harriet Hegstad veröffentlichte bei dotbooks bereits ihre Averøya-Reihe mit den Bänden »Der alte Hof von Averøya: Die geheime Hoffnung«, »Der alte Hof von Averøya: Zeit des Schicksals«, »Der alte Hof von Averøya: Ein neuer Anfang«, »Der alte Hof von Averøya: Tage des Sturms« und »Der alte Hof von Averøya: Wandel des Herzens«.
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eBook-Erstausgabe Oktober 2024
Die norwegische Originalausgabe erschien erstmals 2016 unter dem Originaltitel »Sypiken« bei Cappelen Damm, Oslo.
Copyright © der norwegischen Originalausgabe 2016 Cappelen Damm
Copyright © der deutschen Erstausgabe eBook-Erstausgabe 2024 dotbooks GmbH und der deutschen Audio-Erstausgabe 2024 SAGA Egmont
Kapitel 1 und 2 übersetzt von Marius Merian
Ab Kapitel 3: Übersetzt von SAGA Egmont
Nachbearbeitung durch Sylvia Nordebo
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung eines Motives von ana / Adobe Stock sowie mehrerer Bildmotive von © shutterstock
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ae)
ISBN 978-3-98952-210-7
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dotbooks ist ein Verlagslabel der dotbooks GmbH, einem Unternehmen der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt: www.egmont.com/support-children-and-young-people. Danke, dass Sie mit dem Kauf dieses eBooks dazu beitragen!
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Harriet Hegstad
Der alte Hof von Averøya:Ein neuer Anfang
Roman – Band 3
dotbooks.
Emma Vik
Johannes Vik: Emmas Zwillingsbruder
Jacob Vik: Emmas älterer Bruder
Ragna Vik: Emmas jüngere Schwester
Karen und Peder Vik: Emmas Eltern
Serine und Einar Dal: Nachbarn der Viks
Olav, Tore, Synnøve, Dagny und Grete Dal: Kinder der Dals
Augusta Vik: Emmas Tante, Näherin
Nicolai Thorp: Maler
Johannes fühlte sich rastlos. Er hatte Emma versprochen, mit Dagny zu sprechen. Er hatte auch vor, sich an sein Versprechen zu halten, doch ihm graute vor dem Gespräch. Er ging unruhig umher, bis er schließlich zum Bootschuppen kam, und begann, das Angelzeug aufzuräumen. Eigentlich eine überflüssige Arbeit, da sein Vater stets auf Ordnung achtete, aber irgendwie musste er seine Hände beschäftigen. In Dal würde er auch Olav treffen, wahrscheinlich auch Tore. Was sollte er zu ihnen sagen? Sollte er herausposaunen, dass er wusste, was zwischen ihnen geschehen war?
Letztlich war das aber auch gar nicht wichtig, schließlich ging es jetzt um Synnøve. Johannes hegte keine Zweifel, dass Emma die Wahrheit gesagt hatte. Es hatte entsetzlich geklungen. Synnøve war krank und brauchte Hilfe. Sie hätten schon früher etwas unternehmen sollen, aber jetzt, wo sie Nicolai beschuldigte, waren sie wirklich zum Handeln gezwungen. Bevor Gerüchte entstanden. Das arme Mädchen wusste wahrscheinlich gar nicht, was es da sagte. Er erinnerte sich, wie seine Mutter bei Nicolais Ankunft gesagt hatte, er könne auch ein Verbrecher sein, so wenig, wie sie über ihn wussten. Aber das glaubte er nicht.
Es war schon Abend. Er musste nach Dal, bevor es noch später wurde. Er wünschte sich, Emma wäre hier und sie könnten sich gemeinsam darum kümmern. Sie hätte leicht noch einen Tag bleiben können, dachte er etwas ungehalten, ärgerte sich jedoch sofort über sich selbst. Er war ein erwachsener Mann und sollte sich auch so benehmen. Energisch schloss er die Schuppentür und machte sich auf den Weg. Er würde Dagny sagen, dass sie mit ihren Eltern reden musste. Das war wohl das Beste.
Er sah Dagny schon von weitem. Sie kam gerade aus dem Stall und überquerte den Hof. Er winkte und rief.
»Dagny!«
Sie drehte sich um und entdeckte ihn. Ihre Miene hellte sich auf.
»Was machst du denn hier?«, fragte sie lächelnd. Ihr braunen Augen funkelten und eine leichte Röte stieg ihr in die Wangen. »Willst du zu Olav?«
Er blickte sich um, aber es war niemand zu sehen.
»Ich wollte mit dir reden«, sagte er leise. »Können wir irgendwohin gehen, wo wir ungestört sind?«
Sie sah ihn verwundert an, biss sich auf die Lippe, wirkte unruhig.
