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In der malerischen Heidelandschaft führen Anne und ihre erwachsene Tochter Tilda ein beschauliches Leben. Doch hinter der scheinbaren Idylle lauert eine große Herausforderung: Annes Vater leidet an Demenz. Als wäre das nicht schon genug, befindet sich Annes beste Freundin Birte in einer Lebenskrise und zieht bei ihr ein. Tilda wünscht sich nichts sehnlicher, als endlich die Familie ihres Freundes kennenzulernen. Eine Segeltour durch den Göta-Kanal bietet die Möglichkeit dazu. Doch auf der Reise kommt es mitten in der schwedischen Natur zu einer unerwarteten Begegnung, die ein längst verborgenes Geheimnis ans Licht befördert, das zur Sommersonnenwende die Leben aller Beteiligten verändert.
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Seitenzahl: 278
Originalausgabe
© 2024 HarperCollins in der
Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg
Covergestaltung von Zero Media, München
Coverabbildung von FinePic®, München
E-Book-Produktion von GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN E-Book 9783749906932
www.harpercollins.de
ANNE
Kuh oder Ziege
In diesem Jahr habe ich mir den obligatorischen Frühjahrsputz gespart. Der Grund, weshalb ich mich dazu entschieden habe, war der, dass es gar keinen Frühling gab. Meine liebste Jahreszeit fand nicht statt. Von März bis Mai herrschte typisches Aprilwetter. Wenn es nicht stürmte, prasselten ständig Regenschauer nieder. Es verging kein Tag, an dem ich nicht durchgepustet wurde oder nass geworden bin. Früher habe ich den Einfluss von Wetter auf das persönliche Wohlbefinden für blanke Einbildung gehalten. Doch mittlerweile bin ich zu der Überzeugung gelangt, dass an dem Thema »Wetterfühligkeit« doch etwas dran sein könnte. Ich mache den Mangel an Sonnenlicht für meine permanente Niedergeschlagenheit verantwortlich. »Problem erkannt – Problem gebannt«, sage ich zu mir und nehme mir vor, morgen den Hausarzt meines Vertrauens zu konsultieren. Dass ich dafür von meinem Zuhause in der Heide fünfzig Kilometer fahren muss, nehme ich gern in Kauf.
Ohne Termin schlage ich morgens in der Hamburger Praxis auf. Als ich sehe, welch reger Betrieb herrscht, bitte ich die Sprechstundenhilfe, mir nur ein Rezept auszustellen. Nach vorheriger Onlinerecherche habe ich mich für ein hoch dosiertes Vitamin-D-Präparat entschieden, das meine Lebensgeister aus dem Winterschlaf wecken soll. Doch so reibungslos, wie ich es mir vorgestellt habe, klappt es nicht. Kurzerhand werde ich von der resoluten Empfangsdame in den Wartebereich geschickt.
Geschlagene zwei Stunden sitze ich zwischen keuchenden und schniefenden Patienten und hoffe darauf, als Nächste aufgerufen zu werden. Just in dem Moment, als mir der Geduldsfaden reißt und ich beschließe, mir in der Apotheke ein frei verkäufliches Mittel zu besorgen, öffnet sich die Tür. Uli, der Doc, der mit meiner besten Freundin Birte verheiratet ist, erlöst mich höchstpersönlich aus dem Viren-Hotspot. Obwohl wir uns gut kennen, spricht er mich förmlich an. »Frau Töpfer, bitte.«
Erst als ich ihm im Untersuchungszimmer gegenübersitze, wechselt er zum Du und schaut mich prüfend an. »Na, was führt dich zu mir, Anne?«
»Ich bin ständig müde, obwohl ich genug Schlaf bekomme. Irgendwie fühle ich mich schlapp und antriebslos. Mir fehlt die Sonne.«
»Schon mal an Urlaub im Süden gedacht?«, witzelt er und hört mich ab, misst meinen Blutdruck und prüft den Sauerstoffgehalt mittels Pulsoximeter. Gleich darauf gibt er Entwarnung. »Deine Werte sind in Ordnung. Allerdings …« Nach kurzem Zögern fährt er fort. »Mir ist aufgefallen, dass du zugelegt hast, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben. Weißt du nicht, dass Fettleibigkeit zu gesundheitlichen Problemen führt?«
Ich reiße ungläubig die Augen auf. Hat er mich gerade »fett« genannt? Es ist unstrittig, dass ich zugenommen habe. Die Rede ist von einigen Kilo Hüftgold, die sich hartnäckig halten und mich von meinem Idealgewicht trennen. Ich versuche mich in Erklärungen. »Es ist doch normal, dass sich der Körper in den Wechseljahren verändert.«
»Dumme Ausrede! Die Menopause ist keine Entschuldigung dafür, sich gehen zu lassen.« Verschwörerisch zwinkert er mir zu. »Ich verrate dir mal was. Übergewichtige Frauen wirken nicht gerade sexy auf Männer. Gerade in deinem Alter ist es wichtig, auf die Figur zu achten.«
Was erlaubt er sich? Und was bedeutet: In meinem Alter? Wieso sagt er nicht in unserem Alter? Wenn ich mich nicht täusche, ist er mein Jahrgang.
