Der brave Sohn - Roland Zingerle - E-Book

Der brave Sohn E-Book

Roland Zingerle

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Beschreibung

Ich habe ihn so gehasst! Auch als er schon tot war, habe ich ihn noch gehasst.

Vor Jahren folgte Landesrat Rudi Moritsch seiner Mutter als Chef einer Mitte-links-Partei nach. Seither glänzte er durch stupide Arroganz, rücksichtslose Machtpolitik und eine schier unglaubliche Blasiertheit. Einen unliebsamen Parteifreund trieb er in den Ruin und demütigte ihn, bis dieser handgreiflich wurde. Von einer Klage wegen Körperverletzung sah der Landesrat nur ab, weil die Frau des Parteifreundes bereit war, mit ihm zu schlafen. Dann erpresste Moritsch einen Kirchenmann, um günstig ein Grundstück zu bekommen, das seinen politischen Plänen entgegenkam – und denen einer Immobiliengesellschaft, mit der der Landesrat irgendwie dubios verbandelt war.

Als er auf einer öffentlichen Toilette erwürgt aufgefunden wird, herrscht also kein Mangel an Verdächtigen.

Moritschs Mutter, die in ihrer Aktivzeit ebenfalls als machthungrige Politikerin bekannt war, beauftragt Berufsdetektiv Heinz Sablatnig, den Mörder zu finden. Als Heinz sie in einem noblen Altersheim am Wörthersee kennenlernt, ahnt er, dass hinter der gebrechlichen alten Dame im Rollstuhl, die von wiederkehrender geistiger Umnachtung heimgesucht wird, mehr steckt, als es den Anschein hat.
Bei seinen Ermittlungen befragt Heinz unter anderen den besten Freund des Ermordeten, der eine Schwulenbar betreibt, eine weitere Spur führt zur Katholischen Kirche.
Ist der Mörder hier zu finden, im Kirchen- oder im Homosexuellen-Milieu? Oder hat das Motiv seine Wurzeln in der Vergangenheit, als Moritschs Mutter ihrem braven Sohn noch beibrachte, wie man das Spiel der Macht spielt?

Der Brave Sohn ist eine Neuauflage und erschien ursprünglich unter dem Titel Totenmesse.

Der zweite Band der Berufsdetektiv-Reihe ist ein in sich geschlossener Fall. Beide Teile können unabhängig voneinander gelesen werden.

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Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Weitere Veröffentlichungen

 

Roland Zingerle

Der brave Sohn

Über den Autor:

 

 

 

Roland Zingerle, geboren 1973, lebt und arbeitet in Klagenfurt am Wörthersee. Er studierte Germanistik und Kommunikationswissenschaften und arbeitete als Journalist und Kulturmanager, ehe er sich als Schriftsteller selbstständig machte. Zingerle verfasst Romane und Sachbücher und unterrichtet deutsche Literatur und kreatives Schreiben.

 

rolandzingerle.at

 

 

 

Buchbeschreibung:

 

Ich habe ihn so gehasst! Auch als er schon tot war, habe ich ihn noch gehasst.

 

Vor Jahren folgte Landesrat Rudi Moritsch seiner Mutter als Chef einer Mitte-links-Partei nach. Seither glänzte er durch stupide Arroganz, rücksichtslose Machtpolitik und eine schier unglaubliche Blasiertheit. Einen unliebsamen Parteifreund trieb er in den Ruin und demütigte ihn, bis dieser handgreiflich wurde. Von einer Klage wegen Körperverletzung sah der Landesrat nur ab, weil die Frau des Parteifreundes bereit war, mit ihm zu schlafen. Dann erpresste Moritsch einen Kirchenmann, um günstig ein Grundstück zu bekommen, das seinen politischen Plänen entgegenkam – und denen einer Immobiliengesellschaft, mit der der Landesrat irgendwie dubios verbandelt war.

 

Als er auf einer öffentlichen Toilette erwürgt aufgefunden wird, herrscht also kein Mangel an Verdächtigen.

 

Moritschs Mutter, die in ihrer Aktivzeit ebenfalls als machthungrige Politikerin bekannt war, beauftragt Berufsdetektiv Heinz Sablatnig, den Mörder zu finden. Als Heinz sie in einem noblen Altersheim am Wörthersee kennenlernt, ahnt er, dass hinter der gebrechlichen alten Dame im Rollstuhl, die von wiederkehrender geistiger Umnachtung heimgesucht wird, mehr steckt, als es den Anschein hat.

Bei seinen Ermittlungen befragt Heinz unter anderen den besten Freund des Ermordeten, der eine Schwulenbar betreibt, eine weitere Spur führt zur Katholischen Kirche.

 

Ist der Mörder hier zu finden, im Kirchen- oder im Homosexuellen-Milieu? Oder hat das Motiv seine Wurzeln in der Vergangenheit, als Moritschs Mutter ihrem braven Sohn noch beibrachte, wie man das Spiel der Macht spielt?

