Der Brieffreund aus Svealand - Frieda Lamberti - E-Book

Der Brieffreund aus Svealand E-Book

Frieda Lamberti

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Beschreibung

Nach einem Schicksalsschlag, den Ana verkraften muss, findet sie Trost bei ihrem ehemaligen Schulkameraden, dem schwedischen Autor Tjorben, mit dem sie seit Jahren eine enge Brieffreundschaft aufrechterhält. Als es ihr wieder besser geht, reist sie zu ihm ins winterliche Svealand, um sich persönlich für seine Unterstützung zu bedanken. Doch als sie dort eintrifft, wird sie nicht von ihm, sondern von Jördis empfangen, die sich als seine Lebensgefährtin vorstellt. Sie erklärt Ana, dass Tjorben sich in seinem Landhaus aufhalte, um in aller Abgeschiedenheit an einem neuen Drehbuch zu arbeiten. Dennoch schickt sie Ana nicht fort, sondern bietet ihr ein Gästezimmer an. Tage vergehen und Ana spürt, dass etwas nicht stimmt. Sie versucht, Licht ins Dunkel zu bringen und begibt sich auf eine Suche, die nicht nur ihr Leben verändern wird.

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Seitenzahl: 274

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Cover for EPUB

Zum Buch:

Als Ana von ihrem Mann Oliver um eine Auszeit gebeten wird, glaubt sie fest daran, dass es sich nur um eine vorübergehende Phase handelt. Doch dann verschwindet Oliver spurlos, und Ana bleibt ohne Antworten zurück. In ihrer Verzweiflung findet sie Trost und Unterstützung bei ihrem langjährigen Brieffreund in Schweden.

Ihre Reise nach Svealand entpuppt sich als unerwartetes Abenteuer. Ana findet sich in einem Netz aus Geheimnissen wieder, das tiefere Abgründe birgt, als sie es sich jemals hätte vorstellen können. Entschlossen, Licht ins Dunkel zu bringen, begibt sie sich auf die Suche nach der Wahrheit.

»Der Brieffreund aus Svealand« ist eine fesselnde Geschichte über Vertrauen, Verrat und die unerschütterliche Kraft der Liebe, welche die Leserinnen und Leser bis zur letzten Seite in Atem hält.

Zur Autorin:

Frieda Lamberti ist das Pseudonym einer gebürtigen Hamburgerin. Die Autorin lebt gemeinsam mit ihrer Golden-Retriever-Hündin Lotte in der Lüneburger Heide. Frieda Lamberti ist erst spät in ihrem Leben zum Schreiben gekommen und veröffentlichte ihr Debüt mit fünfzig Jahren. Inzwischen hat sie bereits mehr als fünfzig Romane erfolgreich veröffentlicht.

FRIEDA LAMBERTI

Der Brieffreund aus Svealand

Roman

HarperCollins

Originalausgabe

© 2024 HarperCollins in der

Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg

Covergestaltung von Zero Media, München

Coverabbildung von FinePic®, München

E-Book Produktion von GGP Media Gmbh, Pößneck

ISBN 9783749907816

www.harpercollins.de

Jegliche nicht autorisierte Verwendung dieser Publikation zum Training generativer Technologien der künstlichen Intelligenz (KI) ist ausdrücklich verboten. Die Rechte der Autorin und des Verlags bleiben davon unberührt.

Kapitel 1

Es war das zweite Wochenende im November, als Olli und ich nach einem Kinobesuch in unser Stammlokal einkehrten. Statt über den Film zu sprechen, wie wir es bisher immer angeregt getan hatten, fragte er mich nach meinem Befinden. »Bist du glücklich, Ana?«

Verwundert schaute ich ihn an, ahnte bislang nicht, welche Richtung das Gespräch nehmen würde.

»Nun, ich bin zufrieden«, antwortete ich, was auch der Wahrheit entsprach. Schließlich führte ich ein sorgenfreies Leben an seiner Seite, war gesund und konnte in meinem geliebten Beruf als Eventmanagerin arbeiten, ohne das Gefühl zu haben, meiner Rolle als Mutter und Ehefrau nicht gerecht zu werden. Gerade setzte ich an, ihm zu antworten, dass ich ständig Glücksmomente verspürte, obgleich seit Kurzem noch Luft nach oben bestünde, als er mir zuvorkam.

»Ich bin es nicht.« Er presste die Lippen fest zusammen und wich meinem Blick aus.

Im ersten Moment wusste ich nicht, wie ich darauf reagieren sollte. Wir kannten uns seit der Schulzeit, waren nach vielen Umwegen seit zwölf Jahren ein Paar, acht davon verheiratet, und hatten gemeinsam Höhen und Tiefen erlebt. Doch diese Offenbarung kam für mich völlig unerwartet.

»Was fehlt dir denn?«, fragte ich vorsichtig, während ich versuchte, meine Bestürzung zu verbergen. Da er nicht antwortete, sprach ich meinen ersten Gedanken laut aus. »Gibt es eine andere Frau? Hast du dich verliebt?«

»Nein, nein, damit hat es nichts zu tun«, beeilte er sich zu sagen. »Es ist … es ist mehr eine innere Leere, die ich verspüre.«

Ich griff nach seiner Hand, um ihm zu versichern, dass ich fest an seiner Seite stehen werde. »Zusammen bekommen wir das hin«, versprach ich vollmundig.