»Du hast die Wahl, Anne. Kuh oder Ziege? Es ist deine Entscheidung. Das predige ich meiner Frau auch ständig.«
Jetzt weiß ich, dass er lügt. Uli würde sich niemals trauen, Birte eine solche Unverschämtheit an den Kopf zu werfen. Sie würde derart mit ihm Schlitten fahren, dass ihm Hören und Sehen vergeht. Den Blick auf seinen Monitor gerichtet rät er mir, mehr Sport zu treiben und auf meine Ernährung zu achten. »Dein letzter Check-up liegt schon eine Weile zurück. Es wird mal wieder Zeit für ein großes Blutbild. Bist du nüchtern?«
»Nein, ich habe bereits gefrühstückt.«
»Dann komm morgen vor der Sprechstunde vorbei. Einen Termin brauchst du dafür nicht. Und sonst? Wie läuft es zu Hause? Wohnt Tilda noch immer im Hotel Mama? Und wie geht es deinem Vater?«
Nachdem ich den halben Vormittag damit vertrödelt habe, mir auf unverfrorene Art anzuhören, was meine Waage mir längst offenbart hat, steht mir nicht der Sinn nach einer privaten Unterhaltung mit ihm. »Danke der Nachfrage. Daheim läuft alles bestens.« Ich nehme das Rezept entgegen und verzichte darauf, Birte Grüße von mir auszurichten. Das ist nicht nötig, da ich vorhabe, ihr einen kurzen Besuch abzustatten, bevor ich den Rückweg in die Lüneburger Heide antrete. Per Handschlag verabschiede ich mich.
Seine Worte hallen noch minutenlang in mir nach. Was ist bloß in ihn gefahren? Offensichtlich ignoriert er, dass der Zahn der Zeit auch an ihm genagt hat. »Fass dir an die eigene Nase!«, hätte ich kontern sollen, statt zu verstummen. Leider gehört Schlagfertigkeit nicht zu meinen Stärken. Zu dumm, dass mir passende Retourkutschen immer erst einfallen, wenn es zu spät ist.
Auf der Fahrt durch die Elbvororte bemerke ich, dass die Vegetation hier deutlich weiter vorangeschritten ist als bei mir auf dem Land. Die Bäume am Straßenrand tragen sattes Grün, und das Thermometer zeigt stolze zwanzig Grad, obwohl die Sonne den Zenit noch gar nicht erreicht hat. Ich freue mich wie verrückt darauf, bei Birte auf der Terrasse zu sitzen und meinen Blick über ihr topgepflegtes Anwesen schweifen zu lassen. Meine Freundin verfügt über das, was man gemeinhin als grünen Daumen bezeichnet. Ich kenne keine andere Person, die sich der Botanik mit so viel Hingabe und Leidenschaft widmet wie sie. Bei Birte blüht es bis in den Spätherbst hinein, indes in meinen Beeten lediglich das Unkraut sprießt. Ich bin, was Gartenarbeit angeht, eine absolute Niete.
Sie reagiert nicht auf mein Klingeln. Da ihr Wagen vor der Garage parkt, gehe ich davon aus, dass sie zu Hause ist. Ich werfe einen Blick über die Gartenpforte und entdecke sie sogleich. Schnaubend schleppt sie einen schweren Sack Blumenerde über den akkurat geschnittenen Rasen.
»Heb dir bloß keinen Bruch«, rufe ich ihr zu und trete ein. »Wieso nimmst du keine Schubkarre zu Hilfe?«
Sie wirft den Sack auf den Boden und wischt ihre Hände an der karierten Schürze ab. »Die hat Uli unserem neuen Nachbarn geborgt. Aber bisher hat er es nicht für nötig gehalten, sie zurückzugeben, obwohl ich sie bitter nötig hätte. Meine vorgezogenen Dahlien sind den Eisheiligen zum Opfer gefallen. Sie haben den Nachtfrost nicht überstanden. Alle Mühe war umsonst.«
Ich stehe auf dem Schlauch. »Welcher neue Nachbar?«
Mit ausgestrecktem Arm deutet sie nach links auf das angrenzende Grundstück, auf dem eine verfallene Laube steht. Bis vor ein paar Wochen hat dort ein alter, alleinstehender Mann mehr gehaust als gewohnt. Birte war dieser Schandfleck von Anfang an ein Dorn im Auge. Damals hatte sie sich mit Händen und Füßen gewehrt, ihr neues Zuhause neben dieser Bruchbude entstehen zu lassen. Nur unter der Bedingung, einen Sichtschutz in Form einer mannshohen Rhododendronhecke zu pflanzen, hat sie vor fünfzehn Jahren dem Bau ihrer mondänen Stadtvilla auf diesem Platz zugestimmt.
»Ich habe so einen Hals«, schimpft sie und unterstreicht ihre Aussage mit einer entsprechenden Geste.