»Wir können uns auf die Bank hinter dem Schuppen setzen. Komm …«
Er folgte ihr und war froh, dass sie niemandem begegneten. Er kam direkt zu Sache.
»Es geht um Synnøve. Emma war heute hier und macht sich große Sorgen.«
»Die mache ich mir auch«, sagte sie. »Aber ich kann machen, was ich will, sie redet einfach nicht mit mir. Sie verschließt sich vor mir, Johannes.«
»Was sagt sie denn?«
»Nichts. Sie starrt mich nur an und lacht, sagt, dass ich mir um nichts Sorgen machen muss. Sie findet keinen Augenblick Ruhe, streunt ununterbrochen herum. Mal wirkt sie froh und leicht, dann wieder macht sie mir richtig Angst.«
»Was sagen deine Eltern?«
»Mutter ist verzweifelt und will den Doktor holen, aber Vater ist dagegen. Er will nicht wahrhaben, wie ernst es ist, sagt, sie sei schon immer schwierig gewesen. Er meint, es geht vorbei.«
Johannes seufzte tief.
»Es ist ernst, Dagny. Ich erzähle dir von dem Treffen zwischen Emma und Synnøve. Dann verstehst du, dass die Wahrheit ans Licht kommen muss. Wir dürfen nicht länger verschweigen, was nach dem Fest mit Synnøve passiert ist.«
Dagny schlug die Hände vors Gesicht und riss die Augen auf.
»Dann wird sie völlig wild. Das traue ich mich nicht.«
»Es muss sein! Es ist nur zu ihrem Besten. Hör zu …«
Er sagte ihr, was Emma ihm erzählt hatte. Wie Synnøve sich benommen hatte. Dagny blickte ihn ungläubig an, Tränen rannen über ihre Wangen. Am Schluss erzählte ihr Johannes von dem Messer und was sie damit anstellen wollte. Als er fertig war, nahm er ihre Hand und sah ihr direkt in die Augen.
»Verstehst du jetzt, wie ernst die Lage ist, Dagny?«
Sie nickte, wischte sich mit einer Hand übers Gesicht, ohne mit der anderen die seine loszulassen.
»Ich hatte ja keine Ahnung, dass es so schlimm ist, Johannes. Sie redet ja nicht mit mir, aber sie und Emma hatten schon immer eine Verbindung.«
»Ja. Sprichst du heute Abend mit deinen Eltern?«
Sie seufzte und drückte seine Hand, als suchte sie Stärke.
»Ja, aber ich habe Angst davor. Mutter ist nicht mehr so stark, und ich fürchte die ganze Zeit schon, dass ihr bald alles zu viel wird.«
»Wir haben keine Wahl, Dagny.« Er ließ ihre Hand los und strich ihr über die Wange. »Sei stark. Du weißt, wo du mich findest, wenn Du Hilfe brauchst.«
Wieder kamen Dagny die Tränen.
»Ja. Ich werde dich morgen besuchen und berichten.«
Johannes verließ sie schnellen Schrittes. Erst nach einer Weile wurde er langsamer und schlenderte mit den Händen in der Hosentasche weiter. Er dachte an das Gespräch. Sah Dagnys schönen, dunklen Augen vor sich. Sah die Sorgen darin, und die Tränen. Er wünschte sich, er hätte ihr das ersparen können, aber er hatte keine Wahl gehabt. Es war besser gewesen, mit Dagny zu reden als mit ihren Eltern oder gar mit Tore. Er wäre wütend geworden wie ein wilder Stier, hätte mehr Schaden angerichtet als zu helfen.
Johannes setzte sich auf einen Stein. Vielleicht täuschte er sich auch. Bei Tore wusste man nie. Er war unmöglich, ihn zu durchschauen. Johannes hatte auch schon erlebt, wie mitfühlend er sich um ein verletztes Tier kümmerte, hatte ihn weinen sehen, wenn eines geschlachtet wurde – doch das war lange her.
Emma würde sich noch einiges von Tore anhören müssen, weil sie so lange geschwiegen hatte, aber ihr schien das egal zu sein. Sie verachtete Tore, hasste ihn dafür, wie er mit Olav umsprang, und das konnte Johannes auch gut verstehen. Was er nicht verstand, war, warum Tore seinen Bruder überhaupt so gängelte. Wie so oft dachte er, dass es mit Emma zu tun haben musste, schob den Gedanken aber wieder beiseite. Er konnte sich einfach nicht vorstellen, dass das alles nur auf Eifersucht beruhte.