Kopfschüttelnd beugte er sich vor. »Da muss ich allein durch, deshalb werde ich ausziehen.« Beschwörend schaute er mich an. »Selbstverständlich bin ich immer für dich und Daniel da. Darauf kannst du dich verlassen.«

Ollis Worte trafen mich wie ein Schlag ins Gesicht. Ausziehen? Er beabsichtigte, unsere gemeinsame Wohnung, das Zuhause, das wir liebevoll über die Jahre gestaltet hatten, zu verlassen? Die Vorstellung, dass unser Sohn zwischen zwei Welten pendeln müsste, brach mir das Herz.

»Aber warum?«, stammelte ich, meine Stimme zitterte vor Unglauben und Traurigkeit. »Können wir nicht zusammen daran arbeiten und herausfinden, was dir fehlt?«

Olli sah mich lange an, ich erkannte die Müdigkeit in seinen Augen. Er schien sich schon lange mit dieser Entscheidung herumgeschlagen zu haben. »Ich muss diesen Weg allein gehen und herausfinden, wer ich bin, ohne mich in der Rolle des Ehemanns oder Vaters zu verstecken.«

Meine Brust zog sich zusammen, ich konnte kaum atmen.

Die Bedienung brachte unsere Getränke, aber sie blieben unberührt. Das laute Gelächter und die Gespräche um uns herum bildeten einen schmerzhaften Kontrast zu der Stille, die zwischen uns herrschte.

»Und was ist mit Daniel? Er begreift doch noch gar nicht, was passiert«, stammelte ich mit brüchiger Stimme.

»Ich werde es ihm so erklären, dass er es verstehen kann. Er ist stark, wie du«, sagte Olli, ein schwaches Lächeln umspielte seine Lippen. »Ich möchte, dass du weißt, dass ich euch beide liebe. Das ändert sich nicht. Aber ich kann nicht bleiben und gleichzeitig versuchen, mich selbst zu finden. Es wäre nicht fair euch gegenüber.«

Die nächsten Tage waren ein Wirbelsturm aus Emotionen und organisatorischen Herausforderungen. Olli packte seine Sachen, und wir versuchten, Daniel so behutsam wie möglich auf die bevorstehenden Veränderungen vorzubereiten. Während Olli unsere Wohnung verließ, stand ich an der Tür, unfähig, die Tränen zurückzuhalten. Es war das erste Wochenende im Dezember, und das Leben, wie ich es kannte, hatte sich unwiderruflich verändert.

In der Eventbranche herrscht zur Adventszeit Hochkonjunktur. Ich hetzte von einem Auftrag zum nächsten, Zeit für meinen Sohn hatte ich kaum noch. Gut, dass ich mich auf den Rest der Familie verlassen konnte, denn sowohl Ollis als auch meine Mutter sprangen ein, wann immer ich sie darum bat. Lieber war es mir, dass meine Schwiegermutter sich um ihren Enkel kümmerte. Anders als meine eigene verschonte Monika mich mit bissigen Kommentaren und belegte mich nur mit mitleidigen Blicken. Sie selbst konnte sich auch keinen Reim auf das Verhalten ihres Sohnes machen.

»Ich verstehe ihn nicht. Wie konnte er euch kurz vor dem Fest verlassen? Olli war doch stets verantwortungsbewusst.«

Ja, das war er, penibel hielt er sich an Absprachen. Er war die Zuverlässigkeit in Person. Aber damit war es nach seinem Auszug abrupt vorbei. Es gab Tage, an denen er nicht ans Handy ging, geschweige denn auf meine Nachrichten reagierte. Sein Versprechen, den Weihnachtsbaum zu besorgen, hielt er ebenfalls nicht.

Heiligabend ergatterte ich in letzter Minute eine krumme Blautanne, schleppte sie in den zweiten Stock und schmückte sie allein mit unserem Sohn. Obwohl mir zum Heulen zumute war, ließ ich mir aus Rücksicht auf mein Kind nichts anmerken. Daniel sollte nicht spüren, wie es tief in mir aussah.

Stunden um Stunden vergingen, draußen war es längst stockfinster, als mein Kleiner zum wiederholten Mal fragte, wann es endlich Geschenke gäbe.

»Jetzt«, entschied ich, denn es war nicht mehr davon auszugehen, dass Olli sich noch blicken ließ. Ich kniete mich auf den Boden und deutete auf das größte Paket unter dem Baum. »Fang damit an, Schatz«, riet ich, als es klingelte.

Mit einer Mordswut im Bauch stampfte ich in den Flur und riss die Tür auf. Mein bitterböser Blick traf die Falschen. Nicht mein auf Selbstfindungstrip befindlicher Ehemann, sondern meine Kolleginnen Ines und Mira standen im Treppenhaus. Ein Blick genügte, um festzustellen, dass sie bereits reichlich angeschickert waren. Albern und in völlig schiefer Tonlage stimmten sie das Lied All I want for Christmas is you an.

»Komm mit uns, Ana. Wir machen einen Zug durch die Gemeinde«, schlug Ines vor.

Ich konnte über ihren Vorschlag nur den Kopf schütteln. »Heute? Schon mal einen Blick auf den Kalender geworfen? Es ist der vierundzwanzigste Dezember.«

»Stimmt, es ist der langweiligste Tag im Jahr. Lass uns Spaß haben. Du weißt doch, alles, was wir heute verzehren, zahlt der Chef. Wir wollen ihn doch nicht so billig davonkommen lassen«, quietschte Mira.