 

Roland Zingerle

Der brave Sohn

 

 

Der Berufsdetektiv 2

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind

im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

© Juli 2024 Empire-Verlag

Empire-Verlag OG, Lofer 416, 5090 Lofer

 

Lektorat: Volker Neumann – https://www.krimi-lektorat.de/lektorat.html

 

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise –

nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

 

Cover: Chris Gilcher

https://buchcoverdesign.de/

 

 

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Kapitel 1

Mittwoch, 19.20 Uhr

 

Ein Areal wie das Gelände der Klagenfurter Messe so abzuriegeln, dass keine Maus mehr ungesehen hinein-, geschweige heraushuschen kann, ist eine logistische Herausforderung. Dennoch war es innerhalb einer halben Stunde gelungen. Bei Mord fand sogar die Kärntner Gemütlichkeit ein Ende.

Chefinspektorin Sabine Oleschko stieg aus dem Streifenwagen, der sie hierhergebracht hatte, und schritt auf den Haupteingang der Messe zu. Blaulichter durchzuckten die warme Luft der Dämmerung, Polizisten in Uniform besprachen sich mit Teams der Rettung sowie mit Beamten in Schutzanzügen, mit Helmen und Maschinenpistolen. Andere hielten Hunde, die ähnlich angespannt wirkten wie sie selbst, eng an der Leine. Die Bewegungsabläufe waren schnell und routiniert.

Die Chefinspektorin nickte, wie als Bestätigung für sich selbst, dass sie zufrieden sein konnte. Einige der Uniformierten, die sie offenbar nicht kannten, wurden auf sie aufmerksam, und ihr selbstbewusstes, zielstrebiges Auftreten machte den Beamten klar, dass sie zum Team gehörte.

Am Messeeingang wartete Gruppeninspektor Roth auf sie, der in den vergangenen Monaten zu ihrer rechten Hand geworden war. »Hallo, Frau Chefinspektor!« Er salutierte und ging voraus in das Eingangs-Foyer. »Das Gelände ist gesichert, die Leute warten auf Ihre Instruktionen.«

Das mochte sie so an Roth. Nicht nur, dass er fähig war, selbständig zu denken und unaufgefordert Dinge in die Wege zu leiten, die der Moment erforderte, er blieb auch immer bei der Sache, lenkte nie mit Plattitüden von der Arbeit ab, die getan werden musste.

»Und der Tatort?«, fragte Sabine Oleschko.

»Ebenfalls gesichert, der Polizeiarzt ist schon vor Ort.«

»Gut. Ist die Identität des Toten bestätigt worden?«

Als Roth ihr zunickte, erkannte sie in seinem Blick dieselbe Abneigung gegen diese Tatsache, die auch sie selbst bewegte. Nicht, dass nicht jeder Mord abscheulich und die Ermittlungen danach widerlich gewesen wären, aber wenn es einen Prominenten traf, wurde alles nur unnötig kompliziert.

Das Foyer war erfüllt vom Stimmengewirr der Besucher, die sich entweder noch an der Garderobe drängten, oder schon mit ihren Kleidungsstücken über dem Arm herumstanden und mit besorgten Gesichtern darauf warteten, dass die Polizei ihnen erlaubte, die Messe zu verlassen. Die Ersthelfer der Rettung hatten neben der Garderobe einen provisorischen Stützpunkt aufgebaut, mehrere Menschen saßen in Tragesesseln oder lagen auf Tragbahren und wurden versorgt. Ein Mord war nichts für schwache Nerven, auch wenn man nicht mehr davon mitbekommen hatte als die bloße Nachricht.

Die Türen zur Halle 1 standen offen. Die Chefinspektorin sah mit Genugtuung, dass am Durchgang Security-Leute standen, was bedeutete, dass deren Kommandant dem Ersuchen der Exekutive um Zusammenarbeit nachgekommen war. Das würde in den kommenden Stunden vieles erleichtern.

»Wo ist die Toilette?«, fragte Sabine.

»In Halle 3.«

»Also gut«, meinte sie, »zuerst dorthin, dann zu den Zeugen. Wer hat die Leiche gefunden?«

»Einer der Aussteller. Er wartet in Halle 4, gemeinsam mit dem Messedirektor und den restlichen Anwesenden.«

Irritiert sah sich die Chefinspektorin um. Die hohe, weitläufige Bogenhalle war hell erleuchtet, vereinzelt sah sie Menschen zwischen den Ständen umhergehen. Ihre Armbanduhr zeigte 19.24 Uhr. »Warum sind so viele Leute hier? Hat die Messe nicht schon um fünf geschlossen?«

»Heute ist der Ausstellerabend der Herbstmesse«, sagte Gruppeninspektor Roth.

»Was heißt das?«

»Der Ausstellerabend wird immer am Abend nach dem ersten Messetag abgehalten«, erläuterte er, »als Dankeschön der Messeverwaltung an die Aussteller.«

»Aha – und was wird da geboten?«

»Büffet, Getränke, Musik … geselliges Beisammensein!«

Sabine schnaubte. Mord infolge geselligen Beisammenseins – das bedeutete viele Verdächtige und somit jede Menge Arbeit. »Ich gehe einmal davon aus, dass der Täter noch nicht gefasst ist?«

»Leider nein.«

»Also gut«, seufzte sie, »dann das volle Programm: Jeder Anwesende wird registriert, fotografiert und vernommen. Mich interessiert, warum und seit wann jeder hier ist, in welcher Beziehung er oder sie mit dem Mordopfer gestanden ist, wer mit dem Opfer geredet hat und worüber, und natürlich, wer als Letzter mit ihm zu tun gehabt hat. Darüber hinaus interessieren mich Beobachtungen von verdächtigen Geschehnissen, die mit dem Mord in Zusammenhang stehen könnten. Alles klar?«

»Alles klar.« Roth zückte sein Handy, bereit, die Befehle weiterzugeben.

