Der blaurote Methusalem - Karl May - E-Book + Hörbuch

Der blaurote Methusalem E-Book

Karl May

4,6

Beschreibung

Der blaurote Methusalem gilt als Geheimtipp unter dem breiten Werk Karl Mays. Für Kenner und Fans ein Muss! Auszug: Eines Tages aber warteten sie vergeblich auf sein Erscheinen. Man wunderte sich; man schüttelte den Kopf. Als er auch am nächsten Tage nicht erschien, begann man, bedenklich zu werden. Am dritten Tage beschloß man, Frau Stein, seine Wirtin, zu interviewen, und erfuhr auf diesem Wege, daß er die Miete auf zwei Jahre vorausbezahlt habe und dann verschwunden sei. Wohin? Das war nicht zu erfahren. Erst später sprach es sich herum, daß er den Sohn der Wirtin mitgenommen habe. Diese mußte das Ziel der Reise kennen, und da sie sich nicht ein darauf bezügliches Wort entlocken ließ, so handelte es sich jedenfalls um ein Geheimnis, dessen Enthüllung man der Zukunft überlassen mußte.

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Der blaurote Methusalem

1. Im Pfeffergäßchen2. »Tsching tsching tschin!«3. Ein Dauerlauf in der Sänfte4. Mijnheer Willem van Aardappelenbosch5. Auf der »Schui-heu« nach Kanton6. »Kong-pit«7. Unter Piraten8. In Not und Gefahr9. Das Ende der Raubdschunke10. Tsche ta-ping, Tur-ning sti-king kuo-ngan ta-fu-tsiaug, keng hiang-schaug tsien ful11. Landeinwärts12. Der Götterraub13. Der Tempelbesuch und seine Folgen14. Hinter Schloß und Siegel15. Zu Wasser und zu Lande nach Hu-nau16. Hao-Keu und ihre Töchter17. Unter dem Schutze des Bettlerkönigs18. Bei Onkel Daniel19. Wieder im PfeffergäßchenAnmerkungenImpressum

1. Im Pfeffergäßchen

Mein lieber Leser, hast du vielleicht den »blauroten Methusalem« gekannt? Ganz gewiß, nämlich wenn du in der betreffenden Universitätsstadt geboren bist oder, wenn auch nur für einige Tage, als Gast dort geweilt hast. Er war das lebendige Wahrzeichen der dortigen Alma mater. Niemand konnte an ihm vorüber sehen, und wer ihn einmal erblickt hatte, dem war es unmöglich, ihn jemals wieder zu vergessen.

Er wohnte seit wer weiß wie vielen Semestern im Pfeffergäßchen und studierte – ja, wer konnte das wohl sagen! Wem es eingefallen wäre, ihn danach zu fragen, dem hätte er mit der Klinge geantwortet, und er war als der beste Schläger bekannt und gefürchtet.

Zur ganz bestimmten Minute trat er aus dem Hause, in dessen Parterre der chinesische Theehändler Ye-Kin-Li einen prächtig eingerichteten Verkaufsladen besaß, schritt, gefolgt von seinem Wichsier, die Straße entlang, bog rechts in die Humboldtstraße ein und verschwand dort in der Thüre des »Geldbriefträgers von Ninive«. So nämlich nannten die Studenten dieses vielbesuchte Bierlokal. Genau zu einer ebenso bestimmten Minute verließ er dasselbe, um nach seiner Wohnung zurückzukehren.

Das geschah täglich dreimal: Vormittags, Nachmittags und des Abends, und zwar mit solcher Regelmäßigkeit, daß die Anwohner der Humboldtstraße und des Pfeffergäßchens es sich angewöhnt hatten, ihre stehen gebliebenen oder falsch gehenden Uhren nach ihm zu richten.

Eines Tages aber warteten sie vergeblich auf sein Erscheinen. Man wunderte sich; man schüttelte den Kopf. Als er auch am nächsten Tage nicht erschien, begann man, bedenklich zu werden. Am dritten Tage beschloß man, Frau Stein, seine Wirtin, zu interviewen, und erfuhr auf diesem Wege, daß er die Miete auf zwei Jahre vorausbezahlt habe und dann verschwunden sei. Wohin? Das war nicht zu erfahren. Erst später sprach es sich herum, daß er den Sohn der Wirtin mitgenommen habe. Diese mußte das Ziel der Reise kennen, und da sie sich nicht ein darauf bezügliches Wort entlocken ließ, so handelte es sich jedenfalls um ein Geheimnis, dessen Enthüllung man der Zukunft überlassen mußte.

An jenem Vormittage, an welchem der »blaurote Methusalem« zum letztenmal im »Geldbriefträger von Ninive« gesehen worden war, hatte er selbst keine Ahnung davon gehabt, daß er am Nachmittage nicht wiederkommen und sogar für viele Monate sich fern von hier befinden werde.

Wie gewöhnlich schritt er in gravitätischer, bärenhafter Langsamkeit die Humboldtstraße zurück und ergötzte sich im stillen über die Aufmerksamkeit, welche er heute wie stets erregte. Seine Erscheinung war freilich auffallend genug.

Er war von hoher, breiter, wahrhaft hünenartiger Gestalt und trug sein Hektoliterbäuchlein mit dem Anstande eines chinesischen Mandarinen erster Klasse. Sein Gesicht war von einem dunklen, wohlgepflegten Vollbarte eingerahmt und zeigte die Fülle und Farbe eines braven Germanen, der sich darüber freut, daß die deutschen Biere längst ihren Triumphzug um die Erde vollendet haben. Quer über dieses Gesicht zog sich eine breite Narbe, die Nase in zwei ungleiche Hälften teilend – aber was für eine Nase! Ursprünglich war sie wohl das gewesen, was man eine Habichtsnase nennt; nach und nach aber hatte die Schärfe ihres Schnittes sich gemildert, um einer Fülle zu weichen, die von Semester zu Semester bedenklicher geworden war. Dazu war eine Färbung getreten, welche mit der Zeit alle zwischen dem lieblichen Fleischrot und einem tiefen Rotblau liegenden Nuancen durchlaufen hatte. Der Besitzer dieser Nase behauptete freilich, daß die Säbelwunde an dieser Färbung schuld sei; seine Corpsbrüder hingegen waren andrer Meinung. O Jugend, bewahre dich vor ähnlichem Ungefähr!

Mag dem nun aber sein, wie es wolle; dieser Nase und der Anzahl seiner Semester hatte er den Namen der »blaurote Methusalem« zu verdanken.

Er trug einen blausamtenen Schnurenrock, eine rote Weste, weiße Lederhosen und hohe, lacklederne Stulpenstiefel, an denen ungeheure Sporen klirrten, welche mexikanischen Ursprunges waren und deren Räder einen Durchmesser von drittehalb Zoll besaßen. Aus den lang herabwallenden, dichten Locken saß ein rotgoldenes Cerevis.

Die Hände trug er weltverächtlich in den Hosentaschen. Zwischen den Zähnen hielt er das Mundstück einer persischen Wasserpfeife, deren Rauch er in dicken Schwaden von sich stieß.

Vor ihm her schritt gewichtig ein riesiger Neufundländer, welcher das zwei Liter fassende Stammglas seines Herrn im Maule trug.

Hinter dem letzteren folgte der Wichsier, in der linken Hand die Wasserpfeife tragend, deren Kopf wenigstens ein Pfund Knaster faßte. Ihr vier Ellen langer Gummischlauch führte nach dem Munde des qualmenden Studenten. In der rechten Hand, geschultert wie ein Schießgewehr, hielt der Wichsier einen langen, dünnen Gegenstand, in welchem die Begegnenden zu ihrem Erstaunen eine – – Oboe erkannten.

Dieser Pfeifen- und Oboenträger schien, ganz ebenso wie sein Herr, ein Original zu sein. Er hatte eines jener Gesichter, deren Alter sich nicht bestimmen läßt. Es war von unzähligen kleinen Runzeln und Furchen durchzogen, so daß von eigentlichen Zügen keine Rede sein konnte. Sah man ihn in stolzem Ernste, nur auf seinen Herrn achtend, hinter diesem herschreiten, so war man versucht, ihn für weit über vierzig Jahre alt zu halten. Fand man jedoch privatim die Gelegenheit, das listige Blinzeln seiner kleinen Aeuglein zu beobachten, seine gewandten Bewegungen zu bemerken und sich von seiner stets schlagfertigen geistigen Munterkeit zu überzeugen, so schätzte man ihn nicht viel über zwanzig Jahre. Auf darauf bezügliche Fragen antwortete er nie. Er hielt sein Alter ebenso wie die Semester seines Herrn und Gebieters in ein undurchdringliches Dunkel gehüllt.

Seine lange, schmale Gestalt war fast genau so gekleidet wie der »Methusalem«, nur daß ihm anstatt des Cerevis eine weißleinene, schirmlose Mütze, wie Köche und Konditoren sie tragen, auf dem kurz geschorenen Haupte saß.

So schritten sie die Humboldtstraße und dann das Pfeffergäßchen entlang, voran der Hund, dann der Herr und hinter diesem der Wichsier, einer gerade so würdevoll und gemessen wie der andre. Lächelnd blickte man ihnen nach.

Eben als sie in den Flur des heimatlichen Hauses einbiegen wollten, wurde die Thür des chinesischen Ladens geöffnet und der Besitzer trat heraus, in die weite, originelle Tracht des »himmlischen Reiches« gekleidet. Er hatte mit dem Studenten Freundschaft geschlossen, von ihm sich in der deutschen Sprache, die er, als er sich hier niederließ, nur gebrochen sprach, unterrichten lassen und ihm dafür so viel vom Chinesischen beigebracht, daß der »Methusalem« desselben recht leidlich mächtig war.

»Tsching!« grüßte der Theehändler, indem er sich verneigte.

»Tsching tsching, mein lieber Ye-Kin-Li!« antwortete der Student in seinem tiefen Bierbasse. »Wollen Sie ausgehen?«

»'s sche tsche, Tschu – ja, Herr. Auf die Polizei.«

»Zur Polizei? Was haben Sie denn mit den Herren dort zu thun? Haben Sie einen verlorenen Hausschlüssel gefunden? Oder sollen Sie wegen gefälschten Thees in Strafe genommen werden?«

Der Chinese ließ seinen Zopf zärtlich durch die Hände gleiten, zog die haarlosen Brauen empor und antwortete in verbindlichem Tone: »Es gefällt Ihnen, zu scherzen! Ye-Kin-Li wird niemals Strafe zahlen, denn alle Waren sind echt, rein und spottbillig. Ich habe einen Brief aus der Heimat erhalten, den ich abgeben soll. Da der Name des Empfängers nicht im Adreßbuche steht, so muß ich mich im Einwohneramt erkundigen.«

»Dessen bedarf es nicht, mein Verehrtester. Das zuverlässigste Adreßbuch ist hier vorhanden« – er deutete nach seiner Stirn – »ich bin nicht umsonst Methusalem genannt. Viele wurden geboren, und viele starben; Tausende kamen als grüne Füchse und gingen fort als bleiche Philister; ich allein blieb stehen als Fels im fliegenden Sande, und ihre Namen sind eingetragen in den noch ungedruckten Annalen meines Genius. Wie lautet denn die Adresse?«

»So!«

Der Theehändler zog einen Brief aus seinem weiten Aermel und zeigte denselben hin.