»Wegen der Schubkarre? Wo ist das Problem? Geh doch einfach rüber und hol sie dir zurück.«
»Vergiss die Karre! Deshalb bin ich nicht wütend. Ich bin stinksauer auf Uli. Er wusste genau, wie wichtig mir das Nachbargrundstück war. Ich hatte den alten Kauz bereits so weit gebracht, dass er an uns verkaufen wollte. Wir hätten lediglich zum Notar gehen müssen, um den Kaufvertrag beurkunden zu lassen. Aber mein viel beschäftigter Gatte konnte keine Stunde seiner kostbaren Zeit opfern, um den Termin wahrzunehmen. Jetzt ist das eingetroffen, was ich immer befürchtet habe. Der Alte ist gestorben, und ich wische mir die Nase.«
Ich höre zum ersten Mal von ihrem Vorhaben. »Du wolltest das Nachbargrundstück kaufen? Wozu?«
»Für mein Gewächshaus. Ich hätte die Schrotthütte abreißen lassen und stattdessen ein großes Glashaus errichtet, in dem meine kälteempfindlichen Pflanzen überwintern können. Es war bereits alles in die Wege geleitet. Sogar meine Bauvoranfrage wurde positiv beschieden, aber Mister Wichtig hat mir einen fetten Strich durch die Rechnung gemacht. Ich weiß nicht, wem ich lieber an die Gurgel gehen möchte. Uli oder dem Kerl, der das Grundstück nebst Altlasten geerbt hat.«
»Es gibt einen Erben? Hieß es nicht stets, der Kauz hätte keine Angehörigen?«
Birte wirft einen hasserfüllten Blick über die Hecke. »Angeblich ist der Typ ein Verwandter um sieben Ecken, der noch nicht einmal von der Existenz des Verstorbenen gewusst hat.«
»Beabsichtigt er, dort einzuziehen?«
Birte zuckt mit den Achseln. »Keine Ahnung, was er vorhat. Auf jeden Fall hat er mein Angebot, ihm die Parzelle abzukaufen, mit einem müden Lächeln abgelehnt.«
»Sieh es doch positiv. Wenn er neu baut, verschwindet die Bruchbude. Ein Gewächshaus kannst du auch bei mir aufstellen. Platz genug habe ich.«
Mein Versuch, sie aufzumuntern, läuft ins Leere.
»Darum geht es doch gar nicht!«
»Sondern?«
»Es geht ums Prinzip. Uli hat mich hängen lassen. Mal wieder. Meine Wünsche sind ihm völlig schnuppe.«
Ich nehme ihr die Entscheidung ab. »Verschone deinen Nachbarn und geh Uli an die Gurgel. Er hat es verdient. Ich war heute bei ihm in der Praxis. Du glaubst nicht, was er sich geleistet hat. Er nannte mich fettleibig und stellte mich vor die Wahl, Kuh oder Ziege zu sein.«
Birte lacht. »Und? Wie hast du dich entschieden?«
Bitte? Sie wirft sich nicht für mich in die Bresche, sondern teilt seine Meinung. »Kuh! Eindeutig Kuh! Die Zeiten, dass ich mich kasteie, um anderen zu gefallen, sind endgültig vorbei. Entweder man mag mich so, wie ich bin, oder …«
Sie beendet meinen Satz. »Oder sie können uns alle mal …«
Gleich darauf schlägt sie vor, auf die Terrasse zu gehen und einen Kaffee zu trinken. »Vielleicht magst du lieber etwas Erfrischendes? Ich habe Eistee vorbereitet.«
Ich entscheide mich für das Kaltgetränk und rücke den Korbsessel zurecht, um mir die Sonne ins Gesicht scheinen zu lassen, als mein Handy klingelt.
TILDA
Halbe-halbe
Liebend gern würde ich das Nest verlassen und nach zwei Jahren Beziehung mit meinem Freund zusammenziehen. Doch Luka stellt hohe Ansprüche an unser gemeinsames Zuhause. Obwohl er ein Vielfaches mehr verdient als ich, besteht er darauf, dass wir bei allen Ausgaben fifty-fifty machen. Meine Freunde halten ihn für knauserig. Aber ich kenne den wahren Grund für seine Haltung. Nachdem seine erste Ehe nach kurzer Zeit gescheitert ist und er Alimente für Ex-Frau und Kind zahlen muss, kommt es für ihn nicht infrage, jemals wieder als »Zahlmeister« ausgenutzt zu werden. Als emanzipierte Frau, die mit beiden Füßen auf dem Boden steht, stellt diese Regel kein Problem für mich dar. Ich brauche keinen Mann, der mich aushält. Mir genügt es, dass wir gemeinsame Interessen haben und unser Liebesleben auf einer Skala von eins bis zehn eine satte Neun verdient.
Auch heute treffen wir uns während meiner Mittagspause, weil er mir ein Penthouse im Stadtteil Winterhude zeigen will.
Seine Augen leuchten, als wir das noble Objekt besichtigen. Es handelt sich um Erstbezug mit einer tollen Raumaufteilung und einer traumhaften Ausstattung, die keine Wünsche offenlässt.
»Das ist es! Oder was meinst du, Tilda?«
Auch mir gefallen die hundertzwanzig Quadratmeter, wäre da nicht die horrende Preisforderung.
»Wir sollten nichts überstürzen«, antworte ich, obgleich für mich feststeht, dass der gemeinsame Kauf meine finanziellen Möglichkeiten erheblich übersteigt. Ich arbeite doch nicht, um eine Hypothek zu bedienen. Lieber investiere ich mein überschaubares Gehalt in Hobbys, Reisen, gutes Essen und gelegentlich in Klamotten, die nur im Schrank hängen, weil es keine Gelegenheit gibt, sie zu tragen.
Nach einem Blick auf die Uhr bitte ich ihn, mich zurückzubringen.
Auf der kurzen Fahrt redet er unentwegt auf mich ein. In Gedanken hat er die Räume bereits komplett eingerichtet und malt unser künftiges Zusammenleben in schönsten Farben aus.
