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Der Bauernkrieg von 1525 gilt als die größte Erhebung in Europa vor der Französischen Revolution. Er wurde als Aufstand für die Einheit der Deutschen, frühbürgerliche Revolution und Revolution des gemeinen Mannes gedeutet. Gerd Schwerhoff hat die Quellen neu gelesen und beschreibt anschaulich, was vor 500 Jahren geschah. Wer künftig über den Bauernkrieg mitreden will, wird an dieser fesselnden Darstellung nicht vorbeikommen. Herbst 1524: Befeuert durch die Botschaft der Reformatoren beginnt im deutschen Südwesten ein Aufstand, der im Frühjahr 1525 fast den ganzen Süden des Reiches erfasst hat. Überall organisieren sich die Bauern und die mit ihnen sympathisierenden Stadtbewohner in großen «Haufen». Sie zerstören Klöster, brennen Burgen nieder und zwingen Herren, Grafen und sogar Fürsten in ihre «brüderliche Vereinigung». Fast überall fordern sie die Beseitigung der Kirche als weltlicher Machtfaktor. Die Herrschenden sind zunächst uneins, aber dann läuft die militärische Maschinerie des mächtigen Schwäbischen Bundes an ... Die Bauern verlieren entscheidende Schlachten, viele werden gnadenlos massakriert, aber einigen Herrschenden dämmert auch, dass pure Repression zu wenig ist. Zeitgenossen haben die Ereignisse als «wilde Handlung» wahrgenommen. Gerd Schwerhoff versteht es meisterhaft, den ganz unterschiedlichen Schauplätzen gerecht zu werden und ein neues farbiges Gesamtbild zu zeichnen. Die mit weitreichenden Deutungen übertünchten Ereignisse erscheinen so in ganz neuem Licht.
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Gerd Schwerhoff
DER BAUERNKRIEG
Eine wilde Handlung
C.H.Beck
Cover
Inhalt
Textbeginn
Titel
Inhalt
Abbildung
Karte
Einleitung – Eine wilde Handlung
1: Auf dem Weg zum Bauernkrieg – Die Welt um 1500
Gesellschaft, Politik und Religion
Ständegesellschaft
Reichsverfassung und Reichspolitik
Religion – Geistlichkeit – Kirche
Unruhige Zeiten
Im Zeichen des Bundschuh
Der Arme Konrad
Zum Profil zweier Aufstandsbewegungen
Unruhige Ritter
Die radikale Reformation des Martin Luther
Martin Luthers Anliegen
Wegbegleiter, Kontrahenten und Resonanzen
Unruhen in der Stadt
Das Beispiel Mühlhausen
Ländliche Proteste
Von Forchheim nach Nürnberg
2: Vorboten und Beginn des Krieges – Der Südwesten des Reiches, 1524 bis März 1525
Ulrich Zwingli und das Zürcher Landgebiet
Der Ittinger Klostersturm im Juni
Balthasar Hubmaier in Waldshut
Die Stühlinger und ihre Nachbarn
Herrschaftsübergreifender Protest
Verhandeln oder kämpfen?
Das Zürcher Kontingent in Waldshut
Erhebungen im Hegau und Klettgau
Kirchweih im Hegau
Evangelischer Aufbruch im Klettgau
Mobilisierung und erstes Blutvergießen
Erste Konfrontation im Schwarzwald
Nordschwarzwald und Breisgau
Welchen Anteil hatte Müntzer?
Im Windschatten Herzog Ulrichs von Württemberg
Waldshut – Klettgau – Stühlingen
Der Hegau als regionales Aufstandszentrum
Die Invasion des Herzogs
3: Ausweitung und Bündnis – Oberschwaben, Januar bis Anfang März 1525
Brennpunkt Allgäu
Der Abt und die Gotteshausleute
Ausweitung über Kempten hinaus
Das Baltringer Ried
Huldrich Schmid
Mobilisierungserfolge
Der nördliche Bodenseeraum
Dietrich Hurlewagen
Der Bermatinger Haufen unter Eitelhans Ziegelmüller
4: Die Geburt einer Vision – Memmingen, März 1525
Fluchtpunkt Memmingen
Ein Bauernparlament?
Die Bundesordnung
Begriffe und Funktionen
Die mysteriöse Landesordnung
Flexible Bundesordnung
Die Zwölf Artikel
Der Inhalt
Entstehung und Hintergründe
Karriere einer Druckschrift
Der Fixstern des Bauernkriegs
5: Frühes Ende der Illusionen – Oberschwaben, Anfang März bis Mitte April 1525
Erfolglose Verhandlungen
Der Leipheimer Haufen
Der holprige Beginn des Bundesfeldzugs
Einseitige Verhandlungen
Auf dem Weg nach Leipheim (4. April)
Die erste Schlacht des Bauernkriegs
Strafgericht
Von Leipheim nach Weingarten
Die Erfolge des Allgäuer Haufens
Die Aktionen der Seebauern
Vor der nächsten Entscheidungsschlacht?
Der Weingartener Vertrag
Eine verspielte Chance?
6: Ein neues Kerngebiet des Aufruhrs – Franken, Ende März bis Mitte Mai 1525
Stadt und Land: Rothenburg ob der Tauber
Der Beginn der Unruhen
Die Anfänge des Taubertaler Haufens
Der helle Haufen
Gegen den Deutschen Orden in Mergentheim
Der Neckar-Odenwälder Haufen formiert sich
Jäcklein Rohrbach
Rund um Öhringen
Die «Bluttat» von Weinsberg (16. April)
Der Sturm auf die Stadt
Die Bluttat: Legendenbildung und Beurteilung
Ein weit ausstrahlendes Fanal
Der Siegeszug des Neckar-Odenwälder Haufens
Götz von Berlichingen und Wendel Hipler
Amorbach und Miltenberg
Florian Geyer und die Dispute vor Würzburg
In diplomatischer Mission
In und vor der Residenz Würzburg
Bildhausen: Standquartier im Süden der Rhön
Erfolge und Aufbruch
7: Die heiße Flamme der Empörung – Der Südwesten, Mitte April bis Mitte Mai 1525
Elsass: Weiträumige Koordination
Anfänge in Dorlisheim
Ausweitung
Auf dem Höhepunkt des Erfolgs
Pfalz: Verhandlungsdruck von unten
Rechts des Rheins
Die Reichstadt Speyer und der Udenheimer Vertrag
Zwischenspiel im Kraichgau
Links des Rheins
Die Vereinbarung zu Forst am 10. Mai
Württemberg: Landestreue Rebellen
Matern Feuerbacher auf dem Wunnenstein
Ein Siegeszug durch das Herzogtum
Die Rebellen als Landespatrioten
Oberrhein, Schwarzwald und Allgäu: Der Kampf geht weiter
Aufbruch der Bauern, Abschwenken des Truchsessen
Der «Artikelbrief»
Ausweitung auf den Breisgau
Allgäu zwischen Verhandlungen und Kampf
8: Der Flächenbrand bleibt aus – Zwischen Hohenlohe und Rhön, Mitte April bis Mitte Mai 1525
Zwischen Schwaben und Franken: Kurzlebige Bauernhaufen
Rückblick – die letzte Phase der Fastenzeit
Die zweite Aufstandswelle ab Ostern
Markgraf Kasimir, das Gefecht bei Ostheim und die Folgen
Hochstift Eichstätt: Begrenzte Dynamik
Hochstift Bamberg: Eindämmung durch Konzessionen
Reichsstadt Nürnberg: Beobachten, moderieren, disziplinieren
An Fulda und Werra: Scheiternde Säkularisierung
Flucht und Rückkehr des Koadjutors
Graf Wilhelm von Henneberg und der Werrahaufen
Landgraf Philipp von Hessen greift ein
Das Ende des Werrahaufens
9: Höhepunkt des Bauernkriegs? – Thüringisch-sächsische Gebiete, Ende April bis Mitte Mai 1525
Thomas Müntzer und der Ewige Rat in Mühlhausen
Von Salza ins Eichsfeld
Der Mühlhäuser Haufen und der Zug ins Eichsfeld
Vom Harz über Erfurt zum Erzgebirge
10: Verdikte und Visionen – Positionspapiere, Anfang Mai 1525
Luthers Bauernkrieg
Von der Mahnung …
… zur Verdammung
Unmittelbare Kritik
Heilbronner Zukunftsplanungen
Was stand auf der Tagesordnung?
Weygandts Reformprogramm
11: Eine Kette von Katastrophen – Verschiedene Schauplätze, Mitte Mai 1525
Der Schwäbische Bund siegt bei Böblingen (12. Mai)
Die Fürstenkoalition siegt bei Frankenhausen (15. Mai)
Fluchtpunkt Frankenhausen
Die Schlacht von Frankenhausen
Mühlhausen kapituliert
Herzog Anton von Lothringen wütet im Elsass (16. bis 20. Mai)
12: Untergang und Beharrung – Verschiedene Schauplätze, Mitte Mai bis Mitte Juni 1525
Das Ende der fränkischen Bauernhaufen
Die Front der Belagerer bröckelt
Die Schlachten bei Königshofen und Giebelstadt
Strafen in Würzburg und Umgebung
Das Ende des Bildhäuser Haufens
Die Spätphase des Aufstands in Bamberg
Im Westen: Pfälzische und elsässische Bauern in der Defensive
Vermittlungen im Elsass
Im Südwesten: Flüchtige Erfolge
Freiburg kapituliert
Am Bodensee und im Schwarzwald
Der Renchener Vertrag vom 25. Mai
Im Süden: Hinhaltende Verhandlungen im Allgäu
Verhandeln in Füssen
Memmingen belagern
13: Den Erzherzog herausfordern – Tirol, Mitte Mai bis Juli 1525
Bergbau und Landesbewusstsein
Aufstand der Bergarbeiter
Michael Gaismair und der kurze Frühling der Rebellion
Peter Päßler und Michael Gaismair
Die ersten Schritte der Empörer
Ausweitung und Begrenzung der Rebellion
Der Tiroler Landtag im Juni 1525
Gaismair im Abseits
14: Aufstand in den Bergen – Salzburg und seine Nachbargebiete, Ende Mai bis Mitte August 1525
Bergleute im Aufstand
Aufständische Programme und fürstliche Winkelzüge
Aufständischer Sieg in Schladming (3. Juli)
Keine Entscheidungsschlacht vor Salzburg
15: Endgültige Liquidierung – Südwesten, Mitte Juni bis Dezember 1525
Massakrieren und Strafen in der Pfalz und am Mittelrhein
Offene Rechnungen im Allgäu
Undramatisches Ende in Leubas
Endspiele im äußersten Südwesten
Die harte Hand des Marx Sittich von Ems
Grießen, die letzte Bauernkriegsschlacht nördlich der Alpen
Zuletzt fällt Waldshut
16: Gaismairs Krieg – Alpengebiete, Herbst 1525 bis Juli 1526
Überwintern in Graubünden
Tabula rasa in Tirol
Schweizer Exil und Landesordnung
Letzter Anlauf und Scheitern
Ein Tiroler in Salzburg
Die Salzburger Landesordnung
Nachspiel in Italien
17: Folgen und Nachwirkungen
Tod und Vertreibung
Geldstrafen und Schadensersatz
Vertragen und Verbessern
Zwischen Kriminalisierung und Verrechtlichung
Kriminalisierung
Verrechtlichung
Unruhen und Aufstände bleiben
18: Rückblick und Einordnung
Ereignisse und Strukturen
Das Evangelium als einigendes Band
Das göttliche Recht
Eine flexible Semantik
Antiklerikalismus als Kern
Forderungen – Programme – Ziele
Die Ziele der Handelnden
Dynamik und Grenzen einer Massenbewegung
Formierung, Organisation und Zwang
Kommunikationsstrukturen
Handlungsoptionen und Zwänge
Die Dominanz der rituellen Gewalt
Kampf und Niederlagen
Vielfalt und Fragmentierung der Akteure
Männer und Frauen
Die «Führer» des Bauernkriegs
Die Rolle der Städte
Bergleute
Wer war der gemeine Mann?