»Selbst wenn ich wollte, ich kann nicht. Nur zur Erinnerung, ich bin Mutter. Wir sind gerade bei der Bescherung. Amüsiert euch ohne mich.«

Noch während ich dabei war, die beiden Partymäuse abzuwimmeln, kam Daniel aufgeregt in den Flur gerannt. »Mami, das ist das beste Geschenk der Welt«, freute er sich und umklammerte meinen Oberschenkel.

»Was hast du denn bekommen?«, lallte Mira, beugte sich zu ihm hinunter und geriet dabei fast ins Trudeln. Sie hob ihre Hand, um seinen Kopf zu streicheln. Mir widerstrebte es, meinen Sohn von einer Betrunkenen tätscheln zu lassen.

»Das erzähle ich euch nach den Feiertagen. Wie gesagt, habt viel Spaß, aber nun entschuldigt uns bitte.« Ich schlug ihnen die Tür vor der Nase zu, nahm Daniel an die Hand und ging mit ihm zurück ins Wohnzimmer.

Es dauerte keine fünf Minuten, bis es erneut energisch an die Tür klopfte. Ines entschuldigte sich. »Wir kommen nicht raus. Jemand hat inzwischen die Haustür abgeschlossen.«

Ich stöhnte laut auf, nahm den Schlüsselbund vom Bord und begleitete sie die Treppe hinunter.

Mira saß auf der ersten Stufe und würgte.

»Wage es nicht, hier drinnen zu spucken«, warnte ich sie, schloss die Eingangstür auf und sah die beiden Schluckspechte davontrotten, bis sie am Ende der Straße um die Ecke bogen.

Erneut marschierte ich an den Briefkästen vorbei. Anders als zuvor, als ich schwer bepackt war und keine Hand frei hatte, schloss ich unseren Kasten auf und nahm einen Stapel Post heraus. Auf dem Weg nach oben überprüfte ich neugierig, wer uns geschrieben hatte. Neben Werbung und Rechnungen fand ich auch ein privates Schreiben, das an Olli und mich adressiert war. Der Brief wurde in Schweden aufgegeben. Obwohl ich genau wusste, wer der Absender war, legte ich das Kuvert auf den Wohnzimmertisch und nahm mir vor, Tjorbens Zeilen erst zu lesen, sobald ich meinen Sohn ins Bett gebracht hatte. Doch bis dahin musste ich mich noch zwei Stunden gedulden. Mein Sohn verhielt sich derart aufgekratzt, dass an Schlafen noch lange nicht zu denken war. Unermüdlich spielte er mit seinen neuen Star-Wars-Figuren, während seine Wangen vor lauter Aufregung glühten. Hunger hatte er keinen. Den Tisch feierlich zu decken und das Raclettegerät anzuheizen, hätte ich mir getrost sparen können. Nicht einmal fragte er an diesem Abend nach seinem Papa. Dabei hatte er extra für ihn ein Bild gemalt, das er ihm schenken wollte. Vielmehr fieberte Daniel dem ersten und zweiten Weihnachtstag entgegen, an denen er von seinen Omis und Opis noch ein weiteres Mal großzügig beschenkt werden würde.

Es war bereits kurz vor Mitternacht, als ich mich den schwedischen Weihnachtsgrüßen widmen konnte. Tjorben, mein ehemaliger Klassenkamerad, späterer WG-Mitbewohner und Ollis bester Buddy, wünschte uns ein geruhsames Fest, Glück und Gesundheit für das kommende Jahr. Über seinen letzten Satz musste ich schmunzeln.

Bestimmt werdet ihr wieder Raclette essen. Existiert das alte Gerät noch, oder habt ihr euch endlich ein neues angeschafft?

Augenblicklich stellten sich die Bilder aus längst vergangenen Zeiten vor meinem inneren Auge auf. Zu dritt hatten wir uns während des Studiums eine Wohnung geteilt. Wenn er zum Küchendienst eingeteilt wurde, war das Chaos programmiert. Teller türmten sich wie moderne Kunstwerke in, vor und neben der Spüle, während Besteck und Kochutensilien in kreativem Durcheinander verstreut lagen. Es hatte mich damals enorme Anstrengungen gekostet, ihm etwas Ordnung und Disziplin beizubringen. Aber trotz der Unannehmlichkeiten und der endlosen Diskussionen über Regeln und Sauberkeit, die unseren WG-Alltag prägten, waren diese Zeiten gefüllt mit Lachen, tiefsinnigen Gesprächen und dem Gefühl einer unerschütterlichen Freundschaft.

Jahre später trennten uns nicht nur tausend Kilometer Entfernung, sondern auch unterschiedliche Lebenswege. Tjorben zog noch vor Daniels Geburt nach Schweden, um sich in der Heimat seines Vaters ein neues Leben als Drehbuchautor aufzubauen. Olli und ich schlugen unseren gemeinsamen Weg Richtung Berlin ein, doch die Verbindung zwischen uns blieb bestehen. Tjorbens jährliche Weihnachtsgrüße waren ein festes Ritual geworden, eine Brücke, die uns über die Entfernung hinweg verband und uns für einen kurzen Moment wieder zusammenbrachte.

Ich lehnte mich zurück und ließ meinen Blick durch die stille Wohnung schweifen. Der Weihnachtsbaum funkelte in der Ecke des Wohnzimmers, indes mein Herz immer schwerer wog.

