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Eine folgenschwere Anklage und der Kampf um eine Liebe, die in Gefahr ist ... Norwegen, Anfang des 20. Jahrhunderts: Die Bewohner der Insel Averøya sind in Aufruhr, nachdem eine junge Magd von einem der ihren ermordet wurde. Doch die Bauerntochter Emma kann nicht glauben, dass der alte Tobias, den sie schon ihr ganzes Leben lang kennt, so eine grausame Tat begangen haben könnte. Während sie versucht, ihm zu helfen, kämpft sie auch mit ihren eigenen Schwierigkeiten. Ihrer Schwester Ragna geht es nicht gut und ihre Liebe zu Olav wird von einer Rivalin bedroht: Elin, ein Mädchen, das beständig versucht, Olav den Kopf zu verdrehen, arbeitet nun plötzlich auch für dessen Onkel. Kann Emma ihre Liebe noch retten? Die große Norwegen-Saga über einen Inselhof und die dramatischen Schicksale, die dort unter weitem, blauem Himmel ihren Lauf nehmen. Der fünfte Band dieser Familiensaga wird Fans von Ines Thorn und Charlotte Jacobi begeistern.
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Seitenzahl: 267
Veröffentlichungsjahr: 2025
Über dieses Buch:
Norwegen, Anfang des 20. Jahrhunderts: Die Bewohner der Insel Averøya sind in Aufruhr, nachdem eine junge Magd von einem der ihren ermordet wurde. Doch die Bauerntochter Emma kann nicht glauben, dass der alte Tobias, den sie schon ihr ganzes Leben lang kennt, so eine grausame Tat begangen haben könnte. Während sie versucht, ihm zu helfen, kämpft sie auch mit ihren eigenen Schwierigkeiten. Ihrer Schwester Ragna geht es nicht gut und ihre Liebe zu Olav wird von einer Rivalin bedroht: Elin, ein Mädchen, das beständig versucht, Olav den Kopf zu verdrehen, arbeitet nun plötzlich auch für dessen Onkel. Kann Emma ihre Liebe noch retten?
Über die Autorin:
Harriet Hegstad, Jahrgang 1944, ist eine norwegische Autorin. Bevor sie sich dem Schreiben widmete, arbeitete sie als Kindergärtnerin. Viele ihrer populären Kurzgeschichten und Romane sind bereits in skandinavischen Wochenzeitschriften erschienen und sie hat an mehreren nordischen Roman- und Kurzgeschichtenwettbewerben erfolgreich teilgenommen. Harriet Hegstad liebt die Natur, das Angeln und Bücherlesen, Handarbeiten und auf Reisen gehen. Sie hat vier erwachsene Kinder und sieben Enkel.
Harriet Hegstad veröffentlichte bei dotbooks bereits ihre Averøya-Reihe mit den Bänden »Der alte Hof von Averøya: Die geheime Hoffnung«, »Der alte Hof von Averøya: Zeit des Schicksals«, »Der alte Hof von Averøya: Ein neuer Anfang«, »Der alte Hof von Averøya: Tage des Sturms« und »Der alte Hof von Averøya: Wandel des Herzens«.
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eBook-Erstausgabe Februar 2025
Die norwegische Originalausgabe erschien erstmals 2016 unter dem Originaltitel »Offerlam« bei Cappelen Damm, Oslo.
Copyright © der norwegischen Originalausgabe 2016 Cappelen Damm
Copyright © der deutschen eBook-Erstausgabe 2024 dotbooks GmbH und der deutschen Audio-Erstausgabe 2024 SAGA Egmont
Übersetzt von SAGA Egmont
Nachbearbeitung durch Sylvia Nordebo
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung eines Motives von Ana / Adobe Stock sowie mehrerer Bildmotive von © shutterstock
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ae)
ISBN 978-3-98952-510-8
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Harriet Hegstad
Der alte Hof von Averøya:Wandel des Herzens
Roman – Band 5
Aus dem Norwegischen von SAGA Egmont, Nachbearbeitung durch Sylvia Nordebo
dotbooks.
Emma Vik
Johannes Vik: Emmas Zwillingsbruder
Jacob Vik: Emmas älterer Bruder
Ragna Vik: Emmas jüngere Schwester
Karen und Peder Vik: Emmas Eltern
Serine und Einar Dal: Nachbarn der Viks
Olav, Tore, Synnøve, Dagny und Grete Dal: Kinder der Dals
Dagny und Grete Dal: Kinder der Familie Dal auf Dal
Augusta Vik: Emmas Tante, Näherin
Nicolai Thorp: Künstler
Jens Skaret: Alter Junggeselle, Nachbar der Dals und Viks
Kåre Dal: Olavs Onkel
Sommer 1911
Emma war es gelungen, die Augen ihrer Mutter mit ihrem Blick festzuhalten. Trauer und Verzweiflung lagen darin, gepaart mit Wut auf den Mörder Toras. Benommen ließ sie sich auf den Stuhl sinken. Ihr Herz klopfte, und ihre Kehle war wie zugeschnürt. In diesem Moment schlug die Uhr im Wohnzimmer zehnmal.
