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Keine leichte Übung für Marek Miert, sich als Privatdetektiv im tristen Wiener Hinterland zu behaupten. Das Wasser steht ihm schon bis zum Hals, als endlich ein Auftrag hereinschneit: Branislaw Kaddisch, "staatenlos wie ein Marienkäfer" und ohne Aufenthaltsgenehmigung in Harland ansässig, beklagt den Tod seiner Freundin. Ein Autofahrer soll sie mit voller Absicht ins Jenseits befördert haben. Besonders solvent ist der tolstoibärtige Kaddisch leider nicht: Als Anzahlung gibt es für den Privatdetektiv nur einen alten Videorecorder. Miert ist ziemlich ratlos, wie er den Fall lösen soll, bis ein alter Schulfreund, der Pathologe Dr. Salem, ihm Einblick in die medizinische Untersuchung des "Unfallopfers" gewährt. Im Gegenzug erwartet Salem jedoch Mierts Unterstützung für seine eigene, ganz private Ermittlung, die ein Verbrechen ganz anderer Art betrifft: Bei einem größeren Bauvorhaben sind - wieder einmal - Kriegsleichen ausgegraben worden. Salem hat an Kleidung und Marken erkannt, dass sie am 12.3.1938, dem Tage von Hitlers Einmarsch in Österreich, gefangen genommen wurden. Er vermutet, dass es sich bei diesen Opfern um wichtige Persönlichkeiten handelte. Aus null wird zwei, und schon hat Miert ein Doppelpack am Hals. Und spürt bei den Recherchen für beide Fälle eisigen Gegenwind. Er weht aus allen politischen Richtungen, von Neo-Nazis bis zu militanten Ausländervereinigungen. Aber auch die Kriminalpolizei intrigiert: Schließlich stand Marek Miert sechs Jahre lang auf ihrer Gehaltsliste und hat mit dem Chef noch eine alte Rechnung offen. Ein hochkarätiger Krimi der Marke noir, aus edelstem literarischem Anbau, raffiniert geplottet, elegisch im Ton, doch aufgehellt mit Wortwitz und Komik. Der junge österreichische Schriftsteller schöpft bewusst aus der Tradition Chandlers und Hammetts.
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Seitenzahl: 146
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Haymon Verlag
Manfred Wieninger
Der erste Marek-Miert-Krimi
Haymon
© 2013
HAYMON verlag
Innsbruck-Wien
www.haymonverlag.at
Originalausgabe: Europa Verlag Hamburg/Wien 1999
Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie, Mikrofilm oder in einem anderen Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
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ISBN 978-3-7099-7606-7
Umschlaggestaltung:
hœretzeder grafische gestaltung, Scheffau/Tirol
„They never forgotThat even the dreadful martyrdom must run its courseAnyhow in a corner, some untidy spotWhere the dogs go on with their doggy life and the torturer’s horseScratches its innocent behind on a tree.“Wystan Hugh Auden
„Er läuft ja wie ein offenes Rasiermesser durch die Welt,man schneid’t sich an Ihm.“Georg Büchner
„Sie werden mich holen. Morgen“, hatte die Stimme gesagt, „Kommen Sie. Kaddisch, Eisnerstraße 117.“ Dann war der Hörer auf die Gabel gelegt worden.
In der Leitung war Verkehrslärm zu hören gewesen. Die Stimme hatte einen schweren Akzent. Die Eisnerstraße lag irgendwo in der Bahnhofsgegend, und es war acht Uhr an einem rheumatischen Novemberabend. Vier gute Gründe, eine Flasche Kalterer See zu öffnen und Dvorák zu hören und die letzte Tiefkühlpizza in einen verbrannten Diskus zu verwandeln. Jedenfalls war nichts an diesem Anruf, was auf einen seriösen Klienten hoffen ließ, auf einen guten, sauberen Klienten, der bar bezahlte und nicht auf den Teppich spuckte.
Vorgestern hatte ein Betrunkener angerufen und mir frohe Ostern gewünscht. Anfang letzter Woche war der Gaskassier erschienen und hatte mißbilligend auf meine Elektroheizung gestarrt. Ansonsten war mein Wohnbüro schon seit Monaten so still wie der Tod. Ich konnte mich nicht einmal mehr an das Gesicht meines letzten Klienten erinnern. Ich war so allein wie der Uranus und so gefragt wie die Beulenpest.