Die Chinesen benutzen bekanntlich die Aermel als Taschen. Der Brief trug weder Marke noch Stempel; er war also jedenfalls als Einlage nach Deutschland gelangt. Die nicht mit Feder, sondern mit Pinsel geschriebene Adresse lautete: »Dem Volksschullehrer Joseph Ferdinand Stein oder dessen Verwandten, früher wohnhaft Obergasse 12 parterre.«

Der Student blickte nachdenklich und kopfschüttelnd auf das Papier.

»Hm!« sagte er. »Der Mann ist also nicht im Adreßbuche zu finden?«

»Nein.«

»Auch ich weiß, daß kein Lehrer dieses Namens hier angestellt ist. Wahrscheinlich ist der Adressat verstorben und – ah! Heureka! Vielleicht ist meine Wirtin seine Witwe! Vertrauen Sie mir den Brief auf einige Augenblicke an, lieber Freund! Ich reite im Galopp hinauf und bringe Ihnen dann per Extrazug Bescheid.«

Er eilte davon, ins Haus hinein. Hund und Wichsier waren mit ihm stehen geblieben. Beide waren auf diesen plötzlichen Aufbruch ihres Herrn nicht gefaßt gewesen. Der Neufundländer sprang rasch zur Seite; der Wichsier aber war weniger geistesgegenwärtig. Der »Methusalem« hatte während der Unterredung den Pfeifenschlauch ergriffen und nun beim Forteilen die Spitze desselben wieder in den Mund gesteckt. Wäre der Wichsier sofort nachgesprungen, so hätte er das folgende Unglück vermieden, so aber zögerte er einen Augenblick, der Schlauch wurde angespannt und ihm dadurch die Wasserpfeife aus der Hand gerissen. Er wollte, um sie zu retten, nach ihr greifen, gab dadurch aber ihrem Falle eine solche Richtung, daß sie auf den Neufundländer flog und dann zur Erde stürzte, wo das Wasserbassin in Scherben zerbrach. Der Kopf hatte seinen glühenden Inhalt auf den Kopf des Hundes ergossen; der übrige Teil wurde von dem eilfertigen Studenten mit bis zur halben Treppe gerissen. Dann bemerkte der letztere, daß hinter ihm nicht alles in Ordnung sei. Er blieb stehen und drehte sich um.

Da sah er, daß er nur den Schlauch mit dem Fuße der Pfeife im Besitze hatte. Der Hund heulte laut, denn seine Kopfhaare begannen zu glimmen, und der Wichsier war über ihn weggestürzt und lag mit der Oboe an der Erde. Dabei stand der Chinese, schlug die Hände zusammen und rief erschrocken: »O Nieou-nieou-nieou! Chi-tchin! Chi-nieou!«

Das alles machte einen so drolligen Eindruck, daß der Student gar nicht an den Verlust der teuren Pfeife dachte, sondern lachend von der Treppe herabrief: »Aber, Gottfried von Bouillon, was hast du da angerichtet!«

Der Wichsier des »Methusalem« wurde nämlich aus später zu erwähnenden Gründen von sämtlichen Studenten »Gottfried von Bouillon« genannt. Er sprang von der Erde auf und antwortete mehr zornig als verlegen: »Wat ich angerichtet hab'? Als wie ich? Da hört mir Allens off, Allens, und die Umdrehung der Erde dazu! Wer hat mich denn die wässerige Hukah aus der Hand jerissen und mir mit samt der Oboe parterre jebracht, so daß sogar der Pelz des Neufundländers in sechs Scheunenbrände jeraten ist? Da jeht man in aller Würde und Feierlichkeit von Jott Bachussen zu seine heimischen Penaten, und kaum ist man in das Ostium jetreten, so steht ein Mann des Zopfes da und schreit einen mit Nieou an! Wat hat des zu bedeuten?«

Diese zornige Frage war an den Chinesen gerichtet. An dessen Stelle antwortete der Student: »Nieou heißt zu deutsch Ochse. Dreimal hintereinander bedeutet es also dreifacher Wiederkäuer.«

»Schön! Und Chi-tchin?«

»Ein Tölpel, ein langsamer Sancho Pansa.«

»Noch schöner! Herr Ye-Kin-Li, Sie wollten sich soeben zur Polizei bejeben; det haben Sie nicht nötig, denn ich werde Ihnen hinführen lassen. Sie werden arretiert. Vorher aber will ich Sie zeigen, wie ein musikalisch approbierter Europäer auf solche Beleidigungen mit seinem Lieblingsinstrumente antwortet.«

Er hob die Oboe vom Boden auf, fällte sie wie ein Gewehr und drang dann mit derselben auf den Chinesen ein. Dieser war keineswegs ein Held und hielt es für das beste, das Hasenpanier zu ergreifen. Er floh in seinen Laden und riegelte die Thür desselben hinter sich zu.

»So, da ist er mit jütiges Verschwinden hinter seine Coulissen retiriert,« lachte Gottfried von Bouillon. »Ich habe jesiegt, verzichte aber darauf, Viktoria schießen zu lassen und werde mir lieber bemühen, diese Ueberreste einer seligen Vergangenheit einem glücklichen Verjessensein entjegenzuführen.«

Er suchte die Scherben zusammen. Sein Herr warf ihm den Wasserschlauch zu und ging nach oben, um bei seiner Wirtin einzutreten.

Diese bewohnte ein Stübchen, an welches ein kleines Schlafgemach stieß. Die andren Räume ihrer Wohnung hatte sie an den Studenten vermietet, um dadurch ihre dürftige Lage ein wenig zu verbessern. Sie war die Witwe eines Lehrers und bezog eine sehr kärgliche Pension, welche nicht einmal für Salz und Brot ausreichte. Darum mußte sie manche Nacht hindurch am Nähtischchen oder Stickrahmen sitzen, um die Not von sich und ihren drei Kindern fern zu halten.

Erst von dem Tage an, an welchem der »Methusalem« zu ihr gezogen war, hatte ihre gedrückte Lage eine Aenderung zum Besseren erfahren. Die vorherigen Mieter waren keine guten Zahler gewesen und hatten der braven Frau manche schwere Sorge bereitet; er aber war reich und besaß ein sehr gutes Herz. Er bezahlte nicht nur seine Miete sehr regelmäßig, sondern ließ seiner Wirtin auch sonst manche unerwartete Einnahme zufließen. Er hatte gar bald eine herzliche Zuneigung zu den wohlgesitteten Kindern gefaßt, hörte es gern, wenn sie ihn in zutraulicher Weise Onkel nannten und schien sich im stillen die Aufgabe gestellt zu haben, wie ein wirklicher Verwandter für ihr Wohlergehen Sorge zu tragen.

Richard, der älteste Sohn der Witwe, war ein sehr begabter Knabe. Seine Lehrer liebten ihn und rieten seiner Mutter, ihn studieren zu lassen. Leider aber war sie dazu zu arm. Das stimmte sie traurig. Sie wußte sehr wohl, daß das Handwerk einen goldenen Boden habe, doch empfand ihre Mutterliebe es mit stillem Kummer, daß sie dem Knaben nicht eine seinen Anlagen entsprechende Erziehung und Zukunft bieten könne.

Da war eines abends der »Methusalem« zu ihr gekommen und hatte sich mit ihr über dieses Thema in seiner kurzen, bestimmten Weise ausgesprochen. Sie hatte seinen Antrag, obgleich derselbe sie mit Entzücken erfüllte, bescheiden abgelehnt; er aber hatte das vertrauliche Gespräch zum Schlusse gebracht, indem er in entschiedenem Tone erklärte: »Meine liebe Frau Stein, Sie werden bemerkt haben, daß ich nicht gern von mir und meinen Verhältnissen spreche; heute will ich einmal von dieser Gepflogenheit abweichen. Mein Vater war ein reicher Brauer. Er hatte den Ehrgeiz, sich eines gelehrten und berühmten Sohnes rühmen zu wollen. Ich sträubte mich dagegen, denn ich wollte nichts andres werden, als was auch er geworden war, ein Brauer. Mein Sträuben half nichts. Ich mußte Faba, die Bohne, deklinieren, obgleich mir der Hopfen über alle Bohnen ging. Ueber das Weitere will ich schweigen. Der Vater verwandelte seine Brauerei in ein Aktienunternehmen und hinterließ mir ein bedeutendes Vermögen. Ich aber habe es nur bis zum bemoosten Haupte gebracht, das heißt, zu einem akademischen Schlachtenbummler, welcher dem wirklichen Streiter verächtlich erscheint. Ich beginne nun nachgerade die ganze Leere dieses zwecklosen Daseins schmerzlich zu empfinden. Ich schäme mich meiner selbst. Ich will nicht länger ein unnützes Mitglied der menschlichen Gesellschaft sein. Ich will Thaten thun, und meine erste That soll darin bestehen, daß ich in Ihrem Sohne Ersatz biete für meine verlorene Studienzeit. Er soll studieren, und ich zahle für ihn. Das ist das Wenigste, was ich thun kann. Und das darf Sie nicht bedrücken, denn nicht Sie werden mir dadurch etwas schuldig, sondern ich tilge eine Schuld, welche mir schwer auf dem Herzen liegt. Es ist meine Ueberzeugung, daß Sie kein Recht besitzen, mich mit meinem Antrage abzuweisen. Indem Sie Ihren Sohn glücklich machen, leisten Sie mir einen hohen Dienst, den ich Ihnen niemals vergessen werde. Also sagen Sie ja; schlagen Sie ein, und damit mag die Sache beschlossen und genehmigt sein!«

Seit jener Zeit besuchte Richard das Gymnasium, und der »Methusalem« wachte über ihn, wie eine Henne über ihr einziges Küchlein wacht. Dieses Küchlein war jetzt siebzehn Jahre alt geworden und gab sich alle Mühe, die Hoffnungen der Mutter und des »Onkel Methusalem« zu erfüllen.