»Wer, Mutter?«, stammelte sie. »Wer ist es?«
Die Mutter sah zu Boden und knetete ihre Hände in ihrem Schoß. Eine leichte Röte flammte auf ihren blassen Wangen auf. Eine Fliege schwirrte auf der Fensterbank und zerriss die bedrückende Stille.
»Es ist Tobias.«
»Tobias?« Emma riss die Augen auf, sie glaubte, ihren Ohren nicht trauen zu dürfen.
»Meinst du Dordis Sohn?« Der Blick ihrer Tante wanderte unruhig zwischen den beiden hin und her und blieb schließlich bei Emmas Mutter hängen. »Ist er das?«
Die Mutter nickte und nahm einen zittrigen Atemzug.
»Ja, Augusta. Er ist es.«
Emma schüttelte den Kopf. Das konnte nur ein großes Missverständnis sein. Nie im Leben würde Tobias eine so schreckliche Tat begehen. Er konnte nicht einmal eine Wespe totschlagen. Er pflegte jedes kranke oder verletzte Tier liebevoll gesund, ehe er es wieder in die Freiheit entließ.
»Das kann nicht stimmen«, sagte sie. »Der Lensmann muss ihn unter Druck gesetzt haben, bis er gestanden hat. Tobias würde niemals …«
»Er hat gestanden, Emma«, unterbrach ihre Mutter sie, »und der Lensmann würde nie jemanden unter Druck setzen. Er geht sehr fair und korrekt vor. Wenn Tobias gestanden hat, bleibt uns nichts anderes übrig, als zu glauben, dass er es war.«
»Aber, Mutter …« Emma schloss die Lider, spürte, wie ihr die Übelkeit in die Kehle stieg, als sie Tora wieder auf dem Opferstein vor sich sah. War es wirklich möglich, dass Tobias Tora getötet und dort abgelegt hatte? Alles in ihr bäumte sich dagegen auf. »Ich kann das einfach nicht glauben, Mutter.«
»Ja, ich höre dich, Emma.« Die Mutter sah sie niedergeschlagen an. »Wie gut kennst du Tobias? Ich kann an den Händen abzählen, wie oft er bei uns zu Hause war. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass du jemals bei ihm zum Spielen warst, als du klein warst.«
»Wir waren einige Male auf Holtet, aber es hat uns dort nicht gefallen.«
»Warum nicht?« Tante Augusta sah sie an. »Weil Tobias anders war als die anderen Kinder?«
Emma überlegte. War es nur deshalb? Sie erinnerte sich daran, wie Johannes und sie einmal in der Nähe von Holtet gespielt hatten. Tobias war auch dabei gewesen. Er wollte sie mit zu sich nach Hause nehmen, um ihnen ein neugeborenes Kälbchen zu zeigen. Ohne sich etwas Böses dabei zu denken, waren sie in den Stall gegangen, ohne um Erlaubnis zu fragen. Tobias war in die Kälberbox geklettert. Emma und Johannes hatten sich über den Rand gestreckt und das Kälbchen gestreichelt, das auf wackeligen Beinen dastand. Plötzlich erschien Tobias’ Vater in der Tür. Eine große, dunkle Silhouette, die sich vom Licht im Hintergrund abhob. Er war unglaublich wütend gewesen, erinnerte sie sich. Er sagte ihnen, sie sollten nach Hause gehen und aufhören, seinen Sohn zu piesacken. Emma war wütend geworden. Tobias piesacken? Das hatten sie nie gemacht. Sie wagte jedoch nicht zu widersprechen, sondern schlüpfte einfach an ihm vorbei und lief davon. Bis heute sah sie noch die dunklen, kalten Augen vor sich, die sie mit ihrem Blick durchbohrten.
»Nein«, sagte sie leise. »Tobias konnte keiner Fliege etwas zuleide tun. Er wollte einfach nur mit uns anderen Kindern zusammen sein, aber das durfte er nicht.«
»Warum nicht?« Ihre Tante sah sie verwundert an.
»Das weiß ich nicht.« Sie sah nachdenklich vor sich hin. »Seine Eltern hatten wahrscheinlich Angst, dass wir ihn hänseln würden. Das haben wir manchmal bestimmt auch gemacht«, fügte sie seufzend hinzu. »Wir alle wissen, wie rücksichtslos Kinder sein können. Manchmal wurde Olav gehänselt oder … oder jemand anderes von uns«, fügte sie schnell hinzu.
»Sie waren schon immer eigen auf Holtet«, sagte ihre Mutter mit Nachdruck. »Na ja, sein Vater gehört eben zum fahrenden Volk.«
Emma sah sie zutiefst erschrocken an.
»Aber, Mutter … Tobias hat einen Geburtsschaden, das hat doch wohl nichts mit seinem Vater zu tun?«
Die Mutter wurde über und über rot.