Im Telefonbuch gab es zwischen Kachelmayr und Kadler keinen Eintrag. Ich steckte meine Pistole 08 in den Hosenbund und versuchte vergebens, das Magazin mit den Patronen zu finden. Wahrscheinlich hatte ich es mit einem Hemd mitgewaschen. Das Beste an der Waffe war, daß sie nicht registriert, das Zweitbeste, daß der Verschluß verrostet war. Zuletzt hatte mein Großvater daraus 1946 einen Schuß in die Luft abgefeuert und damit den Diebstahl von zwei Hühnern aus seinem Besitz (der damals aus der Pistole und eben den beiden Hühnern bestand) verhindert.
Noch hatte ich rein theoretisch eine gute Chance, im Flur zu stolpern und mir das Wadenbein zu brechen. Aber ich war schon immer ganz groß im Verjuxen von Chancen und machte mich auf den Weg.
Als ich aus dem Tor trat, quoll aus den Fenstern des gegenüberliegenden Blockes blaues, dünnes Licht - die große Samstagabend-Show hatte eben begonnen.
Ich fuhr an frierenden Straßennutten vorüber, dann an ihren Zuhältern, die in goldlamettafarbenen Cabriolets mit violetten Verdecks hockten und die Standheizungen auf vollen Touren laufen ließen. Aus dem feuchten Dämmer erhob sich schließlich der Hauptbahnhof, ein historistischer Sandstein-Kasten mit Türmen und Zinnen wie eine nie eroberte Kreuzfahrerburg. Dahinter schlich sich die Eisnerstraße ins Türkenviertel.
Nummer 115 war eine Münzwäscherei, 119 ein zweistöckiger Betonwürfel, den sich eine Peepshow, ein astrologischer Salon und mehrere Kreditvermittler einträchtig teilten. Dazwischen lag eine aufgegebene Baugrube, auf deren Boden Fundamentflächen von mannshohem Unkraut und Gesträuch überwuchert wurden. Ich fuhr zweimal daran vorbei, bis ich die Holzhütte im hinteren Teil des Areals entdeckte. Sie stand hart am Rand der Baugrube, und eine kleine Müllhalde zog sich den steil abfallenden Abhang hinunter.
Ich mußte nicht durch das Loch in der Erde, denn ein matschiger Treppelweg führte an seinem linken Rand vorbei zu der vergessenen Bauhütte. Sie war nur mit Teerpappe gedeckt, und aus einem Fenster strahlte schwaches Licht, dem ich wie ein verirrter Moorwanderer folgte.
Die Dunkelheit begann ihren schwarzen, eleganten Mantel über die schäbige Szenerie zu legen, Stapel von nachtschwarzem Samt kleideten den Grund der Grube aus. Niemand würde mich vermissen, wenn ich dort unten mit zerschlagenen Knochen zwischen den Fundamenten läge.
Während des Näherkommens schien die Behausung meines künftigen Klienten und Arbeitgebers noch winziger zu werden. Ich hatte schon immer eine Begabung dafür, die falschen Leute zur falschen Zeit am falschen Ort zu treffen. Ich schlug mit der Fußspitze gegen die Tür der Bauhütte und wartete.
König Lear öffnete mir: groß, grau und tolstoibärtig. Die gelbe Haut seines Gesichtes spannte sich über den Backenknochen. Auch seine Augen waren gelb. Lear steckte in einem flaschengrünen Anzug und war etwa Anfang Sechzig.
„Herr Kaddisch?“
Er verbarg die rechte Hand hinter seinem Rücken. Mit meinem linken Ellbogen tastete ich nach der leeren 08 im Hüftholster.
„Wer will das wissen?“ - die Stimme mit dem Akzent.
„Der Trottel, den Sie angerufen haben. Welche Methode übrigens?“
„Methode?“
„Na, wie sind Sie auf mich gekommen?“
„Schlechtes Licht in der Telefonzelle. Ich konnte im Branchenverzeichnis gerade Ihren Namen und Ihre Nummer entziffern.“ Kalt amüsiert verzog sich der königliche Bart zu einem Grinsen. Dann gab Kaddisch die Tür frei und ließ dabei einen Totschläger blitzschnell in seiner Sakkotasche verschwinden.