»Mit ›jeder Anwesende‹ meine ich auch die Leute von der Messe, von der Security sowie jeden anderen, der auch nur annähernd so aussieht wie ein Mensch«, fuhr die Chefinspektorin fort, »und stellen Sie gleich eine Gruppe zusammen, die die Aussagen noch heute Nacht auswertet, ich erwarte morgen im Laufe des Vormittags einen ersten Überblick.«

»Jawohl!« Der Tonfall des Gruppeninspektors verriet nichts über seine Emotionen, aber Sabine wusste, dass er Profi genug war, um die Dringlichkeit der Situation zu begreifen. Mit etwas Glück befand sich der Täter noch auf dem Messegelände, und wenn das stimmte, standen die Chancen gut, den Fall trotz der großen Zahl an Verdächtigen rasch aufzuklären.

Während Roth telefonisch entsprechende Befehle erteilte, passierten sie den Durchgang zur nächsten Halle, durchquerten diese sowie das daran anschließende Freigelände und gelangten so in die Halle 3. Gleich hinter der Eingangstür, in einem Vorraum zur eigentlichen Halle, tippte Roth, noch immer telefonierend, die Chefinspektorin an und deutete nach oben. Der Vorraum diente als Stiegenhaus, rechts und links führten Treppen nach oben. Im Halbstock gab es einen Verbindungsgang zwischen den beiden Treppen, in dem sich die Toiletten befanden. Als die beiden Kriminalpolizisten diesen betraten, sah Sabine ein paar junge Männer mit käsebleichen Gesichtern am Boden kauern, während andere Leute anscheinend unschlüssig herumstanden. Der Eingang zur Herrentoilette wurde von zwei Beamten des Einsatzkommandos Cobra bewacht. Roth gestikulierte der Chefinspektorin, dass er hier im Gang bleiben und weitere Telefonate führen würde. Sie nickte, hielt den Cobra-Beamten ihren Dienstausweis hin und betrat die Toilette.

Im schmalen weiß gekachelten Korridor zwischen Pissoir-Becken und Toilettenkabinen, ganz hinten, drängten sich zwei Leute um eine rücklings am Boden liegende Männergestalt, die, das erkannte Sabine schon vom Eingang aus, in modische Tracht gekleidet war. In dem Mann, der bei der Leiche kniete, erkannte sie den Polizeiarzt Doktor Grabner, und der junge Kerl mit dem bleichen Gesicht und den krampfhaften Schluckbewegungen, der offensichtlich vergebens versuchte, seine Aufmerksamkeit von den Gegebenheiten hier abzulenken, musste sein Gehilfe sein.

Sabine nahm die Eindrücke in sich auf. Bisher wusste sie nur, dass rund eine halbe Stunde zuvor hier in der Herrentoilette der Halle 3 ein Kärntner Politiker sein Leben in einer Weise verloren hatte, die auf den ersten Blick nach Mord aussah. Doch bis auf die Tatsache, dass dort vorne eine Leiche auf den kalten Fliesen lag, deutete nichts auf ein Gewaltverbrechen hin. Weder Blut noch eine Tatwaffe waren zu sehen, und der Geruch nach Urin, Pissoirkugeln und Erbrochenem war ihr vertraut, seit sie zum ersten Mal in einer Männertoilette ermittelt hatte.

Als sie näherkam, wurde Doktor Grabner auf sie aufmerksam. Er schob seine Brille mit dem Ärmel seines linken Oberarms nach oben und nickte ihr zu, als er sie erkannte.

»Gute Abend, Herr Doktor«, sagte sie, »ich meine … Sie wissen schon.«

»Ja«, der Polizeiarzt lächelte leicht, »in unserem Metier ändern die gängigen Höflichkeitsfloskeln ihre Aussage je nach Situation.« Der Spruch klang ausgeleiert.

»Wie sieht’s denn aus?« Sabine trat näher heran und musterte den Toten. Auch wenn sie in ihrer Laufbahn schon so manche Opfer von Gewaltverbrechen gesehen hatte, jagte ihr der erste Anblick immer noch einen kurzen Schock durch die Glieder. Hätte sie nicht bereits gewusst, dass es sich bei dem Toten um Landesrat Rudi Moritsch von der Mitte-links-Partei handelte, wäre es ihr schwergefallen, ihn in dem blaugeschwollenen Gesicht mit den hervortretenden, ins Nichts starrenden Augen und der zwischen den Zähnen eingeklemmten Zunge wiederzuerkennen. Der zu Lebzeiten durchaus attraktive Zweiunddreißigjährige schien sich mit seinem Ableben in ein Monstrum verwandelt zu haben – dass sein Glied aus dem offenen Hosenschlitz herausragte, wirkte geradezu grotesk.

