Aasplatz - Manfred Wieninger - E-Book

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Manfred Wieninger

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Beschreibung

Kapfenberg, Steiermark, 1957: Im Zuge eines Sorgerechtsstreits zeigt Anna Koinegg den Vater ihres Kindes, einen ehemaligen Waffen-SS-Mann, als Judenmörder an. Der deutsche Soldat soll Anfang 1945 in Jennersdorf an der Erschießung von 29 ungarisch-jüdischen Zwangsarbeitern beteiligt gewesen sein. Doch die politischen Zeichen stehen auf Verdrängung und die Anzeige landet im Giftschrank, bis sich 1966 die deutsche Behörde einschaltet und der Akt beim Kriminalbeamten und ehemaligen Spanien-Kämpfer Hans Landauer auftaucht. Gemeinsam fahren die Mannheimer Juristen und der unliebsame Wiener Inspektor nach Jennersdorf, um die Mauer des Schweigens zu brechen und die Spuren eines Massakers zu finden, an das sich keiner mehr erinnern will…

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Manfred Wieninger

Aasplatz

Eine Unschuldsvermutung

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

www.residenzverlag.at

© 2018 Residenz Verlag GmbH

Salzburg – Wien

Alle Urheber- und Leistungsschutzrechte vorbehalten.

Keine unerlaubte Vervielfältigung!

Umschlaggestaltung: Boutiquebrutal.com

Typografische Gestaltung, Satz: Lanz, Wien

Lektorat: Jessica Beer

ISBN ePub:

978 3 7017 4578 4

ISBN Printausgabe:

978 3 7017 1692 0

FürEleonore Lappin-Eppel

Inhalt

Steirischer Introitus

Der Wall

Landauer

Jennersdorf

Mannheimer Exkurs

Der Ingenieur

Exhumierung

Epilog

Benützte Literatur und Quellen

Anmerkung

»Ich möchte Ihnen auch nicht haben,weil Sie die Juden erschossen haben!«

THERESIA NEUBAUER

»Ein Historiker ist ein Kriminalbeamter,der in die Vergangenheit geht.«

HANS LANDAUER

Steirischer Introitus

Unter der Führung des Grazer SA-Standartenführers Richard Hochreiner verschanzt sich Ende April 1945 eine Gruppe von Volkssturm- und HJ-Angehörigen auf der sogenannten Störingalpe bei Übelbach. Die »Werwölfe« verschleppen neun ungarisch-jüdische Männer auf die nördlich von Graz gelegene Alm, um sie dort als Arbeitssklaven zu halten. Mitte Mai 1945, der Krieg ist in Europa längst zu Ende, werden die ungarischen Juden von der steirischen Nazi-Gruppe erschossen. Hochreiner, der seine Leute zum Meuchelmord an den Verschleppten angestiftet haben soll, wird am 27. Juni 1962 zu sieben Jahren schweren Kerkers, verschärft durch einen Fasttag am Tag der Tat, verurteilt. Doch nur wenige Monate später gibt der Oberste Gerichtshof in Wien seiner Nichtigkeitsbeschwerde statt und hebt das Urteil gegen ihn vollständig auf. Der Prozess wird an das Grazer Landesgericht für Strafsachen zurückverwiesen. Am 6. März 1963 spricht ihn ein Geschworenengericht, ganz dem damaligen Zeitgeist in Österreich entsprechend, von allen Vorwürfen frei. Die österreichischen Eliten in Justiz, Politik und Gesellschaft haben sich längst stillschweigend darauf verständigt, im Wesentlichen keine Verurteilungen von NS-Tätern mehr zuzulassen und nach Möglichkeit auch keine neuen Prozesse anzustrengen. Der ehemalige Werwolf Richard Hochreiner ist wieder ein freier Mann.