Ich bereite seiner Euphorie ein abruptes Ende. »Vergiss es. Keine Bank wird mir einen Kredit in der erforderlichen Höhe gewähren.«
Luka greift nach meiner Hand. »Keine Sorge, Schatz. Bei deinen Sicherheiten wird das kein Problem sein.«
Laut hörbar atme ich durch die Nase aus. »Zum allerletzten Mal. Mein Elternhaus ist tabu. Mein Vater hat gewollt, dass Mutter und ich nach seinem Tod finanziell abgesichert sind und wir immer ein Dach über dem Kopf haben.«
Ich war noch ein Vorschulkind, als die Polizei abends bei uns klingelte und die Schreckensnachricht überbrachte. Mein Vater kam bei einem Verkehrsunfall ums Leben. Er wurde nur zweiunddreißig Jahre alt. Es war das erste und letzte Mal, dass ich meine Mutter habe weinen sehen. Fortan war sie mein Fels und ich ihr Halt. Niemals käme ich auf die Idee, zu ihren Lebzeiten auf die Auszahlung meines Erbes zu bestehen.
Luka fragt ungläubig nach. »Ist das dein letztes Wort in dieser Sache?«
»Absolut!«
Er stoppt den Wagen direkt vor dem Eingang der Kanzlei, in der ich arbeite. Weil ich nicht im Streit mit ihm auseinandergehen möchte, beuge ich mich zur Fahrerseite und spitze meine Lippen. Obwohl Luka schmollt, küsst er mich. Ich steige aus und marschiere ins Gebäude, wo ich bereits sehnlich erwartet werde.
»Tilda, dein Opa hat mehrfach angerufen. Er klang sehr aufgebracht«, offenbart mir meine Kollegin.
Hektisch ziehe ich mein Handy aus der Tasche und melde mich bei ihm. »Alles in Ordnung, Opi?«
»Nichts ist in Ordnung«, schimpft er. »Ich warte seit zwei Stunden auf dich. Du wolltest doch herkommen und meine Fenster putzen.«
Angestrengt denke ich nach. Ich kann mich nicht daran erinnern, ihm versprochen zu haben, ihn heute zu besuchen.
»Du musst dich irren, Opi. Heute ist Mittwoch, und ich muss arbeiten. Wenn du willst, komme ich am Wochenende zu dir.«
»Aber meine Fenster sind schmutzig. Es ist, als würde ich durch Milchglas schauen.«
»Hast du deine Brille aufgesetzt?«
»Vergiss es, Anne. Auf dich ist einfach kein Verlass!«
Zack. Er hat aufgelegt und mich mal wieder mit meiner Mutter verwechselt. Noch auf dem Weg zu meinem Schreibtisch rufe ich sie an. »Wo steckst du, Mama?«
»Ich bin in Hamburg bei Birte. Wieso?«
»Warst du heute mit Opa verabredet? Er wartet darauf, dass du seine Fenster putzt.«
Ihr Stöhnen ist nicht zu überhören. »Das habe ich doch gestern schon erledigt. Meine Güte, er wird immer schusseliger.«
Sie legt auf und lässt mich mit einem mulmigen Gefühl zurück. Ich nehme mir fest vor, nach Feierabend bei ihm vorbeizufahren und nach dem Rechten zu sehen.
Mit meinem Firmenflitzer düse ich nachmittags über die Elbbrücken. Bereits unterwegs rufe ich Opa an, um meinen Besuch anzukündigen. Dass er sich nicht meldet, beunruhigt mich. Ich hoffe inständig, dass er nicht wieder etwas Dummes angestellt hat, so wie vor zwei Monaten, als er seine Küche in Brand setzte und um ein Haar das Haus abgefackelt hätte. Es war ein Segen, dass die Nachbarn den Rauchmelder hörten und ihm sofort zu Hilfe eilten. Seither bekommt er Essen auf Rädern, das mittags angeliefert wird und bei Bedarf in der Mikrowelle erhitzt werden kann.
Als ich vor seiner Doppelhaushälfte vorfahre, fällt mir sofort die graue Styroporbox vor der Eingangstür ins Auge.
Ich nehme sie an mich und schließe mit meinem Schlüssel auf. »Opi«, rufe ich. »Ich bin es.«
Keine Reaktion. Erfolglos suche ich alle Zimmer nach ihm ab. Die offen stehende Küchentür lässt vermuten, dass er sich draußen aufhält. Und richtig. Er liegt schlafend auf seiner Hollywoodschaukel. Das wäre nicht ungewöhnlich, wenn man davon absieht, dass er keine Kleidung trägt.
Energisch spreche ich ihn an. »Wieso hast du nichts an?«
Als er die Augen aufschlägt, nennt er mich »Kindchen«. Offensichtlich kann er sich in diesem Moment nicht an meinen Namen erinnern.
»Du musst dich anziehen.«
»Warum?«
Statt mit ihm zu diskutieren, laufe ich ins Haus und hole seinen Morgenmantel aus dem Bad.
Minuten später reiche ich ihm drinnen frische Wäsche. Während er sich nebenan ankleidet, inspiziere ich in der Küche seine Wasservorräte. Die Kiste, die ich ihm am letzten Samstag gebracht habe, ist noch komplett gefüllt.
»Opa, du musst essen und trinken.«
Er nickt, aber ich bin mir sicher, dass meine Mahnung ihn gar nicht erreicht. Ich beschließe, ihn heute nicht sich selbst zu überlassen.
»Putzt du jetzt die Fenster?«
Ich nehme seine Brille vom Tisch, reinige sie mit einem Putzmittel über dem Spülbecken und setze sie ihm auf. »Siehst du? Alles picobello sauber.«
»Prima«, freut er sich. »Jetzt kann man wieder rausgucken. Danke, Kindchen.«
Ich ertrage es nicht, dass er mich so nennt, und schaue ihm direkt in die Augen. »Wer bin ich, Opi? Wie heiße ich?«
»Du bist mein Sonnenschein.«
»Und wie lautet mein Name?«
Er fällt ihm nicht ein. Stattdessen singt er: »You are the sunshine of my life.« Danach nimmt er mich fest in den Arm und drückt mich so fest, dass mir der Atem wegbleibt.