»Es war eindeutig ein gewaltsamer Tod«, begann der Mediziner, »hervorgerufen durch Strangulation, so viel getraue ich mich schon jetzt zu sagen. Und ich müsste mich schon sehr irren, wenn die Tatwaffe nicht ein Gürtel gewesen ist.« Sein gummibehandschuhter Finger zeigte auf den deutlich erkennbaren, breiten Abdruck am Hals des Toten.

»Ist die Tatwaffe sichergestellt?« Die Worte verließen hastiger Sabines Mund, als sie es beabsichtigt hatte.

»Soweit ich weiß, nein, aber die Spurensicherung kommt erst noch. Die werden sich aber schwertun.«

»Was meinen Sie?«

»Riechen Sie es nicht?« Der Polizeiarzt sah sie belustigt an. »Der Herr, der die Leiche gefunden hat, hat seinen Anteil am Buffet dem Kanal übergeben. Dann hat ein zufällig anwesender Arzt den Toten hierhergeschleppt und eingehend untersucht. Erst dann hat man die Polizei gerufen.«

Chefinspektorin Oleschko stieg die Hitze ins Gesicht. »Wollen Sie damit sagen, der Landesrat ist woanders ermordet worden?«

Doktor Grabner drehte sich etwas zur Seite und schlug mit den Fingerrücken lässig an die nach innen geöffnete Tür der Toilettenkabine hinter sich. »Der Mord hat wohl da drinnen stattgefunden.«

Sabine drängte sich seitlich am Assistenten des Mediziners sowie an der Leiche vorbei, um die Kabine in Augenschein zu nehmen.

Doktor Grabner fuhr indessen fort: »Laut Aussage des Arztes, der ihn untersucht hat, ist der Tote seitlich neben der Toilette gelegen.«

Die Chefinspektorin beugte sich über den hockenden Polizeiarzt und warf einen Blick in die Kabine. Soweit sie sehen konnte, war die Toilette in gewöhnlichem Zustand, mit Ausnahme der Wasserlacke am Boden rund um die Schüssel. Automatisch schnellte ihr Blick zu dem toten Landesrat, dessen Haare und Gesicht ebenfalls nass waren.

Doktor Grabner nahm ihre Schlussfolgerung vorweg: »Geht man davon aus, dass er vor seinem Ableben nicht selbst den Kopf in die Kloschüssel gesteckt und die Spülung betätigt hat, hat das wohl sein Mörder übernommen.«

Sabine stutzte. »Sie meinen, er wollte ihn ertränken? Ich der Kloschüssel?«

Der Doktor schürzte die Lippen. »So weit würde ich nicht gehen. Aber ich kann mir vorstellen, dass wir ihn vor der Toilette kniend auffinden sollten, mit dem Kopf in der Schüssel. Nur, dass die erschlaffenden Muskeln bei Eintritt des Todes das Opfer nicht in dieser Position gehalten haben und es deshalb zu Boden gerutscht ist.«

»Ein Symbol für Demütigung.« Die Chefinspektorin drängte sich wieder aus ihrer beengten Lage hinaus. »Dazu passt auch das entblößte Geschlecht. Danke, Herr Doktor, fürs Erste habe ich genug gesehen.«

Doktor Grabner wandte sich wieder seiner Untersuchung zu und meinte anstelle einer Verabschiedung: »Den Rest erfahren Sie aus meinem Bericht, wie gehabt.«

Sabines Blick fiel auf den Assistenten des Polizeiarztes, der inzwischen, noch immer käseweiß, an der Wand zwischen zwei Toilettenkabinen lehnte und teilnahmslos vor sich hinstarrte.

An der Eingangstür der Herrentoilette stieß sie beinahe mit Gruppeninspektor Roth zusammen, der offenbar fertigtelefoniert hatte.

»Lassen Sie uns die Zeugen vernehmen«, sagte sie und folgte ihm, als er vorausging.

 

Der Weg in die Halle 4 führte durch die Halle 3. Auch hier war alles hell erleuchtet, auch hier wanderten Menschen mit angstvollen Blicken unschlüssig zwischen den Ständen herum. Das alles bekam die Chefinspektorin jedoch nur am Rande mit, denn ihr analytischer Verstand hatte bereits die Arbeit aufgenommen.

Wer auch immer Landesrat Rudi Moritsch erdrosselt und ihn mit dem Kopf voraus in die Kloschüssel gedrückt hatte, überlegte sie, musste einen unglaublichen Hass auf ihn gehabt haben! Sie gestand sich ein, dass sie darüber nicht verwundert war, denn sie kannte niemanden, der eine hohe Meinung von dem Landesrat hatte. Ausnahmslos jeder in ihrem privaten und beruflichen Umfeld, der je in irgendeiner Weise mit Rudi Moritsch zu tun gehabt hatte, bezeichnete ihn als ungebildeten, arroganten und rücksichtslosen Machtpolitiker. Zwar hatte sie Landesrat Moritsch nie persönlich kennengelernt, doch wann immer sie ihn medial wahrgenommen hatte, hatte sie die schier unglaubliche Blasiertheit seines Auftretens geradezu aggressiv gemacht und seine politischen Aussagen waren für sie nichts weiter als populistischer, weltfremder Unsinn.