»Nein, natürlich nicht, aber wenn sie dem Jungen mehr Freiheiten gelassen hätten, wäre er vielleicht nicht so ein Eigenbrötler geworden. Er darf kaum den Hof verlassen.«
»Er mag ein Einzelgänger sein, vermutlich liegt das an seinem Hirnschaden. Ein Mörder ist er aber nicht.« Emma schüttelte bestimmt den Kopf. »Da passt viel zu viel nicht zusammen. Tora war schwanger. Glaubt ihr wirklich, dass Tobias der Vater ist? Tora konnte seinen Anblick nicht ertragen. Ich weiß noch, wie Johannes einmal zu ihr sagte, dass die beiden ein tolles Paar abgeben würden. Sie wurde rasend und hat lange Zeit kein Wort mehr mit Johannes geredet.«
»Tobias kann sie vergewaltigt haben.« Tante Augusta sah nachdenklich vor sich hin. »Und anschließend hat er sie getötet, um die Tat zu vertuschen.«
Emma schüttelte den Kopf.
»Das glaubst du doch selbst nicht, Tante Augusta.«
»Ich weiß nicht, was ich glauben soll, und ich kenne ihn nicht.« Sie sah ihre Schwester an. »Hältst du Tobias wirklich für den Schuldigen?«
»Haben wir eine Wahl? Es heißt, er hat gestanden. Und so eingeschränkt, etwas zu gestehen, was er nicht getan hat, ist er nicht.«
»Da wäre ich nicht so sicher, Mutter.« Emma ließ sich nicht überzeugen. »Tora hat mir erzählt, dass sie den Mann getroffen habe, den sie heiraten würde. Ein Mann, dem sie im Wald begegnet ist. Wenn das stimmt, glaubst du, dass es Tobias war? Sie konnte ihn nicht ausstehen. Nein, das passt einfach alles nicht zusammen.«
»Ich verstehe dich, Emma. Dagny hat dem Lensmann auch von dem Gespräch erzählt. Was können wir mehr tun?«
»Irgendetwas müssen wir tun können.«
»Liebe Emma.« Die Mutter sah sie niedergeschlagen an. »Bitte misch dich da nicht ein.«
»Findest du es richtig, dass eine unschuldige Person ins Gefängnis kommt?« Emma erhob die Stimme.
»Natürlich nicht, und mir fällt es auch schwer zu glauben, dass die beiden etwas miteinander hatten. Dordi lässt den Jungen kaum aus den Augen, und das war schon immer so.«
»Eben, siehst du, Mutter. Je mehr wir darüber nachdenken, desto mehr Ungereimtheiten gibt es.«
»Arme Dordi!« Augusta seufzte schwer. »Ich kann mir vorstellen, wie schlimm das gerade für sie sein muss. Und für ihren Mann natürlich. Sie haben ja nur dieses eine Kind.«
»Ja, danach hat sie keine mehr bekommen. Dordi wäre in den Wehen fast gestorben. Der kleine Junge war blauviolett am ganzen Körper, als er endlich da war. Es war ein Wunder, dass er durchgekommen ist.« Die Mutter stieß einen tiefen Seufzer aus. »Aber der Arme hat bleibende Schäden davongetragen. Er ist auf der rechten Seite teilweise gelähmt und hat einen Hirnschaden. Dordi selbst lag über zwei Monate im Bett, und bei diesem einen Kind ist es geblieben.«
Über Augustas Gesicht glitt ein schmerzlicher Ausdruck.
»Nicht jeder hat das Glück, mit einer ganzen Kinderschar gesegnet zu sein, Karen«, murmelte sie leise und stand auf. »Ich glaube, ich gehe ins Bett. Du bist doch bestimmt auch müde, Schwesterherz.«
»Ja, ich bin ganz erschöpft, obwohl ich heute keinen Finger gerührt habe.« Ihre Mutter reckte sich und sah Emma bittend an.
»Zerbrich dir jetzt nicht den Kopf, Liebes. Wenn Tobias unschuldig ist, wird sich das schon erweisen.«
»Aber was, wenn er unschuldig ist und trotzdem verurteilt wird? Was dann, Mutter?«
Emma lag im Bett und hörte, wie die Wohnzimmeruhr zwölf schwere Schläge tat, es schlug eins, dann zwei, aber der Schlaf wollte nicht kommen. Sie wälzte sich im Bett herum, während ihre quälenden Gedanken ihr keine Ruhe ließen. Alles, was in diesen kurzen Sommerwochen geschehen war, wirbelte in ihrem Kopf herum. Ihre erste Begegnung mit Nicolai und sein Interesse an ihr. Sie habe Talent, hatte er gesagt, und könne eine große Künstlerin werden, wenn sie diesen Weg einschlagen wolle.
Emma vergrub ihren Kopf in ihr Kissen. Und das sollte sie ihm glauben? Große Worte und nichts dahinter. Dann dachte sie an das Fest, als Synnøve verschwand und im Bootshaus gefunden wurde, mit blauen Flecken und zerrissenem Kleid. Wer war der Mann, der sich an ihr vergriffen hatte? War das auch Tobias gewesen? Nein, das war einfach zu unwahrscheinlich. Und wenn Tobias den Mord an Tora begangen hatte? Dann müsste es in der Umgebung zwei Täter geben. Wie wahrscheinlich war das in so einem kleinen Dorf?