»Ach, Tjorben, du liebenswerter Chaot. Wenn du wüsstest, was hier los ist«, brach es traurig aus mir heraus. Im ersten Moment war ich versucht, ihm mitzuteilen, dass Olli sich aus unerklärlichen Gründen aus dem Staub gemacht hatte. Doch dann ließ ich es bleiben. Es handelt sich bestimmt nur um eine temporäre Phase, redete ich mir ein. Schon bald wird mein Mann wieder zur Vernunft und nach Hause kommen. Folglich sah ich keinen Grund, an diesem Tag die Pferde scheu zu machen. Ich nahm eine neutrale Karte aus dem Sekretär und antwortete Tjorben.

Für das kommende Jahr wünschen wir dir nur das Beste und drücken ganz fest die Daumen für dein neues Drehbuch. Es wird sicherlich wieder ein Erfolg. Wir lieben deine Krimis und sind mächtig stolz auf dich. Hoffentlich klappt es bald mit einem Treffen. Es wird Zeit, dass wir uns endlich wiedersehen. In Liebe, Ana, Olli und Daniel.

Sowohl am ersten als auch am zweiten Weihnachtstag nahm Olli nicht an den Familienfeierlichkeiten mit seinen und meinen Eltern teil. Er reagierte nicht auf meine Anrufe, ignorierte meine Nachrichten und öffnete nicht die Tür zu seiner neuen Wohnung, obwohl sein Wagen vor dem Haus parkte. Ich musste mich bis zum neuen Jahr gedulden, um ihn zur Rede zu stellen.

Am dritten Januar wartete ich auf dem Firmenparkplatz seines Arbeitgebers auf ihn. Er nahm keine Notiz von mir, als ich auf ihn zuging. Es schien, als wäre er tief in Gedanken versunken, als ich ihn ansprach und ihm Daniels Zeichnung überreichte.

»Die soll ich dir geben«, sagte ich knapp.

Mit bestürzter Miene nahm Olli sein Geschenk entgegen. »Es tut mir leid«, nuschelte er. »Ich konnte nicht kommen. Es war mir weder physisch noch psychisch möglich, euch zu sehen.«

Mir platzte der Kragen. Ich wurde lauter. »Was stimmt nicht mit dir?«

»Ich weiß es doch selbst nicht«, jaulte er. »Und du hilfst mir nicht dabei, es herauszufinden, wenn du täglich bei mir anrufst. Bitte, lass mich in Ruhe!«

»Geh zum Arzt, du Idiot!«, schrie ich ihn an. »Du tickst doch nicht mehr richtig!«

Mein verbaler Ausraster blieb nicht unbemerkt. Einige von Ollis Kollegen schauten konsterniert zu uns rüber.

»Hast du vor, mich noch mehr zu blamieren? Dann nur zu. Mir ist mittlerweile alles egal«, raunzte mein Mann mich an.

Ich sah ein, dass ich zu weit gegangen war, und ruderte sogleich zurück. Deutlich leiser und mit engelsgleicher Stimme fuhr ich fort. »Warum redest du nicht mit mir? Wir haben bisher über alles sprechen können. Warum machst du dicht? Was zum Teufel ist mit dir los? Ich erkenne dich nicht wieder.«

Er kniff die Augen zusammen. Es fühlte sich für mich an, als könne er meinen Anblick nicht ertragen. Er schluckte. Nach einer gefühlten Minute des Schweigens versprach er, sich bei mir zu melden. »Gib mir ein paar Tage«, bat er, und ich stimmte zu.

Aus Tagen wurden Wochen. Im Vorgarten des Mehrfamilienhauses, in dem ich nun allein mit Daniel wohnte, blühten bereits die Narzissen, als ich Olli dringend sprechen musste. Ich brauchte seine Zustimmung, um unseren Sohn nach den Sommerferien in einer privaten Kita unterzubringen, da wir in der bisherigen Einrichtung keinen Platz für eine Ganztagsbetreuung bekommen hatten. Als ich in seiner Firma anrief, musste ich erfahren, dass er nach wie vor arbeitsunfähig geschrieben war. Eine unbändige Angst machte sich in mir breit. Olli war krank? Was fehlte ihm?

Ohne lange zu überlegen, fuhr ich zu seiner Wohnung. Obwohl sein Wagen nicht zu sehen war, klingelte ich Sturm. Ein mir fremder Mann öffnete die Tür und teilte mir mit, dass er der Nachmieter sei.

»Und wo ist mein Mann?«

Diese Frage konnten auch meine Schwiegereltern mir nicht beantworten. Monika wurde leichenblass, als ich ihr berichtete, dass ihr Sohn die Wohnung aufgegeben hatte.

»Für mich sieht sein Verhalten nach einer schweren Depression aus«, mutmaßte ich und erkundigte mich bei meinem Schwiegervater, ob es in der Familie bereits ähnliche Fälle gegeben habe. »Die Wahrscheinlichkeit, daran zu erkranken, ist bei einer erblichen Vorbelastung um ein Vielfaches höher.«

»Erbliche Vorbelastung?«, regte Gerald sich auf. »Du attestierst meinem Sohn einen Dachschaden? Wer bist du, dass du eine solche Aussage treffen kannst? Hast du zwischenzeitlich Medizin studiert? Frage dich lieber, welchen Anteil du an seinem Abtauchen hast. Es wird schon einen triftigen Grund geben, weshalb er mit dir nichts mehr zu tun haben will.«

Er durchbohrte mich mit einem stechenden Blick, der mich frösteln ließ. Gleich darauf verließ er die Küche und knallte die Tür hinter sich zu.