Die Pluralität der Gegner
Keine Revolution des gemeinen Mannes
Epilog – Erinnern an den Bauernkrieg
Anhang
Wichtige Herrscher und ihre Gebiete 1525
Anmerkungen
Einleitung
1 Auf dem Weg zum Bauernkrieg
2 Vorboten und Beginn des Krieges
3 Ausweitung und Bündnis
4 Die Geburt einer Vision
5 Frühes Ende der Illusionen
6 Ein neues Kerngebiet des Aufruhrs
7 Die heiße Flamme der Empörung
8 Der Flächenbrand bleibt aus
9
Höhepunkt des Bauernkriegs?
10 Verdikte und Visionen
11 Eine Kette von Katastrophen
12 Untergang und Beharrung
13 Den Erzherzog herausfordern
14 Aufstand in den Bergen
15 Endgültige Liquidierung
16 Gaismairs Krieg
17 Folgen und Nachwirkungen
18 Rückblick und Einordnung
Epilog
Quellen und Literatur
Personenregister
Ortsregister
Bild- und Kartennachweis
Zum Buch
Vita
Impressum
Eine wilde Handlung
Eine wilde Handlung» drohe ihnen vonseiten ihrer Bauern, so schrieben die adligen Brüder von Schellenberg Ende September 1524 aus Hüfingen, am südöstlichen Schwarzwaldsaum gelegen. Wenn man nichts dagegen unternehme, werde sich der Aufstand im ganzen Land ausbreiten.[1] Als «wild» qualifizierten die Junker hier zum einen die bevorstehenden Unruhen, die konspirativen Vorbereitungen und die befürchteten Ausschreitungen, zum anderen aber auch die Bauernakteure selbst: Ungebildet, ungebärdig und ungehorsam, verstünden diese «Wilden» nicht, dass die Herrschaftsordnung, gegen die sie sich auflehnen, von Gott aufgerichtet ist und überdies einer «vernünftigen» Hierarchie der Stände entspricht.[2] Wenn ich mir das Diktum der Adligen als Titel für ein Buch über den Bauernkrieg ausleihe, dann keineswegs in diesem abwertenden Sinn. Mir scheint «wild» eine überaus passende Charakterisierung zu sein für die komplexe, hochdynamische Abfolge von Interaktionen und Kommunikationen, die in der Zusammenschau als das historische Ereignis «Bauernkrieg» bezeichnet wird. Häufig erschien sie den Akteuren selbst unüberschaubar und unkalkulierbar.
Warum beschäftigt sich das vorliegende Buch mit diesem Ereignis von 1525? Haben sich nicht bereits Generationen von Forschenden am Bauernkrieg abgearbeitet? Wird er nicht längst «zu den fundamentalen Ereignissen» der deutschen Geschichte gezählt, gleich, ob man ihn mit Leopold von Ranke als «größtes Naturereignis des deutschen Staates» begreift oder mit Friedrich Engels als den «großartigste(n) Revolutionsversuch des deutschen Volkes»?[3] Liegen nicht zahlreiche Überblicksdarstellungen vor, zuletzt jene, die im Umkreis des Bauernkriegsjubiläums von 1975 geschrieben wurden?[4] Nun, die bisher vorliegenden Darstellungen bieten zwar eine Fülle von Fakten, manchmal spannend rekonstruiert und bisweilen phantasievoll ausgeschmückt, manchmal trocken aneinandergereiht.[5] Keine organisiert jedoch das überreichlich vorhandene Wissen so, dass der Bauernkrieg als ein regional übergreifendes und zeitlich konzentriertes Ereignis plastisch vor den Augen der Leser entfaltet wird, als ein Geschehen, das zur gleichen Zeit fast das gesamte Reich südlich einer Linie vom Pfälzer Wald im Westen über den Odenwald, den Spessart und die Rhön bis hinauf nach Thüringen und bis hinunter nach Salzburg und Tirol inklusive des italienischsprachigen Hochstifts Trient erfasste. Über die einzelnen regionalen Arenen sind wir, soweit es die Quellen erlauben, hervorragend informiert. Eine wirkliche Gesamtschau dagegen fehlt.
Nun wäre es ungerecht und falsch, der bisherigen Forschung zu unterstellen, sie hätte nicht nach dem Übergreifenden und Verbindenden des Bauernkriegs gesucht. Nur fand sie es eben nicht auf der Ereignisebene, sondern sie grub gleichsam tiefer und wurde bei den gemeinsamen Antriebskräften fündig. Im Mittelpunkt neuerer Arbeiten zum Bauernkrieg standen meist dessen ökonomische, politische, rechtliche und nicht zuletzt religiöse Ursachen. Eng damit verbunden waren die Analyse der bäuerlichen Beschwerdeartikel, aus denen plastisch zu entnehmen war, wo die Untertanen der Schuh drückte und was sie zu verbessern oder abzuschaffen hofften, sowie das Studium einiger Programmschriften. Entlang dieser leitenden Gesichtspunkte ging die Forschung lange, meist bis heute, daran, die Frage nach dem grundlegenden Charakter des Bauernkriegs zu beantworten. Die bekannteste Antwort gab 1975 Peter Blickle, der wichtigste deutsche Bauernkriegsforscher der vorigen Generation, mit seinem Schlagwort von der «Revolution des gemeinen Mannes».[6] Noch heute gelten seine Arbeiten als wegweisend.
Dieser Ansatz schien im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts ebenso logisch wie überfällig. Gegen die alte historistische Zentrierung auf die großen Männer, die Geschichte machen, sollte eine sozial- bzw. gesellschaftsgeschichtliche Betrachtung die übergreifenden Strukturen und Prozesse als geschichtsmächtige Kräfte zur Geltung bringen. Ereignisse wurden eher als Oberflächenphänomene behandelt, die auf verborgene Tiefenstrukturen verweisen – und eben die galt es nun freizulegen.[7] Auf diese Weise wurde versucht, das «wilde» Ereignis Bauernkrieg strukturanalytisch zu zähmen. Allerdings wollte es nicht recht gelingen, die Situation prägnant auf den Punkt zu bringen. Als ein guter Kandidat erschien zeitweilig der Begriff «Krise», aber über die Natur der Krise – «Krise des Feudalismus» oder «soziale Systemkrise» – konnte ebenso wenig Einvernehmen erzielt werden wie über die Sinnhaftigkeit von Krisendiagnosen überhaupt.[8]
Das vorliegende Buch möchte den Wert von Analysen zu Ursachen und Zielen des Bauernkriegs keineswegs bestreiten und wird sie auch nicht überflüssig machen. Aber die Akzente sollen im Folgenden doch anders gesetzt werden. Von den Ursachen wird vergleichsweise wenig die Rede sein. Zumindest implizit gingen viele Darstellungen davon aus, dass herrschaftliche Belastung und Ausbeutung ab einem gewissen Punkt mit einer inhärenten Logik in Widerstand und Rebellion mündeten. Dabei ging der Zirkelschluss in der Regel vom Ereignis zurück zu den sozioökonomischen Ursachen, deren Wirkmächtigkeit ja durch den folgenden Aufruhr beglaubigt wurde. Ein solch mechanistisches Verständnis greift, scheint mir, entschieden zu kurz. Hier soll primär von den Ereignissen her auf die Ursachen geschaut werden, so dass sich ganz andere Perspektiven öffnen. Vergleichbares gilt für die Ziele der Aufständischen: Bislang wurden sie aus den vielfältigen Beschwerden der jeweiligen Bauerngruppen abgeleitet; eine prominente Rolle spielten die wenigen Programmschriften, und hinzu traten schließlich noch verstreute Aussagen einzelner Bauernführer. Daraus wurde versucht, mehr oder minder konsistente Programmpakete zu rekonstruieren, wobei einige eher als gemäßigt, andere als radikal oder gar revolutionär eingeordnet wurden. Zeitliche und räumliche Verortung der jeweiligen Verlautbarungen wurden dabei oft zu wenig in Betracht gezogen. Hier sollen nun die Ziele der Bauern im jeweiligen räumlichen und zeitlichen Kontext aus ihren Äußerungen und aus ihren Handlungen erschlossen werden.
Damit sind wir beim Ziel dieses Buches: die Ereignisgeschichte des Bauernkriegs zu rekonstruieren. Den Vorwurf der Faktenhuberei muss ein solches Unternehmen heute nicht mehr fürchten. Dass es gilt, «den Akteuren (zu) folgen», hat der Soziologe Bruno Latour seiner Zunft schon vor geraumer Zeit ins Stammbuch geschrieben.[9] Auch ins Zentrum der Geschichtswissenschaft ist das Ereignis, jene «komplexe Sequenz von Handlungen verschiedener Akteure und Akteursgruppen», zurückgekehrt.[10] Gefragt sind Ansätze, die in ihren Analysen nicht große abstrakte Entitäten (die Bauern, die Herrschenden, den Adel oder die Ständegesellschaft) auftreten lassen, sondern die der sozialen Praxis konkreter Menschen(gruppen) in ihren alltäglichen Handlungsroutinen und außeralltäglichen Verhaltensoptionen nachspüren und dabei erkunden, wie sich deren Wahrnehmungen und Entscheidungen zu größeren Mustern – und vielleicht zu so etwas wie Strukturen – zusammenfügen.[11] Die folgende Darstellung schlägt Kapital aus dieser Rehabilitierung des historischen Ereignisses in der Geschichtswissenschaft. Auf diese Weise ist, so meine feste Überzeugung, ein angemesseneres Verständnis des Bauernkriegs zu gewinnen.