»Jetzt oder nie«, murmelt Anna Koinegg leise, fast tonlos vor sich hin, und sie weiß nicht, wie recht sie hat. Jetzt oder nie. Immerhin hat sie an diesem 19. August 1957 mitten in der Stadt Kapfenberg im schönen Land Steiermark Ungeheuerliches vor, jedenfalls für österreichische Verhältnisse. Daher geben wir der Koinegg zur Beruhigung eine Filterzigarette in die Hand, eine halb gerauchte Smart Export etwa. Erzähler dürfen so etwas. Wir stecken ihr die Zigarette zwischen Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand und lassen ihr noch ein paar Minuten auf dem kleinen Vorplatz vor dem lokalen Gendarmerieposten in der Wiener Straße 101 in besagtem Kapfenberg. Schließlich ist das keine Kleinigkeit, was sich die Koinegg trauen will. Auch wenn es vor mehr als zehn Jahren bereits eine Vernehmung der Koinegg gegeben hat, ist das hier nun eine ganz andere Angelegenheit. Da wird man doch wohl vorab ein paar tiefe Lungenzüge machen dürfen, um sich zu beruhigen. Die Koinegg trägt dezent aufgetragenen, rotbraunen Lippenstift, eine sorgfältig gelegte Frisur und ihr bestes Kostüm (ihr Nervenkostüm ist eine ganz andere Sache!), aber man sieht ihr trotzdem an, dass sie es nicht immer leicht gehabt hat, dass sie vom Leben alles in allem nicht gerade mit Samthandschuhen angefasst worden ist. Nach landläufig-österreichischen Maßstäben ist die 39-Jährige offenbar völlig verrückt, denn zwei Jahre nach dem Staatsvertrag und dem Abzug der Besatzungsmächte, zwei Jahre nach der Abschaffung der Volksgerichte, würde es hierzulande keinem Menschen mehr einfallen, nicht einmal im Traum, »wegen ein paar kaputter Juden« eine förmliche Anzeige zu erstatten. Keiner exponiert sich mehr. Nicht hier in der Steiermark, nicht im benachbarten Burgenland, aus dem die Koinegg stammt, nicht im übrigen Österreich. Das alles ist doch tausend oder mehr Jahre her, meinen die Leute, alles längst vergeben und vergessen. Punkt. Aus. Schlussstrich.

Was es damals noch schlimmer gemacht hat, denkt die Koinegg jetzt rauchend, war, dass nur der Paul und der Mohr bei der Liquidierung betrunken gewesen sind. Der Paul und der Mohr haben sich davor angesoffen, nicht aber der Amlinger. Nicht der Amlinger. Der hat einen klaren Kopf behalten. Für das Schlachten. Sie zieht noch einmal an der Smart und wirft den glimmenden Stummel dann achtlos auf das Pflaster. Das ganze letzte Wochenende lang hat sie sich wieder einmal fast unablässig gequält, innerlich, ist zwei endlos scheinende Nächte schlaflos neben ihrem unregelmäßig schnarchenden Ehemann gelegen und hat unaufhörlich überlegt, ob es richtig ist, diesen Schritt zu tun, jetzt doch noch diesen Schritt zu tun. Der 19. August 1957 ist ein Montag. Der Koinegg ist im Werk und kann sie, selbst wenn er wollte, nicht hindern. Die Koinegg macht den letzten Schritt und hat plötzlich die Klinke der Eingangstür des Postens in der Hand. Vierzig Juden, denkt sie, und der Amlinger hat sich am Abend vor dem nächtlichen Schießen und Schlagen, Hauen und Dreschen im Gegensatz zu den anderen bewusst nicht betrunken. Und am Morgen dann seine stinkende, verschmierte Uniform mit all dem Blut, mit Gehirn- und Gewebeteilen. Sie spürt jetzt wieder, dass es damals richtig war, ihn zu verlassen, aus dem gemeinsamen Zimmer im Gasthaus Hirczy auszuziehen, auch wenn sein Kind in ihrem Bauch war. Im Parteienwarteraum des Kapfenberger Gendarmeriepostens spürt sie die damalige Übelkeit wieder. Sie wankt. Sie setzt sich einen Moment auf einen unlackierten Holzstuhl. Das ist die einzige Schwäche, die sie sich heute erlauben wird. Anna Koinegg, so viel ist sicher, ist stärker als alle Männer auf diesem Posten.