Tief in Gedanken versunken saß er da, als er plötzlich ein Geräusch hörte. Er fuhr herum und sah Synnøve. Sie hatte einen Blumenstrauß in der Hand und strahlte ihn an. Johannes‘ Herz schlug schneller. Etwas an ihrem Blick und ihrem Lachen warf ihn aus der Bahn.
»Hallo, Synnøve. Was … Was machst du denn hier?«
»Blumenpflücken. Sieh nur …« Sie hielt ihm den Strauß hin. »Ich will daraus einen Blumenkranz flechten.«
»Der wird bestimmt schön.« Johannes schluckte. Seine Kehle schnürte sich zusammen, und er brachte kein Wort mehr heraus. Er erkannte das schöne junge Mädchen von früher kaum wieder.
Synnøve setzte sich neben ihn, legte den Strauß in den Schoß und zupfte ein paar Blumen heraus.
»Ich werde einen Kranz für dich flechten, Johannes.«
»Danke, aber …«
»Willst du keinen Kranz von mir?« Sie sah ihn mit einem unschuldigen Kinderblick an.
»Doch, aber das ist doch eigentlich was für Mädchen, oder nicht?«
»Pah!« Sie lachte neckisch. »Für Mädchen, also wirklich ... Männer bekommen auch Kränze, wenn sie sterben … Viele Kränze …«
Johannes lief ein kalter Schauer über den Rücken. Er wusste nicht, wie er sich verhalten sollte, hatte Angst, etwas Falsches zu sagen. Schließlich räusperte er sich und sagte so ruhig wie möglich: »Was machst du so den ganzen Tag, Synnøve?«
»Was ich mache?« Sie zuckte mit den Schultern. »Ich arbeite auf dem Hof. Mutter ist krank und braucht viel Hilfe.«
»Verstehe…«
»Wirklich?« Sie blickte ihn schelmisch an. »Ich kann sehr viel, Johannes. Warte nur, dann wirst du schon sehen …« Sie zog eine Blume aus dem Strauß und zog so heftig daran, dass der Kopf abriss. »Bald flechte ich den hässlichsten Kranz, den jemals jemand gesehen hat…« Sie nahm eine neue Blume. »Aus faulem Moos, Disteln und Dornen.«
»Und wer … wer soll ihn bekommen?« Johannes schwitzte.
Sie stieß ein schrilles, krächzendes Lachen aus.
»Er natürlich.«
»Wer?« Er wagte kaum, zu fragen, aber vielleicht konnte er nun erfahren, wer sich an ihr vergangen hatte.
»Das wirst du schon bald erfahren, Johannes Vik.«
Sie warf die Blumen von sich, klopfte ihr Kleid aus und blickte hasserfüllt vor sich hin. Sie sah ihn an, und plötzlich war es, als würde das Eis in ihrem Blick bersten, und Tränen stiegen ihr in die Augen.
»Johannes, was geschieht mit mir?«, fragte sie zitternd. »Du bist doch so klug, sag es mir!« Sie griff nach seiner Hand und drückte sie fest. »Ich habe solche Angst. Schreckliche Angst …«
»Synnøve!« Ein Gefühl der Ohnmacht ergriff ihn. Nun erkannte er die Synnøve von früher wieder. »Wovor hast du denn Angst?«
»Manchmal erinnere ich mich nicht, was passiert ist, oder wo ich gewesen bin, und dann fürchte ich mich so.« Sie blickte sich verwirrt um, hob eine Blume auf und starrte sie stirnrunzelnd an, als hätte sie sie nie zuvor gesehen. Wieder suchte sie seinen Blick. »Hilf mir, Johannes«, flüsterte sie. »Hilf mir, bitte!«
Emma fühlte sich müde und erschöpft, als sie am Morgen aufwachte. Noch immer saß ihr der Albtraum in den Knochen. Sie träumte oft, aber nie so schreckliche Dinge.
Sie wusch sich das Gesicht mit kaltem Wasser, kämmte sich die Haare und fasste sie mit einer Spange im Nacken zusammen. Es würde noch eine ganze Woche dauern, bevor sie erfuhr, wie das Gespräch zwischen Johannes und Dagny verlaufen war. Warum hatte sie ihn nicht darum gebeten, sie zu besuchen? Jetzt war eigentlich eine gute Zeit, auf dem Hof gab es nicht viel zu tun. Vielleicht kam er ja selbst auf die Idee.
Augusta hatte den Frühstückstisch schon gedeckt. Ihre Tante wirkte blendend gelaunt. Sie plapperte unentwegt vor sich hin, plante den kommenden Arbeitstag. Emma hörte nur mit halbem Ohr zu. Das würde ein langer Tag werden.
»Hast du gut geschlafen?« Augusta lehnte sich zurück und sah sie an.