Als der letztere jetzt eintrat mit dem Briefe aus China in der Hand, fiel sein Blick auf ein Bild stillen Familienfleißes. Frau Stein war mit einer Plätterei beschäftigt. Der Gymnasiast saß tief auf eine Landkarte gebeugt, deren Linien er mit der Spitze seines Bleistiftes folgte. Seine jüngere Schwester war an der Nähmaschine beschäftigt, welche der Student ihr am letzten Weihnachtsfeste beschert hatte, und der kleine sechsjährige Walther saß mäuschenstill hinter dem Ofen und mühte sich ganz ebenso mit einem Christgeschenke ab. Er hatte sich nämlich heimlich des Wichsapparates bemächtigt, um seinem ledernen Hanswurste die Stiefel blank zu machen. Das kostete ihm gar sauren Schweiß, und weil er sich die perlenden Tropfen nicht mit der Hand, sondern mit der Bürste abwischte, so hatte er bald den ganzen Inhalt der Wichsschachtel im Gesichte kleben.

Der »Methusalem« nahm sich kaum Zeit, zu grüßen. – »Frau Stein,« fragte er, »haben Sie früher einmal Obergasse 12 parterre gewohnt?«

»Ja,« antwortete sie.

»Hieß Ihr Mann Joseph Ferdinand?«

»Ja.«

»So stimmt es. Der Brief ist an Sie! Hier ist er.«

Er reichte ihr denselben hin. Sie nahm und betrachtete ihn, las die Adresse und fragte im Tone der Verwunderung: »Nicht von der Post! Wo ist er her?«

»Aus China. Ye-Kin-Li gab ihn mir.«

»Aus – – China! Wer könnte mir von dorther schreiben? Es ist ja ganz unmöglich, daß dort ein Bekannter von uns existiert. Dieser Brief kann nicht für mich bestimmt sein.«

»Er ist für Sie! Die Adresse stimmt ja genau.«

»Bitte, Mutter, zeig' einmal her!« sagte Richard, indem er herbeitrat und nach dem Briefe griff. Er betrachtete die Adresse und entschied sodann: »Er ist an den Vater gerichtet. Dieser lebt nicht mehr, folglich hast du das Recht, den Brief zu öffnen. Das ist gar nicht zu bestreiten.«

Dabei hatte er auch schon das Couvert mit dem Federmesser ausgeschnitten. Er nahm den eng beschriebenen Bogen, den es enthielt, heraus und warf, nachdem er ihn entfaltet hatte, einen Blick auf die Unterschrift.

»Vom Onkel Daniel!« rief er schnell.

»Der war doch in Amerika und ist verschollen,« antwortete seine Mutter.

»Er ist nicht tot, wie wir bisher geglaubt haben. Welch eine Freude, daß er noch lebt! Hört, was er schreibt! Ich will den Brief vorlesen.«

Der »Methusalem« wollte sich entfernen, wurde aber aufgefordert, zu bleiben. Vor ihm gab es keine Familiengeheimnisse.

Der Inhalt des Briefes mußte von großer Wichtigkeit sein, denn der Student blieb weit über eine Stunde bei seiner Wirtin, und als der Wichsier einmal an der Thüre vorüberging und infolge eines frohlockenden Rufes, welcher drinnen ausgestoßen wurde, stehen blieb, hörte er, obgleich er die einzelnen Worte nicht verstehen konnte, daß jedenfalls eine Beratung abgehalten wurde, deren Verlauf ein sehr erregter zu sein schien.

»Wat da drinnen losjelassen worden ist, dat scheint so eine Art von Kriegsrat zu sind,« murmelte er vor sich hin. »Ich ziehe mir zurück, sonst könnte ich der Avantgarde unter die Pferde geraten.«

Er that sehr klug daran, denn kaum hatte er sich entfernt, so kam sein Herr in höchster Eile heraus, eilte in seine Wohnung, packte den Wichsier, als er ihn dort erblickte, an den beiden Schultern und rief in freudigem Tone: »Gottfried, das Schlaraffenleben hat ein Ende! Wir verreisen!«

»So! Wohin? Vielleicht wieder mal nach Jüterbogk, um den dortigen Wein zu probieren?«

Er machte ein sehr saures Gesicht.

»Nein, nein, weiter, viel weiter! Bist du zur Seekrankheit geneigt?«

»Unjeheuer sehr!«

»Woher weißt du das?«

»Weil mein echt jermanischer Magen kein Wasser vertragen kann. Er will immer noch eins, ehe er jeht, aber natürlich nur kein Wasser!«

»So bleibst du da, dann gehe ich zur See!«

»Dat ist ja nicht jefährlich. Zur See kann man jehen, ohne die Seekrankheit zu bekommen. Man muß nur am Wasser stehen bleiben.«

»Aber ich will über die See, über das Meer hinüber, nach Asien!«

»Alle juten Jeister!« rief Gottfried, die Hände zusammenschlagend.

»Nach China!«

»Da sind wir ja schon!«

Er zeigte in dem Zimmer herum und hatte dabei nicht gar so unrecht, denn der »Methusalem« war infolge seiner mit dem Theehändler geschlossenen Freundschaft ein passionierter Sammler chinesischer Erzeugnisse geworden. An den Wänden hingen und auf den Tischen lagen Geräte, Gefäße, Waffen, Musikinstrumente und eine ganze Menge ähnlicher Dinge, welche aus dem »Reiche der Mitte« stammten.

»Das ist Talmi-China; ich aber will das echte sehen,« antwortete der Student. Die Erregung hatte ihm das Gesicht hochrot, die Nase aber ultramarinblau gefärbt. »Du sollst mitkommen. Fürchtest du dich aber vor der See, so bleibst du da und kannst, um dir die Langeweile zu vertreiben, Mücken vergolden.«

Da stemmte der Wichsier beide Hände in die Seiten, pflanzte sich gerade vor seinem Herrn auf und meinte: »Wat? Wie? Wo? Warum? Ich, als der berühmte Jottfried von Bouillon und ausjesprochener Erbfeind aller Sarazenen soll mir vor das bißchen See fürchten! Wat mache ich mich aus so einem alten Heringsteich! Und etwa von wegen die Haifische? Denen wollte ich mit persisches Insektenpulver ins Jewissen reden! Uebrigens muß ich auf alle Fälle mit, denn Sie brauchen mir. Wer soll Ihnen die Stibbel wichsen, die Kleider klopfen, die Pfeife stopfen, die Uhr aufziehen, tausend andre Sachen versorjen und beim Essen jesegnete Mahlzeit wünschen? Doch ich! Also ich fahre mit, nämlich wenn diese Reise nach China nicht etwa nur ein Ulk ist, den sich Ihr treuer Jottfried streng verbitten muß!«

»Es ist kein Ulk, sondern Ernst, wirklicher Ernst. Ich habe keine Zeit, es dir zu erklären, denn morgen früh geht es mit dem ersten Zuge fort, zunächst nach der Residenz, der Gesandtschaft wegen. Jetzt muß ich zum Bankier, zur Polizei und in hundert Läden, um tausend notwendige Sachen einzukaufen. Richard fährt auch mit, und – – –«

»Rich – – –!« unterbrach ihn der Wichsier, brachte aber vor Erstaunen nur die erste Silbe dieses Namens über die Lippen.

»Ja! Er ist es ja, um derentwillen die Reise überhaupt unternommen wird. Wenn ich nicht so sehr eile, daß wir morgen bereits über alle Berge sind, wird aus dieser famosen Reise gar nichts. Ich habe seine Mutter förmlich überrumpelt, und wir müssen reisen, bevor sie sich anders besinnen kann.«

Er eilte fort.

Gottfried schüttelte den Kopf, kratzte sich mit beiden Händen hinter den Ohren, richtete seinen Blick auf einen großen chinesischen Laternendrachen, welcher an der Decke hing und sagte: »Da hängst du nun, altes Jötzenbild, und kuckst mich höhnisch ins Jesicht! Dir hab' ich nie so recht jetraut. Deine Ehrbarkeit und Moralität ist mich immer ein bißchen problematisch vorjekommem! Wat willst du sind? Tao-lung willst du jenannt sind, wat soviel heißt, wie Drache der Vernunft? Ich sage dir, daß du höchst unvernünftig bist! Seit du hier unsern Zenith jepachtet hast, ist bei uns China und der Teufel losjewesen. Ich habe dir sogar im Verdacht, daß du um Mitternacht als Jespenst und Jeisterspuk hier umherfliegst. Du erscheinst dem Methusalem im Traume; du hast es ihm anjethan und ihm sogar den Jedanken einjeblasen, die traute Heimat zu verlassen, um am Strande des gelben Meeres bei die halben Antipoden jebratene Regenwürmer, jeschmorte Tausendfüße, jebackenen Seetang, marinierte Salamander und jekochte Rattenschwänze zu verspeisen. Schäme dir! Aber du sollst dir doch nicht rühmen können, ihn ins Verderben jeführt zu haben. Ich werde ihn begleiten als sein Morjen- und sein Abendstern. Wir werden siegreich gegen deine Vettern und Basen kämpfen, gegen Drachen, Molche und Chinesen, und wenn wir wiederkehren, so hängen wir sie hier als Trophäen auf, um dir zu ärjern, so wie du mir jeärjert hast. Ich verachte dir!«

Er ging mit einer theatralischen Gebärde ab, um sich bei der Wirtin zu erkundigen, wie sein Herr auf den Gedanken gekommen sei, nach China zu gehen.

Inzwischen war der »Methusalem« gar nicht weit gekommen. An der Ladenthür des Chinesen hatte er sich besonnen, daß er diesem doch sagen müsse, daß der Brief an die richtige Adresse gelangt sei. Darum trat er bei ihm ein.

»Nun?« fragte der Sohn der Mitte. »Sie bringen den Brief nicht wieder?«

»Nein. Meine Wirtin ist die Adressatin. Sie brauchen sich also nicht weiter zu bemühen. Aber, bitte, wie ist er in Ihre Hände gekommen?«

»Durch meinen Lieferanten in Kuang-tschéu-fu (Kanton), bei dem er für mich abgegeben wurde.«

»Hat dieser Herr Ihnen mitgeteilt, wer der Absender ist?«

»Nein. Er hat mir die Weisung gegeben, den Adressaten oder dessen Erben hier ausfindig zu machen, ihnen den Brief zu übermitteln und dafür zu sorgen, daß sie sofort antworten. Die Stelle, an welche die Antwort zu richten ist, sei in dem Briefe angegeben.«

»Das stimmt. Aber es ist beschlossen worden, keine briefliche Antwort zu erteilen. Wir reisen selbst hin, nämlich Richard Stein, ich und mein Gottfried von der Oboe.«

Jetzt war es an dem Chinesen, zu erstaunen. Er erging sich in den fremdartigsten Ausrufewörtern, wobei er die Hände mit weit ausgespreizten Fingern gen Himmel hielt und dabei den Kopf von einer Seite auf die andre warf, so daß sein Kopf wie ein Perpendikel abwechselnd herüber und hinüber flog.