Monika entschuldigte sich für sein Verhalten. »Es tut mir leid, Ana. Bei uns liegen die Nerven seit Monaten blank.«

Ich fragte bei Bekannten nach, doch niemand hatte Olli gesehen. Auch die Polizei war mir keine Hilfe. Olli war nicht auffindbar.

Inzwischen war es Sommer geworden. Noch immer hatte ich keine Ahnung, wo mein Mann sich befand, geschweige denn, wie es ihm ging. Es war mein Geburtstag, kein runder, aber meine Kolleginnen meinten, dass auch der dreiunddreißigste Grund genug sei, um die Puppen tanzen zu lassen. An sechs Tagen pro Woche täglich nahezu zwölf Stunden zu arbeiten, war an mir nicht spurlos vorübergegangen. Ich war ausgelaugt, sehnte mich nach einer Pause, einem langen Wochenende, das Daniel nicht wieder bei meiner Mutter verbringen sollte, sondern mit mir. Mein Junge fehlte mir unbeschreiblich, und er vermisste mich auch.

Ich nutzte die Mitarbeiterbesprechung, die mittags im Chefbüro stattfand, hob drei Finger und baute mich selbstbewusst vor meinem Boss auf. »Gib mir drei Tage frei oder du bist mich los«, forderte ich in einem Ton, der keinen Zweifel an meiner Drohung zuließ.

Erkan zuckte zusammen. Diese Art der Ansprache war er von seinen Angestellten nicht gewohnt.

»Ana, allein in der nächsten Woche stehen drei Hochzeiten an. Wie stellst du dir das vor?«

»Ich scherze nicht, Boss.« Erkan liebte es, wenn ich ihn so betitelte. »Es reicht! Ich kann nicht mehr. Es gibt auch noch ein Leben außerhalb deiner Agentur.«

»Ich weiß, wie schwer du es hast, seit du alleinerziehend bist …«

Weiter kam er nicht, denn sein vorwitziger Bruder, der in dem Familienunternehmen für die Personalleitung zuständig war, mischte sich mit einem unverschämten Kommentar ein. »Wenn Ana Entspannung braucht, sollte sie sich mal wieder kräftig durchnudeln lassen.«

Der erwartete Lacher der Belegschaft blieb aus.

»Mein Liebesleben geht dich einen feuchten Dreck an! Mach dir lieber Gedanken über die Zahlungen von Weihnachtsgeld und Urlaubsgratifikationen, wie es in jedem soliden Unternehmen üblich ist, statt uns mit lächerlichen Getränkegutscheinen abzuspeisen«, konterte ich und hatte nicht die Spur einer Ahnung, woher ich den Mut aufbrachte, das auszusprechen, was wir alle seit geraumer Zeit dachten.

Wegen des obszönen Spruchs wies Erkan seinen Bruder nicht in die Schranken, stattdessen wandte er sich erbost an mich.

»Behauptest du gerade, ich führe mein Unternehmen nicht solide?«

»Ich stelle lediglich fest, dass die Arbeitsbedingungen zum Himmel schreien. Du zahlst uns keine Überstunden, steckst dir das Trinkgeld der Kunden in die eigene Tasche und gewährst uns noch nicht einmal ein freies Wochenende.«

Erkan schnaubte, Mira und Ines duckten sich und mieden direkten Blickkontakt zu mir.

»Du bist mit den Arbeitsbedingungen nicht einverstanden?«, wiederholte mein Boss, während eine dicke Zornesfalte auf seiner Stirn hervortrat. »Dann solltest du dich nach einer anderen Stelle umsehen, wenn es dir hier nicht passt.«

»Eine gute Idee«, stimmte ich ihm trotzig zu. Im Raum wurde es augenblicklich mucksmäuschenstill. Es war noch nicht einmal ein Atemzug zu hören. Jeder wartete darauf, dass der Chef die Situation entschärfen, in die Hände klatschen und so wie üblich alle auffordern würde, ihr Bestes zu geben. Aber Erkan schwieg. Sekundenlang starrte er mich an, offensichtlich darauf wartend, dass ich meine Anschuldigung zurücknehme und mich entschuldige. Doch das tat ich nicht.

»Du willst gehen? Dann raus mit dir!«, schimpfte er. Ich folgte seiner Aufforderung, ging zum Parkplatz und setzte mich in meinen Wagen. Noch bevor ich abfahren konnte, klopften Ines und Mira an die Scheibe.

»Bist du von allen guten Geistern verlassen? Du kannst doch in deiner Situation nicht kündigen. Wie willst du ohne Gehalt über die Runden kommen?«

»Haltet die Klappe! Ein Wort der Zustimmung von euch, und es wäre nie so weit gekommen. Schließlich habe ich nicht nur für mich gesprochen.«

Ines konnte mir noch immer nicht in die Augen sehen.

»Aber es bleibt doch dabei, oder? Heute Abend lassen wir dich hochleben«, stotterte Mira.

»Vergiss es! Danach steht mir nach dem Debakel wirklich nicht der Sinn.«

Ich startete den Motor, gab Gas und fuhr zur Kita, um Daniel abzuholen.

In einer Eisdiele feierte ich mit ihm meinen Geburtstag und meine neue berufliche Freiheit, obwohl ich keinen Schimmer hatte, wie es weitergehen soll.