Sabines Vater, der seit vielen Jahren das Bürgermeisteramt in Pörtschach am Wörthersee innehatte, hatte sogar einmal ein altes Kärntner Sprichwort auf ihn angewandt:

 

»Dummheit und Stolz

wachsen am selben Holz.«

 

In Halle 4 erreichten Sabine und Roth jenen Bereich, in dem der Ausstellerabend noch immer im Gange war. Zwischen einer Bühne, deren Hintergrund flächendeckend mit dem Sujet der Herbstmesse affichiert war, und einer Schankinsel waren längliche Tische mit je sechs Stühlen aufgereiht. Neben der Bühne hatte man das Buffet aufgebaut. Hinter der Tafel mit den Hauptspeisen, die in beheizten Edelstahlbehältern angerichtet waren, standen Mädchen in Kellnerinnen-Monturen, die so jung waren, dass sie wohl aus irgendeiner Mittelschule mit Gastronomieschwerpunkt stammten. An ihren bleichen Gesichtern und der schwankenden Körperhaltung konnte Chefinspektorin Oleschko ablesen, wie schwer es ihnen fiel, ihrer Rolle trotz der Umstände gerecht zu werden.

Völlig anders wirkten die hier anwesenden Aussteller. Die einen drängten sich am Buffet und an der Salatbar, welche in einem auf alt getrimmten Holzwagen mit Schindeldach etwas abseits arrangiert war, die anderen hatten an den Tischen nahe der Bühne Platz genommen, um es sich bei geselliger Plauderei schmecken zu lassen.

Der Mittelteil des Sitzbereichs war leer, erst im hinteren Drittel und an der Schankinsel, die an drei Seiten von einer Theke umgeben war, drängten sich einige schweigsame Besucher mit schockgeweiteten Augen.

Sabine sah Gruppeninspektor Roth an, der sich ebenfalls gerade einen Überblick verschaffte und nun ihre Gefühle in einem Wort zusammenfasste: »Grotesk!« Er führte sie zu einigen Rettungssanitätern, die Schock-Patienten versorgten. Roth wies auf einen jungen Mann, der auf einer Fahrtrage lag und elend aussah, und erklärte: »Dieser Herr hat den Toten gefunden.«

Sabine zückte ihren Dienstausweis in einer Bewegung, die ebenso routiniert war wie der kalte Ton ihrer Stimme, mit dem sie sich vorstellte. »Chefinspektorin Oleschko. Erzählen Sie mir, was passiert ist.«

Die Augen des Mannes schienen zu vibrieren. Mehrmals versuchte er zu sprechen, doch seine bleichen Lippen zitterten nur.

Eine junge, resolute Sanitäterin drängte sich zwischen ihn und die Chefinspektorin und fuhr diese an: »Sehen Sie nicht, dass er unter Schock steht? Außerdem haben wir ihm ein Beruhigungsmittel verabreicht, er braucht jetzt Ruhe.«

»Das ist eine Mordermittlung«, konterte Sabine heftig, »die Aussage dieses Mannes kann unter Umständen dazu führen, andere Menschen vor Schaden zu bewahren.«

»Das ist Ihr Kaffee, nicht meiner.« Die Sanitäterin entsicherte die Bremse der Fahrtrage und schob ihren Patienten demonstrative weg, gerade so, als wollte sie ihn vor der Chefinspektorin in Sicherheit bringen.

Sabine konnte nicht glauben, was gerade geschehen war. Sie wollte dieser präpotenten Person schon hinterherstürmen, um ihr zu zeigen, mit wem sie es zu tun hatte, als Gruppeninspektor Roth sie am Arm nahm und ihr zuraunte: »So wie der beieinander ist, kriegen wir momentan eh kein Wort aus ihm heraus.«

Sabine gestand sich das nicht gerne ein, doch er hatte recht. Noch bevor sie sich weitere Gedanken zu diesem Thema machen konnte, wurde sie von der Seite angesprochen.

»Sind Sie die Ermittlungsleiterin?« Ein kahlköpfiger Mann Ende vierzig in einem eleganten Anzug stand vor ihr, er hatte ein freundliches Gesicht, in dem aber noch der Schock erkennbar war. Zumindest wirkte er gefasst.

»Chefinspektorin Oleschko, ja.« Sie zog wieder ihren Dienstausweis hervor.

Der Mann hielt ihr die Grußhand hin. »Zöcherer, freut mich. Ich bin der Geschäftsführer der Klagenfurter Messe.«

»Angenehm.« Sie drückte die Hand. »Was wissen Sie über die Vorkommnisse heute Abend?«

»Leider nicht viel. Ich war mit meinen Mitarbeitern hier beim Ausstellerabend. Den Herrn Landesrat habe ich zwar begrüßt und ein paar Worte mit ihm gewechselt, aber mir war nicht bewusst, dass er nach Messeschluss noch hier war.«

»Wie kann das sein?«, fragte Sabine. »Ich meine, auf meinem Weg durch die Hallen sind mir überall Leute begegnet. Manche Stände sehen so aus, als wären sie noch geöffnet.«

»Viele Aussteller veranstalten am ersten Abend einen Umtrunk«, erklärte Zöcherer, »entweder für die eigene Mannschaft, die während der Messe Dienst hat, oder für gute Geschäftspartner.«

»Wie verträgt sich das mit den Öffnungszeiten?«

»Wir sehen das nicht so eng. Das sind immerhin unsere Kunden, und solange es nicht ausartet …«

»Und was ist mit Mord?«, fuhr Chefinspektorin Oleschko hoch.