Die vierzehn Berufsdetektive in dieser Stadt sind da wohl um einen fetten Auftrag gekommen, dachte ich und folgte dem alten König.
Das Innere meines Moorlichtes bestand aus einem einzigen Raum; ein Bett, ein Tisch, ein Monstrum von einem altdeutschen Kleiderschrank, ein Kanonenofen, eine Kochplatte und zwei Gartenstühle aus weißem Plastik. Das Dorotheum gäbe keinen roten Heller dafür.
In einer Ecke jedoch glänzte eine nagelneue Videotruhe aus Mahagoni. Der Recorder lag auf dem Bett.
„Wir konnten nichts anderes finden im Moment, Emma und ich.“ Kaddisch breitete entschuldigend die Arme aus.
„Wer ist Emma?“
„Emma Holzapfel. Sie ist tot. Überfahren worden. Hier, vor der Grube.“
„Wann ist das passiert?“
„Vor zwei Stunden oder vor zweitausend Jahren. Sie hatte ihren Ausweis bei sich. Auf diese Adresse.“
„Die Polizei hatte keinen allzu weiten Weg.“
„Ich habe keinen Ausweis. Ich habe Ihnen den abgelaufenen Paß von Emmas Mann gezeigt. Ich bin nicht Emmas Mann. Sie ist Witwe.“
„Sie haben keine Papiere?“
„Ich lebe seit sechs Jahren in diesem Land ohne einen Ausweis dieses Landes. Ich bin - wie sagt man? - ein U-Boot.“ Kaddisch lächelte über diesen bildhaften Ausdruck. „Die Polizei wird bald wieder kommen. Sie werden mich in Schubhaft nehmen.“
„Was Sie brauchen, ist kein Detektiv, sondern ein Anwalt.“
„Emma wurde hier vor der Grube auf dem Gehsteig überfahren. Verstehen Sie: mit einem Auto als Waffe getötet. Der Wagen hat nicht angehalten, nicht einmal gebremst nach dem Zusammenstoß.“
„Woher wissen Sie das? Haben Sie den Unfall gesehen?“
„Nein, aber auch keine Bremsspur auf dem Gehsteig. Ich will, daß Sie den Fahrer finden.“
„Sie werden aber inzwischen schon längst abgeschoben worden sein.“
„An die Küste der Barbaren, wo die Menschen Seegras essen müssen. Seegras oder gar nichts. Das macht aber nichts.“
„Das macht nichts??“
„Wenn Sie den Namen des Fahrers haben, komme ich zurück. Ich komme immer zurück.“
Ich dachte daran, daß ich - ehrlich gesagt - bis jetzt noch überhaupt keinen Mörder gefunden hatte. Ich hatte bloß Slotek Byczinski gefunden:
Slotek Byczinski bezahlte von den zweiundzwanzig Leasingraten für seinen Mazda nicht eine einzige. Trotzdem bot er die Limousine unzählige Male zum Kauf an und machte sich mit den Anzahlungen Unbedarfter und dem Wagen immer rechtzeitig aus dem Staub. Ich hetzte ihn durch sieben von neun Bundesländern, trieb seine Mutter durch sinnlose Drohanrufe - „Sagen Sie mir endlich, wo Slotek ist, oder ich lasse Sie psychiatrieren!“ - fast in den Wahnsinn und ließ sowohl seine Kredit- als auch seine Bankomatkarten sperren. Vor einem halben Jahr etwa konnte ich den Mazda endlich zugunsten der Leasingfirma beschlagnahmen lassen. Slotek hatte sich das Abschleppseil um den Hals geschlungen und das andere Ende davon an einem Baumstamm verknotet. Dann stieg er in den Wagen - und fuhr mit Vollgas los.
Ich war über dreißig und etwas dicklich. Meine Bildung könnte lückenloser sein. In sechs Jahren beim Wiener Sicherheitsbüro hatte ich nur gelernt, daß man besser bei der Gewerkschaft ist, wenn man es weiter als bis zum Revierinspektor bringen will. Schließlich hatte mich das Sicherheitsbüro bis nach Harland ausgespuckt, und auch hier bin ich der einzige, dem ich vertraue.