Die bisherige Bauernkriegsforschung hat die räumliche wie die zeitliche Dimension ihres Ereignisses nicht wirklich befriedigend in den Griff bekommen. Die räumliche Zersplitterung des Alten Reiches wird zwar gewöhnlich zum Gliederungsprinzip der Darstellungen gemacht («Der Bauernkrieg in xy»), aber doch selbst nicht weiter analytisch problematisiert.[12] Den Bewegungen der Akteure, der Bauern ebenso wie der Herren, gilt zu wenig Aufmerksamkeit. Dabei sei direkt zugestanden, dass deren Beobachtung vom häuslichen Schreibtisch aus heutzutage mit Google Maps & Co. sehr viel einfacher ist als für frühere Forschergenerationen. Schwieriger noch stand es bislang um die zeitliche Dimension. Dass alles Geschehen und alle Äußerungen im Bauernkrieg mit einem zeitlichen Index versehen sind, wurde allzu oft ignoriert.[13] Das möchte die vorliegende Studie ändern, wobei auch hier direkt zugestanden sei: Wer ein Ereignis erzählen will, muss die komplexen Geschehnisse ebenfalls bis zu einem gewissen Grad glätten, Widersprüche und gegenläufige Tendenzen unterschlagen, zentrale Handlungsstränge herausarbeiten. Kompromisse sind hier unvermeidbar, gerade auch, weil am Ende nicht eine langweilige Auflistung stehen soll, sondern eine Darstellung, die Leserinnen und Leser nicht vergrätzt – allerdings ohne phantastische Ausschmückungen.
«Folge den Akteuren» ist ein eingängiges, aber für den Historiker durchaus problematisches Motto. Zwar ist der Zugang auch zu entlegenen Quellen heute dank moderner elektronischer Medien und weitgreifender Digitalisierung einfacher als jemals zuvor.[14] Den Zugang zu den Akteuren um 1525 aber muss man sich durch einen Wust zeitgenössischer Deutungen und vor allem rückblickender Zuschreibungen oft mühsam erkämpfen. Nachdem die Aufständischen in der herrschenden Historiographie jahrhundertelang in den schwärzesten Farben gemalt wurden, gab es um 1800 einen allmählichen Paradigmenwechsel. Seither überwiegt eher eine heroisierende Perspektive. Erkennbar litten viele Geschichtsforscher dabei unter dem Mangel an bühnenreifem Führungspersonal.[15] Umso stärker konzentrierten sie sich auf Figuren wie Joß Fritz, den wenig greifbaren und deshalb für nachträgliche Zuschreibungen umso geeigneteren «Führer» der Bundschuh-Bewegung, auf den wortmächtigen Thomas Müntzer, der ebenso hartnäckig wie falsch zum Bauernführer stilisiert wurde, oder auf Michael Gaismair, um dessen Charakterbild – idealistischer Held oder übler Karrierist? – die Forschung noch heute ringt.
Meist wurde jedoch das angebliche Manko überragender Führungsgestalten dadurch kompensiert, dass die Bauern zum Kollektivsubjekt erhoben wurden. Umso leichter fiel es, ihnen weltgeschichtliche «Aufgaben» aufzubürden und im Anschluss ein weitgehendes «Versagen» bei deren Lösung zu konstatieren; zu einer gewissen Meisterschaft brachte es darin die marxistische Historiographie der DDR. Politisch sympathischer, aber aus geschichtswissenschaftlicher Sicht ebenfalls nicht unproblematisch sind andere Formen der Aneignung durch die Erinnerungs- und Geschichtskultur. So bezeichnete Bundespräsident Johannes Rau anlässlich des 475-jährigen Jubiläum im Jahr 2000 den Bauernkrieg «als freiheitliche Revolution» bzw. «als Teil deutscher Freiheitsgeschichte» und würdigte die Zwölf Artikel mit den Worten, sie enthielten «im Kern die Überzeugung von der Universalität der Menschenrechte».[16] Derartige tagespolitische Zuspitzungen sind nicht per se illegitim. Die Geschichtswissenschaft wird dennoch Vorbehalte gegen allzu anachronistische Aktualisierungen formulieren müssen, auch wenn für sie die Versuchung groß ist, ein Auge zuzudrücken und das seltene Gegenwartsinteresse für Ereignisse der ferneren Vergangenheit zu genießen. Die folgende Darstellung wird jedenfalls versuchen, das Pathos von Freiheit und Unterdrückung zu meiden und professionelle Distanz zu halten.
Den Akteuren im «wilden» Geschehen zu folgen, offenbart widersprüchliche Motive, Interessen und Werthaltungen, Rollenzwänge und Handlungsroutinen, die das Tun der jeweiligen Personen bestimmten. Helden oder Schurken in schwarz-weißer Reinkultur treten so im Folgenden kaum in Erscheinung. Insgesamt wird uns das so entstehende Bild des Bauernkriegs eher fremd anmuten. Vielleicht aber gewinnt er gerade in den Grautönen eine zuvor ungeahnte Brisanz und Aktualität. Die bedrückende Reihe gescheiterter Protest- und Aufstandsbewegungen der zurückliegenden Jahre – vom Tian’anmen-Massaker über den Arabischen Frühling bis hin zu den Protesten in Belarus – hat gründlich mit dem früher vorherrschenden Optimismus aufgeräumt, demzufolge das Scheitern früherer Rebellionen als fruchtbarer Nährboden für die unvermeidlichen Erfolge künftiger Revolutionen verstanden wurde: «Geschlagen ziehen wir nach Haus, uns’re Enkel fechten’s besser aus», dieser Gassenhauer, mit dem die bündische Jugend den Geist des Bauernkriegs einfangen wollte, von Ernst Bloch als Paradebeispiel einer konkreten Utopie herausgestellt, kommt uns heute nicht mehr leicht über die Lippen.[17]
Schließlich eine kurze Bemerkung zur Anlage des Buches. Es beginnt mit einer knappen Einführung in die bewegte Zeit um 1500 und in die vielfältigen Unruhen vor dem Bauernkrieg, die als eine Art Anlauf für den Aufstand von 1525 gelten. Das eigentliche Herzstück der Darstellung bildet dann die gerade angesprochene Ereignisgeschichte. Bezüge auf übergreifende Forschungsfragen und Kontroversen habe ich dabei bewusst knapp gehalten bzw. in die Fußnoten verbannt. Mit Zitaten dagegen wollte ich nicht geizen, um ein wenig Zeitkolorit einzufangen. Sie wurden jedoch sprachlich modernisiert, um den Lesefluss nicht zu stören. Das letzte Kapitel nimmt dann eine stärker systematische Perspektive ein und bündelt einige übergreifende Beobachtungen und Thesen. Sollte die so komponierte Darstellung bei den Leserinnen und Lesern Anklang finden, so dürfen sie sich (gemeinsam mit dem Autor) bei Antje Arnoldt, Ulrich Nolte vom Verlag C.H.Beck und vor allem bei Petra Rehder bedanken, die entscheidenden Anteil daran hatten, aus einem wilden Textkonvolut ein lesbares Buch zu machen.
1
Die Welt um 1500
Osaeculum, o litterae … Oh Jahrhundert, oh Wissenschaften! Es ist eine Lust zu leben …», so schrieb Ulrich von Hutten 1518 und verlieh damit dem Bewusstsein der Humanisten Ausdruck, im neuen Zeitalter die Barbarei des Mittelalters hinter sich gelassen zu haben.[1] Auch wenn heutzutage die traditionelle Epochenzäsur zwischen Mittelalter und Neuzeit zunehmend kritisch gesehen wird, so ist sie dennoch nicht obsolet. In den Jahrzehnten vor und nach 1500 sind markante Einschnitte in so vielen verschiedenen Gebieten zu verzeichnen, dass sie in der Summe doch auf einen Epochenwandel hindeuten. 1453 endete mit der osmanischen Eroberung Konstantinopels die lange römische Tradition christlicher Herrschaft im östlichen Mittelmeerraum. Bedrohlich rückte das muslimisch geprägte Osmanenreich an die lateinische Christenheit heran, gegen das ebenso viele wie vergebliche Kreuzzugspläne geschmiedet wurden. Fast zeitgleich begann mit der Erfindung des Buchdrucks durch Johannes Gutenberg in Mainz die Entfaltung einer neuen medialen Kultur, deren Potenziale freilich erst nach und nach offenbar wurden. Ähnliches gilt auch für den Beginn des Ausgreifens Europas auf andere Kontinente, symbolisch markiert durch das Jahr 1492, in dem der Genuese Christoph Kolumbus den Seeweg nach Indien suchte und dabei einen Erdteil erreichte, der bislang noch nicht in den Wahrnehmungshorizont der alten Welt gerückt war. Als letztes wichtiges Datum verzeichnen die Annalen jener Wendezeit die Thesen Martin Luthers vom Herbst 1517. Abweichungen vom römischen Monopolanspruch hatte es zwar auch zuvor gegeben, nun aber sollten sich recht schnell dauerhafte Alternativen etablieren – keine Ketzereien mehr, sondern Konfessionen, eine religiöse Pluralisierung in bisher unbekanntem Ausmaß. Die Skepsis gegen die Trennung zwischen Mittelalter und Neuzeit allerdings hat auch gute Argumente für sich, denn zahlreiche Kontinuitäten währten vom hohen Mittelalter teilweise bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts. Die oft ein wenig abschätzig als «Vormoderne» charakterisierten Jahrhunderte waren gekennzeichnet durch überwiegend ländliche Lebens- und Wirtschaftsformen mit begrenzter Produktivität und einer ständisch bestimmten Gesellschaft, in der alle Glieder je nach Geburt einen sehr unterschiedlichen Rang einnahmen.[2] Bei diesen Strukturen langer Dauer muss die folgende Skizze der Zeit um 1500 ansetzen.