Ich muss dringend dafür sorgen, dass er ausreichend Flüssigkeit zu sich nimmt. Rasch schenke ich uns zwei Gläser Sprudel ein und fordere ihn heraus. »Mal sehen, wer es schafft, das Glas als Erster zu leeren.«
Er trinkt vor mir aus und fragt mich nach der Uhrzeit.
Als ich sie ihm sage, verfällt er in Panik. »Was? Schon so spät? Verdammt, ich muss zur Arbeit. Wieso hältst du mich im Schnack auf, wenn du genau weißt, dass ich in Eile bin? Ich habe mich noch nie verspätet. Oh, das gibt Ärger mit meinem Chef.«
»Opa, du musst nirgendwohin. Du bist Rentner.«
Er schaut mich an. »Wer sind Sie?«
Ich kämpfe mit den Tränen. »Ich bin es doch. Deine Tilda. Erkennst du mich nicht?«
Er zögert. »Natürlich. Ich bin doch nicht meschugge.«
Ich schalte den Fernseher an und reiche ihm die Fernbedienung. Nachdem er durch alle Programme gezappt hat, scheint er eine Sendung gefunden zu haben, die ihn interessiert. Gebannt schaut er auf die Mattscheibe und folgt einem Beitrag über Haie und andere Meeresbewohner. Ich nutze den Moment und rufe abermals meine Mutter an. Den Fahrgeräuschen nach zu urteilen, befindet sie sich im Auto.
Sie bestätigt meine Annahme. »Ich habe mich bei Birte festgequatscht, aber jetzt bin ich auf dem Rückweg. Bist du schon zu Hause?«
»Nein, ich bin bei Opa. Er ist in einer Verfassung, in der wir ihn nicht sich selbst überlassen können. Deshalb nehme ich ihn mit.«
Ich ahne, dass sie von meiner Idee nicht begeistert ist. Aber ich bleibe dabei. Schließlich haben wir ausreichend Platz für ihn. Er könnte in dem Raum übernachten, der ursprünglich als Gästezimmer vorgesehen war, jedoch noch nie Gäste beherbergt hat. Unsere Freunde aus Hamburg bleiben nie über Nacht. Sollten sie uns tatsächlich mal besuchen, treten sie den langen Heimweg vor Einbruch der Dunkelheit an.
Skeptisch fragt sie nach. »Und damit ist der Sturkopf einverstanden?«
»Noch weiß er nichts davon. Keine Sorge. Es wird mir schon gelingen, ihn zu überzeugen.«
Sie wünscht mir viel Glück und beendet das Gespräch.
BIRTE
Grenzstein
Unangemeldeten Besuch zu bekommen, schätze ich gar nicht. Es gibt nur eine Person, die spontan bei mir klingeln darf, und das ist meine Freundin Anne. Sie ist mir jederzeit willkommen. Leider verlässt sie viel zu selten ihr Kaff in der Lüneburger Heide. Obwohl sie gebürtige Hamburgerin ist, käme es für sie nicht mehr infrage, in der Stadt zu leben. Im Laufe der Jahre ist sie zu einem Landei mutiert. Zu einem gewichtigen Landei, aber das habe ich für mich behalten, als sie mich gebeten hat, ein Urteil über ihre Figur zu fällen, das machen Freundinnen schließlich so. Dabei ist nicht zu übersehen, dass sie wie ein Hefekloß aufgegangen ist.
Viel zu schnell ging unsere Plauderstunde vorbei. Liebend gern hätte ich noch länger mit ihr gequatscht und sie gefragt, wie ihre Geschäfte laufen. Anne betreibt eine Galerie für Glaskunst auf ihrem Anwesen. Mehrmals im Jahr stellen internationale Künstler ihre Arbeiten in ihrer umgebauten Scheune aus. Zu diesen Events reisen betuchte Besucher aus ganz Deutschland an, die ihr sündhaft teure Stücke abkaufen. Bei der letzten Veranstaltung hat sie ein Exponat, das keinerlei Nutzen hatte, an den Mann gebracht. »Was soll das darstellen?«, wollte ich von ihr wissen und warf einen Blick auf das Preisschild. »Im Ernst? Das Ding kostet zwanzigtausend Euro? Mit der Summe könnte ich mein Grundstück in einen japanischen Garten verwandeln.«
»Kunst fragt nicht nach dem Sinn«, antwortete sie und stellte ein Kärtchen mit der Aufschrift »Reserviert« auf.
Ich bringe unsere Gläser und die geleerte Karaffe zurück in die Küche und stelle den Backofen an. In weniger als einer halben Stunde müsste Uli eintreffen. Wenn seine Praxis nur bis Mittag geöffnet ist, nutzt er den freien Nachmittag und verabredet sich zum Tennisspielen. Nach seinem schweißtreibenden Einzel, das zu seiner Freude endlich wieder draußen stattfindet, steht ihm der Sinn nach einer warmen Mahlzeit. Noch überlege ich, wo wir essen werden. Trotz aufziehender Wolken entscheide ich mich für draußen.
Gerade bringe ich Geschirr hinaus, als ohrenbetäubender Lärm auf mich einstürzt. Ich kann den Verursacher sofort ausmachen. Unser neuer Nachbar ist dafür verantwortlich. Während er mit einer Kettensäge hantiert, trägt er Kopfhörer, um seine Ohren zu schützen. Ich trage keine und befürchte, dass mir das Trommelfell platzt.