Sie lag auf dem Rücken und starrte an die Decke, verschränkte die Finger ineinander und schloss die Augen. Aber sie konnte ihren Gedanken einfach nicht entfliehen. Sollte sie dem Lensmann erzählen, was Synnøve widerfahren war? Er unterlag doch der Schweigepflicht.
Sie dachte an den Tag, an dem Synnøve und sie miteinander gesprochen hatten. An diesem Tag zeigte Synnøve ihr das Messer, das sie bei sich trug, und flüsterte ihr zu, dass sie ihn umbringen würde. Ihn? Warum sagte sie nicht Tobias? Synnøve kannte ihn gut, und sie mochte ihn nicht. Sie fand ihn dumm und hässlich. Seinen unbeholfenen Körper, sein mühsames Sprechen, das Lachen … Synnøve hätte ihm leicht entkommen oder vor ihm weglaufen können. Emma erstarrte und setzte sich im Bett auf: Seine rechte Seite ist teilweise gelähmt … Das hatte die Mutter gesagt, und deswegen hinkte er vermutlich auch. Sie hatte das auch bemerkt. Aber Tobias war eben ein Außenseiter, er gehörte nicht richtig dazu, und sie wussten einfach nicht, wie sie mit ihm umgehen sollten. Wäre Tobias in der Lage gewesen, Tora auf den Opferstein zu heben? Wieder sah sie Tora vor sich, als sie tot auf dem Stein lag. Nichts sprach dafür, dass sie versucht hatte, sich zu wehren. Ihre Hände waren um den Blumenstrauß gefaltet, ihr Haar lag lose über dem Stein. Tora trug es immer in einem Kranz auf dem Kopf. Das Einzige, was auf einen Kampf hindeutete, war die Kette, die sie direkt hinter dem Stein gefunden hatten. Sie war zerrissen.
Tobias konnte das nicht gewesen sein … Aber warum hatte er dann gestanden?
»Aslak wird alles tun, um zu bekommen, was er will. Ihm geht es um Geld und Status …« Augusta rang nach Atem. »Glaub mir, ich weiß, wovon ich spreche.« Die Augen, mit denen sie Karen ansah, waren voller Bitterkeit. Die Schwestern saßen beim Frühstück am Küchentisch. Es war schon acht, aber nur die beiden waren wach. Ragna und Emma schliefen noch. Das gab den beiden Gelegenheit, in Ruhe miteinander zu sprechen.
»Aslak ist und bleibt ein Gauner, Augusta, aber das ist doch eine starke Unterstellung. Du traust ihm so etwas doch nicht ernsthaft zu? Du musst versuchen, nicht mehr daran zu denken, meine Liebe.«
»Ich bemühe mich wirklich, aber ich habe gesehen, was ich gesehen habe.«
»Was willst du jetzt machen? Zur Polizei gehen und sagen, dass du glaubst, dass Aslak seine Frau die Treppe hinuntergestoßen hat? Sie werden dir nicht glauben. Vergiss auch nicht, dass du selbst einmal mit ihm zusammen warst. Sie könnten dich verdächtigen, dich aus Eifersucht an ihm rächen zu wollen.«
»Ich weiß, Karen. Es tut mir auch leid, dass ich es dir gegenüber erwähnt habe, aber du bist die Einzige, der ich mein Herz ausschütten kann. Jede Nacht sehe ich es wieder so deutlich vor mir …«
»Du musst es vergessen.« Karen erhob ihre Stimme. »Man wird dir nicht glauben. Und wenn du recht hast …Weiß Gott, wozu er dann fähig ist, wenn er sich bedroht fühlt.«
»Pah! Ich habe keine Angst vor ihm.«
»Das solltest du aber, wenn du so etwas sagst.«
»Soll er doch kommen!« In Augustas Augen blitzte es kalt. »Weißt du, Karen. Fast wünschte ich, er würde es tun.«
»Jetzt hör aber auf.« Karen zuckte zusammen. »Du weißt nicht, was du sagst. Wie willst du es mit einem großen, starken Mann aufnehmen? Du machst mir wirklich Angst. Kannst du nicht mit der Vergangenheit abschließen und nach vorne schauen?«
»Mit ihm als Nachbarn? Du hast leicht Reden, aber du kennst nicht die ganze Wahrheit.«
»Dann erzähl sie mir.« Karen sah ihre Schwester streng an. »Dieser Hass darf nicht weitergehen, Augusta. Er frisst dich auf, und du allein leidest darunter. Glaub mir, ich weiß, wovon ich spreche.«
»Du hast doch noch nie Hass gegen jemanden empfunden, oder?«
»Hass, Verachtung und Verzweiflung. Doch, ich kenne alle drei. Nach Elfridas Tod habe ich das Schicksal, das sie uns genommen hat, tief und innig gehasst. Ich habe mit Gott gehadert. Früher habe ich mich immer mit meinen Problemen und Sorgen an ihn gewandt. Eine Zeit lang konnte ich nicht beten, denn um mich herum herrschte nur Finsternis, und das Gebet verhallte einfach ins Leere. Ich habe auf eine Antwort gewartet, aber es kam keine. Da war nichts als Schweigen.«
»Meine Liebe.« Augusta legte ihre Hand auf Karens und hielt mit Mühe ihre Tränen zurück. »Bitte verzeih mir, wenn du kannst. Meine Probleme sind nichts im Vergleich zu deinen. Ich kann mich wirklich nicht beklagen … Na ja, es ist ein einsames Leben, aber ich hoffe, es wird besser, wenn ich Abstand zu allem bekomme.«
Karen horchte auf.