»Ehrlich gesagt nicht«, sagte Emma. »Wenn es donnert, schlafe ich immer unruhig.«
»Karen auch. Sie hat eine Todesangst vor Gewittern, aber das weißt du ja am besten.«
»Was ...« Emma unterdrückte nur mühsam ein Gähnen, »Was steht denn heute an?«
»Wir müssen heute zwei Kleider fertignähen. Das eine ist schon bereit für die Nähmaschine. Das andere habe ich noch nicht einmal zugeschnitten. Willst du das vielleicht übernehmen?«
»Ich?« Emma blickte sie unsicher an. »Was, wenn ich danebenschneide?«
»Das wirst du nicht. Ich zeige es dir ganz genau. Das Wichtigste ist, den Stoff schon richtig hinzulegen, dann macht sich der Rest fast von allein. Ich habe das Schnittmuster, das ist ganz einfach.«
»Für dich, ja«, murmelte Emma. Sie fühlte sich nicht bereit für diese neue Aufgabe. Aber irgendwann musste es wohl sein. »Ich räume noch den Tisch ab und spüle die Tassen.«
»Lass die Tassen stehen, das machen wir heute Abend.« Augusta stand auf. »Es wird Zeit, dass wir uns an die Arbeit machen.«
Emma stand am Fenster und nippte an einer Tasse Kaffee. Sie war mit sich zufrieden, und Augusta war es auch. Die Stoffteile, die Emma zugeschnitten hatte, hingen schon zusammengeheftet an einer Büste. Noch ein paar Korrekturen, dann ging es ans Nähen. Jetzt gönnten sie sich erst einmal eine Kaffeepause.
»Das ging doch richtig gut, Emma.« Augusta stellte sich neben sie. »Du lernst schnell. Bald kann ich dich schon an die Nähmaschine setzen.«
Emma gefiel der Gedanke. Das wäre sicher spannender sein, als nur dazusitzen und Teile zusammenzuheften.
»Wir sollten beide unsere eigene Nähmaschine haben«, fuhr Augusta fort. »Ich glaube, ich kaufe noch eine.«
»Sind die nicht sehr teuer?«
»Doch, aber das Geld holen wir wieder rein.« Sie nickte zufrieden. »Ja, das mache ich.«
Emma blickte zum Haus des Reeders. Von dort, wo sie stand, konnte sie den Eingang und Teile der Treppe sehen. Genau in diesem Augenblick ging die Tür auf und Aslak trat heraus. Hinter ihm erschien eine Frau. Emma konnte sehen, dass sie blond war. Aber die Entfernung war zu groß, um ihre Gesichtszüge zu erkennen. Aslak beugte sich vor und küsste sie, während er seine Hand auf ihren runden Bauch legte. Beide lachten. Sie war wieder schwanger!
Emma blickte ihre Tante an, um zu sehen, ob sie die beiden auch bemerkt hatte. Das hatte sie wohl, denn sie erstarrte und setze energisch ihre Kaffeetasse ab. Für einen kurzen Moment sah Emma den Hass in ihren Augen. Dann drehte sich ihre Tante auf dem Absatz um und verließ den Raum.
Emma fragte sich, was Aslak ihrer Tante wohl angetan hatte. Dass er sie sitzen gelassen hatte, wusste sie, aber dass das einen so starken Hass auslösen konnte? Augusta war ein guter Mensch. Emma mochte sie und glaubte, sie gut zu kennen. Aber jetzt sah sie eine andere Seite von ihr. Sobald sie den Mann entdeckte, den sie einst geliebt hatte, brach sie hervor.
Emma sah noch, wie Aslak zur Straße ging. Mehr konnte sie allerdings von ihrem Standpunkt aus nicht beobachten. Seine Frau stand in der Schwelle und winkte. Dann schloss sie die Tür. Augusta tat Emma leid. Es musste hart für ihre Tante sein, direkt neben ihm zu wohnen. Aber konnte sie die Vergangenheit nicht Vergangenheit sein lassen?
Emma setzte sich wieder an den Nähtisch und fuhr damit fort, die Säume des Kleides zusammenzuheften, das am Abend fertig werden sollte. Es fehlten nicht mehr viele.
Augusta betrat das Zimmer und setzte sich an die Nähmaschine. Ihr Gesicht war verschlossen und abweisend. Emma hätte das Schweigen gern durchbrochen, sie zum Lachen gebracht, wusste aber nicht, wie sie das anstellen sollte. Augusta nähte mit zittrigen Händen und musste den Saum noch einmal auftrennen.
Ihre Tante fluchte. Das kam selten vor.
»Was ist denn?«, fragte Emma erschrocken.