Neugierig stelle ich mich auf den Stuhl und spähe hinüber zu ihm. Mich trifft fast der Schlag, als ich erkenne, was er macht. Er säbelt meine schöne Hecke ab.
»Stopp!«, schreie ich, so laut ich kann. Aber mein Rufen geht im Krach unter. Ich laufe zu ihm. »Haben Sie den Verstand verloren? Hören Sie auf der Stelle damit auf!«
Ob er ungeniert weitermacht, weil er mich nicht bemerkt, oder er mich absichtlich ignoriert, kann ich nicht mit Gewissheit sagen. Doch ich weiß, wie ich seine Aufmerksamkeit wecken kann. Kurzerhand greife ich zum Gartenschlauch, drehe das Wasser auf und spritze ihm einen harten Strahl ins Gesicht. Augenblicklich verstummt die Säge.
»Geht’s noch?«, beschwert er sich und wischt sich mit dem Handrücken über die Wangen.
»Das frage ich Sie! Was zum Teufel fällt Ihnen ein, sich an den Rhododendren zu vergehen? Das ist unsere Hecke.«
»Die meterweit auf mein Grundstück ragt.«
»Ihr Grundstück?«
»Ganz richtig. Mein Grundstück. Finden Sie sich endlich damit ab, Frau von und zu!«
»Sollten Sie nicht auf der Stelle aufhören, mein Eigentum zu zerstören, rufe ich die Polizei.«
»Tun Sie sich keinen Zwang an. Die Nummer lautet 110.«
In diesem Moment werfe ich alle Manieren über Bord und drohe ihm. »Ich warne Sie! Fällt noch ein weiterer Zweig, werde ich Ihnen sehr wehtun.«
Schallend werde ich ausgelacht. Also gut, er hat es nicht anders gewollt. Wasser marsch!
Er ist bereits pitschnass, als Uli vorfährt.
Statt seinen Wagen direkt in unsere Garage zu lenken, bremst er mitten auf der Straße und lässt die Scheibe herunterfahren. Verstört schaut er mich an. »Was ist denn hier los?«
»Der Typ hat den Verstand verloren. Er sägt unsere Hecke ab.«
Nach dieser Kurzfassung erwarte ich, dass mein Mann aussteigt und sich gerademacht. Doch er bleibt seelenruhig sitzen und verzieht genervt das Gesicht. Ich glaube, das Wort »Theater« von seinen Lippen abzulesen.
Da von ihm keine Unterstützung zu erwarten ist, suche ich mir anderweitig Hilfe. Wie zuvor angekündigt, kehre ich ins Haus zurück und verständige die Polizei.
Während ich auf das Eintreffen der Beamten warte, bahnen sich erste Tränen ihren Weg. Vor Wut zittere ich am ganzen Leib, als ich höre, wie gelassen Uli sich mit dem Nachbarn unterhält.
»Bitte, verzeihen Sie das Verhalten meiner Frau. Beim Thema Garten gehen die Pferde mit ihr durch.«
Ich hoffe, mich verhört zu haben. Er entschuldigt sich bei ihm und stellt mich als hysterisch dar? Weiß er denn nicht, wie wertvoll die Gehölze sind? Die haben uns seinerzeit ein Vermögen gekostet. Mittlerweile sind sie stolze vierzig Jahre alt und lassen sich nicht so mir nichts, dir nichts ersetzen.
»Zugegeben, die Hecke ist schön anzusehen. Insbesondere jetzt, da sie in Blüte steht«, räumt der Nachbar ein. »Aber ich brauche den Platz für meinen neuen Geräteschuppen.«
Wie bitte? Er will noch einen weiteren Holzverschlag auf dem Grundstück errichten? Ich fasse mir entsetzt an den Kopf, als es klingelt. Endlich ist die Streife eingetroffen.
»Haben Sie uns gerufen, Frau Mertens?«
»Ja, das war ich. Es geht um Vandalismus. Der Nachbar zur Linken kappt wie ein Berserker meine immergrünen Sträucher«, erkläre ich dem jungen Ordnungshüter.
Wenig motiviert folgt er mir zum Ort des Geschehens. Seine Kollegin hat sich einen Überblick verschafft. Für sie ist der Fall bereits gelöst.
»Der Mann ist im Recht. Die Büsche haben sich enorm ausgebreitet, wie der Grenzstein beweist.«
»Welcher Grenzstein? Wo soll der sich befinden?«, gifte ich.
Sie deutet mit ausgestreckter Hand genau auf die Stelle, an der ich den Nachbarn gestern Abend habe buddeln sehen. »Pah!«, platzt es aus mir heraus, und ich berichte von meinen Beobachtungen. »Den hat er versetzt!«
»Das geht zu weit!«, schreit der Beschuldigte und fordert mich auf, meine Zunge zu zügeln. »So eine Ungeheuerlichkeit lasse ich mir nicht unterstellen.«
»Aber merkwürdig ist es schon, dass der Boden überall mit Moos bedeckt ist, aber der besagte Stein nach all den Jahren fein säuberlich frei liegt«, stimmt mir der Polizist zu und schlägt vor, die Rodungsarbeiten so lange einzustellen, bis feststeht, wo die Grenze tatsächlich verläuft. »Wenden Sie sich an das Landesamt für Vermessung«, rät er mir. »Die schicken jemanden, der die Grundstücke neu vermisst. Sollte sich dabei herausstellen, dass der Stein absichtlich verlegt worden ist, drohen hohe Strafen.«
Nachdem bereits ein Drittel der Hecke unwiederbringlich zerstört wurde, kann ich meinen Triumph nicht genießen. Die Polizei rückt ab. Ich warte, bis Uli auf unsere Einfahrt fährt. Erst danach knöpfe ich mir den Frevler vor. »Ich hoffe, Sie haben genügend Rücklagen, um für den Schaden aufzukommen. Seien Sie versichert, das wird nicht billig.«
»Beten Sie lieber, dass ich Ihnen keine Rechnung für das Abholzen und die Entsorgung stelle.«
In Gedanken zeige ich ihm den Stinkefinger und verziehe mich ins Haus.