„Ich brauche ein Papier mit Ihrer Unterschrift als Beweis, daß ich Sie vertrete. Und ich brauche einen Vorschuß.“
„Nehmen Sie den Videorecorder.“ Dann reichte mir mein Klient mit wahrhaft königlicher Gebärde ein abgerissenes Kalenderblatt mit perforiertem Rand. Darauf waren die sieben Tage der zweiundfünfzigsten Woche des Vorjahres angeführt. Außerdem war das Blatt noch mit einer rührenden Widmung versehen: „Herzlichen Dank für Ihr Vertrauen! Die Mitarbeiter Ihrer Sparkasse - immer um Sie bemüht.“ Auf der Rückseite stand: „Ich beauftrage hiermit Marek Miert mit privaten Ermittlungen zum Tod von Emma Holzapfel.“ Heutiges Datum. Die Unterschrift war unleserlich. Das Papier bewies, daß der alte König schon im voraus sicher mit mir gerechnet hatte. Ich setzte mich erst einmal in einen der beiden Plastiksessel. Das Plastik verzog sich geräuschlos unter meinem erheblichen Kampfgewicht.
„Mit dem Videorecorder wollen Sie mich bedenken?“
„Emma hat ihn erst gestern mitgebracht. Auch die Truhe wurde erst gestern geliefert. Emma wollte nicht sagen, woher das alles. Sie hatte auch einen neuen Job als Putzfrau. Sie wollte nicht sagen, wo.“
„Überredet.“ sagte ich, “Ich nehme ihn.“
„Sie werden viel Freude damit haben“, antwortete Lear. Dann stellte er eine Flasche und zwei Gläser auf den Tisch. Der Schnaps schmeckte nach leeren Pappkartons.
Vor dem Aushang der Peepshow drängten sich einige lederbejackte Jünglinge. Glas splitterte. Die Fotos der ‘Künstlerinnen’ verschwanden unter den Hemden. Dann rochen sie noch vor mir die Polizei und verdrückten sich in mehrere Hauseingänge. Ich packte den Recorder in den Kofferraum meines Ford Granada. Dann sprintete ich zu einer Telefonzelle und tat so, als wählte ich eine Nummer. Schnell wie ein Fisch schoß der Streifenwagen aus der nächsten Seitengasse. Dahinter ein schlingernder Mannschaftstransporter.
Sie boten das volle Programm. Die beiden Wagen kamen mit quietschenden Reifen zum Stehen. Die Ladetür des Transporters flog auf. Ein Hundeführer der Alarmabteilung sprang auf die Straße. Sein Schäferhund sah aus, als wäre er schon seit mindestens einer Woche um seine tägliche Portion rohes Menschenfleisch umgefallen.
Zwei weitere Beamte stiegen aus dem Streifenwagen. Rote Barette, schwarze Bomberjacken, hohe schwarze Schnürstiefel. Beide trugen je ein Sturmgewehr 77 mit langem Stangenmagazin. Bei der Festnahme eines unerwünschten Ausländers wurde offenbar nichts dem Zufall überlassen. Die kleine Armee stürzte sich selbdritt mit dem Hund in die Dunkelheit des Areals Eisnerstraße 117.
Ich entschied mich nicht eigens dafür zu warten, denn Warten gehört zu meinem Beruf wie Ösophagus-Varizen zum Saufen. Allerdings lernt man das Warten nicht auf der Polizeischule, das Warten auf Godot, das Warten auf den letzten Akt eines anderen Stücks, dessen Schluß man schon längst auswendig kennt. Zum Warten muß man geboren sein: Ich warte, wie andere atmen.
Der Feldzug war erfolgreich gewesen. Eingezwängt zwischen zwei Beamte trottete Kaddisch auf den Mannschaftstransporter zu. Seine Hände waren hinter seinem Rücken mit einer Eisenkette kurzgeschlossen. Er blutete aus einer Platzwunde an der Stirn.
Ich tat so, als hängte ich den Hörer mit einer auffälligen Gebärde in die Gabel. Obwohl ich fast so gut wie Charlie Rivel war, interessierte sich nicht einmal Gott dafür. Ich sah nur mehr einen Abglanz der breiten Rücklichter des Transporters. Die Straße vor mir war menschenleer. Ich hatte gerade einen Klienten verloren. Am liebsten wäre ich jetzt auf der Kante meines Bettes gesessen und hätte einen großen, einen wirklich großen Bordeaux getrunken. Statt dessen boxte ich mir aufmunternd in den Magengrube und verließ die Telefonzelle.