»Gehen S’, wollen Sie sich das Ganze nicht noch einmal überlegen?«, fragt der Postenkommandant Revierinspektor Josef Hofmann drängend und macht ein säuerliches Gesicht, als müsse man als vernünftiger Mensch die Sache erst dreimal überdenken – um dann schleunigst Abstand davon zu nehmen. »Wollen Sie sich eine solche Anzeige denn wirklich antun? Sie sind doch eine gescheite Frau! Da kommt doch nichts dabei heraus!«

Grundgütiger, denkt der Postenkommandant, das kann unter Umständen einen ganz schönen Wirbel geben, bis hinunter nach Graz, bis hinauf nach Wien. Und vom Bild unseres schönen Landes im Ausland ganz zu schweigen. Im Vorjahr sind die Sowjetpanzer schon wieder bis zur österreichischen Grenze vorgestoßen, auch bei Jennersdorf, um die ungarischen Aufständischen zu verfolgen. Wer weiß, ob sie beim nächsten Mal stehen bleiben, wenn wir schon wieder, wenn wir andauernd als Naziland dastehen, und es graut ihm.

Die Anzeigerin schüttelt zunächst nur stumm den Kopf. Dann sagt sie leise, aber bestimmt: »Ich kann mir keinen Vorwurf machen, weil ich habe mir alles gründlich überlegt, Herr Revierinspektor.«

Wenn die Koinegg wenigstens eine Hiesige, eine alteingesessene Kapfenbergerin wäre, überlegt Hofmann, dann könnte man vielleicht irgendwie Druck auf sie aufbauen, aber so … Fast eine Dreiviertelstunde hat sich der Postenkommandant dann die Vorbringungen der Koinegg angehört. Anhören müssen. So will es das Gesetz, das von ihm auch die Anfertigung einer Niederschrift unter Einhaltung bestimmter Formvorschriften verlangt. Obwohl ihm die Schilderungen der Koinegg unangenehm waren, hat er auf einigen Blättern Konzeptpapier in Stichworten mitgeschrieben. Die persönlichen Daten der Anzeigerin hat er penibler notiert. Jetzt hebt er eine mittelgroße, schwarze Remington-Schreibmaschine von einem Beistelltischchen, das rechts neben ihm steht, auf den Schreibtisch. Er ist sich bewusst, dass er die Anfertigung dieser Niederschrift, die ganze Tipperei, keinem Untergebenen überlassen kann. Dazu ist die Sache zu heikel.

An der Wand hinter seinem Rücken hängt in einem schmalen silbernen Rahmen ein Porträt des österreichischen Bundespräsidenten Dr. Adolf Schärf, der zu Anfang des Jahres mit großer Mehrheit in sein Amt gewählt worden ist. Ein andeutungsvoll leise lächelndes Großvatergesicht blickt zugleich mild und rätselhaft auf die Koinegg herab. Als Rechtsanwalt hat Schärf 1938 in Wien Kanzlei und Wohnung eines jüdischen Kollegen arisiert. 1939 vertrat er einen SS-Mann rechtsfreundlich bei dessen erfolgreicher Arisierung eines Zinshauses, ebenfalls in Wien. In den unmittelbaren Nachkriegsjahren ist ihm als sozialdemokratischem Parteiobmann, einflussreichem Minister und Vizekanzler die Rückgabe des geraubten Eigentums jüdischer Österreicherinnen und Österreicher nicht gerade ein dringender Herzenswunsch gewesen. Auch die Rückkehr der vertriebenen Exilanten förderte er nicht, ganz im Gegenteil, dafür aber gemeinsam mit anderen Granden des rechten, dominierenden Parteiflügels wie etwa Oskar Helmer oder Otto Tschadek ebenso diskret wie vehement die Wiederzulassung der ehemaligen Nationalsozialisten und ihrer neu gegründeten Sammelpartei Verband der Unabhängigen (VdU) zu den Wahlen. Das strategische Kalkül dahinter ist die angestrebte Schwächung des Koalitionspartners ÖVP. Schärfs roter Machiavellismus erweist sich aber weitgehend als politischer Rohrkrepierer. Denn tatsächlich haben mindestens ebenso viele Nationalsozialisten bei der SPÖ Unterschlupf gefunden wie bei der ÖVP. Bei der Nationalratswahl des Jahres 1949, bei welcher der VdU erstmals antreten darf, geht die Mehrheit der Sympathisanten, die die Sozialdemokratie als politische Plattform und Schutzmacht nun nicht mehr brauchen, mit fliegenden Fahnen zur neuen Sammelpartei über.