»Sie selbst, Sie selbst wollen nach Tschung-kuo, dem Reiche der Mitte, nach Tschung-hoa, der Blume der Mitte!« rief er aus. »Sie werden Tien-tschao, das himmlische Reich sehen! Sie gehen nach Ki-tien-teh, dem Hause der himmlischen Tugenden, nach Schan-hoang-ti, dem Berge des erhabenen Herrschers! Wie ist das gekommen? Wodurch wurden Sie auf diesen Gedanken gebracht?«

»Durch die Teilnahme, welche ich für die Familie meiner braven Wirtin und insbesondere für Richard hege. Um es Ihnen kurz zu sagen, hat der verstorbene Volksschullehrer Stein einen Bruder gehabt, welcher in seiner Jugend, getrieben von seiner Lust zu Abenteuern, in die weite Welt gegangen ist. Er ist lange Jahre erst in Süd- und dann in Nordamerika gewesen, ohne es zu etwas Sonderlichem zu bringen. Später wollte er nach Java; das Schiff ging aber in der Nähe der chinesischen Küste unter, und er war einer der Wenigen, welche gerettet wurden. Unter den Chinesen erging es ihm zunächst herzlich schlecht, da er ja ihrer Ansicht nach ein Y-jin war, ein fremder Barbar. Er wurde wie ein Gefangener gehalten. Nach und nach lebte er sich in die dortigen Verhältnisse ein. Er erlernte die Sprache, trug chinesische Kleidung, nahm die dortigen Gewohnheiten an und brachte es dadurch so weit, daß er endlich wie ein Eingeborener behandelt wurde. Nur das Land durfte er nicht verlassen; der Versuch dazu schon sollte mit dem Tode bestraft werden. Um seiner ganz sicher zu sein, wurde er in das Innere geschafft, wo er es bald so weit brachte, daß er unter die Klasse der Ansässigen aufgenommen wurde. Er entdeckte zufälligerweise im Gebirge eine Petroleumquelle. Da er die Art der Ausbeutung und Verwertung des Oeles in den Vereinigten Staaten kennen gelernt hatte, so griff er die Sache auf amerikanische Weise an, dabei aber natürlich die chinesischen Verhältnisse in Rechnung ziehend. Er wurde ein reicher Mann und breitete seine Verbindungen nach und nach bis an die Küste aus. Durch diesen letzteren Umstand ist es ihm ermöglicht gewesen, einen Brief, eben den, welchen Sie zur Besorgung erhielten, in die Heimat zu senden. Er ist unverheiratet und ohne Erben, dabei so kränklich, daß er mit dem baldigen Tode rechnet. Er will sein Vermögen nicht in fremde Hände kommen lassen. Darum bittet er seinen Bruder, sofort nach China zu reisen. Falls dieser Bruder tot ist, soll dessen ältester Sohn, von dessen Geburt er aus früheren Nachrichten weiß, zu ihm kommen. Nur so ist es möglich, die chinesischen Gesetze zu umgehen und die Früchte seines Fleißes in die Hände seiner Verwandten gelangen zu lassen. Er bittet um augenblickliche Antwort, worauf er Geld zur Reise anweisen will. Da ich mir aber sage, daß dabei Monate verschwendet werden, während welcher Zeit der kränkliche Herr wohl gar sterben könnte, habe ich unter Aufbietung meines ganzen Einflusses erreicht, daß Frau Stein ihren Richard sofort reisen lassen will, natürlich nur unter der Bedingung, daß ich ihn begleite. Die Kosten der Reise trage ich auch. Das ist alles so plötzlich gekommen und muß auch sofort ausgeführt werden, sonst steht zu erwarten, daß die Wirtin ihre Zusage wieder zurücknimmt. Es ist für eine Mutter kein Spaß, ihr Kind in solche Ferne und in ein solches Land gehen zu lassen. Sie ist von dem Ereignisse sozusagen übermannt und betäubt worden. Ich darf sie nicht zur ruhigen Ueberlegung kommen lassen. Morgen mit dem ersten Zuge reisen wir.«

Der Chinese stand mit offenem Munde und starren Blickes vor ihm. Er bewegte kein Glied seines Körpers.

»Was ist mit Ihnen?« fragte der »Methusalem« besorgt. »Sie sind ja wie vom Schlage getroffen! Wie kann meine Erzählung einen solchen Eindruck auf Sie hervorbringen?«

Er faßte den »Sohn des Himmels« bei den Schultern und schüttelte ihn. Dies gab dem Chinesen die Herrschaft über sich selbst zurück. Er eilte zur Thüre, riegelte dieselbe zu, um von keinem Käufer gestört zu werden, ergriff den Studenten beim Arme, führte ihn nach dem kleinen, hinter dem Laden liegenden Privatraume und drückte ihn dort auf einen aus Bambus geflochtenen Sessel nieder.

Dies that er so eilfertig und zeigte dabei so ein Gesicht, als handle es sich um ein höchst wichtiges Geheimnis, um eine Angelegenheit, in welcher ein Aufschub den größten Schaden bringen könne.

»Freund!« rief er, in der Folge bald chinesisch, bald deutsch sprechend. »Sie reisen wirklich, wirklich, wirklich nach Tschina, meinem heißgeliebten Vaterlande?«

»Ja, morgen schon.«

»O, Herr des Himmels, Glanz der Sonne, Ursprung der Zeit und des Raumes! Welch ein Glück, welch eine Schickung! Freund, mein Leben gehört Ihnen; mein Vermögen ist Ihr Eigentum. Alles, alles sollen Sie haben, nur die Namen meiner Vorfahren kann ich Ihnen nicht schenken. Sie können mir einen Dienst erweisen, der so groß, so unendlich groß ist, daß selbst der größte Dank zu gering dafür sein würde.«

»Gern, sehr gern, wenn ich kann!«

»Vielleicht können Sie!«

»Versuchen wir es wenigstens. Was ist es, was ich thun soll?«

»Bringen Sie mir mein Weib, bringen Sie mir meine Kinder mit!«

»Mit dem größten Vergnügen!« lachte der Student. »Wenn es weiter nichts ist!«

»Sprechen Sie nicht so! Was ich von Ihnen verlange, ist schwer, ist fast unmöglich auszuführen. Die Behörde wird sich widersetzen.«

»O, mit den Herren Mandarinen werde ich wohl fertig werden!«

»Kein Chinese würde es fertig bringen. Sie aber sind selbst hier ein ungewöhnlicher Mann. Sie schrecken vor keinem Wagnisse zurück. Sie werden beides anwenden, List und Gewalt, um mich glücklich zu machen. Darum vertraue ich Ihnen. Wenn es überhaupt ein Mensch vermag, so sind Sie allein es, der mir meine Frau, meine Kinder und mein Vermögen, welches ich vergraben habe, weil ich es bei meiner Flucht nicht mitnehmen konnte, bringen kann!«

»Wie? Ihr Vermögen haben Sie vergraben? Warum haben Sie es Ihrer Frau nicht gelassen?«

»Ihr hätte man es abgenommen.«

»Sie haben ihr aber doch gesagt, wo es versteckt ist?«

»Nein, auch das durfte ich nicht. Sie ist gefoltert worden und hätte den Ort sicherlich verraten. Wissen Sie, ich bin ein – – –«

Obgleich sie ganz allein und unbelauscht waren, bog er sich bis an das Ohr des Studenten und flüsterte ihm zu: »– Ein zum Tode Verurteilter. Ich hatte das Unglück, unter Empörern betroffen zu werden. Was das in Tschina heißt, das wissen Sie. Ich war schuldlos wie der junge Kia-niao, wie der kleine Sperling im Neste; aber ich wurde bei ihnen gesehen, und so war ich verloren, wenn nicht augenblickliche Flucht mich rettete. Ich fand kaum so viel Zeit, mich von den Meinen zu verabschieden und meine Gold- und Silberbarren einzupacken, um sie dann heimlich zu vergraben. Nur einen kleinen Teil dieses Metalles konnte ich mit mir nehmen, um mir im Auslande eine Existenz zu gründen.«

»Höchst interessant!« bemerkte der Student. »So soll ich also den Schatzgräber machen?«

»Ja. Sie sehen, welch ein großes Vertrauen ich zu Ihnen habe. Sie werden mich nicht betrügen. Das weiß ich gewiß.«

»Da sei Gott vor! Was ich finde, wenn ich überhaupt etwas finde, das erhalten Sie. Aber wo liegt es? Und wo finde ich die Ihrigen?«

»Wo das Gold und Silber liegt, darüber können Sie sich leicht orientieren, denn ich habe einen genauen Plan gezeichnet, nach welchem Sie sich nur zu richten brauchen, um die Barren zu entdecken. Aber wo Sie mein Weib und meine Kinder treffen werden, das weiß ich leider nicht.«

»Ich werde nicht eher ruhen, als bis ich sie finde, vorausgesetzt, daß sie noch leben,« versicherte der Student, herzlich gerührt von dem Ausdrucke aufrichtigen Schmerzes, welcher im Gesichte des Chinesen zu erkennen war.

»Sie können getötet worden sein,« meinte dieser, »denn die Rechtspflege meines Vaterlandes ist keine so humane wie die hiesige. Dort müssen sehr oft die Verwandten des Schuldigen dieselbe Strafe tragen wie er.«

»Nennen Sie mir den Ort, an welchem Sie sich von ihnen getrennt haben! Ich werde mich an denselben begeben und, wenn ich sie dort nicht finde, ihre Spur verfolgen wie der Indianer eine Fährte. Ich hoffe doch, Ihnen zum wenigsten eine sichere Nachricht zu bringen.«

»Ja, ich weiß, daß Sie alles mögliche thun, kein Opfer scheuen und selbst vor keiner Gefahr zurückschrecken werden, um mir die Ruhe meines Herzens zurückzugeben. Ich werde Ihnen alles aufschreiben, was Sie wissen müssen, und diese Notizen Ihnen heute abend einhändigen. Dabei werden sich euch einige Empfehlungsschreiben an frühere Freunde befinden, an welche Sie sich mit allem Vertrauen wenden können. Sie wissen, daß ich unschuldig bin, und werden Ihnen gern allen möglichen Vorschub leisten. Also Sie sind entschlossen, diese Sendung zu übernehmen?«

»Vollständig.«

»So betrachte ich Sie von diesem Augenblicke an als meinen Kié-tschéi, als meinen außerordentlichen Bevollmächtigten, und frage Sie, ob Sie bereit sind, mir Ihr Kong-Kheou zu geben, Ihr unverbrüchliches Ehrenwort?«

»Sie sollen es haben, hier meine Hand!« antwortete der »Methusalem«, indem er dem Chinesen die Hand entgegenstreckte.