»Ich habe mich gestochen. Hol mir ein Tuch, bevor … Oh nein!« Sie blickt auf den hellgelben Stoff. Ein Bluttropfen hatte darauf eine rote Rose gebildet. »Was soll ich denn jetzt machen? Das Kleid ist ruiniert.« Ihre Stimme überschlug sich.
Mit ein paar Schritten war Emma an ihrer Seite, nahm ein Stoffstück und drückte es auf ihren Finger.
»Das wird schon Tante,« sagte sie ruhig. »Ich werde den Fleck auswaschen.« Sie nahm das Kleid und lief in die Küche. Warmes oder kaltes Wasser? In der Aufregung sie sich plötzlich nicht mehr sicher. Kalt, oder?
Sie griff nach einem Stück Seife, rieb den Fleck ein, tauchte den Stoff in eine Schüssel mit Wasser und hielt die Luft an. Der Fleck wurde blasser. Wieder tauchte sie das Kleid ins Wasser und knetete es vorsichtig. Schließlich konnte sie erleichtert aufatmen. Der Fleck war verschwunden. Sie legte ein Handtuch auf die nasse Stelle, um die Feuchtigkeit aufzusaugen und hoffte, dass die Frau, die das Kleid abholen würde, sich ein wenig verspätete.
Augusta saß mit gebeugtem Kopf hinter der Nähmaschine, ihre Schultern zuckten. Emma blieb vor ihr stehen, das Kleid über dem Arm, und wusste nicht, was sie tun sollte.
»Der Fleck ist weg, Tante. Schau.«
»Danke, Emma«, sagte sie leise. »Bitte entschuldige. Es ist nur ...« Sie biss sich auf die Lippe, als wollte sie ein Schluchzen unterdrücken. Verknotete die Hände. »Ich hasse ihn so sehr«, schleuderte sie innbrünstig hervor. »Ich wünschte, er wäre tot.«
»Nein, Tante, so etwas darfst du nicht sagen. Vergiss ihn und lebe dein Leben.«
»Mein Leben leben?« Sie deutete mit zitternder Hand zum Fenster. »Mit ihm gegenüber? Mit ihm, der aufgeblasen wie ein Hahn herumstolziert, weil er sich eine der reichsten Frauen der Stadt geangelt hat? Solange ich noch ein wenig Geld hatte, war ich ihm gut genug. Aber nachdem er alles verschleudert hatte, ist er zur Nächsten weitergezogen. Der Teufel soll ihn holen!«
Emma blickte sie erschrocken an.
Der Tag zog sich hin. Es fühlte sich an, als würde er niemals enden. Die Stimmung in der Nähstube war schwer wie Regenwolken. Aber schließlich war das Kleid fertig und sie konnten es aufhängen. Augusta beugte sich vornüber und strich mit der Hand über den glatten Stoff.
»Danke, Emma.« Sie streichelte ihre Wange. »Tut mir leid, wie ich mich heute aufgeführt habe. Ich verspreche, das wird nicht wieder vorkommen. Ich weiß gar nicht, was in mich gefahren ist.«
»Lass uns nicht mehr davon reden, Tante. Ich verstehe dich.«
»Meinst du?« Augusta lächelte schief. »Es ist nicht leicht, zu verstehen, was man nicht selbst erlebt hat. Ich bin froh, dass du einen anständigen Mann gefunden hast, den du schon lange kennst. Da erwarten dich keine bösen Überraschungen, die alle deine Gefühle vernichten. Manchmal fühlt es sich an, als wäre mein Herz seitdem aus Stein.«
»Das geht vorüber, Tante. Und es ist doch auch noch nicht zu spät, jemanden zu finden, der dich zu schätzen weiß.«
»Finde du ihn für mich, Emma.« Augusta schüttelte den Kopf. »Nein, genug geredet ... Nur noch ein bisschen, dann machen wir Feierabend.«
»Willst du einen kleinen Spaziergang mit mir machen, Augusta? Ich brauche etwas frische Luft.« Emma trocknete den letzten Topf ab und stellt ihn in den Schrank.
»Heute nicht, aber geh du nur. Es ist ja sogar noch ein bisschen sonnig.«
»Na gut.« Emma stellte die Topfpflanze auf den Tisch, wischte ein paar Krümel fort und lächelte ihre Tante an. »Ich bin nicht lange weg.«
»Lass dir Zeit, Emma, aber pass auf dich auf. Es gibt hier ein paar seltsame Gestalten.«
Emma lachte.
»Wen denn? Butt? Der ist zumindest interessant.«
»Sag sowas nicht. Er soll dich nur in Ruhe lassen, sonst knöpfe ich ihn mir vor. Schließlich bin ich für dich verantwortlich.«
»Ich kann sehr gut auf mich selbst aufpassen.«
»Das weiß ich, aber es ist nicht immer alles so, wie es scheint.« Sie wurde ernst. »Bist du mit deinem Kofferträger verabredet?«
Emma schüttelte den Kopf, spürte aber, wie sie errötete.