Revierinspektor Hofmann spannt zwei Blätter Papier, getrennt durch blaues Durchschlagpapier, in die Maschine und fragt die Koinegg noch einmal eingehend nach ihrer Beziehung zu dem von ihr angeschuldigten Theodor Am-linger, wobei er sich aufmerksam genaue Notizen macht. Vielleicht ist die ganze vermaledeite Anzeige ja sowieso nur ein weiblicher Racheakt nach einem Sorgerechtsstreit, überlegt er. Diesen Eindruck, nimmt er sich jedenfalls vor, sollte seine Niederschrift nach Möglichkeit erwecken. Wenn man die Anzeige später irgendwie aushebeln wird können, dann vielleicht dadurch. Durch diese Gedanken fühlt sich der Postenkommandant gleich ein bisschen besser, und ein Gutteil seines Grants ist verflogen.

Ob es hier einen Aschenbecher gebe und ob sie sich eine Zigarette anzünden dürfe, fragt die Koinegg in ruhigem Ton. Der Revierinspektor, dem rauchende Frauen sowieso zuwider sind, verneint beides genussvoll.

Gemäß den Gepflogenheiten und dienstlichen Formvorschriften beginnt der Gendarm die Anzeige unter dem Briefkopf des Postenkommandos Kapfenberg und unter der Orts- und Datumsangabe mit dem sogenannten Nationale der Anzeigerin: »Anna Koinegg, geborene Hafner, geschiedene Schermann, geboren 30. März 1918 in Weichselbaum bei Jennersdorf, Werksarbeitersgattin, wohnhaft in Kapfenberg, Rechte Mürzzeile Nr. 5, Anzeigerin, seinerzeit ansässig in Jennersdorf.« Entgegen den Gepflogenheiten ist danach der gesamte Inhalt der Koinegg’schen Anzeige nicht in der indirekten, sondern in der direkten Rede wiedergegeben. So, als würde allein die Anzeigerin aus der Niederschrift sprechen und als hätte es den aufnehmenden, ordnenden und in gewisser Weise – durch seine Fragen – auch sachte führenden, gewichtenden Beamten hinter dem Notizblock und hinter der Schreibmaschine nie gegeben. Für den Postenkommandanten ist diese Form wohl eine Möglichkeit, sich sozusagen auch grammatikalisch von dem Inhalt zu distanzieren und die ganze Wucht der Aussage ausschließlich der Koinegg, keineswegs aber dem Protokollanten anzulasten. Dabei beginnt die Anzeige und mit ihr die Niederschrift wie die nicht besonders aufregende Aussage einer Partei in einem gewöhnlichen, harmlosen Sorgerechtsstreit: »Ich lebte von Jänner 1945 bis 21. März 1945 gemeinsam mit dem Feldwebel der in Jennersdorf stationierten SS-Division ›Kama‹ namens Theodor Amlinger, geboren am 21.8.1908 in Trechtingshausen. Aus diesem Verhältnis entspross ein Kind, und zwar die A. Hafner, geboren 26. Oktober 1945. Bis zum Jahre 1953 war das Kind bei mir.