»Warten Sie!« bat Ye-Kin-Li. »Ich werde Ihnen Ihr Wort nach der Sitte meines Landes abnehmen.«

Er holte ein Päckchen Tsan-hiang herbei. Das sind wohlriechende Räucherstäbchen, deren die Chinesen sich bei Ausübung gewisser religiöser Gebräuche bedienen. Der Student mußte eins davon in seine linke Hand nehmen; der Theehändler that ebenso, worauf er die beiden Stäbchen anbrannte. Dann, als der duftende Rauch emporstieg, ergriff er mit seiner Rechten diejenige des jungen Mannes und sagte in feierlichem Tone: »Sie sind mein Kié-tschéi. Als solcher haben Sie genau so zu handeln, als ob Sie ich seien. Sie dürfen keinen Hintergedanken hegen, und Ihr Herz muß gegen mich ohne Arg und Falschheit sein. Wollen Sie mir also jetzt Ihr Kong-Kheou geben, daß Sie meinen Auftrag nach Kräften ausführen und gegen mich und die Meinen ehrlich sein wollen?«

»Ja,« antwortete der Student. »Ich denke nicht, daß ich mit dieser Ceremonie ein heidnisches Werk begehe. Sie hätte unterbleiben können, denn mein Ehrenwort ist wie der heiligste Schwur. Aber da es Sie zu beruhigen scheint, so mag es so geschehen, wie Sie es wünschen. Ich verspreche Ihnen, so zu handeln, wie Sie selbst nicht anders handeln würden. Das ist ein ehrliches deutsches Versprechen, auf welches Sie sich verlassen können!«

»Ich glaube und vertraue Ihnen. Und dieses Vertrauen soll zwischen uns bestehen, bis diese beiden Tsan-hiang an meinem Sarge wieder angezündet werden.«

Er verlöschte die Stäbchen und legte sie dann, sorgsam eingewickelt, in ein Ebenholzkästchen, in welchem er nur Gegenstände von ganz besonderer Wichtigkeit aufzubewahren pflegte.

So war das Ehrenwort gegeben, welches für den Studenten so reiche und seltsame Folgen haben sollte. Er entfernte sich jetzt, um die notwendigen Vorkehrungen zur baldigen Abreise zu treffen.

2. »Tsching tsching tschin!«

Unter denjenigen unsrer lieben Leser, welche in einer der an der Nord- und Ostsee liegenden Hafenstädte wohnen, gibt es sicher welche, die den Namen Turnerstick gehört oder wohl gar diesen braven, weitbefahrenen Seemann von Angesicht zu Angesicht gesehen haben.

Kapitän Heimdall Turnerstick, ein echter friesischer Seebär, hatte lange Jahre im Dienste eines New Yorker Reeders gestanden, es da zumeist mit amerikanischen Topgasten zu thun gehabt und es darum gelitten, daß man seinen allerdings seltsamen deutschen Namen Drechslerstock in das englische Turnerstick verwandelte. Dennoch aber war er ein Deutscher vom reinsten Wasser geblieben.

Er war in allen Meeren bekannt als ein tüchtiger, kühner, gewandter und erfahrener Schiffsführer, welcher außerdem die höchst lobenswerte Eigenschaft besaß, daß er sich stets bemühte, seinen Untergebenen mehr ein freundlich besorgter Vater als ein strenger Vorgesetzter zu sein.

Darum hatte er stets nur zuverlässige und tüchtige Mannen an Bord, die sich alle Mühe gaben, seine Zufriedenheit zu erlangen, und unter Umständen mehr thaten, als die bloße Pflicht von ihnen forderte. Sie liebten und achteten ihn und sahen über manches hinweg, was andre wohl nicht mit denselben Augen betrachtet hätten.

Kapitän Turnerstick besaß nämlich einige Eigentümlichkeiten, welche sehr geeignet waren, die Ironie seiner Untergebenen herauszufordern. Daß man dennoch nicht heimlich über ihn lachte, hatte seinen Grund nur in dem kindlichen Respekt, den man ihm widmete.

Daß er zu allerhand Sonderlichkeiten geneigt sei, war schon seinem Aeußeren anzumerken. Er besaß trotz seiner bedeutenden seemännischen Kenntnisse kein sehr geistreiches Angesicht. Mitten in demselben saß das, was der Seemann eine Vorlukennase nennt. Sie war höchst vorwitzig nach oben gerichtet und durch einen Faustschlag, den der gute Kapitän in seiner Jugend erhalten hatte, ansehnlich weit zur Seite getrieben worden, was seiner Physiognomie ein höchst ordnungswidriges Aussehen gab. Ein gewaltiger Schnurrbart ließ dieses Stumpfnäschen doppelt naiv und lächerlich erscheinen, ein Umstand, welcher keine Verbesserung dadurch erlitt, daß Turnerstick einen ungeheuren indischen Schutzhelm als Kopfbedeckung zu tragen pflegte.

In einem Kampfe mit malayischen Seeräubern hatte er das rechte Auge eingebüßt und trug an dessen Stelle ein künstliches. Doch mußte man ihn sehr genau ansehen, um dies zu bemerken.

Kein Mensch hatte ihn jemals anders als in hohen, geteerten Wasserstiefeln gesehen, welche ihm bis an den Leib reichten. Ebenso unvermeidlich war der mit vergoldeten Ankerknöpfen geschmückte Südkarolinafrack, ohne den er gar nicht leben zu können schien. Dazu trug er unendlich hohe Vatermörder, um welche ein knallrotes Halstuch gelegt und vorn in eine riesige Schmetterlingsschleife geschlungen war.

Dazu kam ein goldener Klemmer, welcher an einem breiten, schwarzseidenen Bande hing, eine sehr begründete Vorsichtsregel, denn die Brille konnte sich niemals länger als einen einzigen Augenblick auf dem ihr angewiesenen Posten erhalten. Sie fiel immer wieder herab, und darum war die eine Hand des Kapitäns unausgesetzt und allezeit damit beschäftigt, den herabgefallenen Klemmer wieder auf das unpraktikable Näschen zu quetschen.

Aufrichtig gestanden, war der gute Heimdall Turnerstick ein ganz klein wenig eitel, auch in Beziehung auf sein Schiff, welches stets, so weit thunlich, ein Muster der Sauberkeit und Ordnung war. Das konnte natürlich auch auf sein Aeußeres nicht ohne Einfluß sein.

Seine Sprachkenntnisse reichten für seine Bedürfnisse vollständig aus. Mehr konnte nicht von ihm verlangt werden. Und dennoch gab es einen, welcher in ihm ein wahres Sprachgenie erblickte, und dieser eine war – – er selbst.

Er hatte alle möglichen Küstenländer angesegelt und überall einige Worte der betreffenden Sprache mit davon genommen. Diese Reiseergebnisse lagen in seinem Kopfe so wirr durch einander wie ungefähr die Trümmer eines verunglückten Eisenbahnzuges. Dennoch war er vollständig überzeugt, so einige Dutzend Sprachen und Dialekte zu beherrschen, und brachte bei jeder passenden Gelegenheit diese unglückseligen philologischen Trümmer herbeigeschleppt. Wehe demjenigen, der es wagte, darüber zu lächeln! Er hatte es für immer mit dem Kapitän verdorben und wurde niemals wieder zu Gnaden angenommen.

Heut befand sich Heimdall Turnerstick in einer wahrhaft rosigen Stimmung, und er hatte allen Grund dazu. Unter seinen Füßen lagen die Planken des schnellsten Klipperschiffes, welches er jemals befehligt hatte. Ein prächtiger Backstagswind füllte die Segel. Der Horizont lag als scharf gezeichnete Linie auf der See, und der Himmel lächelte wolkenlos auf die frohen Gesichter der Mannen herab.

Dazu kam, daß man sich dem Hafen nahe befand und daß der Kapitän Kajütengäste bei sich führte, die es verstanden hatten, sich sein ganz besonderes Wohlwollen zu erwerben. Er hatte sie in Singapore aufgenommen und sollte sie nach Kanton bringen.

Das waren prächtige Tage für ihn gewesen. So eine Unterhaltung hatte er seit Jahren nicht an Bord haben können. Die drei Passagiere paßten zu ihm wie Brüder, und die Absicht, welche sie nach Kanton führte, war ihm so sympathisch, daß er beschlossen hatte, sich nicht allsogleich von ihnen zu trennen. Er konnte ihnen eine längere Zeit widmen, denn sein Steuermann war höchst zuverlässig; ihm durfte er das Schiff und die Besorgung aller Angelegenheiten ruhig anvertrauen.

Diese drei Passagiere waren Fritz Degenfeld, der bisherige Student, genannt der blaurote Methusalem, sein Wichsier Gottfried Ziegenkopf, stets Gottfried von Bouillon geheißen, und endlich Richard Stein, der Gymnasiast, welcher sich unterwegs befand, um die chinesische Erbschaft anzutreten.

Sie saßen miteinander auf der Kampanje und schauten vergnügt nach dem vordern Horizonte, an welchem sich mehrere Segel sehen ließen. Aber eigentümlich war die Ordnung, in welcher sie saßen. Die drei Feldstühle, auf denen sie Platz genommen hatten, standen nämlich nicht nebeneinander. Das wäre dem guten Gottfried gegen alle gewohnte Subordination gewesen. Er war jahrelang hinter seinem »Methusalem« hergelaufen und konnte es unmöglich zugeben, daß jetzt eine andre Ordnung eingeführt werde. Darum saß er in der altgewohnten Entfernung von drei Schritten hinter ihm und hielt die Wasserpfeife, deren Schlauchspitze der Student im Munde hatte, in den Händen. Sie war vor der Abreise mit einem neuen Glasballon versehen worden.

Beide, der Herr sowohl wie auch sein Wichsier, waren ganz genau noch so gekleidet, wie man sie daheim in der Humboldtstraße zu sehen gewohnt gewesen war. Richard saß neben dem »Methusalem« und einige Fuß vor demselben der bekannte Neufundländer, welcher es sich also ebenso angelegen sein ließ wie Gottfried, die heimatliche Reihenfolge beizubehalten.