In meinem Beruf kommt es nicht darauf an, sich den schwarzen Gürtel in mindestens sieben Kampfsportarten über den Bauch schnallen oder vierundsechzig Zigarrensorten allein an ihrer Asche erkennen oder eine AK-47 in neunkommadrei Sekunden zerlegen zu können. All das ist unerheblich. Man muß auch kein Orchideen- oder Whiskeykenner sein, um in diesem Beruf - für den übrigens der Intelligenzquotient eines Hamsters durchaus ausreicht - bestehen zu können. Man muß sich einzig und allein gelegentlich in den eigenen Magen boxen und den Stein weiterhin den Berg hinaufzurollen versuchen.
Mit der ersten Lungenfüllung Luft von außerhalb der Telefonzelle roch ich es: Sie hatten Kaddischs Hütte ganz einfach angezündet. Wohl um ihn ausreichend dazu zu motivieren, nie mehr in dieses Land zurückzukommen.
Immer wenn ich Rauch rieche, denke ich an das Pfadfinderlager, an die durchschwitzten Strohsäcke, auf denen unmöglich einzuschlafen war, an die Zimmerschlachten mit nassen Handtüchern und Campingsesseln, an das Fett, das von den über dem Lagerfeuer gebratenen Würsten in die Glut tropfte, und an Feldzeugmeister Sorschak, der - angeblich zur Phimose-Vorbeugung (wie er später erklärte) - einigen, besonders zartgliedrigen Wölflingen so lange an den Eicheln herumzupfte, bis ihm einer seiner kleinen Lieblinge mit dem Fahrtenmesser die Nase abschnitt. Sorschak wurde für einige Tage illustriertenberühmt und dann in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher verbracht.
Das Feuer hatte mittlerweile die Teerpappe auf dem Dach von Lears Schloß erreicht und begann mächtig aufzulodern. Lear hatte nun alles verloren.
Im Feuerschein konnte ich die Umrisse von Emma Holzapfels kleinem Körper erkennen, die mit weißer Kalkfarbe auf den Asphalt des Gehsteiges gepinselt worden waren. Ein Pfeil zeigte die Fahrtrichtung des Wagens an. Es war eine zeichnerisch akkurate Darstellung des Todes. Darüber hinaus gab es nichts, wofür sich nicht schon die Verkehrspolizei interessiert und es mitgenommen hätte.
Nichts. Absolut nichts.
Nichts - außer einem Kanalgitter auf der Fahrbahn etwa einen Meter von Emmas aufgemaltem Kopfumriß entfernt.
Der Kanalschacht war verstopft; ein zähes, übelriechendes Gemenge aus Kippen, Papier- und Plastikfetzen, Laub, Dreck, Flaschenkorken und Präservativen reichte bis wenige Zentimeter unter das Gitter. Im letzten Licht des königlichen Brandes zwängte ich Daumen und Zeigefinger zwischen zwei Gitterstäbe und fischte einen Splitter gelben Scheinwerferglases aus dem verstopften Kanal. Dreieckig, scharf und von getrocknetem Blut befleckt lag das Beweisstück in meiner zitternden Hand, als ich es in völliger Dunkelheit zum Wagen trug.
Ich wußte plötzlich, daß mir Kaddisch heute Nacht noch im Traum erscheinen und erklären würde, warum ich den Auftrag angenommen hatte: “Weil Sie ein dummer Mensch sind, Miert, und weil Sie dem Geruch frischen Blutes nicht widerstehen können.”