»Hast du immer noch vor, nach Amerika zu gehen?«
»Ja, natürlich.« Augusta sah ihre Schwester erstaunt an. »Dachtest du etwas anderes?«
»Ja, schon … oder, ich weiß nicht. Du hast nichts mehr davon gesagt, deswegen dachte ich …«
»…, dass ich den Gedanken fallen gelassen habe?« Augusta lächelte. »Nein, ganz und gar nicht. Im Frühjahr geht‘s los.«
»Und es nützt nichts, wenn ich dich bitte zu bleiben?«
Augusta schüttelte den Kopf.
»Nein, Schwesterherz, auch wenn es mir wirklich schwerfällt, dich hier allein zu lassen. Du weißt, wie wichtig ihr mir alle seid.« Nachdenklich sah sie aus dem Fenster. »Ich komme zurück, Karen. In ein paar Jahren … vielleicht drei. Ich muss einfach sehen, wie es läuft. Übrigens …« Sie sah Karen an. »Hat Peder in letzter Zeit etwas von Alfred gehört?«
Karen überlegte einen Moment.
»Nein, seit Weihnachten haben wir keinen Brief mehr bekommen. Er schreibt immer im Frühjahr einen Brief, aber bisher ist nichts bei uns angekommen.«
»Bei mir auch nicht.« Tante Augusta sah nachdenklich vor sich hin. »Ich hoffe, es geht ihnen gut.«
»Bestimmt. Sonst hätten wir es erfahren.« Karen sah sie bittend an. »Überleg dir genau, ob du das willst, Augusta. Du hast noch den ganzen Winter Zeit, um dich zu entscheiden. Auf der anderen Seite des großen Teichs ist das Gras schließlich auch nicht grüner.«
»Wer weiß, vielleicht ist es das, Schwesterherz.« Augusta lachte. »Was, wenn ich dort einen reichen Mann finde? Es soll sie dort ja wie Sand am Meer geben.«
»Das ist pure Übertreibung«, antwortete Karen. »Du darfst nicht alles glauben, was du hörst …« Sie verstummte jäh und drehte sich um, als sie ein Geräusch hinter sich vernahm. Emma stand mit müden Augen in der Tür und straffte ihren Zopf.
»Guten Morgen. Warum habt ihr mich nicht geweckt? Ich wusste nicht, dass es schon so spät ist.«
»Alles gut.« Augusta lächelte. »Wir lassen es heute ruhig angehen. Ich habe Karen versprochen, dass wir einen Spaziergang in die Stadt machen werden. Ich kann mir vorstellen, dass die Langschläferin da oben auch nichts dagegen hat.«
»Vielleicht sollte ich Ragna wecken.« Karen stand auf und bedankte sich fürs Frühstück. »Um ihren Schlaf ist sie wirklich zu beneiden.«
»Ganz der Vater.« Emma lächelte schelmisch. »Sagst du das nicht immer, Mutter?«
Endlich konnten sie losgehen. Ragna war ganz aus dem Häuschen, die Worte sprudelten nur so aus ihr heraus. Ihre Mutter hielt ihre Hand und ermahnte sie zur Ruhe. Aber ihre Worte prallten von Ragna ab. Emma beobachtete, wie ihre Mutter einen langen Blick zum Haus des Reeders warf und dass sie und ihre Tante sich vielsagend ansahen, als ob sie dasselbe dächten.
»Mutter, kann ich von dem Geld, das ich noch übrighabe, Bonbons kaufen?« Ragna sah ihre Mutter an.
»Wie viel hast du denn noch?«, antwortete ihre Mutter.
»Hm … etwas mehr als eine Krone.«
»Gut, aber nur, wenn du mir versprichst, etwas abzugeben, wenn du nach Hause kommst.«
»Schon gut.« Sie sah Emma an. »Was wirst du kaufen?«
»Mal sehen.« Emma sah ihre Schwester lächelnd an. Eine Welle von Liebe und Wärme durchfuhr sie. Ragnas Augen leuchteten mit einem klaren blauen Schimmer und ihre Wangen glühten vor Eifer. »Ich könnte ein Paar Schuhe zu dem blauen Kleid und eine Handtasche kaufen.«
»Das ist aber toll.« Ragna seufzte. »Wenn ich groß bin und ganz viel Geld verdiene, kaufe ich mir alles, was ich will.«
Sie lachten, und die Mutter schüttelte ein wenig den Kopf.