Fritz Degenfeld blies die gewohnten dicken Rauchschwaden aus dem Munde und nickte dem Kapitän freundlich zu, welcher soeben von vorn kam und zu ihnen auf die Kampanje stieg.

»Nun, Kommodore, wie steht's?« fragte Degenfeld. »Werden wir bald die Küste des himmlischen Reiches zu sehen bekommen?«

»Will es meinen,« antwortete der Gefragte. »Wir werden bereits am Nachmittage vor Hongkong zu Anker gehen. Bald werden sich da vorn die Segel mehren, welche die gleiche Richtung haben.«

»So haben wir eine feine Fahrt gemacht!«

»Unvergleichlich! Wir machen siebzehn Knoten. Das will etwas sagen. In nicht ganz vier Tagen von Singapore bis hierher, das soll dem Heimdall Turnerstick ein andrer nachmachen! Es wird es jeder bleiben lassen!«

»Ja, Sie und Ihr gutes Schiff, da läßt sich etwas erreichen. Ich hätte nicht geglaubt, China so schnell begrüßen zu können.«

»Wissen Sie denn auch, wie man dieses gelobte Land der Zöpfe begrüßt?«

»Nun, wie?«

»Tsching tsching! muß man rufen. Das ist der echt chinesische Gruß.«

»Ach! Sie sprechen wohl auch ein wenig chinesisch?«

Turnerstick setzte den Klemmer auf die Nase, hielt ihn dort fest, weil er sonst gleich wieder herabgefallen wäre, warf Degenfeld einen mißbilligenden Blick zu und antwortete: »Wie können Sie so fragen! Ein bemoostes Haupt wie Sie hat doch an der Universität ein genug langes Garn gesponnen, um zu wissen, daß man dem Kapitän Turnerstick so nicht kommen darf. Ein wenig chinesisch! Da liegen Sie vor Topp und Takel bei und treiben wohl bis sieben Striche ab! Wenn ich einmal ein Tau in die Hand nehme, so nehme ich es ganz.«

»So sprechen Sie vollständig chinesisch?«

»Natürlich! Wie anders?«

Das war in einem Tone gesprochen, als ob er gefragt worden sei, ob er Wasser trinken könne.

»Das ist mir neu!« gestand Degenfeld. »Sie haben darüber noch kein einziges Wort verloren!«

»Wozu sollte ich davon reden? Von etwas, was sich ganz von selbst versteht, macht man doch kein Geschrei.«

»Nun, desto wertvoller ist mir die Entdeckung, welche ich da an Ihnen mache. Sie haben zugesagt, sich uns für einige Tage anzuschließen. Da ist es für uns natürlich vom größten Vorteile, daß Sie geläufig chinesisch sprechen.«

»Pah! Nicht der Rede wert! Eine wahre Kleinigkeit! Sie haben doch auch chinesisch getrieben, wie Sie mir sagten.«

»Nur zwei Jahre lang.«

»Das ist mehr als genug, denn diese Sprache ist die leichteste, die ich kenne.«

»Und ich habe ihre Erlernung für höchst schwierig gehalten.«

»Da haben Sie freilich ein sehr falsches Segel gesetzt. Sie natürlich müssen mit dem obligaten Latein und Griechisch den richtigen Kurs verlieren. Wem der Kopf mit so klassischer Ware vollgestaut wird, der hat eben zuletzt für das Leichteste keinen Platz mehr übrig. Dann segeln solche überstudierte Leute in der Welt herum und können kein Panzerschiff von einer Heringskuff unterscheiden. Ich sage Ihnen, das Chinesische ist mir geradezu angeboren gewesen. Es ist ganz von selbst gekommen.«

Der »Methusalem« kannte die Achillesferse des Kapitäns. Darum hütete er sich sehr wohl, den geringsten Zweifel hören zu lassen. Er sagte im ernstesten Tone: »Das kann eben nur Ihnen passieren. Sie sind ein wahrer Walfisch im Meere der Dialekte. Sie schwimmen spielend drin herum und blasen die schwierigsten Paradigmen nur so aus der Nase.«

Turnerstick hielt den Klemmer empor, warf durch denselben einen forschenden Blick auf den Sprecher und fragte sehr ernst: »Durch die Nase! Soll das etwa eine Hindeutung auf meine Gesichtszüge enthalten?«

»Was fällt Ihnen ein! Ich spreche vom Walfisch, und daß der bläst, das wissen Sie wohl!«

»Ja, und zwar aus der Nase. Sie haben recht. Wie der sich im Wasser wälzt, so wälze ich mich in den Sprachen herum. Und gerad das Chinesische ist mir völlig Wurst.«

»Für mich ist es im Gegenteile ein sehr harter Knochen gewesen, an welchem ich mir die Zähne locker gebissen habe. Bedenken Sie nur die Dialekte! Es sind ihrer neun!«

»Das ist wenig genug! So ein Dialekt läuft bei mir hinunter wie ein steifer Grog. Die Hauptsache ist, daß man sich eben an die Hauptsache hält, und das sind im Chinesischen die Endungen.«

»So? Ich bin stets der Meinung gewesen, daß das Chinesische gar keine Endungen habe.«

»Was! Keine Endungen! Ja, nun ist's mir freilich sehr erklärlich, daß Sie es trotz zwei voller Jahre zu nichts gebracht haben! Wenn Sie nichts von den Endungen wissen, so ist das gerade so, als wenn Sie ohne Wasser schwimmen oder ohne Flügel fliegen wollen. Ich sage Ihnen, daß ich im stande bin, Ihnen das ganze Chinesische mit allen neun Dialekten in fünf Minuten beizubringen!«

»Unglaublich!«

»Sie werden es gleich glauben müssen. Nennen Sie mir doch einmal die Namen von einigen chinesischen Städten oder Flüssen!«

»Das ist sehr leicht. Da haben wir zum Beispiel Jang-tse-kiang, Ma-seng, Pe-king, Hong-kong, Wu-sung – –«

»Halt!« unterbrach ihn der Kapitän. »Das genügt vollständig. Da haben Sie ja gleich fünf Endungen!«

»Endungen? Wohl nicht!«

»Was denn? Sie haben sie ja genannt, ang, eng, ing, ong und ung! Wenn das keine Endungen sind, dann bin ich nicht Heimdall Turnerstick! Diese Endungen sind die wirklichen Kaninchen! Mit ihrer Hilfe schüttelt man das Chinesische nur so aus den Aermeln. Das ist der wahre Jakob. Die Endungen, die Endungen, die geben den Speck zu den dicken Erbsen. Sie freilich mit Ihrem Griechischen und Lateinischen haben gar keine Ahnung von einer anständigen, brauchbaren und bequemen Endung! Ich glaube, auf allen Ihren Universitäten ist keine einzige ordentliche und mundgerechte Endung zu finden wie so ein chinesisches ing, ang oder ung! Mit fünf solchen Endungen stecke ich ganz China in den Sack. Das werde ich Ihnen in kurzer Zeit beweisen. Da draußen hält ein Kutter auf uns zu. Es ist ein Lotse. Ich werde ihm sogleich das Signal geben, daß er an Bord kommen soll. Dann werde ich chinesisch mit ihm sprechen, und Sie sollen Ihre Freude daran haben. Sie werden sich wundern, daß Sie nicht ganz von selbst auch darauf gekommen sind.«

Er gab den betreffenden Befehl, und bald wehte vom Vortop des Klippers das Zeichen » PT« des internationalen Signalbuches.

Der Lotse sah die Aufforderung und folgte derselben. Er hatte kein chinesisches Boot. Sein Fahrzeug war sehr scharf auf den Kiel gebaut, und der Vorsteven stand fast rechtwinkelig auf. Es führte eine sehr hohe Stenge, horizontal liegendes Bugspriet, Gaffel- und Gaffeltopsegel, Stackfock und großen Klüver. Es war eine Lust, zu sehen, wie schnell und anmutig es herbeigeschossen kam. Es gab den Lotsen an Bord und hielt dann mit der Bedienung von dem Klipper ab.

Der Lotse ging chinesisch gekleidet und trug einen ungeheuer breiten Grashut, welcher sein Gesicht so beschattete, daß es kaum zu erkennen war, auf dem Kopfe.

»Jetzt passen Sie auf!« sagte der Kapitän zu Fritz Degenfeld. »Jetzt geht es los mit dem Chinesischen.«

Er trat auf den Lotsen zu und grüßte: »Tsching, tsching, tsching – –«

» Insaneness!« unterbrach ihn der Mann grob. »Sagt einfach welcome, Sir! Ein Amerikaner hat es nicht nötig, mit dem chinesischen Zopfe zu wedeln!«

»Ihr seid kein Chinese, loadsman?«

»Nein. Ich bin ein guter Schottländer aus Greenock am Clyde, wißt Ihr, wo die famosesten eisernen Schiffe gebaut werden. Wir können uns also Eurer Muttersprache bedienen.«

»Ich wollte chinesisch mit Euch reden,« meinte Turnerstick enttäuscht.

»Ach was, chinesisch! Die schlitzäugigen Kerls sind es gar nicht wert, daß man sich um ihre Sprache kümmert. Sorgt lieber dafür, daß ich einen guten Rum zum Willkommen erhalte, sonst gehe ich wieder von Bord, und Ihr könnt Euch dann meinetwegen den Bug an der Lammainsel einrennen.«

Er ging nach der Kapitänskajüte, und Turnerstick mußte ihm wohl oder übel folgen.

»O weh!« sagte Richard Stein. »Da hat er sein Chinesisch leider nicht anbringen können!«

»Ein Glück für uns!« antwortete Degenfeld. »Wir hätten es wohl nicht fertig gebracht, dabei ernst zu bleiben, und dann wäre es um unsern Kredit bei ihm geschehen gewesen.«

»Was er nur mit seinen Endungen wollte!«

»Es dämmert eine leise Ahnung in mir auf; aber die Sache ist so ungeheuerlich, daß ich sie gar nicht für möglich halten kann. Er wird doch nicht etwa ein mit seinen berühmten Endungen versehenes Deutsch sprechen wollen! Das wäre allerdings im höchsten Grade drollig. Und dennoch ist's ihm zuzutrauen. Ich sehe lustige Scenen kommen. Gottfried – – ho su!«

Diese beiden chinesischen Worte bedeuten »gib Feuer!« Seit sich die drei unterwegs befanden, hatte der Student die beiden anderen in die Lehre genommen. Besonders der Wichsier erhielt seine Befehle und Anweisungen alle in chinesischer Sprache, was manches spaßhafte Mißverständnis hervorgerufen hatte.