»Natürlich nicht. Ich habe doch Olav.«
»Das ist gut, Emma. Bis später.«
Emma schloss die Tür hinter sich und ging leichten Schrittes die Straße hinunter. Sie atmete tief ein und aus. Endlich konnte sie zum Abschluss des Tages ein wenig die frische Luft genießen. Aber wo sollte sie hingehen? Nicht zum Hafen, das war sicher, denn sie wollte Markus nicht begegnen. Nicht, dass er ihr wieder hinterherlief. Das würde er sicherlich tun, dachte sie mit einem Lächeln. Und schob den Gedanken an ihn beiseite. Olav war ihr Liebster, mit ihm wollte sie zusammen sein.
Sie schlug den Weg zu einem Park ein, an dem sie mit Olav vorbeigekommen war. Dort war es still und friedlich und man hatte eine fantastische Aussicht. Auf einmal spürte sie, wie erschöpft sie war.
Inzwischen hatte Johannes Dagny sicher besucht und auch ihre Eltern wussten wahrscheinlich, was mit Synnøve geschehen war. Wie es wohl mit ihr weitergehen würde? Ein Windstoß ließ sie ihre Jacke enger um sich ziehen. Über dem Fjord hingen dichte Wolken. Bald würden sie über der Stadt abregnen. Aber etwas Zeit blieb ihr wohl noch.
Unter einem hohen Baum fand sie eine Bank. Hier konnte sie eine Weile ungestört sitzen. Sie schloss die Augen und gähnte. Ihr Albtraum schoss ihr wieder durch den Kopf, und sie sah Synnøve mit ihrem eisigen Blick vor sich. Unheimlich. Sie wollte lieber an etwas Schönes denken. Sie versuchte, sich Olav vorzustellen, den Geschmack seiner Küsse. Doch wieder kamen andere Bilder. Tore, der sie an sich riss, seine Küsse. Nein, daran wollte Sie auf keinen Fall denken.
Sie knöpfte die Jacke bis zum Hals zu und wollte gerade aufstehen, als sie Stimmen hörte. Laute, wütende Stimmen. Zwei Männer kamen den Weg entlang. Als sie näherkamen, erkannte sie, dass der eine Aslak war. Den anderen, dunkelhaarig, hochgewachsen, mit abgerissenen Kleidern, hatte sie noch nie gesehen. Still wie ein Mäuschen blieb sie im Schatten des Baumes sitzen. Irgendetwas sagte ihr, dass die beiden lieber nicht beobachtet werden wollten.
»Du hast es versprochen, Aslak, und Versprechen muss man halten.« Die Stimme des fremden Mannes war eiskalt. »Ich habe lange genug gewartet, jetzt hat meine Geduld ein Ende.«
»Ich habe doch gesagt, ich bringe es in Ordnung. Gib mir noch ein wenig Zeit. Meine Frau wird bald ein Kind auf die Welt bringen und ich …«
»Deine Frau ist mir herzlich egal!«, unterbrach ihn der fremde Mann. »Wenn ich nicht innerhalb einer Woche das Geld bekomme, gehe ich zu ihr und lege alle Karten auf den Tisch. Glaubst du etwa, das würde ihr gefallen?«
»Das wagst du nicht, denn dann …«
»Denn dann muss der großartige Aslak sich nach einer neuen Frau umsehen. Nach einem neuen Haus. Und das dürfte schwierig werden, nachdem ich mit dir fertig bin.«
»Drohst du mir etwa?«
»Sieh es einfach als eine Erinnerung, dass ich es ernst meine. Eine Woche, Aslak, keinen Tag länger. Und denk an die Zinsen.«
Emma bemerkte nicht einmal, wie sie sich immer weiter in den Schatten zurückzog. Plötzlich fiel sie rückwärts von der Bank. Die beiden Männer zucken zusammen und drehten sich zum Baum um.
»Ist da jemand?«, rief Aslak.
Sie sah sie auf sich zukommen, stand auf und klopfte ihr Kleid aus. Ihr Herz schlug so heftig, dass sie fürchtete, ohnmächtig zu werden.
»Wer bist du?«, fragte er mit kalter Stimme. Dann veränderte sich sein Blick mit einem Mal. Er hatte sie erkannt.