»Sollen wir zu Kåre Dals Eisenwarenhandel gehen? Ich würde gerne sehen, wo Olav arbeitet.«
»Gibt es dort auch Süßigkeiten?« Ragna sah ihre Mutter fragend an.
»Nein, Süßigkeiten gibt es da nicht. Wir gehen auch nur kurz vorbei, um Olav zu begrüßen.«
»Und was verkaufen sie dort?«
»Na ja …« Die Mutter sah Emma an. »Vor allem Nägel und Werkzeug. Stimmt‘s, Emma?«
»Das stimmt, aber sie haben auch eine Porzellanabteilung. Außerdem haben sie Kessel und andere Küchenutensilien.«
»Wirklich?« Die Mutter sah sie beeindruckt an. »Das wusste ich nicht. Olav kann sich wirklich glücklich schätzen, muss ich sagen.«
»Warum kann er sich glücklich schätzen?« Ragna schaltete sich in das Gespräch ein.
»Weil er das Geschäft irgendwann einmal übernehmen soll. Wäre das nicht …«
»Mutter, das wissen wir nicht mit Sicherheit«, unterbrach Emma sie. »Noch ist nichts entschieden.«
»Nicht?« Die Mutter sah sie überrascht an. »So, wie ich dich verstanden hatte, war das abgemacht?«
Emma wurde rot und schüttelte den Kopf.
»Noch nicht. Olav muss erst mal sehen, ob er das wirklich will.« Sie ging schnell weiter, um weiteren Fragen auszuweichen. Sie hatte ihrer Mutter gegenüber nur gesagt, dass Olav das Geschäft übernehmen sollte, weil sie wollte, dass ihre Mutter ihn akzeptierte. Damit sie sah, dass er eine Perspektive hatte und etwas anderes werden konnte als Knecht auf dem Bauernhof seines Vaters.
Sie sah sich um. Menschen liefen eilig durch die Straße, aber sie kannte niemanden. Etwas weiter entfernt entdeckte sie einen großen Mann mit hellem Haar. Ihr Herz setzte einen Schlag lang aus. Doch als der Mann sich umdrehte, war sie sehr erleichtert, denn es war nicht Markus. Sie wollte ihn nicht mit ihrer Mutter treffen. Sie hatte Angst vor dem, was er sagen könnte. Vielleicht würde er sich als ihr Freund vorstellen oder irgendetwas sagen, das man falsch deuten könnte. So war er nun einmal. Sie sah seine blauen, spitzbübischen Augen vor sich. Als sie sich an das erinnerte, was er zu ihr gesagt hatte, musste sie unwillkürlich lächeln. Er hatte Charme, das musste sie zugeben, aber sie ließ sich von seinen fast schamlosen Schmeicheleien nicht einwickeln.
Einen Moment lang war sie unaufmerksam und stolperte über das unebene Pflaster. Sie ärgerte sich über sich selbst, weil sie an Markus dachte. Nach allem, was sie wusste, konnte er ein Gauner sein, und sie hatte schließlich Olav. Woran dachte sie eigentlich? Sie seufzte resigniert und blieb vor dem Eisenhandel stehen.
Ihre Mutter stand vor der Eingangstür und betrachtete bewundernd die Schnitzereien, ließ ihren Blick auf dem Namen über der Tür verweilen und nickte.
»Schönes Schild«, sagte sie und warf Emma einen langen Blick zu.
Hatte sie Olavs Namen auf dem Schild vor sich gesehen? Olav Dals Eisenwarenhandel. Emma probierte das Wort aus, doch es klang in ihren Ohren nicht gut. Insgeheim glaubte sie nicht wirklich, dass das jemals wahr werden würde.
Kåre Dal stand hinter der Ladentheke und machte sich Notizen in einem Buch. Er hob den Kopf, steckte den Bleistift hinter sein Ohr und lächelte einladend. In seinem weißen Hemd und der dunklen Weste machte er einen gepflegten Eindruck. Die Kette der goldenen Uhr lag wie eine Schlange über seinem vorgewölbten Bauch.
»Guten Tag, Emma … Augusta«, begrüßte er sie freundlich und richtete seinen Blick auf Karen. »Sie sind Emmas Mutter, nehme ich an?«
»Das stimmt.« Die Mutter nickte und reichte ihm die Hand. »Karen Vik …«
»… und ich heiße Ragna. Gehört Ihnen der Laden?« Ragna sah ihn an und legte ihren Kopf schräg.
»Das stimmt.« Kåre Dal sah sie mit einem Lächeln an. »Und du bist Emmas kleine Schwester, wie ich sehe.«
»Mm.« Ragna nickte. »Ist Olav nicht hier?«
»Nein, er ist nicht da.«
Sein Blick huschte zwischen ihnen hin und her. Unsicherheit lag darin, als wüsste er nicht recht, was er sagen sollte.
»Warum ist er nicht da?« Ragna sah ihn fragend an, doch ihre Mutter nahm ihre Hand und sah sie mahnend an.