Aus unserer heutigen Perspektive universell gültiger Menschenrechte ist es schwierig, sich in eine Welt hineinzufinden, in der Ungleichheit das zentrale Ordnungsprinzip des Zusammenlebens war. In der alteuropäischen Ständegesellschaft wurde den Menschen entsprechend ihrer Herkunft und ihrem sozialen Rang ein unterschiedliches Maß an Rechten und Anerkennung zuteil.[3] Nach dem Vorbild der von Gott geschaffenen kosmischen Ordnung, in der alle Gestirne ihren rechten Platz am Firmament hatten, wurde auch die menschliche Gesellschaft als ein hierarchisches Ordnungsgefüge begriffen, an dem grundlegende Veränderungen nicht vorgesehen waren.[4] Im Rahmen einer dualistisch angelegten sozialen Gliederung gab es stets privilegierte Menschen, die herrschten, und abhängige, die gehorchen mussten: Männer und Frauen, Eltern und Kinder, Herren und Knechte, Kleriker und Laien oder ganz generell Zugehörige und Außenstehende. Jede und jeder besaß nach dieser Vorstellung einen bestimmten Platz in der menschlichen Gemeinschaft und (meist) ein bestimmtes Maß an ständischer Ehre. Und entlang einem eigentlich überholten, mittelalterlichen Deutungsschema unterteilten auch viele Menschen im 16. Jahrhundert die soziale Welt immer noch in Beter (oratores), also Geistliche, die für das Seelenheil aller Menschen zuständig waren, Krieger (bellatores), mithin Adlige, die sich um den Schutz der Menschen kümmern sollten, und schließlich Arbeiter (laboratores), eigentlich Bauern, von deren Arbeitserträgen letztlich alle lebten.[5] Gleichwohl gab es konkurrierende oder ergänzende Vorstellungen. So hatte um und nach 1500 ein Terminus Konjunktur, der die klassischen Stände überwölbte: der gemeine Mann. Je nach Perspektive konnten damit unterschiedliche Gesamtheiten von Menschen bezeichnet werden. Aus der Sicht der gehobenen Stände handelte es sich um einen Sammelbegriff für alle Bauern und Bürger, die keine herrschaftlichen Funktionen ausübten, mithin für die Gesamtheit der Untertanen. Aus der Sicht der Dorf- und Bürgergemeinde dagegen gehörten lediglich die in den Gemeindeversammlungen vertretenen Haushaltsvorstände dazu, die in diesem Kreis durchaus Stimme und Gewicht besaßen; abhängige Knechte und Gesellen waren im Prinzip ebenso ausgeschlossen wie Fremde, in den meisten Fällen auch die Frauen. Je nach Perspektive konnten sich mit dem Begriff demnach abwertende oder anerkennende Bewertungen verbinden.[6]
Mit den vielfältigen Privilegien, die Adlige qua Geburt innehatten, stehen sie beispielhaft für die Ungleichheit der Ständegesellschaft.[7] Sie waren es, die in der Regel über den Grund und Boden verfügten, woraus sich gleichzeitig sehr weitgehende Verfügungsrechte über die Menschen ergaben, die diesen Boden bearbeiteten, nämlich die Bauern. Weiterhin hatte der Adel Anteil an der Herrschaft über das Land in Militär, Verwaltung und Rechtsprechung. Es gab allerdings dramatische Unterschiede innerhalb des Adelsstandes. Dass dessen verschiedene Fraktionen überhaupt ein übergreifendes standesspezifisches Selbstverständnis entwickelten, hat zentral mit der Konkurrenz zum Bürgertum zu tun. Man hat sogar von einer «Erfindung» des Adels (erst) im Spätmittelalter gesprochen.[8] Dabei wurde allerdings zugleich die Grenze zwischen den hochadligen Fürsten und ihnen standesgleichen Grafen und Herren einerseits und der Masse des niederen Adels andererseits schärfer gezogen. Nicht deckungsgleich mit dieser Unterscheidung war die Trennlinie zwischen dem reichsunmittelbaren und dem landsässigen Adel, der sich in eine Landesherrschaft eingliedern musste.[9] Die Jahrzehnte um 1500 gelten als krisenhafte Zeit für den kleineren Adel, der sich gegen die Dominanzbestrebungen der großen Fürsten ebenso zu wehren hatte wie gegen die Aufstiegsaspirationen führender bürgerlicher Geschlechter und die Emanzipationsbestrebungen ihrer bäuerlichen Hintersassen. Bei rückläufigen Einkommen aus Grund und Boden konnten viele nur mehr mit Mühe ihre standesspezifische Lebensart aufrechterhalten.[10] Aber sie passten sich an, nicht zuletzt indem sie die Chancen einer stärker monetarisierten und am Markt orientierten Agrarwirtschaft aktiv zu nutzen suchten. Das wiederum brachte sie verstärkt mit ihren Hintersassen in Konflikt.
Kein Stand war so sehr der Herablassung, ja der Verachtung der oberen Gesellschaftsschichten ausgesetzt wie der Bauer, in vielen Satiren als tölpelhaft-roh und moralisch verderbt karikiert.[11] Aber es ging auch anders: In den literarisch stilisierten Dialogen der Reformationszeit wurde aus dem groben Karsthans ein gewitzter Gesprächspartner, der die einfachen Glaubenswahrheiten des Evangeliums gegen die Vertreter der alten Kirche wirkungsvoll verteidigen konnte. Dabei war die Lebenswirklichkeit der Bauern kaum weniger vielgesichtig als die des Adels.[12] Prinzipiell galt für den Bauern, dass er auf einer selbständigen Hofstelle mit eigener Hand pflanzliche und tierische Nahrung produzierte. Dabei wurde er durch seine Hausgenossen unterstützt, vor allem durch die Ehefrau, aber auch durch Kinder und Gesinde. Neben verschiedenen Sonderkulturen wie Hopfen und Wein betrieb er vornehmlich den Anbau verschiedener Getreidearten sowie Milchviehwirtschaft. Das war ein äußerst mühsames Geschäft, weil von dem recht überschaubaren Ernteertrag Feudalherren und Staat noch einen Teil abschöpften. Noch weiter getrübt werden konnte die ökonomische Bilanz durch schlechte klimatische Bedingungen, wie sie seit der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts mit der einsetzenden Kleinen Eiszeit herrschten.[13]
Bäuerliche Haushalte waren in der Regel in das Ensemble einer kleineren oder größeren Siedlung eingebunden, das Dorf. Dieses konnte eine ganz unterschiedliche Gestalt und Größe haben, von einigen Häusern mit wenigen Dutzend Einwohnern bis hin zu Gemeinden mit mehreren hundert Köpfen. Größere Dörfer zeichneten sich durch eine bestimmte Infrastruktur aus, mit Anger (Dorfplatz), Brunnen und Backhaus, mit Wirtshaus und Kirche. Feld- und Weideflächen um das Dorf herum gehörten in der Regel zu einzelnen Haushalten, bildeten jedoch oft ein Gewirr kleinteiliger und miteinander verflochtener Streifen, das nur gemeinschaftlich sinnvoll zu bewirtschaften war. Andere Wiesen, Weiden und Wege, Wälder und Wasser waren als Allmende in genossenschaftlichem Besitz des Dorfes. Die Bewirtschaftung der Parzellen und der Allmende musste gemeinsam geregelt werden. Deswegen bildeten die Dorfgemeinden differenzierte Verfassungen aus, mit eigenen Dorfvorstehern (je nach Region u.a. Schultheiß, Schulze, Ammann, Vogt genannt), Bürgermeistern und Gemeinderäten (Rat, Schöffen, Dreier, Vierer oder Zwölfer), mit Gemeindeversammlungen, gemeinsamer Kasse und Gerichten. Außerdem war das Dorf eine Verteidigungsgemeinschaft, deren Vollmitglieder in der Regel durchaus Waffen und Harnisch besaßen.[14] Solche vollberechtigten Mitglieder waren jedoch nur die Inhaber einer vollen Bauernstelle (Hufe), die Vollbauern (Hüfner, Hübner, Huber o.ä.). Wer dagegen nur seine Wohnstätte und vielleicht einen kleinen Garten besaß, zusätzlich noch als Tagelöhner für andere oder als Kleinhandwerker arbeiten musste, gehörte zur bäuerlichen Unterschicht und konnte als Seldner oder Kötter (die regionalen Bezeichnungen wechselten) Sitz und Stimme in der Dorfversammlung nicht beanspruchen. Das deutliche demographische Wachstum in der Zeit ab ca. 1450 ließ die Zahl der unterbäuerlichen Schichten stark ansteigen und verschärfte die Konflikte mit der dörflichen Ehrbarkeit.[15]
Die eigentliche Kluft auf dem Land tat sich allerdings zwischen den Bauern und den grundbesitzenden Herren auf. Das waren in der Regel Adlige. Selbst der stolze Vollbauer hatte im Normalfall nur das Recht, die Hofstelle zu bewirtschaften. Eigentümer des Bodens war der in der Regel adlige Grundherr, gelegentlich waren es auch kirchliche Prälaten oder städtische Institutionen. Dabei gab es vielfältige und wiederum regional sehr unterschiedliche Nutzungsrechte für die Bauern, von einem großzügig ausgestalteten Erbzinsrecht, bei dem der Bauer sein Haus zu eigen hatte und es ebenso wie die Nutzung des dazugehörigen Bodens vererbte, bis hin zu einer rigiden Zeitpacht, bei der ein Bauer nach wenigen Jahren stets aufs Neue fürchten musste, der Vertrag würde nicht verlängert.[16] Ebenso variantenreich waren die Leistungen, die der Grundherr für die Landleihe von seinen Hintersassen verlangte: Im Wesentlichen handelte es sich um Abgaben, ob in Naturalien oder in Geldäquivalenten, und um persönliche Hand- und Spanndienste (Fronen) für die Eigenwirtschaft oder das adlige Herrenhaus, Leistungen, deren Ausgestaltung ebenso vielgestaltig waren wie die Besitzverhältnisse. Diese sachlichen Abhängigkeiten konnten durch eine Einschränkung der persönlichen Freiheit verschärft werden, wie es bei der Leibeigenschaft der Fall war.[17] Sie bedeutete, dass die bäuerlichen Hintersassen nicht ohne Erlaubnis ihres Leibherrn heiraten oder einen Ortswechsel vollziehen durften; außerdem fiel diesem im Todesfall des Leibeigenen ein Teil von dessen Erbe zu. Für sämtliche Bauern kamen andere Leistungen hinzu, etwa in Gestalt des Zehnten für den Kirchenpatron. Und jenseits des nahen Grundherrn gab es – oft räumlich etwas weiter entfernt – den Landesherrn und seine Verwaltung, die nicht nur ebenfalls Abgaben von den Bauern verlangten, sondern auch zunehmend ins Dorf hineinregierten.