Als wir am späten Nachmittag zu Hause ankamen, lagen Blumen vor der Tür. Gleich nachdem ich aufgeschlossen hatte, nahm ich die Karte aus dem Strauß und fand nach Monaten ein erstes Lebenszeichen von Olli vor.

Alles Liebe zu deinem Ehrentag. In dringenden Angelegenheiten kannst du dich an die Kanzlei Wagner und Partner wenden. Dort gibt es einen Ansprechpartner, der mir deine Nachrichten weiterleitet. Ana, ich liebe dich. Vergiss das nie. Olli

Mir blieb die Luft weg. Anwalt? Er hatte einen Rechtsbeistand beauftragt, der meine Nachrichten an ihn weiterleiten soll? Immerhin lebt er, dachte ich, und spürte einen Funken Erleichterung. Ich rief sofort bei Monika an und berichtete ihr von Ollis Fünfzeiler.

»Hat er dir mitgeteilt, wo er steckt?«

»Nein, ich habe keine Ahnung, wo er ist.«

»Ach, Ana, das Ganze bringt mich noch um.«

Ich nickte stumm, denn ich wusste, dass all die Monate auch für Ollis Eltern schwer zu ertragen waren.

Über Tjorbens obligatorische Geburtstagskarte freute ich mich. Sie zauberte mir das erste und einzige Lächeln an diesem Tag ins Gesicht. Ich entschied, dass die Zeit gekommen war, ihn mit der Realität zu konfrontieren, denn daran, dass es sich bei Ollis Auszeit nur um eine vorübergehende Phase handelt, glaubte ich nicht mehr. Statt eine Postkarte nach Schweden zu schicken, verfasste ich eine E-Mail.

Liebster Freund,

danke für deine guten Wünsche. Ich wäre schon froh, wenn sich nur einer davon erfüllen würde. Olli hat mich verlassen. Schon vor Weihnachten. Niemand weiß, wo er sich aufhält. Heute bin ich mit meinem Chef aneinandergeraten und habe gekündigt. Wie nennt man das? Scherbenhaufen? Hoffentlich läuft es bei dir besser. Ich freue mich schon sehr auf deinen nächsten Schwedenkrimi. Mit einem guten Glas Wein werde ich mir die Verfilmung ansehen und mich an unsere guten und unbeschwerten Zeiten erinnern. Fühle dich fest von mir gedrückt. Deine Ana

Ich hatte gerade auf Absenden gedrückt, als meine Mutter mit ihrem Schlüssel die Tür aufschloss.

»Du bist schon da?«

Ich ging ihr im Flur entgegen. Als sie ihren Arm um mich legte und mir alles Liebe zum Geburtstag wünschte, brachen alle Dämme in mir. »Mama, ich weiß nicht, wie es weitergehen soll«, schluchzte ich. »Olli hat mir Blumen geschickt. In wichtigen Fragen soll ich mich an seinen Anwalt wenden.« Mit zittrigen Fingern reichte ich ihr die Karte.

Sie las und runzelte die Stirn. »Das ist gut. Jetzt hast du eine Anlaufstelle und kannst die Scheidung einreichen.«

Mir stockte der Atem. »Aber das will ich gar nicht.«

»Du willst diesen Spinner tatsächlich zurück? Nach alldem, was er dir und Daniel angetan hat?«

»Ich liebe ihn, und er liebt mich auch. Er hat es geschrieben. Lies doch!«

»Worte, nichts als leere Worte. Jemand, der aufrichtig liebt, tut seiner Familie so etwas nicht an. Wenn du mich fragst, lass ihn los und beginne ein neues Leben. Jung genug bist du.«

Nach dieser Ansage verkniff ich es mir, ihr von meiner Kündigung zu berichten. Wir tranken Kaffee und aßen den Kuchen, den sie mitgebracht hatte.

Am frühen Abend, Mutter war noch anwesend, ploppte mein Handy auf. Ich hatte eine Antwort von Tjorben erhalten.

Ana, ich bin schockiert. Was ist los bei euch? Ich dachte stets, ihr beide seid unzertrennlich. Bitte melde dich, wenn du mich brauchst. Du kannst immer auf mich zählen. Ich drücke dich, T.

»Wer schreibt dir?«, wollte Mutter wissen.

»Das war Tjorben. Erinnerst du dich an ihn?«

»Ob ich mich an deinen alten Schulfreund und Wegbegleiter erinnere, der es zu Ruhm und Anerkennung in Schweden gebracht hat? Wie könnte ich den vergessen? Für ihn hättest du dich damals entscheiden sollen, anstatt dich auf diesen Psycho einzulassen.«

Ich atmete tief durch. »Fein, dann weißt du ja, von wem die Rede ist.«

»Wie geht es ihm? Ist er mittlerweile verheiratet?«

Ich ahnte, was Mutter vorhatte, und nahm ihr gleich den Wind aus den Segeln. »Tjorben war und ist nur ein enger Freund.«

»Na ja, Freunde kann man nicht genug haben. Gehst du heute noch aus? Ich bleibe gern hier und bringe Daniel später ins Bett.«

»Nicht nötig, es gibt keine Feier. Ich werde den Abend in aller Ruhe zu Hause verbringen. Danke für den leckeren Kuchen«, sagte ich und verabschiedete sie mit einem zahnlosen Lächeln.

Bereits am nächsten Tag schlug ich beim besagten Anwalt auf. Ohne Termin wurde ich vorgelassen. Ich sah in die gütigen Augen eines älteren Herrn und beschwor ihn, bettelte ihn regelrecht an, mir den Aufenthaltsort seines Klienten zu verraten. Aber Wagner blieb stur, obwohl er offensichtlich Mitgefühl für mich empfand.