Der Geschäftsführer hob beschwichtigend die Hände und erwiderte ruhig: »Immer mit der Ruhe, okay? Sowas wie heute kann niemand vorhersehen. Und so öffentlich, wie die Tat begangen worden ist, hätte sie genauso gut bei einem Volksfest stattfinden können.«

Sabine schluckte, doch ihr Ärger verging nicht.

»Ich möchte Ihnen den Arzt vorstellen, der den Herrn Landesrat untersucht hat«, fuhr der Geschäftsführer fort.

Der Mediziner war ein kleiner, drahtiger Mann, dessen faltiges Gesicht pure Lebensenergie ausstrahlte und damit sein Alter verschleierte. Seine weißen Haare standen in alle Richtungen vom Kopf ab. »Man hat nach einem Arzt gefragt, und ich habe mich gemeldet«, plapperte er los. »Ich bin Aussteller hier, Trainings- und Ernährungsberatung.«

Die Chefinspektorin empfand sein keckerndes Kichern als unpassend. »Wie haben Sie ihn vorgefunden?«

»Er ist in der hintersten Kabine gelegen, am Boden neben der Kloschüssel, eingeigelt wie ein Engerling, den Kopf in einer Wasserlacke. So wie der ausgesehen hat, war auf den ersten Blick klar, dass er nicht mehr wird, aber ich wollte nichts unversucht lassen. Ich habe ihn aus der Kabine gezogen, ihn auf den Rücken gelegt und untersucht. Und wie ich gesehen hab, dass nichts mehr zu machen ist, hab ich den Leuten gesagt, sie sollen die Polizei holen.«

Sabine war irritiert. »Was für Leuten?«

»Na, den Zuschauern.«

»Zuschauer? Es waren Zuschauer dabei? Auf der Toilette?«

Der Arzt keckerte wieder. »Ja freilich, was denken Sie? Sowas sieht man nicht alle Tage.«

Sabine holte tief Luft und wechselte einen fassungslosen Blick mit Gruppeninspektor Roth.

»Spuren können wir vergessen«, meinte dieser.

»Waren irgendwelche Gegenstände am Tatort«, fragte sie den Mediziner, »zum Beispiel ein Gürtel oder sonst was?«

Der kleine Mann dachte kurz nach, schüttelte dann aber den Kopf, dass seine Haare zitterten. »Da war nichts, nur die Leiche.«

Die Chefinspektorin bedankte sich und wies Roth an, die Personalien des Mannes aufzunehmen.

Der Messe-Geschäftsführer trat wieder an sie heran. »Frau Chefinspektorin, ich muss Ihnen diese Frage stellen, weil sie mir selbst andauernd von den Ausstellern gestellt wird: Wie lange muss die Messe voraussichtlich geschlossen bleiben?«

Sie ließ den Blick über die anscheinend sorglosen Menschen schweifen, die im Buffet-Bereich aßen und tranken, als wäre nichts geschehen. »Das kann ich Ihnen zum gegenwärtigen Zeitpunkt beim besten Willen nicht sagen.«

Kapitel 2

Donnerstag, 9 Uhr

 

Als der Krawall losging, wusste Heinz Sablatnig im ersten Moment nicht, wie ihm geschah. Er wälzte sich herum und wedelte mit dem Arm, als könnte er damit den Lärm verscheuchen wie eine lästige Fliege. Schließlich drang die Melodie in sein Bewusstsein – If You Don’t Know Me by Now von Simply Red –, sein Handy-Klingelton für unbekannte Anrufer.

Hatte er gestern vergessen, sein verdammtes Handy auszuschalten? Und warum lief es ausgerechnet jetzt noch immer, obwohl sich der Akku schon seit geraumer Zeit schneller entlud, als er sich, so schien es, aufladen ließ?

Wie ferngesteuert zog Heinz die Ohrenstöpsel aus seinen Gehörgängen und drehte sich stöhnend zum Nachtkästchen. Das Nachtlicht machte ihm die Suche leicht, er schnappte das Handy und drückte die Anruf-Annehmen-Taste.

»Sablatnig?« Seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.

»Hallo?«, klang eine schrille Frauenstimme vom anderen Ende der Leitung, »spreche ich mit Heinz Sablatnig, dem Privatdetektiv?«

»Ja.« Heinz hatte es aufgegeben, den Menschen zu erklären, dass es so etwas wie einen Privatdetektiv in Österreich nicht gab, die korrekte Bezeichnung lautete Berufsdetektiv.

»Hier spricht die Rechtsanwaltskanzlei Doktor Werginz. Ich verbinde Sie mit Herrn Doktor Werginz, einen Augenblick, bitte.«

Einen Wimpernschlag später meldete sich eine hektische Männerstimme. »Herr Sablatnig, ich freue mich immens, Sie kennenzulernen. Haben Sie eine Minute Zeit?«

»Ja.«

»Herr Sablatnig, ich rufe Sie im Auftrag meiner Mandantin an, Frau Doktor Moritsch, die gerne Ihre Dienste in Anspruch nehmen würde. Sie sind ja in Kärnten mittlerweile immens bekannt, spätestens seit Ihrem aufsehenerregenden Einsatz bei der Starnacht am Wörthersee.«

Heinz konnte den Unterton in der Stimme des Rechtsanwalts nicht deuten.