Mit dem Bürger, genauer: dem Stadtbürger, hatte sich seit dem Hochmittelalter ein neuer sozialer Stand entwickelt. Im Vergleich zum Bauern hatte der Stadtbürger in der Regel nicht nur die freie Verfügungsgewalt über seinen eigenen Körper, sondern auch über seinen Besitz und sein Erbe. Allerdings konnten durchaus auch Stadtbürger Hörige sein.[18] Das Bürgerrecht war ein Privileg, das einem Menschen entweder qua Geburt zukam oder das er – oft gegen einen erheblichen Betrag – später erwerben konnte. Der Bürgerstatus war die Voraussetzung für die volle rechtliche und politische Inklusion in das städtische Gemeinwesen. Ein Bürger partizipierte am Friedens- und Rechtsschutz der Stadt, musste aber auch bestimmte Pflichten erfüllen, insbesondere Steuern zahlen und Wachdienste leisten.[19] Nur eine Minderheit der Stadtbewohner besaß gewöhnlich diesen Status, daneben gab es Einwohner minderen Rechts (Beisassen), rechtlich aus dem Stadtverband ausgenommene Menschen wie Kleriker, Adlige und Universitätsangehörige, ganz zu schweigen von den nur zeitweilig in einer Stadt anwesenden Reisenden und Gästen. Frauen hatten als Ehefrauen indirekt teil am Bürgerstatus ihrer Männer, nur Witwen besaßen ihn direkt.
Nicht nur rechtliche Differenzen generierten oder zementierten soziale Ungleichheiten. In größeren Städten konzentrierte sich der überwiegende Teil des Vermögens bei wenigen Fernhändlern und Großkaufleuten, während die Masse auch der Zunfthandwerker wenig finanzielle Rücklagen besaß und spätestens bei der nächsten Krise von Armut bedroht war. So wurde manchmal über die Hälfte der Steuerpflichtigen zur Unterschicht gerechnet und bildete im Wortsinn ein Prekariat. Wohlhabendere Handwerker, kleinere Krämer und «Beamte» bildeten eine vergleichsweise dünne Mittelschicht.[20] Entsprechend stark war die soziale Polarisierung. Häufig pflegten die reichsten Familienverbände in der Stadt ein ähnlich elitäres Selbstverständnis wie das Patriziat in Nürnberg, wo einige wenige «edle Geschlechter» qua Geburt die Sitze im engeren Rat und andere Privilegien für sich beanspruchten. In ihrem Lebensstil orientierten sich diese Geschlechter eher am Landadel und suchten nicht selten über entsprechende Heiraten auch den Anschluss dorthin.[21] Am anderen Ende der sozialen Skala finden sich nicht nur die prekär lebenden bürgerlichen Unterschichten, sondern auch die vielen Menschen ohne Bürgerrecht, Knechte und Mägde, Tagelöhner oder Angehörige vagierender Randgruppen.
Die städtische Politik spiegelte in gewisser Weise diese extremen sozialen Unterschiede. Regiert wurden die Bürger in mittleren und größeren Städten von einem Ratsgremium, das sich meist aus Mitgliedern reicher Familienverbände zusammensetzte, die sich eine solche zeitintensive politische Arbeit leisten konnten. Entsprechend wenig demokratisch waren nach unseren heutigen Maßstäben die Regularien der damaligen Ratswahl ausgestaltet, wenn z.B. ein Rat neue Mitglieder einfach kooptierte. Immerhin regierte mit dem städtischen Rat ein kollektives Gremium, das auf den Konsens der Bürgerschaft angewiesen war, wie rituell dieser Konsens auch immer zum Ausdruck gebracht wurde. Rein formal handelte es sich zudem lediglich um Herrschaft auf Zeit (in der Regel für ein Jahr), auch wenn sich die nächste Amtszeit jeweils mehr oder weniger bruchlos anschloss und die neuen Ratsherren meist die alten waren.[22] Nicht immer aber blieb die Teilhabe an der städtischen Macht auf die symbolische Ebene beschränkt. In Krisenzeiten verdichtete sich der Unmut der Stadtbewohner über drückende Schulden, hohe Steuern oder Korruptionsgerüchte. Dann wurden von Stadtvierteln oder Zünften häufig außerordentliche Gemeindeausschüsse gewählt, die Beschwerden formulierten und diese gegenüber dem Rat vertraten.
Die Bevölkerung in der Stadt war nach heutigen Maßstäben eher bescheidenen Umfangs. Bereits ab 10.000 Einwohnern spricht die Forschung von einer Großstadt, dies galt um das Jahr 1500 für nur etwa fünfundzwanzig Städte im Reich Nürnberg hatte rund 20.000 Einwohner, Ulm und Augsburg lagen etwas darunter, Köln führte mit 40.000 Einwohnern mit weitem Abstand. Von den drei- bis viertausend Städten im Reich gehörten über 90 Prozent zur Kategorie der Kleinstädte mit bis zu 1000 Einwohnern.[23] Mit Blick auf den politisch-rechtlichen Status einer Stadt war grundsätzlich zu unterscheiden zwischen Reichsstädten, die dem Kaiser unmittelbar unterstanden, und Landstädten, die durch einen Landesherrn mediatisiert waren. In den Reichsstädten existierte tatsächlich eine faktische autonome Selbstregierung des Rates, ebenso in einigen großen Landstädten wie Braunschweig oder Erfurt. Die anderen waren direkt ihrem Landesherrn rechenschaftspflichtig, der je nach konkreter Konstellation mehr oder weniger auf die Geschicke «seiner» Stadt Einfluss nahm.
Das «Heilige Römische Reich Deutscher Nation» bildet den politischen Handlungsrahmen für die Geschehnisse des Bauernkriegs, und schon dieses – 1512 von Maximilian I. fixierte, aber in der Zeit selten benutzte – Wortungetüm zeigt an: Dieser Rahmen ist kompliziert.[24] An der Spitze des Alten Reiches stand ein König, aber anders als bei den meisten Nachbarn gab es keine selbstverständlich herrschende Dynastie, sondern ein Wahlkönigtum. Diese Wahl wurde gemäß der Goldenen Bulle von 1356 von den sieben Kurfürsten vollzogen: durch die drei rheinischen Erzbischöfe von Trier, Mainz und Köln sowie durch den Pfalzgrafen bei Rhein, den Herzog von Sachsen, den Markgrafen von Brandenburg und den König von Böhmen. Die Krone gelangte auf diesem Wege in die Hände wechselnder fürstlicher Dynastien mit verschiedenen räumlichen Schwerpunkten. Während anderswo eine Königsdynastie frühstaatliche Strukturen z.B. in Gestalt zentraler Verwaltungs- und Gerichtsinstanzen aufbaute, war ein solcher Weg in Deutschland weitgehend blockiert.
Einen Kontrast zur durchaus beschränkten Machtfülle des deutschen Königs bildet die Tatsache, dass der Herrscher des Reiches bestrebt war, sich neben dem Königs- auch den Kaisertitel zu sichern, um in Anknüpfung an das römische Reich der Antike als «König der Könige» eine europaweite Universalmonarchie auszuüben. Gleichwohl konzentrierte sich die Vorstellung des Reiches immer mehr auf das deutsche Kerngebiet; am Ende des Mittelalters wurde das heilige Reich zunehmend mit der «deutschen Nation» identifiziert und bisweilen auch entsprechend ideologisch ausgebeutet. So nutzte die habsburgische Propaganda diese Vorstellung zur Mobilisierung gegen äußere Feinde, ob es sich dabei um die Burgunder, den französischen König, den Papst oder die Türken handelte.[25]
Der eigentliche Prozess der Staatsbildung vollzog sich im Reich stärker auf der Ebene der einzelnen Landesherrschaften.[26] Allmählich konzentrierte sich die Hoheit über ein bestimmtes Gebiet in der Hand eines Dynasten, der dieses Territorium als Vasall des Königs als Lehen empfangen hatte. Zunächst besaßen die Fürsten allerdings ein eher locker gefügtes Bündel von Herrschaftsrechten.[27] Wichtig für die Arrondierung der Landesherrschaften war die Herausbildung neuer Gerichts- und Verwaltungseinheiten in Gestalt von «Ämtern». Dort wurden «die landesherrlichen Abgaben erhoben, im Namen des Fürsten Recht gesprochen, die Polizeigewalt ausgeübt und die bäuerliche Heerfolge eingefordert». Zudem waren die Ämter das «Rückgrat der Finanzverwaltung» und setzten neue Landessteuern durch.[28] Der in der Regel adlige «Amtmann» (Vogt, Pfleger) wurde zum Stellvertreter des Fürsten vor Ort, unterstützt von einem «Kastner» oder «Kellner», der die Aufsicht über die Einkünfte und Steuern führte. Auch der Erlass von Landesgesetzen und die Herausbildung einer auf das Territorium bezogenen Hoch- und Niedergerichtsbarkeit waren Indikatoren für eine allmähliche Herrschaftsverdichtung im Sinne einer entstehenden Staatlichkeit.[29]
Die Untertanen besaßen durchaus Partizipationsmöglichkeiten: Sie traten der spätmittelalterlichen Fürstenherrschaft als «Landschaft» gegenüber, als genossenschaftlich organisierter Verband.[30] Später bezeichnete man diese Vertretungen als «Landstände» und das ganz System als «landständische Verfassung». Zu den Landständen eines Gebietes konnten der Adel, die hohe Geistlichkeit und die größeren Städte zählen, in manchen oberdeutschen Regionen auch die Bauern; so gab es etwa in Vorderösterreich oder Tirol vier in der Landschaft vertretene Stände. Für die Steuerfestlegung musste der Fürst – im Spätmittelalter zunächst eine unerhörte Neuerung – den Konsens mit der Landschaft suchen – im ursprünglichen Begriff der «Bede» (Bitte) kommt der freiwillige Charakter der Abgabe zum Ausdruck. Damit war auch ein Ansatzpunkt für die Mitgestaltung des Landes durch die Ständevertretungen gegeben.[31]
Auf der Ebene darüber formierten sich Reichstage und andere Institutionen erst mit einiger Verspätung. Die Kluft zwischen universalem Anspruch und vielfältigen Defiziten des Reiches wurde im 15. Jahrhundert zum Gegenstand zahlreicher Klagen und Reformbemühungen. Eine ganze Reihe von Reformschriften entwarf Visionen von einem neuen Ordnungsgefüge des Reiches, etwa die 1439 entstandene Reformatio Sigismundi.[32] Tatsächliche Reformschritte wurden erst mit dem Wormser Reichstag von 1495 eingeleitet, insbesondere mit dem «Ewigen Landfrieden», der ohne sachliche und zeitliche Beschränkungen die Fehde, das Recht auf gewalttätige Selbsthilfe, verbot. Von nun an sollten Konflikte allein auf rechtlicher Ebene ausgefochten werden, weswegen der Reichstag auch Geburtsort der Reichsgerichtsbarkeit in Gestalt des Kammergerichts war. Andere Reforminitiativen versandeten, so die allgemeine Reichssteuer des «Gemeinen Pfennigs» oder die Etablierung einer permanenten Reichsregierung (Reichsregiment). Zukunftsweisend war immerhin die im Jahr 1500 verabschiedete Unterteilung in zunächst sechs, später zehn Reichskreise als überterritoriale Verwaltungseinheiten. Und nach 1495 hatte sich auch der Reichstag endgültig verfestigt, wo künftig die Reichsstände – freilich in einer höchst ungleichen Sitz-, Stimm- und damit Machtverteilung – mehr oder weniger regelmäßig miteinander berieten und Beschlüsse fassten.