»Dann richten Sie ihm bitte aus, dass unser Sohn in drei Wochen eingeschult wird.« Ich nannte Zeit und Ort und verließ die Kanzlei. Gleich darauf beschloss ich, mich um meine berufliche Zukunft zu kümmern.

Das Durchforsten der zahlreichen Jobbörsen im Netz konnte ich mir sparen. Ich erinnerte mich an Herrn Berger, einen einflussreichen Kaufmann, für den ich erst vor ein paar Wochen sein Firmenjubiläum ausgerichtet hatte. Er war von meiner Perfektion so sehr angetan, dass er mich vom Fleck weg abwerben wollte. »Wenn Sie sich irgendwann mal beruflich umorientieren wollen, dann melden Sie sich«, bot er mir an und reichte mir seine Visitenkarte.

Ohne zu zögern, rief ich ihn an. »Steht Ihr Angebot noch?« Im ersten Moment stand er auf dem Schlauch. Ich musste ihm auf die Sprünge helfen, doch danach lud er mich sofort zu einem Vorstellungsgespräch ein. Wir vereinbarten einen Termin für den frühen Nachmittag.

Als ich Daniel später aus der Kita abholte, befand sich ein unterzeichneter Anstellungsvertrag in meiner Aktentasche.

Der große Tag war gekommen. Daniel wurde ein Schulkind. Mein Herz klopfte noch schneller als seins, als wir die Aula betraten und ich Ausschau nach Olli hielt. Doch in der Menge der zahlreichen Abc-Schützen und ihrer Eltern, die gespannt darauf warteten, dass ihre Namen aufgerufen wurden, konnte ich ihn nicht entdecken. Rasch wurde mir klar, dass er am bisher wichtigsten Tag im Leben unseres Sohnes nicht dabei sein wollte.

Monika war allein erschienen. Sie druckste herum, als meine Eltern sie fragten, wo Gerald stecke. »Er kann heute nicht. Es tut ihm sehr leid.«

Ich glaubte meiner Schwiegermutter kein Wort. Seit ich das Thema Depression angesprochen hatte, ging Gerald mir aus dem Weg. Aber er mied nicht nur mich, sondern zeigte auch Daniel plötzlich die kalte Schulter.

»Opa ist komisch. Er redet nicht mit mir, er schaut mich nur an«, sagte mein Kleiner jüngst zu mir und wollte Ollis Eltern fortan nicht mehr besuchen. Ich konnte mir keinen Reim auf das Verhalten meines Schwiegervaters machen. Meine Mutter war sich sicher, den Grund zu kennen.

»Das fragst du noch? Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm. Gerald hat eine ausgewachsene Macke, und die hat er an seinen Sohn vererbt. Lass dich endlich scheiden und schließe mit dieser schrecklichen Mischpoke ab.«

Am Abend schrieb ich Tjorben, dem einzigen Menschen auf diesem Planeten, der mich verstand. Er meldete sich sofort, nachdem ich ihm von der Einschulung berichtet hatte.

Es tut mir unfassbar leid für euch. Dass Olli sich den wichtigsten Tag seines Sohnes entgehen lässt, kann ich nicht nachvollziehen. Doch nun zu dir. Wie gefällt dir dein neuer Job?

Ich stöhnte leise auf, bevor ich ihm wahrheitsgemäß antwortete.

Die Aufgabe erfüllt mich nicht, aber immerhin habe ich feste Arbeitszeiten und am Wochenende garantiert frei.

Dass du einer Arbeit nachgehst, die dich nicht erfüllt, gibt mir zu denken. Ana, verschwende bitte nicht dein Talent. Du kannst so viel mehr. Du gehörst nicht in die zweite Reihe, sondern ganz nach vorn. Warum machst du dich nicht selbstständig? Davon hast du früher immer geträumt. Jetzt ist die Zeit gekommen, deine Träume zu verwirklichen.

Die Art und Weise, wie Tjorben mir Mut zusprach, rührte mich.

Ich weiß nicht, ob gerade jetzt der richtige Zeitpunkt dafür ist, redete ich mich heraus.

Doch er ließ nicht locker und setzte nach.

Das Leben geht selten geradlinig seinen Weg. Es windet sich in Kurven, man stolpert über Steine und findet sich manchmal an Kreuzungen wieder, an denen jeder Pfad eine Entscheidung fordert. Du stehst gerade an solch einem Wendepunkt, der deine Zukunft nachhaltig verändern kann. Du musst dich nur trauen.

Leise kicherte ich, denn seine Hartnäckigkeit amüsierte mich. Ich versprach, über seine Anregung nachzudenken, und antwortete in meiner letzten Mail mit den Worten: Bis bald, mein wahrer Freund.

Gleich nachdem ich den Computer ausgeschaltet hatte, verwarf ich seinen Vorschlag. Nein, mich jetzt selbstständig zu machen, konnte ich meinem Sohn nicht zumuten. Uns ging es doch gut. Finanziell kamen wir über die Runden, zumal Olli nach wie vor die Miete und die Nebenkosten zahlte.

Seitdem Daniel zur Schule ging, füllten sich unsere Tage mit einer Routine, die ich allmählich zu schätzen lernte. Meine monotone Arbeit hatte auch etwas Gutes. Ich kam auf diesem anspruchslosen Posten endlich zur Ruhe.