»Ki eulh – ich höre!« antwortete er sehr ernsthaft, indem er einen Fidibus aus der Tasche zog, ihn in Brand steckte und sodann seinem Herrn half, die ausgegangene Pfeife wieder anzuzünden. Dann setzte er sich wieder hinter demselben nieder.

Nach kurzer Zeit kehrte der Pilot mit dem Kapitän aus der Kajüte zurück. Er übernahm das Kommando des Schiffes, und Turnerstick hatte also Zeit, sich mit seinen Passagieren zu beschäftigen.

Die Segel, welche rings zu sehen waren, wurden zahlreicher. Weißblaue Rauchstreifen zeigten Dampfer an, welche nach Kanton wollten oder von dort kamen. Die See belebte sich mehr und mehr mit Fahrzeugen, und dann tauchten die Felsenmassen Hongkongs und der anderen vor dem Perlenflusse liegenden Inseln langsam auf.

»Höchst ärgerlich, daß der Lotse kein Chinese ist,« meinte der Kapitän. »Aber wir haben nur noch kurze Zeit zu warten, dann werden wir von Booten förmlich umringt sein und ich kann Ihnen zeigen, wie ich die Sprache der Himmelssöhne beherrsche. Es wird übrigens Zeit, daß Sie Ihre Koffer öffnen.«

»Warum?« fragte Degenfeld.

»Um Ihre chinesischen Anzüge hervorzuholen.«

»Wir haben keine.«

»Was? Sie wollen an das Land gehen und sich mitten in das Treiben der Chinesenstadt begeben, ohne sich nach der Sitte dieses Landes zu kleiden? Sie wollen gerade so gehen, wie Sie hier sitzen, mit der bunten Studentenkappe auf dem Kopfe?«

»Warum nicht?«

»Weil dies grundfalsch ist. Man wird Sie anstaunen und auslachen. Man wird Sie belästigen und einen fremden Barbaren schimpfen. Sie werden allerhand Aergerlichkeiten erleben und vielleicht sogar in wirkliche Gefahr geraten.«

»Pah! Wer will es mir verbieten, mich so zu kleiden, wie es mir beliebt?«

»Der gesunde Menschenverstand. Wenn Sie China und die Chinesen richtig kennen lernen wollen, so dürfen Sie möglichst wenig verraten, daß Sie kein Chinese sind. Sie kennen dieses Volk noch nicht. Man hat sie gezwungen, uns ihre Häfen zu öffnen, aber sie hassen uns als Fremdlinge, welche mit Gewalt bei ihnen eingedrungen sind. Sie werden als Ausländer nicht einmal im Bereiche der Konsulargewalt vollständig sicher sein. Begeben Sie sich aber gar darüber hinaus, wie es doch Ihre Absicht ist, so werden Sie nur auf Feinde stoßen.«

»Wollen sehen. Ich habe wenig Lust, aus reiner Angst meine deutsche Abstammung zu verleugnen.«

»Das ist sehr ehrenwert und sehr national gedacht, aber – – hm, streng genommen haben Sie freilich nicht unrecht. Denn selbst wenn Sie sich genau wie ein echter Chinese kleiden, wird man an Ihrer Unkenntnis der Sprache sofort den Ausländer erkennen, während ich für einen Eingeborenen gelten werde. Aber es ist trotzdem besser, wenn Sie sich den hiesigen Gebräuchen fügen.«

»Nun, was das betrifft, so ist es gar nicht ausgeschlossen, daß wir drei uns auch nach Landessitte kleiden. Zunächst jedoch mag es so bleiben, wie es ist. Wie lange werden Sie von Ihren Pflichten in Hongkong zurückgehalten?«

»Gar nicht. Ich werde dem Steuermann Vollmacht geben. Nur einige kleine Formalitäten sind zu erfüllen, die mich aber kaum eine Stunde lang beschäftigen werden. Den amerikanischen Konsul, welchen ich aufsuchen muß, treffe ich in Kanton.«

»Das ist mir lieb, weil wir uns sonach nicht erst zu trennen brauchen. Ich werde mich nämlich gar nicht in Hongkong verweilen, welches mir gar nichts bietet. Es ist eine auf chinesischen Boden gesetzte europäische Stadt, an welche ich keine Stunde meiner Zeit verschwenden möchte.«

»Mir auch ganz recht. Wir können uns eines Dampfers der China Navigation Compagnie bedienen, aber auch, um uns sofort ins hiesige Leben zu stürzen, auf einer chinesischen Dschunke nach Kanton fahren.«

»Ich ziehe das erstere vor, da ich möglichst schnell dort ankommen möchte. Dann ist es ja noch vollauf Zeit, mit dem chinesischen Drachen anzubinden. Unsre Koffer lassen wir an Bord zurück, da wir uns nicht allzulange in Kanton aufhalten werden.«

Inzwischen hatte sich der Klipper schnell der Mündung des Tschu-kiang (Perlenfluß) genähert. Alle Mannen standen an ihren Plätzen, um die Befehle des Lotsen augenblicklich auszuführen. Das Schiff lenkte in die westliche Lamma-Straße ein, bog um die grüne Insel und steuerte dann dem Hongkong-Kai zu, in das dichte Gewühl der Dampfer, Segelschiffe, Ruderboote und Dschunken hinein. Dort ließ es die Segel fallen, und der Anker ging auf Grund.

»Tsching tsching!« rief Turnerstick, indem er begeistert die Arme ausbreitete, als ob er ganz Hongkong umarmen wolle. »Jetzt sind wir da und werden zeigen, was für Kerls wir sind.«

Der Hafen bot trotz des europäischen Charakters der Stadt immerhin ein genügendes Bild ostasiatischen Verkehrslebens. Von dem wohl 1200 Fuß hohen Viktoriaberge blickte das neben der Flaggenstange stehende Wachthäuschen herab. An seinem Abhange zog sich die Promenade der Kennedyroad hin. Darunter die belebte Stadt mit der von Schiffen bedeckten Bai. Jenseits das chinesische Bergland, ziemlich gut angebaut, und links davon die vielen, sich bis nach Macao hinziehenden, leider kahlen Felseninseln.

Am Landeplatze wimmelte es von Europäern aller Nationen, von Chinesen, Japanesen, Malayen, Hindus, Parsen, Singhalesen, portugiesischen Mestizen und tiefdunkel gefärbten Afrikanern.

Und in der Nähe des Schiffes schossen eine ganze Menge von Kähnen, und Flößen durcheinander, beladen mit frischen Erzeugnissen des Landes und allerhand chinesischen Krimskrams. Jeder der Bootsführer wollte der erste sein, der den Neuangekommenen seine Ware anbot, um den mit den hiesigen Preisen noch Unbekannten die gewöhnliche mehrfache Bezahlung abzunehmen.

Das war ein Schreien, Rufen, Brüllen, Zanken, Fluchen, Loben und Anpreisen, daß einem die Ohren gellten.

»Nur nichts kaufen!« warnte der Kapitän. »Hier wird man riesig übers Ohr gehauen. Am besten ist's, man läßt die Kerls gar nicht heran, sonst wimmeln sie förmlich an Bord, und man ist sein eigener Herr nicht mehr. Ich verstehe, mit diesem Volke zu sprechen. Das sollen Sie gleich sehen.«

Er ließ schnell einige Wassereimer füllen und hart an die Schanzkleidung stellen. Dann bog er sich über die letztere hinaus und brüllte mit laut schallender Stimme in das Bootsgewühl hinein: »Zurück hier! Wir werdeng nichts kaufang! Fort mit euch, Ihr Hallunking! Augangblickling fort mit euch, forteng, forting, fortung! Travaillez, travaillong, travaillang!«

Nicht diese Worte waren es, welche wirkten, sondern seine gewaltige Stimme und seine wilden, drohenden Gesten hatten den Erfolg, daß unten das Geschrei für einige Augenblicke verstummte. Die Blicke der Händler richteten sich erstaunt auf ihn. – »Habt ihr's gehörengt!« rief er weiter. »Wir können nichts gebrauching. Wir habeng kein Geld. Ihr könnt euch von danneng trolling!«

Noch waren die erstaunten Kulis still. Sie wußten nicht, was sie denken sollten. Gottfried von Bouillon sah das riesige Sprachrohr in seiner Nähe lehnen. Er ergriff es, hielt es dem Kapitän hin und sagte im ernstesten Tone: »Alle tausend Teufling, Kapitäng! Da hört mang freiling, daß Sie in den neun Dialecteng etwas los habing. Bitte, das Sprachrohr zu nehmang! Das wird ungeheure Wirkung machung!«

»Was höre ich da!« antwortete Turnerstick. »Sie sprechen ja ein ganz unvergleichliches Chinesisch. Sehen Sie, wie schnell meine Lehre von den Endungen gewirkt hat! Gratuliere herzlich! Mit dem Sprachrohr haben Sie recht. Das wird doppelten Effekt machen. Geben Sie mal her!«

Die Bootsinsassen hatten ihre Ruder wieder in Bewegung gesetzt und drängten von neuem herbei. Da hielt Turnerstick ihnen, das Sprachrohr entgegen und donnerte sie an: »Augenblickling halteng, ihr Schurkang, ihr Hallunking. Wollt ihr gleich folgeng und gehorchung! Zurück, zurück mit euch! Flink, flunk, flank, flink, flink!«

Das Sprachrohr sandte diesen Befehl weit hin über das Wasser. Hunderte wurden aufmerksam auf den Klipper und die sich an denselben drängenden Boote. Turnerstick fühlte, welche Bedeutung seine Person in diesem Augenblicke habe. Er wollte zeigen, daß er auch der Mann sei, seinen Worten Nachdruck zu geben. Darum ergriff er jetzt einen der bereit gestellten Wassereimer nach dem andern und schüttete den Inhalt derselben auf die Köpfe der zudringlichen Handelsleute.

Diese mußten nun erkennen, daß man hier nichts von ihnen wissen wolle, und zogen sich unter zornigem Geschrei zurück. Geschadet hatte das Wasser ihrer Kleidung nichts. Viele von ihnen trugen nichts als kurze Leinen- oder Kattunhosen, und in Beziehung auf ihr unsauberes Wesen konnte ein solches Sturzbad nur wohlthätig wirken.