Für die Durchsetzung des Ewigen Landfriedens wurde am Beginn des 16. Jahrhunderts aber ausgerechnet der nach mittelalterlichen Vorbildern geformte Schwäbische Bund bedeutsam. Dem Zusammenschluss verschiedener Herrschaftsträger in Oberdeutschland gehörten große Fürsten ebenso an wie kleine Ritter und Reichsstädte. Im Bauernkrieg sollte er eine Schlüsselrolle spielen.[33]
Jenseits abstrakter Strukturen und Institutionalisierungsprozesse bestimmten konkrete Machtkonstellationen die komplexe politische Landschaft um und nach 1500. Ihre Vielfalt ist in diesem kurzen Überblick schlechthin nicht darstellbar. Da war das Haus Habsburg, aufgrund der engen Bindung an die österreichischen Erblande auch als «Haus Österreich» (oder Casa d’Austria) bezeichnet, die mächtigste Dynastie nicht nur im Reich, sondern wegen der glücklich erheirateten Herrschaftstitel in ganz Europa. Als Hauptwettbewerber traten im Süden des Reiches die bayrischen Herzöge auf, die ebenso wie die pfälzischen Kurfürsten dem Haus Wittelsbach angehörten; freilich bedeutet gemeinsame Abstammung in diesem Fall keineswegs vereintes Handeln, ganz im Gegenteil. Im Bauernkriegsgebiet agierte überdies auch ein Sprössling der Hohenzollern, Markgraf Kasimir von Brandenburg-Kulmbach. Im Osten Deutschlands waren die Wettiner die bestimmende Dynastie, Inhaber der sächsischen Kurwürde, aber seit der Leipziger Teilung 1485 in eine (kurfürstlich-)ernestinische und eine (herzoglich-)albertinische Linie gespalten. Weiteren wichtigen Herrscherhäusern werden wir im Lauf der Darstellung begegnen, etwa Hessen mit seinem jungen Landgrafen Philipp, Baden oder auch Württemberg, das Geschlecht, dem der 1519 geächtete Herzog Ulrich angehörte. Von besonderer Bedeutung sollten die geistlichen Herrschaften werden. Akteure an den Rändern des Reiches verkomplizieren das ohnehin schon verwirrende Bild weiter, so der französische König Franz I. als Hauptgegner des habsburgischen Kaiserhauses. Im Südwesten sollte insbesondere die Eidgenossenschaft eine bedeutsame Rolle spielen, keine Adelsherrschaft, sondern ein geschworenes Bündnis verschiedener Orte, dessen Gesandte auf den «Tagsatzungen» gemeinschaftliche Angelegenheiten berieten.
In heute kaum vorstellbarer Totalität wurde das Leben der Menschen um 1500 vom Christentum bestimmt. Andere Religionen waren kaum präsent. Zwar war der Islam als Feindbild und Objekt potentieller Kreuzzüge gegenwärtig, gehörte aber nicht zum alltäglichen Erfahrungshorizont. Die Juden wurden an vielen Orten noch geduldet, waren als angebliche «Gottesmörder» jedoch steter Diskriminierung und zunehmender Ausgrenzung unterworfen. Ein richtiges Leben gab es nach der herrschenden Auffassung eben nur im christlichen Rahmen. Umso erbitterter konnte darum gestritten werden, wie denn ein rechtes christliches Leben konkret auszusehen habe. Bislang hatte die päpstliche Kurie stets ihren Anspruch durchgesetzt, über richtig und falsch zu entscheiden und Glaubensabweichler als Häretiker zu kriminalisieren. Die römische Kirche hütete den kirchlichen Gnadenschatz, ohne den niemand des ewigen Lebens im Jenseits teilhaftig werden konnte. Vor dem Hintergrund einer niedrigen Lebenserwartung und der Allgegenwärtigkeit des Todes durch Seuchen und Hungersnöte stand die Sorge um dieses Seelenheil für alle, vom König bis zum Bettler, im Zentrum ihres Strebens.[34]
Somit kam den Klerikern eine zentrale Bedeutung zu, sie waren gleichsam die Torwächter für das ewige Heil aller Gläubigen: Zur Amtsgewalt eines Kirchenmannes gehörte der Vollzug liturgischer Handlungen wie der Messfeier und vor allem die Berechtigung, Sakramente wie Taufe, Abendmahl und letzte Ölung zu spenden. Aber auch seine Privilegien unterschieden einen Geistlichen von einem Laien: Er unterstand einer eigenen kirchlichen Gerichtsbarkeit und war weitgehend auch von herkömmlichen Abgaben und Steuern ausgenommen, ebenso vom Kriegsdienst befreit. Aus dieser ständischen Sonderlage entsprang die wachsende Kritik am Klerus gerade am Ausgang des Mittelalters.
Dabei bildete die Geistlichkeit einen intern stark ausdifferenzierten Mikrokosmos. Grundsätzlich unterschied man die vereinzelt lebenden Pfarrer (Weltkleriker) von den Geistlichen in klerikalen Gemeinschaften. Dazu zählten vor allem die zahlreichen Mönchsorden, wiederum in sich stark ausdifferenziert: Da gab es die großen klösterlichen Gemeinschaften, die nach den Regeln des heiligen Augustinus oder Benedikt lebten (z.B. Benediktiner, Zisterzienser oder Kathäuser); die stärker auf Seelsorge und Ketzerbekämpfung ausgerichteten Bettelorden (vor allem Franziskaner und Dominikaner); oder die zur Kreuzzugszeit entstandenen geistlichen Ritterorden, darunter der Deutsche Orden mit seinen großen Gebieten in Preußen und im Baltikum sowie dem Sitz des Deutschherrn in Mergentheim. Zwischen dem Weltklerus und den Mönchen waren die Kanoniker angesiedelt, Mitglieder einer Stiftskirche, die der Idee nach ebenfalls in Gemeinschaft lebten. Ihre Existenz wurde durch Stiftungen für ihren Unterhalt an die jeweiligen Kirchen (Präbenden) gesichert, weswegen im Mittelalter Adels- oder auch reiche Bürgerfamilien diese Pfründen nutzten, um ihre nachgeborenen Söhne und Töchter zu versorgen. Durch besondere soziale Exklusivität zeichneten sich die Domkapitel aus, die Mitglieder einer geistlichen Gemeinschaft an der jeweiligen Bischofskirche.
Es ist also grundsätzlich zwischen hohem und niederem Klerus zu unterscheiden. Im hohen Klerus war das geistliche Amt nicht nur eng mit wirtschaftlichen Einkünften verknüpft, sondern auch mit Herrschaftsfunktionen. Fürstbischöfe und Fürstäbte waren nicht nur geistliche Vorsteher ihrer Bistümer und Klöster, sondern übten zugleich die weltliche Herrschaft über ein Land aus.[35] Die Reichsmatrikel von 1521 führt über fünfzig Hochstifte auf, dazu weitere fünfundsechzig Fürstäbte sowie ein rundes Dutzend Fürstäbtissinnen. Anders als ihr weltliches Pendant kam ein Fürstbischof oder Fürstabt nicht qua dynastischer Abstammung, sondern per Wahl durch ein Domkapitel bzw. Konvent an die Macht; dennoch (oder gerade deswegen) blieben diese Ämter Objekte dynastischer Machtkalküle meist adliger Familien. Beispielhaft standen die geistlichen Herrscher für die Verquickung von spirituellen Funktionen und weltlichem Leben in der Zeit um 1500.
Auch die Welt des niederen Klerus war von besonderen ökonomischen Rahmenbedingungen bestimmt. Geweiht wurden die einfachen Weltgeistlichen zwar vom Bischof, nominiert aber nicht selten von den Fürsten, Adligen oder städtischen Magistraten. An der Stelle eines Geistlichen hingen materielle Güter und Einnahmen, und wer in den Genuss dieser Pfründen kam, sollte der Idee nach als Gegenleistung bestimmte Amtspflichten erfüllen. Oft waren die Stellen aber schlecht dotiert, sodass nur der Besitz mehrerer Pfründen ein gesichertes Einkommen versprach. Oder aber die Pfarrstelle war einer größeren geistlichen Einrichtung inkorporiert, sodass ihre Erträge dieser Einrichtung zugutekamen. Wurde die Seelsorge an Stellvertreter übergeben, an einzelne schlecht bezahlte Mönche, Vikare und Kapläne, dann blieb die geistliche Versorgung der Pfarrkinder auf der Strecke.[36]
Dabei erreichte um 1500 die Volksfrömmigkeit ihren Höhepunkt.[37] Inbrünstig wie nie zuvor verehrten die Menschen den leidenden Christus, willig beteiligten sie sich an frommen Umzügen, und die Zahl der religiösen Bruderschaften erreichte eine neue Dimension. Auf der einen Seite gab es die Tendenz zu einer verinnerlichten Tugendfrömmigkeit wie bei der Devotio moderna der «Brüder und Schwestern vom gemeinsamen Leben». Auf der anderen Seite stand eine merkwürdig rechenhafte «Seelenrettungsökonomie»[38] mit zeitlich und/oder materiell aufwendigen Investitionen in das eigene Seelenheil – so viele Gebete und Fürbitten, Almosen und Seelenmessen wie möglich sollten es sein. Zum Inbegriff der Rechenhaftigkeit vorreformatorischer Frömmigkeit wurde das Ablasswesen. Es ermöglichte es dem reuigen Sünder, nachdem er in der Beichte schon die Vergebung seiner Sündenschuld erreicht hatte, durch eine Geldzahlung an die Kirche als Akt tätiger Reue auch die Strafen für diese Sünden (salopp gesprochen: die Zeit im Fegefeuer) zu reduzieren oder gar ganz zu beseitigen. Und da der Geltungsbereich der Ablasszettel immer weiter ausgelegt wurde, konnte man sie sogar für Verstorbene oder für die eigenen Sünden in der Zukunft erwerben. Luthers Kritik am Ablass in seinen berühmten 95 Thesen sollte dann bekanntlich den Startschuss zur Reformation darstellen.[39]
Mehr denn je bot die römische Kurie den Christen in Deutschland das Bild eines Apparats, dessen Angehörige das Streben nach Seelenheil vornehmlich als «Heilsgeschäft» verstanden und danach trachteten, «auf einem florierenden Markt für Geistliches … neue Ressourcen zu erschließen».[40] In den «Gravamina der deutschen Nation» verdichtete sich die Kritik an der Knechtung der deutschen Nation durch das geldgierige römische Papsttum. So zielte auch die Reichsreformdiskussion vor und nach 1500 vor allem auf die Korrumpierung der Geistlichkeit durch weltliche Herrschaft, und der anonyme Verfasser der Reformatio Sigismundi von 1439 wollte die «geistliche Sphäre vor einer Verquickung mit dem Nurweltlichen bewahren».[41] Viele kritische Debatten zur Zeit des Bauernkriegs konnten hier anknüpfen.