„Sagen Sie ihm einfach, Moby Dick sei hier.“
„Na, vom Gewicht könnte es ja hinkommen, aber sind Sie auch wirklich sicher, daß Sie sich nicht mit Donald Duck verwechseln?“
„Seit ich mit vier fast in der Badewanne ertrunken wäre, weiß ich, daß ich keine Ente bin.“
„Und? Trinken Sie noch immer? Ist das vielleicht der Grund, warum Sie meinen, Dr. Salek jetzt stante pede sprechen zu müssen?“
Emma Holzapfel hütete ihr Geheimnis. Es war nicht leicht, zu ihrem Leichnam vorzudringen und aus seinem Zustand Schlüsse zu ziehen. Die empirische Methode hat gemeinhin den Nachteil, daß sie mühevoll ist. In der Rolle eines werdenden Vaters kurz vor dem Nervenzusammenbruch hatte ich den Portier des Krankenhauses überwunden, unter dessen Loge nicht einmal eine rachitische Maus außerhalb der Besuchszeiten durchschlüpfen konnte, und danach glücklich den schmucken Jugendstil-Pavillon erreicht, in dem der Tod zu Hause war. Hoch über dem Eingang zum Pavillon auf einem blinden Giebelfenster hatte der junge Gustav Klimt ein unbemerktes Fresko hinterlassen: Man benötigte schon scharfe Augen, um über dem dritten Stock seine Salome zu erkennen; voll Angstlust gemalt, forderte die noch verschleierte Femme fatale nicht nur den Kopf des jüdischen Heuschreckenfressers, sondern den ganzen Mann.
Im Gebäude selbst forderte eine etwas rezentere Salome in grüner Schwesterntracht gerade telefonisch den Sicherheitsdienst an. Ich hatte an diesem Morgen gerade zwei verbrannte Spiegeleier und etwas Blümchenkaffee mit einem Rest saurer Milch im Magen und war daher ihrem Charme nicht ganz gewachsen.
„Sie würden einen wundervollen Staatsanwalt abgeben. Ihre zornigen grünen Augen ...“
„Wenn Sie mich nach all den Frechheiten auch noch anbraten ...!“
„Mit Ihrer Erlaubnis darf ich Ihnen meinen diesbezüglichen Wachtraum kurz skizzieren: Kerzenlicht, Mozart, eine geleerte Flasche Dom Perignon ...“
„Ich wette, Sie können sich nicht einmal Eierlikör leisten ...“
„... wir beide auf einem breiten Plüschsofa, Sie beugen sich über mich, vom Kerzenlicht mild gestreichelt ... und erwürgen mich liebestötend. Na, was sagen Sie zu meinen abartigen Wünschen?“
„Die Wache ist in zwei Minuten hier.“
„Zeit genug für Sie, mir noch schnell Ihre Liebe zu gestehen. Danke übrigens dafür, daß Sie mir keinen Stuhl angeboten haben.“
Ich hatte die Sache wohl ein bißchen übertrieben, Salome griff blitzschnell zu einem großen, gußeisernen Locher und hob...
„Moby Dick! Na, so eine Überraschung!“
Hinter Salomes gespanntem Rücken war die Polstertür zum Chefzimmer aufgegangen, und Salek stand in derem Rahmen. Er stand sehr gebückt im Rahmen, denn es hatte sich nichts geändert: Schon im Gymnasium war er den Sternen näher gewesen als jeder andere. Nun hätte man in einem seiner Schuhe problemlos eine Geige transportieren können. Aber sein Haar war fast farblos und sehr dünn geworden, und sein Gesicht glänzte wie eine Neonröhre. Ich hatte einen schwer arbeitenden Mann vor mir - oder einen Krebspatienten.
„Per aspera ad astra - es hat sich nichts geändert, Longinus.“
„Bei dir offensichtlich auch nicht. Arbeitest du als Dressman für Übergrößen?“
Während dieses pubertären Dialoges war Dr. Salek auf mich zugetreten und hatte meine Hand zu schütteln begonnen und ließ sie nun nicht mehr los. Seinen Vorzimmerdrachen besänftigte er mit einem einzigen Seitenblick und zog mich in sein Zimmer. Bevor er die gepolsterte Chefitätentür hinter uns schloß, witzelte er meiner großen Liebe zu: „Zwei Kaffee, bitte, Frau Zenz. Der für den Herrn kann ruhig vergiftet sein.“
„Der wird auch vergiftet sein. Darauf können Sie Gift nehmen, Herr Doktor.“
Hinter der Tür löste sich das Lächeln in seinem Gesicht auf wie ein bißchen Milch im Bodensee.
„In Wirklichkeit hat sich alles geändert, Miert, seit der Trigonometrie und den unregelmäßigen Verben. Ich habe den Großteil meiner Haare verloren, meine Frau, meine Tochter ... in dieser Reihenfolge ...“
„Mein Beileid.“
„Kondolierst du mir etwa? Meine Damen treiben es doch bloß mit ihrem Golflehrer, den ich mehr recht als schlecht ernähre.“