»Emmy?«
Kristiansund 1911
Emma durchlief ein Schauer. Aslak hatte sie erkannt! Ihre Gedanken überschlugen sich in ihrem Kopf. Was sollte sie sagen? Breitbeinig stand er da und versperrte ihr den Weg. Sein Gesicht war blass, und sein Blick, der ihren kurz gekreuzt hatte, trug einen Ausdruck des Entsetzens – nahezu Angst, durchfuhr es sie. Wusste er, dass sie sein Gespräch mit dem Mann in den abgerissenen Kleidern mit angehört hatte? Es schien ganz so. Was, also, sollte sie sagen? Sie entschied sich für den einfachsten Ausweg. Den Blick auf seine blank polierten Schuhe geheftet, auf denen ein Blatt im Wind zitterte, sagte sie mit bebender Stimme:
»Es tut mir leid, aber Sie müssen mich verwechseln.« Sie tat einen Schritt zur Seite und ging an ihm vorbei.
»Heißt du nicht Emmy, ich meine, Emma?«
Sie schüttelte den Kopf und sah zu Boden, damit er ihren Blick nicht sehen konnte. Der Kies flimmerte vor ihren Augen. Grau verwirbelte mit Weiß. Ihr fiel ein, dass ihm ihre strahlend blauen Augen aufgefallen waren, als sie ihm bei Augusta begegnet war.
»Nein. Mein Name ist …… Sophie.« Sie wandte ihren Blick ab und ging an ihm vorbei, die Handtasche fest an sich gedrückt. Ihr Herz schlug ihr bis zum Halse, während Brust und Kehle wie zugeschnürt waren. Am liebsten wäre sie schnell davongelaufen, zwang sich aber, langsam zu gehen, und wagte es nicht, sich umzudrehen. Sie wurde das Gefühl nicht los, dass er ihr die ganze Zeit nachsah. Ihre Beine zitterten, und in ihrem Inneren tobte eine wilde Mischung aus Angst, Wut und Abscheu. Aslak war ein Schuft, der die Leute mit seinem Charme einwickelte. Aber seine Augen verrieten, was er eigentlich war. Sie konnten die Gerissenheit, die hinter seiner gutaussehenden Fassade lauerte, nicht verbergen.
Sie bog von der Straße in eine enge Gasse ein, wo es nach Kot und Urin stank. Ein paar Katzen balgten sich um den Inhalt eines grauen Beutels, der weggeworfen auf der Erde lag. Eine Ratte huschte vorbei und verschwand in einem Spalt in der Wand. Emma schauderte und lief hastig weiter. Nur weg von ihm, auch wenn sie sich sagte, dass sie nichts zu befürchten hatte.
Sie ließ sich auf eine Steinmauer unterhalb der Gasse fallen und sah sich um. Ein älterer Mann, der den Rasen im Garten hinter der Mauer harkte, nickte ihr lächelnd zu, bevor er seine Arbeit wieder aufnahm. Emma klopfte den Schmutz von ihrem Kleid ab und ging langsam weiter, dabei spielte sie das Gespräch zwischen Aslak und dem Fremden im Geiste noch einmal durch. Worum ging es hier eigentlich? Aslak schuldete dem Mann Geld, soviel hatte sie verstanden, und der Fremde verlangte es mit Zinsen zurück. Sie erinnerte sich an Augustas Worte: Er sollte genug Geld haben, um das Geschäft zu kaufen, so reich, wie er ist. Vielleicht war er gar nicht so reich. Vielleicht verwaltete die Tochter des Reeders das Geld?
Sie ging nachdenklich weiter, blieb dann aber jäh stehen. Wie konnte sie nur so dumm sein? In ihrer Verwirrung hatte sie behauptet, dass sie nicht die Emma sei, für die er sie hielt. Aber was würde geschehen, wenn er sie aus dem Haus ihrer Tante kommen sah? Zwischen seinem Grundstück und dem ihrer Tante lag nur noch ein weiteres Haus, deswegen war die Wahrscheinlichkeit, dass sie einander wieder begegnen würden, also ziemlich groß. Sie konnte schlecht immer zu Hause bleiben aus Angst, ihn zu treffen. Was sollte sie denn jetzt machen?
Längst bereute sie, nicht zugegeben zu haben, wer sie war. Sie hätte einfach freundlich lächeln und weitergehen sollen. Sie hätte sagen sollen, dass sie gerade erst gekommen war, oder irgendetwas, das ihn glauben ließ, dass sie das Gespräch nicht mit angehört hatte. Aber hinterher war man immer schlauer, und jetzt ließ es sich nicht mehr rückgängig machen. So etwas Dummes! Sie ärgerte sich über sich selbst, während sie ihren Weg zum Haus ihrer Tante fortsetzte.