Der Pfeifer von Niklashausen predigt. Darstellung aus der Schedelschen Weltchronik von 1493
Als Inbegriff für die religiöse Gärung vor der Reformation gilt jenes spektakuläre Massenereignis, das sich 1476 im kleinen Dorf Niklashausen ereignete, nahe Würzburg im Taubertal gelegen.[42] Dort wirkte der ehemalige Spielmann und Hirte Hans Behem als Laienprediger. Er verkündete ein eher wirres Programm, das den festen Glauben an die Jungfrau Maria und an die Wirksamkeit des Ablasses mit extremem Pfaffenhass verband. Schon bald, so prophezeite er, würden die Pfaffen ihre Tonsur mit der Hand bedecken, damit man sie nicht als Geistliche identifiziere.[43] Nicht nur im geistlichen Bereich strebte er eine ständische Nivellierung an: Auch Fürsten und Herren sollten nicht mehr besitzen als der gemeine Mann und für ihren eigenen Tagelohn arbeiten müssen. Überdies sollten die Fische im Wasser und das Wild auf dem Felde «gemein» sein. Mit seinen Predigten wurde Behem zum Mittelpunkt einer spontanen Wallfahrt, die Tausende von einfachen Menschen auf die Beine brachte, Männer und Frauen, Junge und Alte. Die Obrigkeit war alarmiert. Behem wurde in einer Nacht-und-Nebel-Aktion verhaftet, in einem formlosen Schnellverfahren als Ketzer verurteilt und hingerichtet, seine Anhänger gewaltsam zerstreut. Vorerst handelte es sich um nicht mehr als eine Episode. Sie zeigt aber, wie gut die Menschen durch eine Mischung von religiösen und sozialen Botschaften mobilisierbar waren.
Mochten viele die alteuropäische Ständegesellschaft auch als gottgegeben akzeptieren, so lesen wir doch immer wieder von Unzufriedenheit und Veränderungsbereitschaft. Niemand wolle mehr in seinem Stand bleiben; der Bauer kleide sich wie der Edelmann, die Geistlichkeit werde verachtet, so klagte 1514 Pamphilus Gengenbach: «Ein jeder wäre gern selbst Herr.»[44] Die Unzufriedenheit der Vielen manifestierte sich immer wieder in kleineren Unruhen und größeren Aufständen.[45] So schlug im ungarischen Dózsa-Aufstand von 1514 ein abgesagter Kreuzzug gegen die ungläubigen Osmanen in einen heiligen Krieg der Untertanen gegen die «untreuen» Adligen um.[46] Im Reich dagegen verlieh die territoriale Zersplitterung den zahlreiche Unruhen und Revolten vor 1525 ihr entscheidendes Gepräge. Sie waren meist auf ein begrenztes Gebiet bezogen, ihr geographischer Schwerpunkt lag im Süden unterhalb von Main und Donau.[47] So wehrten sich z.B. im Jahr 1492 die Leibeigenen der Klosterherrschaft Kempten gegen die Bedrückung durch ihren Fürstabt.[48] Vier Jahre später folgten die Untertanen im Kloster Ochsenhausen ihrem Beispiel.[49] In beiden Fällen schritt der Schwäbische Bund gewaltsam gegen die Verweigerung von Huldigung und Abgaben ein. Zugleich betätigte er sich aber als gütlicher Vermittler. In Ochsenhausen konnte die Verbesserung des bäuerlichen Erbrechts erreicht werden, in Kempten versandeten die Verhandlungen dagegen ergebnislos. Das sollte sich 1525 rächen.
In besonderer Weise massierten sich die Proteste in der Zeit nach 1500. Allerdings sollten sie nicht als Krisensymptom verstanden werden, das notwendigerweise auf die Geschehnisse von 1525 hinführte, sondern eher als Laboratorium für Verhaltensformen des Protestes, auf die die Menschen später zurückgreifen konnten.[50] Eine Kette innerstädtischer Aufstände erreichte um 1512/13 ihren Höhepunkt und erfasste mindestens ein Dutzend Städte, darunter Reichsstädte wie Köln oder Speyer, aber auch größere Territorialstädte wie Erfurt oder Braunschweig.[51] Ausgangspunkt bildeten, beginnend mit dem «tollen Jahr» 1509 in Erfurt[52], die städtischen Finanzen. Meist war der städtische Haushalt überschuldet, was steigende Steuern und andere Belastungen für die Bürger brachte. Die Verantwortung dafür wurde vor allem der grassierenden Misswirtschaft und Korruption unter den Herrschenden zugewiesen. Berechtigt oder nicht, mündeten solche Beschwerden fast unausweichlich in Forderungen nach stärkerer Finanzkontrolle und politischer Mitbestimmung. Mal in tumultuarischen Versammlungen, mal in gewalttätigen Aufläufen suchte die Bürgergemeinde zunächst ihre Forderungen durchzusetzen. Wenigstens zeitweilig hatte sie meist Erfolg. Es kam zur Hinrichtung von Mächtigen, die sich angeblich oder tatsächlich persönlich bereichert hatten, besonders eindrücklich in Köln, wo 1513 zehn zum Teil höchstrangige Mitglieder des städtischen Regimes zum Tode verurteilt wurden.[53] Dort wurde zudem in einem «Transfixbrief» die städtische Verfassung um wichtige Punkte im Sinne der Aufständischen ergänzt. Der Regelfall war das nicht, viele andere Städte kehrten bald zu ihrer alten Ordnung zurück und bestraften ihrerseits die Unruhestifter. Wie auch später im Bauernkrieg bildete dabei jede Stadt einen Mikrokosmos für sich.
Groß war die Vielfalt sicherlich auch bei den bäuerlichen Unruhen jener Epoche. Als «Butzenkrieg», also wohl eine Art Mummenschanz, wurde jene Auseinandersetzung in der bischöflich-straßburgischen Enklave Rufach 1514 verharmlost, in deren Verlauf immerhin tausendfünfhundert Untertanen den Amtssitz des Vogtes belagerten.[54] Weite Ausdehnung erlangte dagegen der slowenische («Windische») Bauernaufstand von 1515, der größere Teile der Steiermark, Kärntens und der Krain erfasste.[55] Manche Aufstände gelten rückblickend in besonderer Weise als Vorläufer des Bauernkriegs. Tatsächlich sind die konspirativen Bewegungen am Oberrhein und der «Arme Konrad» in Württemberg 1514 einerseits sowie die große Aufstandsbewegung von 1525 andererseits zumindest durch ein gemeinsames Symbol verknüpft, nämlich den «Bundschuh». Diese lederne Fußbekleidung, die mit einem Band über dem Knöchel zusammengebunden bzw. mit einer Schließe befestigt wurde, stand pars pro toto für die einfache, grobe Bauernkleidung und wurde um 1500 zum Zeichen für die Bewegung und das «Bündnis» des gemeinen Mannes.[56]
Als Start der ersten Bundschuh-Verschwörung im engeren Sinn gilt die Versammlung von drei Dutzend Männern auf dem abgelegenen Ungersberg am Ostrand der Vogesen, etliche Wegstunden von der Reichsstadt Schlettstadt entfernt, im März 1493.[57] Die Führung übernahm Hans Ulmann, ein ehemaliger Bürgermeister von Schlettstadt. Die konspirative Gemeinschaft verschwor sich auf drei zentrale Forderungen: die Abstellung des geistlichen Gerichts in Straßburg, die Abschaffung des Hofgerichts in Rottweil und die Vertreibung der Juden. Binnen weniger Tage flog die Verschwörung auf. Ulmann und zwei weitere Hauptleute büßten das Vorhaben mit dem Tod; insgesamt wurden vierzig der rund hundertzehn namentlich bekannten Aufständischen mit Strafen belegt, etwa mit Verbannung. Noch lange wurden sie in ihren Dörfern als «Bundschuher» geschmäht und deshalb sogar für amts- und gerichtsunfähig gehalten.[58]
Am 15. April 1502, rund neun Jahre nach der Schlettstädter Verschwörung, warnte der Straßburger Bischof die Vertreter umliegender Herrschaftsgebiete in einem Brief, dass «der Bundschuh … noch zur Zeit nicht erloschen» sei, sondern beim gemeinen Volk erneut Werbungen betreibe.[59] Dabei war die Konspiration in ihrem eigentlichen Kerngebiet rund um Bruchsal im Hochstift Speyer bereits verraten worden. Viele Verschwörer wurden verhaftet, anderen konnten fliehen. Zehn Männer wurden hingerichtet, die meisten anderen «um ihrer Jugend und ihrer Torheit willen an Leib und Gliedern geschont», aber mit Geldstrafen belegt.[60] Ein zwei Jahre später gefertigter Bericht des bischöflichen Landschreibers Georg Brenz beschrieb ganz knapp das Programm der Aufständischen: Sie wollten den Pfaffen und den Edelleuten «Gesetze geben, sich selbst (be-)freien» und alle, die ihnen Widerstand leisten sollten, totschlagen. Als «des Bundschuhs Hauptmann und Anfänger» bezeichnet Brenz den jungen Bauern Joß Fritz aus dem bischöflich-speyrischen Untergrombach.[61]
Es vergingen rund elf Jahre, bis die Obrigkeiten erneut von konspirativen Aktivitäten aufgeschreckt wurden. Am 3. Oktober 1513 beratschlagte der Freiburger Rat über Vorsichtsmaßnahmen gegen die «bösen Läufe des Bundschuhs». Am gleichen Tag warnte der Rat seine Bürger davor, den Umtrieben der Verschwörer zu folgen, die diese drei Artikel propagierten: «keinen Herrn (zu) haben, kein Zins mehr (zu) bezahlen, (die) Stadt einnehmen (zu wollen)».[62] Schon in der Nacht vom 8. auf den 9. Oktober veranstaltete der Rat in den umliegenden Dörfern eine Razzia, nachdem ihm zugetragen worden war, dass die Verschwörer bei einer unmittelbar bevorstehenden Kirchweih losschlagen wollten. Zum dritten Mal wurde ein geplanter Aufstand damit im Ansatz zerschlagen. Trotz einiger Fahndungserfolge blieb jedoch auch hier die Zahl der Verhafteten und Bestraften überschaubar.