« So weit, so alltäglich und so durchschnittlich, aber dann wird, wie in strittigen Sorgerechtsfällen leider gang und gäbe, der Keim für allerlei Verwicklungen – und spätere Wickel – gelegt. »Am 12. Juli 1953 erschien seine zweite Gattin Maria Amlinger, geborene Fransen, bei mir in Kapfenberg und holte das Kind mit meinem Einverständnis zu einem dreimonatigen Urlaub, welchen es in Deutschland bei seinem Kindesvater verbringen sollte, ab. Nach Ablauf dieser Frist fuhr ich selbst nach Deutschland zu dem Kindesvater und vereinbarte mit ihm, dass er das Kind weiterhin in Pflege behalten könne, um es später, wie er wollte, zu adoptieren. Ich unterschrieb auch eine dementsprechende Erklärung bei einem Notar in Köln. Die Familie Amlinger wohnte in Köln-Ehrenfeld, Röntgenstraße Nr. 19. Die Adoption wurde bis heute noch nicht durchgeführt. Den Grund hiefür weiß ich nicht.« Dann ein Satz, der fraglos aus der sozusagen bürgerlichen Normalität stammt, aber gleichzeitig auch schon mitten ins Auge des Sturms führt: »Im Jahre 1954 kam die Familie Amlinger zu mir auf Urlaub, wobei sie auch das Kind mitbrachten.« Genau eine Woche, bevor die Koinegg als Anzeigerin den Gendarmerieposten Kapfenberg betreten wird, also am 12. August 1957, kommt Theodor Amlinger samt Gattin und unehelichem, österreichischem Kind erneut nach Kapfenberg und nimmt im Stadthotel Ramsauer in der Altstadt Quartier, sie beziehen an einem Montag ihr Urlaubsdomizil als Sommerfrischler in der grünen Mark. Selbstredend meldet er sich auch bei der Koinegg, für das Kind soll es wohl auch ein Heimaturlaub bei der leiblichen Mutter sein. Der Amlinger hat durchaus so etwas wie ein Herz. Diesmal aber gibt es Ärger, es bricht ein veritabler Konflikt zwischen Kindesvater und Kindesmutter aus. »Er bestand auch diesmal darauf, dass das Kind im Hotel schlafen soll. Es kam dabei zu einer kleinen Auseinandersetzung, wobei ich ihm zu verstehen gab, dass doch ich die Mutter bin und wenn das Kind schon einmal in Kapfenberg ist, doch in der Zeit bei mir schläft. Ich merkte außerdem, dass das Kind sehr nervös ist, was in mir die Vermutung aufkommen ließ, dass das Kind bei dem Kindesvater keinesfalls glücklich ist. Ich erfuhr durch das Kind, dass es in einem Internat seit ungefähr zwei Jahren erzogen wird. Dies wurde vom Kindesvater ohne meine Einwilligung veranlasst.« So jedenfalls beklagt sich die Kindesmutter an diesem 19. August 1957 im Kapfenberger Gendarmerieposten, und Revierinspektor Hofmann ist heilfroh darüber. Denn Koineggs Makel als Anzeigerin und damit als Zeugin wird dadurch verstärkt. Wie leicht, hat der Postenkommandant gedacht, ist jemandem etwas in die Schuhe geschoben, mit dem man einen tiefgreifenden Konflikt wegen der Obsorge für ein gemeinsames, uneheliches Kind, aber sonst keine Gemeinsamkeiten mehr hat. Aber allzu lange kann sich der altgediente Gendarm nicht freuen, denn gleich darauf lässt die Koinegg die Bombe platzen; der Kern ihrer Anzeige, die dem Hofmann so zuwider ist, besteht aus einem Satz, aus einem einzigen Satz: »Theodor Amlinger war in der Zeit von Ende Februar bis Anfang März 1945 bei Erschießungen an circa 100 ungarischen Juden dabei, die in der Nähe von Jennersdorf von Angehörigen der SS-Division ›Kama‹ liquidiert wurden.«