»Bei dem gegenständlichen Auftrag geht es um nicht weniger als um die Suche nach einem Mörder. Sind Sie interessiert?«

Die nun entstehende Pause fühlte sich für Heinz so an, als erwartete der Anwalt, er würde »hurra« schreien oder Ähnliches. Heinz wälzte sich an den Rand des Bettes und setzte sich auf. »Grundsätzlich ja.«

Wieder folgte eine Pause, der Anrufer schien verdutzt.

»Gut«, sagte Doktor Werginz schließlich, »gut, dann schlage ich vor, wir treffen uns alle drei und besprechen die Details, in Ordnung? Können Sie um 11 Uhr in Velden sein?«

Heinz nahm das Handy vom Ohr und blickte auf die Zeitanzeige. »Ja«, erwiderte er dann, »müsste sich ausgehen.«

»Gut, wir treffen uns dort in der Seniorenresidenz Seemoos. Ich warte an der Rezeption auf Sie, einverstanden?«

»Ja, in Ordnung.«

»Ich freue mich immens, Herr Sablatnig! Dann bis 11 Uhr, auf Wiederhören.«

Heinz ließ das Telefon auf das Nachtkästchen klappern und das Gesicht in seine Hände sinken. Er hatte keinen Bock auf einen Auftrag, nicht den geringsten, aber seine finanzielle Lage ließ eine Ablehnung nicht zu. Er stand auf und tappte zum Fenster, um das Rollo hinaufzuziehen. Sein Körper fühlte sich an, als hätte er einhundertfünfzig Kilo. Die Vormittagssonne blendete ihn, er wandte sich rasch ab. Sein Körper brachte ihn ins Bad - ein Routineablauf. Vor dem Badezimmerspiegel hielt er inne und betrachtete sich. Er sah müde aus, abgewrackt, aber immer noch besser, als er sich fühlte. Wie hieß dieser Rechtsanwalt noch einmal?

Eine Dusche und der erste Kaffee brachten keine wesentliche Verbesserung seines Befindens. Er würde nach Velden fahren und sich anhören, was dieser Anwalt zu sagen hatte. Und seine Auftraggeberin, deren Namen er sich genauso wenig gemerkt hatte wie den von diesem Altersheim. Aber so viele würde es in Velden ja nicht geben, eine kurze Recherche im Internet würde ihn sicher auf die richtige Spur bringen.

 

Pünktlich um kurz vor elf parkte Heinz seinen schwarzen, getunten VW Corrado auf dem Parkplatz der Seniorenresidenz Seemoos ein, und nahm die Mundschutzmaske aus dem Handschuhfach, die er seit Beginn der staatlichen Verordnungen wegen des Corona-Virus’ immer mithatte. Bei seiner Recherche war er sich nicht sicher gewesen, ob Seemoos der richtige Name war, und jetzt, als er den Bau betrachtete, verstärkte sich diese Verunsicherung noch mehr. Das schlossartige Jugendstilgebäude hatte mehr Ähnlichkeit mit einem Fünf-Sterne-Hotel als mit einem Altersheim, aber er beschloss, sein Glück trotzdem zu versuchen. Sollten alle Stricke reißen, konnte er diesen Rechtsanwalt immer noch zurückrufen und so tun, als hätte er vorhin etwas falsch verstanden.

Als Heinz die Residenz betrat, hielt er inne und staunte. Vor ihm lag ein breiter Gang, der in einen Raum mit mehreren großen Fenstern mündete. Das hereinflutende Licht glänzte mit seiner eigenen Spiegelung im dunklen, rostroten Marmor des Bodens und der Wände um die Wette. Die Bilder und Spiegel in dem Gang waren in Mahagoni eingefasst, und in großen Messingtöpfen wuchsen tropische Pflanzen. Ein paar wuchtige, mit schwerem Brokat bezogene Ohrensessel standen an zierlichen Holztischchen, alles war sauber und glänzend poliert. Die Rezeption bestand aus einem großen, stilistisch mit dem restlichen Interieur harmonierenden Holztisch. Hinter diesem saß eine attraktive, dezent gestylte Dame mittleren Alters, die im Gegensatz zu Heinz keine Mundschutzmaske trug. »Kann ich Ihnen helfen?« Sie lächelte ihn freundlich an.

»Mein Name ist Sablatnig.« Heinz trat zu ihr an den Tisch. »Ich bin hier verabredet.«

Noch ehe er herumdrucksen konnte, weil er den Namen seines Termins vergessen hatte, rief eine Männerstimme von etwas weiter hinten im Gang: »Herr Sablatnig?«

Im Gegenlicht sah Heinz, wie an einem der Polstersessel schattenhaft eine großformatige Zeitung zusammengefaltet wurde, wonach sich ein Mann erhob und auf ihn zukam.

»Sie sind Heinz Sablatnig?« Unglauben schwang in der Stimme mit.