Als Zentralfigur der Verschwörung von 1513 weisen die reichlicher als zuvor fließenden Quellen eindeutig wieder Joß Fritz aus.[63] Dieser hatte wohl die «Buberei mit dem Bundschuh» aus Untergrombach in die Gegend von Freiburg importiert.[64] Und er war es auch, der ein «Fähnlein» in Auftrag gab, das er bei der Kirchweih «fliegen lassen» wollte, um den Aufstand auszulösen: «einen Bundschuh aufwerfen» hieß eben ganz konkret, sich unter dem Symbol zu sammeln.[65] Wahrscheinlich war ein solcher Schuh auf der Fahne abgebildet, aber belastbare Information gibt es dazu nicht.[66] Joß Fritz versicherte potentiellen Genossen, sein Bundschuh sei eine «göttliche, ziemende und rechte Sache», aber es fanden sich auch Stimmen, man solle gegen alle Gewalt anwenden, die sich dem Aufstand in den Weg stellen wollten. Konkrete Forderungen bezogen sich auf eine Reform der Gerichte (wie 1493), die Verringerung der Zinsen, die Reduzierung der Abgaben und Dienste sowie die völlige Aufhebung «unbilliger» Lasten ebenso wie die Freigabe von Jagd und Fischfang, von Wald, Wasser und Weide.[67]
Ein beachtlicher medialer Nachhall dieser Konspiration verankerte den Bundschuh endgültig im öffentlichen Bewusstsein. So ließ ein vermutlich noch 1513 entstandenes «Lied von dem Bundschuh» keinen Zweifel an der Verderbtheit der Aufrührer, die zwar das Kruzifix auf ihrer Fahne führten, deren eigentliches Wappentier aber der Gift verspritzende Skorpion sei.[68] Wenige Monate später erschien in Basel «Das Narrenschiff vom Bundschuh», dessen Titelholzschnitt die gerade zitierte Passage ins Bild setzte: Die von Joß Fritz geführte Mannschaft sammelt sich unter einem Banner, das einen Skorpion zeigt. Der Bundschuh baumelt lässig an einem Schwert, das der Bauernhauptmann in der Hand hält – natürlich verkehrt herum, mit der Hand die Klinge und nicht den Knauf umklammernd – wie viele andere Details Sinnbild für die verkehrte Welt.[69]
«Narrenschiff vom Bundschuh». Titelblatt einer Flugschrift von Joß Fritz, 1513
Bereits im Folgejahr 1514 kam es zu einem «Bundschuh im Württemberger Land»,[70] der unter dem Namen «Armer Konrad» bekannt wurde.[71] Die Beteiligten schworen «in den» Armen Konrad, sie leisteten «dem» Armen Konrad ihren Eid oder manche erklärten gleich, selbst den Armen Konrad zu verkörpern, also den sprichwörtlichen mittellosen Mann. Einer populären Deutung zufolge war der Name gewählt worden, um nicht mit dem Bundschuh identifiziert zu werden. Tatsächlich unterschied sich der Arme Konrad in einigen wichtigen Punkten von den oberrheinischen Verschwörungsbestrebungen. So konzentrierte er sich fast exklusiv auf das noch junge Herzogtum Württemberg, einen territorial geschlossenen und vergleichsweise modernen Fürstenstaat. Dessen zunehmende Eingriffe in die gemeindliche Selbstverwaltung und in die ländliche Wirtschaft forderten den Widerspruch der Untertanen heraus. Zudem hatten der Aufbau einer frühstaatlichen Verwaltung[72] und die aufwändige Hofhaltung des Herzogs Ulrich zu einer hohen Verschuldung geführt.[73] Der Herzog schrieb eine indirekte Steuer auf Fleisch, Wein und Getreide aus, eine Art Mehrwertsteuer, die kleinere Haushalte überproportional belastete. Dieses «Ungeld» traf die Bevölkerung in einer Situation, in der feuchte Sommer, Unwetter und Hochwasser zu einigen Missernten und zu dramatischen Einbußen bei den Bauern geführt hatten.[74]
Die Folge sollte ein komplexes Aufstandsgeschehen sein, das zeitweilig große Teile des Landes erfasste. Schnell weiteten sich die ersten Protestaktionen von Beutelsbach im Amt Schorndorf nach Blaubeuren, Urach, Tübingen und Balingen im Süden, aber auch nach Bietigheim, Marbach oder Weinsberg im Norden aus. Dass der Herzog für den 26. Juni einen großen Landtag nach Stuttgart einberief, auf dem auch der gemeine Mann in den Amtsstädten und auf dem Lande die Möglichkeit haben sollte, seine Beschwerden vorzubringen, war ein außergewöhnliches Zugeständnis, das den Protest zunächst einigermaßen eindämmen konnte. Inzwischen versuchte der Herzog zusammen mit der herrschenden Ehrbarkeit, möglichst viele Ämter und Städte auf seine Seite zu bringen. Auf der anderen Seite wurden landesweit in den Ämtern die Beschwerden der Städte und Dorfgemeinden eingesammelt.[75] Sie richteten sich gegen die Einschränkung der gemeindlichen Wald- und Weidenutzung, gegen Wildschäden, gegen die Ausweitung von Frondiensten sowie als unrechtmäßig empfundene Praktiken der obrigkeitlichen Gerichtsbarkeit.
Aber Landtagsverhandlungen Ende Juni/Anfang August 1514 wurden eine herbe Enttäuschung für die Gemeindevertreter: Sie wurden noch nicht einmal zu der nach Tübingen umdirigierten Landtagsversammlung zugelassen, sondern mussten bis zum Ende untätig in Stuttgart verharren. Die meisten ihrer Beschwerden wurden auf die lange Bank geschoben. Immerhin räumte der Tübinger Vertrag vom 8. Juli den Landständen weitgehende Mitspracherechte im Kriegs- und Verteidigungsfall ein – ein Erfolg für die den Landtag dominierende Ehrbarkeit. Im Gegenzug hatten sich die Landstände verpflichten müssen, den ungeheuren Betrag von fast einer Million Gulden zur Tilgung der herzoglichen Schulden aufzubringen. Damit nicht genug, enthielt der Vertrag eine Satzung gegen «Auflauf und Empörung», um das Land «in Frieden und Gehorsam» zu halten, mit der künftiger Protest entschieden kriminalisiert wurde.
Nach dem Landtag leisteten zahlreiche Württembergische Ämter die geforderte Huldigung auf den Tübinger Vertrag; in einigen allerdings formierte sich der Widerstand des Armen Konrad in neuer Intensität.[76] Persönliche Verhandlungen des Herzogs mit den Aufständischen bei Schorndorf führten zu nichts, der Fürst wurde sogar persönlich bedrängt. Rund tausend Aufständische zogen im Juli auf den Kappelberg bei Beutelsbach, errichteten ein Feldlager, wählten Hauptleute, Feldwebel und Fähnriche, horteten Waffen und Verpflegung. Allerdings waren sie politisch weitgehend isoliert, weil die meisten Ämter inzwischen dem Herrscher gehuldigt hatten. Dieser ließ ein mächtiges militärisches Aufgebot zusammenstellen, z. T. aus auswärtigen Verbündeten, z. T. aus Angehörigen des Landesaufgebotes; auch der Truchsess Georg von Waldburg, später Oberster Feldhauptmann des Bundes im Bauernkrieg, beteiligte sich. Angesichts dieser obrigkeitlichen Drohkulisse löste sich Anfang August die Versammlung auf dem Kappelberg kampflos auf. Es folgten ein demütigendes Strafritual für die Bewohner der Amtsstadt Schorndorf, darunter etliche Todesurteile gegen mindestens zehn der Empörer. Viele andere waren vor dem drohenden Strafgericht geflohen und hatten vor allem in der Eidgenossenschaft Zuflucht gefunden. Jahrelang verhandelten sie von dort aus über eine Rückkehr in die alte Heimat, zum größeren Teil am Ende erfolgreich.[77]
1517 machte dann ein letztes Mal ein Bundschuh im großen Stil von sich reden. Der Freiburger Rat wollte eine großangelegte Verschwörung aufgedeckt haben, und zwar wiederum unter Führung des unermüdlichen Joß Fritz. Dieser habe, nicht zuletzt durch das Versprechen einer reichen Belohnung, umtriebige Werber aus dem Bettler- und Vagantenmilieu losgeschickt und zahlreiche Anhänger für ein sehr radikales Umsturzprogramm gewinnen können. Lediglich durch die Verhaftung eines der Werber wurde das Unternehmen im letzten Moment aufgedeckt und damit verhindert. Einmal mehr sei es Joß Fritz indes gelungen, sich dem herrschaftlichen Zugriff zu entziehen. So suggestiv sich dieser Spannungsbogen liest, so wenig dürfte er stimmen. Zahlreiche Ungereimtheiten haben in neueren Untersuchungen zu dem Schluss geführt, beim Bundschuh von 1517 handele es sich um eine «Chimäre», um eine Konstruktion «nervöser Obrigkeiten», für deren tatsächliche Existenz es einfach nicht genügend belastbare Indizien gebe.[78] Das betrifft nicht zuletzt die geheimnisvolle Gestalt des Joß Fritz, dessen Beteiligung an den angeblichen Aktivitäten im Jahr 1517 allein durch eine einzige, sehr fragwürdige Quelle überliefert ist.
Die Bundschuh-Bewegungen am Oberrhein und der Arme Konrad in Württemberg unterschieden sich in mindestens einem Punkt fundamental voneinander: Bei den Konspirationen in den Jahren 1493, 1502 und 1513 handelte es sich um kleine Unternehmungen selbsternannter Führer, deren Pläne für die Werbung zahlreicher Anhänger wohl ebenso wolkig blieben wie die genauen Umstände des Losschlagens. Die Bewegungen fielen auseinander, bevor sich eine wirklich kritische Masse formieren konnte. Der Arme Konrad jedoch war eine Massenbewegung, auch wenn es in Württemberg Phasen gab, wo sich die Ausweitung der Bewegung eher im Verborgenen vollzog. Als Initialimpuls für eine erfolgreiche Rebellion bedurfte es der kollektiven Selbstvergewisserung in der Öffentlichkeit. Erst dadurch konnte die Dynamik freigesetzt werden, um aus einem kleinen Kreis von Empörern eine Massenbewegung zu machen, die andere unter Solidarisierungsdruck und Anschlusszwang setzte, notfalls auch unter Androhung von Gewalt.
Dass der Arme Konrad jenseits seiner eher gemäßigten Forderungen einen «Geheimbund mit dem Ziel des Umsturzes der bestehenden Herrschafts- und Gesellschaftsordnung» gebildet haben soll, der die landesherrliche Obrigkeit samt aller Amtsträger beseitigen und eine neue Gesellschaftsform schaffen wollte, erscheint extrem unwahrscheinlich.[79