Da kam ihr bereits eine neue Frage: Sollte sie Augusta von dem Vorfall erzählen? Wieder blieb sie stehen und überlegte. Sie sah erneut das blasse Gesicht ihrer Tante vor sich, wie sie am Fenster stand und beobachtete, wie sich Aslak und seine junge, schöne Frau auf der Treppe voneinander verabschiedeten. Der Hass in ihren Augen und später dann die Tränen, die sie zu verbergen versuchte. Emma hatte sich daraufhin geschworen, seinen Namen nie wieder in Augustas Gegenwart zu erwähnen. Denn sie sah, wie weh es Augusta tat. Vielleicht war es das Beste, die Sache für sich zu behalten? Augusta würde sich aufregen oder aber triumphieren: Da hast du es, Emma. Er ist und bleibt einfach ein Schuft.
Sie war noch unentschieden, als sie die Eingangstür öffnete und das Haus betrat. Aus dem Wohnzimmer hörte sie Stimmen. Wahrscheinlich die Kundin, die das Kleid abholen wollte, das fertig auf der Schneiderpuppe hing, dachte sie. Mit schnellen Schritten lief sie die Treppe hinauf. Ihre Tante hatte sie gehört und steckte ihren Kopf zur Tür heraus.
»Da bist du ja«, sagte sie lächelnd. »Frau Reinertsen ist hier, um das Kleid abzuholen, und möchte dich gerne begrüßen.« Augusta zwinkerte ihr zu: »Sie ist sehr zufrieden«, sagte sie leise.
»Ich mache mich nur ein bisschen frisch und komme dann nach unten.« Emma atmete erleichtert auf und war froh über den kurzen Aufschub. So konnte sie noch einmal überlegen, was sie machen sollte.
Rastlos ging Johannes zwischen Stall und Bootshaus hin und her. Er musste bald mit der Arbeit beginnen, Dagny war aber noch nicht wieder aufgetaucht. Allmählich fragte er sich, ob sie vielleicht nicht kam, weil sie nicht mit ihren Eltern geredet hatte. Eigentlich glaubte er das aber nicht, denn Dagny hielt immer ihr Wort.
Seine Mutter kam nach draußen auf die Treppe und rief ihm zu:
»Was machst du da, Johannes?«
»Ich?« Er ging auf sie zu. »Nichts Besonderes. Wieso?«
Sie musterte ihn, die Stirn besorgt in Falten gelegt.
»Du schwirrst herum wie eine Fliege am Fenster. Ist irgendetwas?«
»Nein, was soll denn sein?« Johannes zuckte mit den Achseln. »Ich habe nur ein loses Brett an der Stallwand repariert und das Bootshaus aufgeräumt. Jetzt wollte ich ……«
»Dein Vater hat das Bootshaus doch schon gestern aufgeräumt«, unterbrach sie ihn. »Weißt du, wo er ist?«
»Er legt die Leinen aus.«
Sie blickte auf den spiegelblanken Fjord und nickte.
»Er hat so etwas gesagt. Wirst du ihm dabei helfen?«
»Ich denke, schon, sofern du ihn nicht begleiten willst, natürlich«, sagte er mit einem schelmischen Lächeln.
»Nein, ich bleibe schön hier an Land.« Sie ging die zwei Stufen hinunter. Er konnte sehen, dass sie immer noch besorgt war. »Bist du sicher, dass dich nichts bedrückt, Johannes?«
»Es ist wirklich nichts, wenn ich es dir doch sage!« Gereizt schüttelte er den Kopf. »Gibt es noch Kaffee im Kessel?«
»Ja. Vater will bestimmt auch eine Tasse. Ich gehe ihn holen.«
Johannes sah ihr nach. Er seufzte und ging ins Haus. Was für ein Durcheinander, dachte er. Er schenkte sich eine Tasse Kaffee ein, setzte sich ans Fenster und schlürfte das dampfende Getränk. Wenn Dagny nicht bald kam, würde er nach Dal gehen müssen. Zum Glück war Ragna dort, so hatte er einen Vorwand, um dorthin zu gehen.
Seine Handflächen waren schweißnass. Er wischte sie an seiner Hose ab. In was für einen Schlamassel war er da geraten. Wenn Emma nur besonnener gewesen wäre, als sie Synnøve im Bootshaus fand, wäre es nie so weit gekommen. Sie hätte Synnøve nach Hause zu ihren Eltern bringen sollen, dann hätten sie sich um sie kümmern können. Aber Emma hatte Synnøve geglaubt. Sie wollte sie beschützen, obwohl sie Zweifel hatte, ob Synnøve die Wahrheit sagte. Hätte er selbst auch so reagiert? Immer wieder hatte er sich diese Frage gestellt, konnte sie aber einfach nicht beantworten. Darüber nachzugrübeln, half auch nicht weiter. Jetzt war es, wie es war – und der armen Synnøve musste geholfen werden, bevor sie den Verstand verlor.