Jetzt wendete der Kapitän sich zu Degenfeld und fragte in triumphierendem Tone: »Nun, Freundchen, was sagen Sie dazu? Bin ich nicht von den Kerls verstanden worden, Wort für Wort und ganz genau?«

»Allerdings,« antwortete der Gefragte ernst. »Ich habe das zu meiner lebhaften Bewunderung erfahren.«

»O, zu bewundern gibt es da nichts. Es ist ganz außerordentlich einfach. Die Endungen sind's, die Endungen allein, mit denen man so etwas fertig bringt. Freilich gehört ein gewisses angeborenes Talent dazu. Wer das aber hat, dem ist das bißchen Chinesisch die reine Buttermilch. Merken Sie sich das! Ich meine es gut mit Ihnen. Wir bleiben ja noch beisammen, und wenn Sie da gut auf mich aufpassen, so werden Sie es in kurzem soweit bringen, daß Sie mit dem Kaiser von Peking in allen Dialekten seines Reiches reden können!«

Da legte der Lotse, welcher dabei gestanden und alles gehört und gesehen hatte, ihm die Hand auf die Achsel und sagte lachend: »Sir, soll das etwa heißen, daß Sie sich einbilden, chinesisch sprechen zu können?«

»Was beliebt?« fragte Turnerstick schnippisch, indem er den Klemmer empornahm und den Sprecher geringschätzend musterte.

»Ich frage, ob Sie denken, da mit den Kulis chinesisch gesprochen zu haben?«

»Natürlich. Was sonst?«

» All devils! Das ist lustig! Redet der Mann ein Kauderwelsch, daß man meint, es ziehe einem alle Zähne aus, ein dummes Deutsch mit allerlei fing, feng, fung, fang dahinter, und das gibt er für Chinesisch! Da können einem ja alle Haare zu Berge fahren! Mein bester Sir, ich bin so ziemlich der hiesigen Mundarten mächtig, nämlich des Pun-ti, Hakka, Fuh-kian, Fu-tscheu, Nan-tschang und Hoei-tscheu, denn ich treibe mich nun bereits an die fünfzehn Jahre hier herum, aber was Sie da zusammengereimt haben, das würde mir unverständlich gewesen sein, wenn ich nicht zugleich auch nebenbei ein wenig deutsch verstände. Wenn Sie sich mit Ihrem Chinesischen einpökeln lassen und dann die Salzlake weggießen, so bleibt nichts übrig als ein Rippenstück, welches man nicht einmal räuchern kann.«

Turnerstick ließ den Klemmer fallen, spreizte die Beine nach Seemannsart weit aus und öffnete bereits den Mund zu einer geharnischten Entgegnung, da aber schnitt ihm der Lotse dieselbe mit den Worten ab: »Bitte, keine Rede halten! Ich habe keine Zeit, sie anzuhören. Zahlen Sie mir meine Gebühr, und ich gebe Ihnen meine Quittung; dann scheiden wir in Frieden voneinander.«

»Ja,« stieß der Kapitän hervor, »machen wir uns schleunigst voneinander los, sonst geraten Sie auf Leegerwall und können sich nicht wieder abarbeiten. Wäre ich nicht Kapitän Heimdall Turnerstick, ein Gentleman vom Kopfe bis zur Sohle, so müßten Sie jetzt einen Boxgang mit mir machen, der Ihnen beweisen sollte, daß ich das feinste Mandarinen-Chinesisch nicht nur in dem Kopfe, sondern auch in den Fäusten habe. Ich soll ein Chinesisch reden, welches einem die Haare zu Berge treibt und die Zähne aus dem Munde reißt! Das ist geradezu unerhört! Ja, kommen Sie mit mir! Ich werde Sie bezahlen, und dann, wenn Sie es wieder wagen sollten, sich bei mir an Bord erblicken zu lassen, blase ich Sie samt Ihren Dialekten in die Luft, daß Sie in den Wolken hängen bleiben! Warum haben Sie vorhin nicht mit mir chinesisch reden wollen? Weil Sie es nicht können. So ist es! Da ist es Ihnen natürlich ganz unmöglich, einen solchen Sprachgelehrten, wie ich bin, zu verstehen.«

Er ging wie ein beleidigter, seiner Ueberlegenheit wohl bewußter Held nach der Kajüte ab. Der Lotse folgte ihm und kehrte bald darauf zurück, um das Schiff zu verlassen.

Turnerstick ließ sich noch nicht sehen. Nach Verlauf von fast einer Stunde, während welcher der Steuermann das Bergen der Segel und anderes Notwendige angeordnet und beaufsichtigt hatte, hielt Fritz Degenfeld es doch für geboten, einmal nach dem Beleidigten zu sehen.

Eben als er an die Kajütenthüre klopfen wollte, wurde dieselbe geöffnet und heraus trat – – ein Mann, den der Student für einen Vollblutchinesen gehalten hätte, wenn nicht der goldene Klemmer gewesen wäre, welcher demselben soeben von dem schiefen Stumpfnäschen herabrutschte.

»Kapitän!« rief Degenfeld. »Fast hätte ich Sie nicht erkannt!«

»Nicht wahr!« antwortete Turnerstick, indem er eine höchst befriedigte, selbstgefällige Miene zeigte. »Ja, ich bin der reine Chinamann! Nicht?«

»Allerdings! Gerade wie im kaiserlichen Lustschlosse zu Yuan-ning-yuen geboren und erzogen! Lassen Sie sich doch einmal ansehen!«

Er faßte ihn bei den Achseln und drehte ihn nach allen Seiten, um die Verwandlung, welcher Turnerstick sich unterworfen hatte, genau in Augenschein zu nehmen.

»Fein, sehr fein! Meist alles aus Seide!« erklärte der Kapitän, indem er die Obergewänder öffnete, damit Degenfeld auch die Unterkleider sehen könne.

Er trug eine außerordentlich weite Hose aus roter, weiß geblümter Seide, welche unten über den Knöcheln mit breiten Bändern zusammengebunden war, und darüber eine Weste von demselben Stoffe, welche ihm bis auf die Hälfte der Oberschenkel reichte. Darüber kam ein weißes, ärmelloses Hemd von Seide. Dann folgte ein ziemlich enges, schlafrockähnliches, blaues Gewand, welches fast bis zur Erde reichte. Die Aermel desselben wurden nach unten außerordentlich weit und hingen bis über die Hände herab. Sie konnten als Taschen gebraucht werden. Um die Hüfte war ein langer, golddurchwirkter Gürtel gebunden, dessen Enden bis über das Knie niedergingen. An demselben hingen nebst der Taschenuhr allerlei Futterale mit den verschiedensten Gegenständen, wie man ihrer in China in jedem Augenblick bedarf. Darüber hatte er noch ein weites, burnusartiges Gewand gezogen, welches etwas kürzer war als das vorige. Es zeigte auf grünem Grund rote Raupen und gelbe Schmetterlinge und hatte Aermel, welche nicht ganz bis zum Ellbogen gingen.

An den Füßen trug er absatzlose, rotseidene Schuhe, deren Spitzen weit nach oben gebogen waren. Die Sohlen, welche aus festem, unten mit Leder belegtem Pappdeckel bestanden, waren gut drei Finger breit hoch.

Den Kopf beschützte ein aus Rohr geflochtener und mit einem weichen Stoffe gefütterter Hut, welcher einer riesigen, umgekehrten Schüssel glich. Er war verziert durch einen großen Busch rot gefärbter Pferdehaare und eine aus dünnem, goldig schimmerndem Blech gefertigte Drachengestalt.

An einem über die Schulter gehenden Wehrgehänge waren zwei krumme Säbel befestigt, deren einer etwas kürzer war, während der andre auf dem Boden rasselte.

Und um die Hauptsache nicht zu vergessen, trug er in der Hand einen Fächer, hinter dem er, als er ihn jetzt entfaltete, seinen ganzen Oberkörper wenigstens zweimal verstecken konnte. Dieses notwendige Stück, welches keinem Chinesen fehlen darf, war mit einer blutigen Kriegsscene bemalt, über welcher in goldenen Zeichen eine chinesische Inschrift prangte.

Die Gewänder waren alle von guter Seide. Der Kapitän hatte kein Geld gespart.

»Nun, wie gefalle ich Ihnen?« fragte er.

»Ausgezeichnet!« antwortete Degenfeld. »Aber wo haben Sie denn diese Kleidung her?«

Die Wahrheit zu sagen, mußte Turnerstick nach chinesischen Begriffen einen höchst stattlichen Eindruck machen.

»In Singapore gekauft,« erklärte er. »Dort habe ich mir auch die Aufschrift auf den Fächer machen lassen. Es war gerade noch Zeit dazu.«

»Können Sie sie lesen?«

»Nein. Mit der chinesischen Schrift stehe ich nicht auf bestem Fuße. Bitte, lesen Sie.«

Degenfeld betrachtete sich die Zeichen genau und erklärte:

»Die Chinesen haben kein r; sie sprechen dasselbe wie l aus. Es ist darum schwer, hier die erste Silbe zu enträtseln. Jedenfalls soll man anstatt Tul Tur sagen?«

»Natürlich. Es ist ja mein Name, ins Chinesische übertragen.«

»Ah, da ist der Zweifel gelöst. Die Inschrift lautet also ›Tur-ning-sti-King Kuo-ngan-ta-fu-tsiang‹. Stimmt es so?«

»Ich denke. Können Sie es übersetzen?«

»Ja. Es lautet: ›Turnerstick, der große Generalmajor Excellenz‹. Sind Sie denn des Teufels, Kapitän! Ein Generalmajor wollen Sie sein, und noch dazu ein großer, das heißt doch wohl ein berühmter?«

»Warum denn nicht?« lachte der Gefragte. »So gescheit wie ein chinesischer Generalmajor bin ich allemal.«

»Aber wenn Sie nun beweisen sollen, daß Sie es wirklich sind?«

»Demjenigen, der dies von mir verlangt, werde ich es sofort beweisen, und zwar mit meinen beiden guten Fäusten. Das ist eine Legitimation, welcher sicherlich kein Chinese zu widerstehen vermag. Und was meinen Sie schließlich nun zu diesem da?«

Er lüpfte den Hut ein wenig, und sofort schlängelte sich ein allerliebster Zopf herab, welchen er bisher unter demselben verborgen hatte.

»Ein Pen-tse,« lachte der Student; »wahrhaftig ein richtiger Pen-tse, ein Zopf, wie er im Buche steht. Wie haben Sie ihn denn befestigt?«

»Er hängt an einem äußerst feinen, fast unsichtbaren Netze, welches ich über mein eigenes Haar ziehe. Sie sehen, daß ich vollständig vorbereitet bin, eine Wanderung zu den Himmelssöhnen anzutreten.«

»Wenn Sie dabei nur nicht zu viel wagen!«