»Bestimmt macht er Besorgungen«, sagte sie beschwichtigend.
»Ist er vielleicht im Lagerhaus?« Emma fing kurz seinen Blick auf und hielt ihn für eine flüchtige Sekunde fest. Sie konnte den Abscheu, den sie empfand, kaum verbergen.
Er zögerte einen Augenblick.
»Ja, genau … Es gab noch ein paar Kleinigkeiten zu erledigen, aber er ist bestimmt bald wieder da.«
»Nun gut.« Sie drehte ihm den Rücken zu und ging zu den Regalen hinüber. Sie nahm eine Tasse heraus und musterte sie, ohne sie zu sehen. Kleinigkeiten, natürlich! Olav war wahrscheinlich beim Entrümpeln und Putzen. Das waren die Aufgaben, die ihm übertragen wurden. Wenn Mutter nur wüsste, dachte sie bitter und stellte die Tasse wieder an ihren Platz.
»Hier gibt es wirklich viele schöne Sachen.« Ihre Mutter kam zu ihr herüber. »Sieh dir diese schöne Schüssel an, Emma.«
Sie strich behutsam über das Porzellan und ein sehnsüchtiges Glitzern lag in ihren Augen. Kåre kam zu ihnen herüber. Er nickte anerkennend.
»Sie haben einen Blick für Porzellan, Frau Vik. Sehen Sie sich die glänzende Glasur und die wunderschöne, blaue Borte an.«
»Ist es echtes Meissener Porzellan?« Augusta beugte sich vor und schaute Emmas Mutter über die Schulter.
»Ja, das stimmt.« Kåre lächelte schief und sah sie vieldeutig an. »Sie kennen das natürlich.«
»Ich habe davon gehört, ja.« Eine heftige Röte stieg Augusta ins Gesicht. »Es ist nicht meine Preisklasse, aber schön ist es.« Sie sah ihre Schwester an. »Wollen wir gehen?«
»Ja.« Die Mutter stellte die Schüssel vorsichtig ab.
Emma nahm Ragnas Hand und ging zur Tür. Sie warf einen Blick über ihre Schulter und sah, wie Kåre die Tür zum Lager öffnete und hineinging. Für einen kurzen Moment erblickte sie ein junges Mädchen. Elin! Obwohl sie sie nur ganz kurz sah, war sie sich sicher, dass sie es war. Es sah aus, als würde sie die Regale putzen, denn sie stand auf den Zehenspitzen und hatte ein Tuch in der Hand. Sie hatte also ihre Stelle angetreten. Das hübsche junge Mädchen, für das Olav ein gutes Wort eingelegt hatte. Vermutlich dachte sie immer noch, sie würde Dienstmädchen beim Geschäftsmann Kåre Dal werden. Sie wird die Wahrheit schon noch entdecken, dachte Emma und konnte sich ein kleines Lächeln nicht verkneifen. Aber schon im nächsten Moment tat Elin ihr leid.
»Weißt du, wo das Lagerhaus ist, Emma?« Die Mutter riss sie aus ihren Gedanken.
»Ich weiß das!« Ragna lächelte stolz. »Emma und ich sind dort gewesen …« Sie biss sich auf die Lippe, »aber ich will nicht noch mal dorthin.«
»Warum nicht?«
»Weil es dort unheimlich ist.« Sie sah ihre Mutter bittend an. »Können wir nicht stattdessen ins Café gehen?«
»Das machen wir, aber erst ein bisschen später. Was meinst du, Emma? Wollen wir kurz bei Olav vorbeigehen?«
»Gerne.« Emma war gespannt, was er dort machte. Als Ragna und sie dort gewesen waren, lag nur noch etwas Unrat herum. Damit müsste er eigentlich längst fertig sein. Vielleicht hatten sie eine Warensendung erhalten? Eigentlich glaubte sie das nicht, aber es könnte eine Erklärung sein.
Die Mutter sah sie lächelnd an.
»Ich muss schon sagen, es ist ein schönes Geschäft, Emma. Olavs Wohnung liegt im zweiten Stock, richtig?«
»Das stimmt, aber Wohnung wäre zu viel gesagt. Es ist eher eine Kammer.«
»Das reicht ihm bestimmt, bis Kåre Dal sich zur Ruhe setzt. Übrigens …« Ihre Mutter sah sie an und runzelte die Stirn. »Ich hatte das so verstanden, dass Herr Dal gesundheitlich angeschlagen ist und deswegen daran denkt, sich zur Ruhe zu setzen. Es schien mir aber gar nicht so. Weißt du, was ihm fehlt, Emma?«
»Nein, Mutter, das weiß ich nicht. Du solltest nicht alles glauben, was du hörst.«
»Aber Serine kann ich doch wohl glauben? Schließlich ist er ihr Schwager, und ich kann mir nicht vorstellen, dass er seinem Bruder nicht die Wahrheit sagt.«
»Hoffen wir‘s …« Sie eilte ihrer Tante und Ragna hinterher, die ein Stück vor ihnen hergingen. »Lass uns durch die Gasse gehen, Tante Augusta. Das geht schneller.«
Ihre Tante sah sie verwundert an.