In der Küche treffe ich auf Uli. Er öffnet den Kühlschrank und nimmt zwei Pils aus dem Fach.
»Für mich musst du keine Flasche öffnen. Ich möchte kein Bier trinken«, erkläre ich und stelle den Backofen aus. »Wir können jetzt essen, obgleich mir nach dieser Aufregung der Appetit vergangen ist.«
»Ich habe auch keinen Hunger mehr nach diesem Theater«, lässt er mich mürrisch wissen. »Hätte man die Angelegenheit nicht friedlich regeln können?«
»Wie denn?«
»Du hattest keine andere Wahl, als die Polizei einzuschalten? Meine Güte, Birte. Merkst du gar nicht, dass du völlig überzogen reagierst, wenn es um den neuen Nachbarn geht?«
»Der Kerl ist dreist!«
»Aber er ist im Recht. Deine Hecke ragt tatsächlich meterweit auf sein Grundstück.«
Statt ihn darauf hinzuweisen, dass noch gar nicht bewiesen ist, wo die Grenze verläuft, wiederhole ich seine Worte. »Meine Hecke?«
Uli wird lauter. »Ja, deine blöde Hecke in deinem blöden Garten.«
Beleidigt drehe ich ihm den Rücken zu. »Ich dachte stets, es wäre unser Garten. Schließlich mache ich mir die Mühe auch für dich.«
»Das kannst du dir sparen. Deine grüne Oase ist mir völlig schnuppe. Wenn ich nach Hause komme, möchte ich in Ruhe den Tag ausklingen lassen und keinen Nachbarschaftsstreit schlichten.«
»Muss ich dich wirklich daran erinnern, weshalb er überhaupt unser Nachbar geworden ist?«
»Jeden Tag die gleiche Leier«, nuschelt er sich in den Bart, aber ich habe ihn sehr wohl verstanden.
Obwohl ich ihm gerade mitgeteilt habe, dass ich kein Bier trinken möchte, öffnet er beide Flaschen, nimmt sie in die Hand und huscht wortlos an mir vorbei. Ich nehme an, dass er sie auf den gedeckten Tisch stellen wird, doch sein Ziel ist nicht die Terrasse. Forschen Schrittes marschiert er über den Rasen. Als er aus meinem Blickfeld verschwindet, laufe ich hinauf ins Obergeschoss. Vom Fenster im Schlafzimmer habe ich freien Blick auf den Platz, den er ansteuert. Ich traue meinen Augen nicht, als Uli dem Kerl eine Pulle reicht und sie sich zuprosten.
Seit einer geschlagenen Viertelstunde unterhalten sie sich. Immer wieder lachen sie. Vermutlich über mich. Ich kann nicht fassen, dass mir mein eigener Mann in den Rücken fällt. Zutiefst verletzt über seinen Verrat verlasse ich meinen Beobachtungsposten und frage mich, wo der einfühlsame und rücksichtsvolle Uli abgeblieben ist, in den ich mich einst unsterblich verliebt habe. Vergangenheit! Heute schert es ihn einen Dreck, was mich bewegt.
»Meinetwegen können wir jetzt essen«, tönt er kurz darauf, tritt in die Küche und stellt die geleerten Bierflaschen in die Kiste. Ich nehme die Lasagne aus dem Ofen. Mit einem gezielten Griff öffne ich den Abfalleimer und lasse das noch warme Pastagericht nebst Schüssel hineinplumpsen. Herausfordernd baue ich mich vor ihm auf. »Merke dir das aktuelle Datum, denn heute habe ich zum letzten Mal für dich gekocht!«
Unbeeindruckt kontert er: »Halte den Ball flach, Birte. So gut, wie du denkst, sind deine Kochkünste nicht.«
»Das wird ja immer schöner«, entrüste ich mich und fasse einen Entschluss.
ANNE
Vor dem großen Sturm
In Windeseile gelingt es mir, das Dachzimmer für meinen Vater herzurichten. Noch einmal streiche ich die frisch bezogene Bettdecke glatt, als draußen eine Autotür zuklappt. »Na, das ging aber schnell«, sage ich zu mir, flitze die Treppe hinunter und öffne die Haustür. Unerwartet stehe ich einem begossenen Pudel gegenüber. »Hey, Luka, willst du zu mir?«
»Eigentlich zu Tilda, aber offensichtlich ist sie nicht da, sonst würde ihr Wagen auf dem Hof parken.«
Kombinieren kann er, denke ich und verrate ihm, dass sie auf dem Weg ist. »Komm doch rein«, biete ich an und nehme ihn genauer ins Visier. Es ist nicht zu übersehen, dass ihn etwas bedrückt. Bisher habe ich den Freund meiner Tochter nicht als großen Redner wahrgenommen, aber ihn stumm wie einen Fisch im Wohnzimmer stehen zu sehen, weckt in mir das Gefühl, dass etwas im Busch sein muss. »Alles in Ordnung?«, fühle ich vorsichtig vor.