Tjorbens Rat, mich selbstständig zu machen, war zunächst nur ein leiser Hauch, der an mir vorbeizog, doch mit jeder weiteren Woche, die verstrich, wuchs er zu einem machtvollen Sturm heran. Die Idee, wieder in die Eventplanung einzusteigen, aber diesmal auf eigene Faust, fühlte sich nicht mehr wie ein Traum an, sondern stellte eine greifbare Möglichkeit dar.

Sobald Daniel schlief, nutzte ich die Abende und begann, meine Gedanken zu ordnen, Ideen zu entwickeln und Pläne zu schmieden. Just in dem Moment, als ich mich entschied, es tatsächlich zu wagen, klingelte mein Handy. Ines rief mich an. In meiner grenzenlosen Euphorie wollte ich ihr sogleich von meinem Vorhaben berichten, doch sie kam mir zuvor. In ernster Tonlage teilte sie mir mit, Olli am Bahnhof aufgelesen zu haben.

»Er ist in einem erbärmlichen Zustand. Ich habe ihn mit zu mir nach Hause genommen, aber hier kann er nicht bleiben.«

Entsetzt schlug ich mir die Hand vor den Mund. »Ich komme sofort«, versprach ich und legte auf. Doch sofort konnte ich die Wohnung nicht verlassen. Daniel spätabends allein zu lassen, kam für mich nicht infrage. Ich meldete mich bei Monika, schilderte ihr in kurzen Worten, was ich gerade erfahren hatte, und bat sie, schnellstens herzukommen. 

Eine Viertelstunde später gaben wir uns die Klinke in die Hand. Als ich nach weiteren zwanzig Minuten bei Ines eintraf, war Olli verschwunden.

»Er hat panisch die Flucht ergriffen, als er gemerkt hat, dass ich mit dir telefoniert habe.«

»Was meintest du mit ›erbärmlichem Zustand‹?«

Ines zögerte. »Er war völlig zugedröhnt. Sein Äußeres und sein Geruch ließen darauf schließen, dass er auf der Straße lebt.«

Mir wurde augenblicklich schlecht. »Was hat er zu dir gesagt?«

»Dass er dich liebt, ihm alles sehr leidtäte und …«

»Und was noch, Ines? Lass dir doch nicht jedes Wort aus der Nase ziehen!«

»Und dass er mit dieser Schuld nicht länger leben könne.«

Ich riss die Augen auf. »Olli ist nicht klar bei Verstand. Er braucht Hilfe! Wie konntest du ihn gehen lassen?«

Diesen Vorwurf wies Ines entschieden von sich. Statt mich zu streiten, fuhr ich auf schnellstem Weg nach Hause.

Monika erwartete mich bereits mit Spannung. »Wo ist er?«

»Weg. Er hat das Weite gesucht, noch bevor ich eingetroffen bin.« Ich strich mir nervös durch die Haare. »Meine ehemalige Kollegin hat behauptet, Olli wäre auf Drogen gewesen. Seine Kleidung beschrieb sie als dreckig, und er soll entsetzlich gestunken haben. Sie meint, er würde obdachlos auf der Straße leben. Kannst du dir das vorstellen?«

Während ich einen Weinkrampf bekam, behielt Monika die Nerven. »Das ist immerhin ein Anhaltspunkt. Gerald und ich werden die ganze Stadt nach ihm absuchen, bis wir ihn gefunden haben. Hat deine Kollegin sonst noch etwas gesagt, was uns weiterhelfen könnte?«

Ich presste die Lippen zusammen und schüttelte den Kopf.

»Bitte, verheimliche mir nichts. Ich bin seine Mutter und habe das Recht auf die ganze Wahrheit.«

»Er soll gesagt haben, dass er mit dieser Schuld nicht weiterleben könne. Aber ich würde ihm doch verzeihen, weil ich weiß, dass er uns nur verlassen hat, weil er psychisch krank ist.«

Monika hob die Brauen. »Sag das bloß nicht, wenn Gerald dich hören kann.«

»Wie sollte er mich hören? Er geht mir doch seit Monaten aus dem Weg. Vermutlich gibt er mir die Schuld an dem ganzen Desaster. Meinetwegen soll er das weiterhin denken, wenn er sich dadurch besser fühlt. Aber wie er sich Daniel gegenüber verhält, ist einfach nur schäbig.«

Ich hatte Monika zuvor noch nie derart aufgebracht erlebt. »Schäbig? Gerald hat seit Monaten eure Mietzahlungen übernommen. Ohne ihn hätte man euch die Wohnung längst fristlos gekündigt. Also, überlege dir genau, was du sagst.«

Für einen Augenblick hatte es mir die Sprache verschlagen. »Das wusste ich nicht. Ich bin fest davon ausgegangen, dass die monatlichen Kosten weiterhin von Ollis Konto abgebucht wurden.«

»Und du glaubst, auf seinem Konto wäre noch Geld? Woher sollte das denn kommen? Er verdient doch nichts mehr, und arbeitslos hat er sich nicht gemeldet.«

Ich wurde das Gefühl nicht los, dass Monika noch viel mehr wusste, als sie mir gegenüber bisher eingeräumt hatte. »Woher nimmst du all die Kenntnisse?«, fragte ich und schaute ihr direkt in die Augen. Sie hielt meinem Blick nicht stand, und in mir wuchs eine leise Ahnung. »Sag mir nicht, dass du immerzu Kontakt zu ihm hattest.«