»Ja.«

Als der Mann näherkam, konnte Heinz ihn besser sehen. Er mochte Mitte sechzig sein, war etwa einen halben Kopf kleiner als Heinz und erkennbar rundlich, dennoch saß sein Anzug perfekt. Zwischen sorgfältig gekämmten und gegelten Haarbüscheln über den Schläfen zog sich eine Glatze über seinen Kopf. Auch er trug keine Maske.

»Doktor Werginz, angenehm, sehr angenehm!« Der Anwalt reichte ihm die Hand. »Den Mundschutz brauchen Sie hier nicht.«

Heinz nahm die Maske wieder ab. Ihm entging nicht die Enttäuschung in dem listig-intelligenten Gesicht. Kein Wunder, so wie Heinz beieinander war, hatte sein Auftreten nichts Heldenhaftes an sich – doch genau das hatte Werginz wohl erwartet, zumindest hatte Heinz das aus dessen Anspielung auf seine Rolle bei der Starnacht am Wörthersee geschlossen.

Der Anwalt ließ sich aber nichts weiter anmerken. Er bedankte sich bei der Dame an der Rezeption und forderte Heinz auf, ihm zu folgen.

Der Raum am Ende des Gangs entpuppte sich als weitläufiger Salon. Die in einem warmen Weiß getünchten Wände waren mit Vertäfelungselementen aus Mahagoni besetzt, und neben den Pflanzen in den Messingtöpfen dienten hier auch Farbradierungen als Dekorationselemente. Sie zeigten Landschaftsszenen und waren auf Staffeleien platziert. Die Fensterrahmen waren im Weiß der Wände lackiert, was mit den cremefarbenen, leicht gerafften Vorhängen harmonierte. Das Ambiente wurde von einem frischen Blütenduft getragen, der von den Schnittblumen herrührte, die in Vasen auf jedem Tisch standen.

Heinz konnte sich nicht daran erinnern, jemals in einem so prächtigen und gleichzeitig so angenehmen Raum gewesen zu sein. Er war traurig – traurig über seine Unfähigkeit, dieses Erlebnis genießen zu können. Er folgte Doktor Werginz’ einladender Geste und setzte sich auf einen der hell gepolsterten Holzstühle, die an den ovalen Holztischen standen. Die Tische waren mit Tüchern in der Farbe der Vorhänge gedeckt, neben den Blumen stand auf jedem eine Kristallkaraffe, in der frisches Wasser funkelte, sowie einige stilgleiche Gläser.

Der Anwalt nahm ihm gegenüber Platz, räusperte sich und blickte auf seine Hände, die er aneinander rieb.

Heinz bekam das nur am Rande mit, zu sehr irritierte ihn der Reichtum der Ausstattung hier. »Sagen Sie, was ist das hier?«, fragte er.

Doktor Werginz lachte kurz und hektisch. »Das hier ist der Aufenthaltsraum der Seniorenresidenz.«

»So etwas habe ich noch nie gesehen.« Heinz konnte sich an keinen Seniorenheim-Aufenthaltsraum erinnern, der luxuriöser ausgestattet gewesen wäre als mit Resopaltischen, Linoleumboden und Schnabeltassen aus Plastik – alles in uniformen Pastellfarben gehalten, »um die Herrschaften zu beruhigen«, wie ein Pfleger ihm einmal erklärt hatte.

Hier aber saßen elegant und bequem gekleidete, ältere Damen und Herren vereinzelt an den Tischen, unterhielten sich, lasen Zeitung oder blickten aus den Fenstern. Es hatte eher den Charakter eines noblen Kaffeehauses als den eines Altersheims.

»Nun, kein Wunder, dies ist ja auch die nobelste Seniorenresidenz, die wir in Kärnten haben«, meinte der Anwalt bescheiden, »und natürlich auch die teuerste, immens teuer. Dafür gibt’s aber auch einige Sonderregelungen«, er warf einen Blick auf die Mundschutzmaske in Heinz’ Hand. »Herr Sablatnig, bevor wir mit Frau Doktor Moritsch sprechen, ein paar Anmerkungen vorweg.«

Der ernste Ton in Werginzʼ Stimme zog Heinz’ Konzentration auf sich.

»Frau Doktor Moritsch ist zweiundsiebzig Jahre alt, was heutzutage ja beileibe kein Alter mehr ist, nur leider hat es die Natur nicht gut mit ihr gemeint.« Der Anwalt machte eine Pause, während der er seinen Händen dabei zusah, wie sie sich gegenseitig kneteten. »Ich weiß nicht, ob Sie sie kennen, sie war ja lange Jahre eine höchst erfolgreiche Kärntner Landesrätin mit mehrmals wechselnden Referaten.«

Jetzt, da er es erwähnte, erinnerte Heinz sich tatsächlich. Liese Moritsch – den Namen hatte er in seiner Kindheit immer wieder in den Radionachrichten gehört, ohne dass er gewusst hatte, wer sie genau war oder was sie tat. Dennoch hatte er sich diesen Namen besser gemerkt, als er sich heute die der gegenwärtigen Landespolitiker merkte. Das mochte daran liegen, dass für ihn als Kind eine Amtszeit von mehreren Jahren unendlich lang erschienen war, während er heute oft glaubte, die Volksvertreter würden sich die Klinken zu den Büros der Macht im Wochentakt gegenseitig in die Hand drücken.

---ENDE DER LESEPROBE---