»Wie du willst …«
»Puh! Hier stinkt es nach Katzenpisse.« Ragna zog an der Hand ihrer Tante. »Lass uns zum Kai gehen. Vielleicht ist der süße Hund heute wieder da? Mutter, kann ich einen Hund bekommen?«
»Einen Hund? Du hast doch eine Katze, das reicht doch wohl.«
»Ich wusste, dass du das sagen würdest.« Ragna schob ihre Unterlippe vor. »Ich werde Vater fragen. Er möchte auch einen Hund.«
»Woher weißt du das?«
»Weil …, weil er es schon mehrmals gesagt hat.«
Die Mutter lachte und schüttelte ein wenig den Kopf.
»Seltsam, dass ich davon noch nichts gehört habe. Aber frag ihn, Ragna. Ihr müsst euch dann aber um den Hund kümmern, du und Vater.«
Emma lächelte vor sich hin. Ragna wickelte alle um den kleinen Finger. Eigentlich bekam sie fast immer, was sie wollte. Sie konnte sich erinnern, in Ragnas Alter entschlossen und eigensinnig gewesen zu sein. Trotzdem hatte sie auf das gehört, was die Erwachsenen sagten, und sich daran gehalten. Die Kinder, die sie sonst kannte, hatten Respekt vor den Älteren, aber Ragna war anders. Ermahnungen perlten einfach an ihr ab. Emma seufzte. Es würde also demnächst einen Hund auf dem Hof geben, und warum eigentlich nicht? Das könnte allen guttun.
Die Flügeltüren zum Lagerhaus standen offen. Draußen befanden sich ein paar Fässer, und eine Kiste stand an die Wand gelehnt. An dem Flaschenzug, mit dem Waren in den zweiten Stock transportiert wurden, hing eine Kiste. Sie schaukelte leicht im Wind und die Ketten knarrten.
»Olav!« Emma reckte ihren Hals und rief in die dunkle Öffnung hinein. »Olav, bist du da?« Sie horchte, bekam aber keine Antwort.
»Er muss doch hier sein.« Tante Augusta sah sich um und schüttelte den Kopf. »Das Haus muss wirklich dringend renoviert werden«, sagte sie mit einem schiefen Lächeln. »Man sollte meinen, dass Kåre Dal sein Hab und Gut besser pflegt.«
»Wahrscheinlich hat er getan, was allein in seiner Macht stand«, antwortete die Mutter ein wenig spitz.
Augusta lächelte und erwiderte säuerlich:
»Er hatte Hilfe, Karen, das Problem ist nur, dass sich die Leute mit der Zeit eine andere Arbeit suchen. Ich würde gerne wissen, woran das liegt. Bezahlt er schlecht, oder sind die Arbeitstage zu hart?«
»Was redest du denn da?« Die Mutter schnaubte. »Man könnte meinen, du hast etwas gegen ihn. Hat er dir irgendwas getan?«
»Kåre Dal ist nicht gerade der sympathischste Mensch, den ich kenne, das stimmt!«
Die Mutter öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, schüttelte aber stattdessen nur den Kopf. Nachdenklich blickte sie auf das Lagerhaus.
»Mutter, ich will da nicht reingehen.« Ragna nahm die Mutter bei der Hand und zog sie zurück. »Wir warten hier und schauen solange den Schiffen zu.«
»Wenn du willst …«
Emma ging hinein und blieb eine Weile stehen, bis sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Es roch nicht mehr ganz so streng, nur ein schwacher Fischgeruch lag noch in der Luft. Sie suchte alles ab und wollte gerade nach Olav rufen, als sie ihn entdeckte. Er saß auf der untersten Treppenstufe und stützte seinen Kopf in die Hände.
»Olav!« Sie lief zu ihm hin und kniete sich neben ihn. »Hier bist du! Ist etwas passiert? Ich habe gerufen und gerufen …«
»Ich habe dich gehört, Emma«, sagte er schwach, »aber ich habe keine Luft bekommen, sodass ich nicht antworten konnte.« Er rang immer noch nach Atem und rieb sich den Rücken. »Ich bin die Treppe hinuntergefallen.«
»Bist du gefallen? Aber …« Sie sah ihn besorgt an, bemerkte den Schweiß, der über seine Wangen lief, den unnatürlichen Glanz in seinen Augen. »Bist du verletzt?«
»Geht schon …« Er verzog das Gesicht. »Ich… ich glaube, schon.«
»Lass mich deinen Rücken ansehen.«
Er leistete schwachen Widerstand, ließ sie aber sein Hemd aufknöpfen. Sie konnte ein paar rote Streifen oberhalb seiner Taille und einen blauen Fleck zwischen seinen Schulterblättern erkennen. Zum Glück blutete er nicht.
»Du hast Glück gehabt«, sagte sie. »Die Treppe hat viel zu schmale Stufen, da kann man leicht stolpern.«
»Ich bin nicht gestolpert.«
»Wie meinst du das?«