Er nickt und schaut auf seine Uhr. »Kommt sie immer erst so spät von der Arbeit heim?« Noch bevor ich ihm verraten kann, dass Tilda noch nicht zu Hause ist, weil sie nach Büroschluss ihren Großvater aufgesucht hat, fährt er fort.
»Ich finde, ihr weiter Arbeitsweg ist eine Zumutung. Was bleibt denn noch vom Tag übrig, wenn sie täglich zwei Stunden auf der Autobahn verbringt? Würde sie sich endlich durchringen und zu mir nach Hamburg ziehen, hätten wir viel mehr Zeit für uns.«
Wow, das waren mehr Worte, als ich bisher aus seinem Mund gehört habe. »Aber die Entscheidung hat sie doch längst getroffen. Ihr seid doch auf Wohnungssuche.«
»Ja, seit Wochen. Aber Tilda hat an jedem Objekt etwas auszusetzen. Mittlerweile glaube ich, dass sie mich nur hinhalten will.«
Mit der Annahme ist er auf dem Holzweg. Meine Tochter ist vernarrt in ihn. An seinem Äußeren kann es nicht liegen. Das ist eher durchschnittlich. Aber Tilda findet ihn »mordsmäßig« attraktiv, schlau, lustig und extrem feinfühlig. Für sie steht fest, dass er der Richtige ist.
»Warum sollte sie dich hinhalten?«
»Na, Ihretwegen. Ich glaube, sie hat Bedenken, Sie alleinzulassen.«
»Das ist absoluter Quatsch.«
»Aber Sie und Tilda haben eine besonders innige Bindung.«
»Das stimmt, dennoch bedeutet das nicht, dass wir lebenslänglich wie Kletten aneinanderkleben wollen.«
»Dann verstehe ich nicht, weshalb sie ihre Zusage immer wieder hinausschiebt. Heute haben wir ein tolles Penthouse besichtigt, das wie für uns gemacht ist. Tilda war ganz begeistert. Trotzdem hat sie nicht zugestimmt.«
Seine Äußerung verwundert mich. Hat mein Kind im letzten Moment kalte Füße bekommen? Ist ihr rechtzeitig bewusst geworden, dass dieser Mann sie niemals heiraten und eine Familie mit ihr gründen wird? Oder sollte es tatsächlich stimmen, was er behauptet, und ich bin der Grund für ihr Zögern? Sobald sich die Gelegenheit ergibt, werde ich ein Mutter-Tochter-Gespräch mit ihr führen.
»Wo bleiben die beiden bloß?«, frage ich. »So langsam müssten sie eintrudeln.«
Sichtlich irritiert hakt Luka nach. »Von welchen beiden ist die Rede?«
»Tilda bringt meinen Vater her. Offensichtlich ist das eingetreten, was ich seit geraumer Zeit befürchtet habe. Wir können ihn nicht mehr alleine lassen.«
Ich erhalte einen mitfühlenden Blick. »Das tut mir leid. Aus eigener Erfahrung weiß ich, was Ihnen bevorsteht. Meine Oma war auch dement. Für kurze Zeit hat meine Mutter sie betreut. Aber rasch musste sie sich eingestehen, dass sie allein mit dieser Aufgabe gänzlich überfordert ist.«
»Du sagst, deine Großmutter ›war‹ dement?«
»Ja, sie ist verstorben. Einen Tag bevor wir endlich einen Heimplatz für sie bekommen haben. Und das war gar nicht so einfach, wie man glaubt. Obwohl die finanziellen Mittel vorhanden waren, stand sie wochenlang auf der Warteliste. Na ja, vielleicht war es besser so für sie.«
Ich stoße einen tiefen Seufzer aus. »Du verstehst es, mir Mut zu machen.«
»Sorry, Frau Töpfer. Es war nicht meine Absicht, Sie zu entmutigen.«
Ich bereue meine Bemerkung augenblicklich. Obwohl Luka schon seit zwei Jahren mit Tilda zusammen ist, kennt er mich noch nicht gut genug, um zu verstehen, dass ich es nicht ernst gemeint habe. Es wird Zeit, das zu ändern.
»Das hast du nicht. Es war nur ein flapsiger Spruch. Aber bitte, nenne mich nicht mehr Frau Töpfer. Ich bin Anne.«
Er grinst. »Wir wechseln zum Du, ohne darauf anzustoßen?«
Ich begreife den Wink mit dem Zaunpfahl und zähle auf, welche Getränke ich anbieten kann. Bei »Weißwein« zeigt er den Daumen hoch.
»Aber nur eine Schorle, bitte. Ich muss noch fahren.«
Just in diesem Augenblick ruft Tilda an.
»Opa will nicht mit. Ich habe mir den Mund fusselig geredet, aber er ist stur wie ein Esel.«
»Und nun?«
»Mir bleibt nichts anderes übrig, als hierzubleiben. Könntest du mich morgen früh ablösen? Es reicht, wenn du um halb acht kommst und mir frische Sachen zum Anziehen mitbringst. Sieben Uhr wäre natürlich besser. Dann müsste ich mich nicht hetzen. Oder ist das zu früh für dich?«
Endlich legt sie eine Pause ein, und ich komme zu Wort, um ihr von Lukas Besuch zu berichten.
»Wieso denn das? Wir waren doch gar nicht verabredet.«
»Klärt das unter euch.«