Heilfroh wäre der dienstführende Gendarm gewesen, wenn die Anzeigerin es bei diesem Satz belassen hätte, bei einer schweren, aber keinesfalls detaillierten Anschuldigung, die ob ihrer Faktenarmut in der Praxis, in der kriminalistischen Praxis zumal, nur schwer überprüfbar wäre. Derlei pauschale Denunziationen, hat Hofmann gedacht, waren nach dem Zusammenbruch ja gang und gäbe, quasi an der Tagesordnung, wobei es sich bei etwaigen Ermittlungen sehr oft erwiesen hat, dass sie nur auf bloßem Hörensagen beruhten und damit in der Regel gerichtlich nicht verwertbar waren. Aber die Werkarbeitergattin liefert Details, eine ganze Menge zusätzlicher Details, sie sprudelt angebliche Fakten nur so hervor, und ihr Gedächtnis scheint leider nicht das schlechteste zu sein. Nur mit dem genauen Datum der angeblichen Tat hapert es, aber alles in allem, hat sich der erfahrene Postenkommandant eingestehen müssen, gäbe es genug Ansatzpunkte für Ermittlungen, mehr als genug.

»Eines Tages in der Zeit von Ende Februar bis Anfang März 1945, am Morgen um circa 6 Uhr 30, ich sah gerade zum Fenster hinaus, hörte ich Frauen, die gerade zur Kirche gingen, auf mich zuschimpfen, dass sich die SS-Männer schämen sollten, die Juden so auffällig umzubringen, dass hiedurch ganz Jennersdorf aus dem Schlaf gerissen werde.«

Alles in allem eine monströse, aber irgendwie auch eine beeindruckende Szene, hat Hofman sich selbst gegenüber zugeben müssen, und das genaue Datum hätte ein halbwegs eifriger und geschickter Ermittler auch bald eruiert. Da hat die Koinegg auch schon begonnen, weiterzuerzählen: »Ich begab mich darauf zu Amlinger und fragte ihn, was es heute Nacht gegeben habe. Er gab mir darauf überhaupt keine Antwort, sondern zog seine Uniform an, lief darauf zu seinem Hauptsturmführer Hauptmann, worauf nach einiger Zeit Hauptmann zu mir kam und mich fragte, warum die Leute so schimpfen beziehungsweise was ich gehört habe.« Der beschuldigte Amlinger liegt zu diesem Zeitpunkt also – wie es einem Erzähler wohl zusteht zu wissen – in einem Zimmer des Gasthauses Hirczy in Jennersdorf, in dem er mit der damaligen Anna Hafner, heute verheiratete Koinegg, zusammenlebt.

»Ich erzählte ihm, was mir die Frauen zugerufen hatten. Zuvor hatte ich bemerkt, dass eine Uniform blutverschmiert war.«

Der Postenkommandant wird wohl erleichtert konstatiert haben, dass sich die Koinegg offenbar nicht mehr erinnern kann, wessen Uniform – Amlingers oder Hauptmanns – blutverschmiert war. Wenn man belastende Details zwar ins Spiel bringt, aber dann niemandem zuordnen kann, so etwas fördert bei Richtern und Geschworenen, das wusste der Revierinspektor, nicht gerade das Vertrauen in die Zuverlässigkeit eines Zeugnisses, einer Anschuldigung, noch dazu einer so schweren wie die gegen diesen Amlinger. Aber allzu viele Ungereimtheiten und Unschärfen sind in den Koinegg’schen Vorbringungen nicht zu finden, sie nennt ganz konkret Tatort, Mittäter und Opfer und sogar ein angebliches Geständnis, das Amlinger ihr gegenüber gemacht haben will: »Im Laufe des Tages kam auch Amlinger wieder zu mir, worauf ich ihn und einen weiteren SS-Angehörigen namens Paul nochmals fragte, was eigentlich vorgefallen sei. Amlinger erwiderte daraufhin Folgendes: ›Das war eine freiwillige Sache, es muss ja jemand sein, der den Dreck wegräumt!‹ Paul sagte darauf: ›Du sollst den Mund halten, ich sage Dir, dass ich auch Dich wegbringen kann.‹ Soweit ich in Erfahrung bringen konnte, waren in der vergangenen Nacht 40 jüdische Ostwallarbeiter beim sogenannten Pulverturm bei Jennersdorf von Amlinger, Paul und einem gewissen Mohr mittels MPi und Karabiner erschossen worden.«

Selbst etwas von der Vorgeschichte des Massakers weiß die Koinegg – in der Niederschrift lesen wir die von einem Kleinstadtgendarmen aufgezeichnete Sprache einer Kellnerin und Köchin – noch zu berichten: »Am Abend vorher saß ich mit Hauptmann, Schütz, Maier, Amlinger im Zimmer des Amlinger und wir unterhielten uns. Nach einiger Zeit kamen Paul und Mohr ziemlich betrunken und mit Schnapsflaschen beladen zu uns in das erwähnte Zimmer. Nach einiger Zeit gingen Mohr und Paul aus dem Zimmer, worauf Hauptmann und die anderen Männer einer nach dem anderen das Zimmer verließen. Am nächsten Tage, nachdem ich von Hauptmann befragt worden war, erfuhr ich von Amlinger, Paul und Mohr, dass sie die jüdischen Zwangsarbeiter erschossen haben. Nach meiner Ansicht müssen zumindestens Paul und Mohr bei der Liquidierung betrunken gewesen sein.«

Für einen halbwegs vernunftbegabten Autor, auch wenn er schon vor geraumer Zeit eine teure Rechtsschutzversicherung mit allerlei Extras abgeschlossen hat, ist spätestens hier zweifellos die Bemerkung angebracht, dass für den einstigen SS-Hauptscharführer Karl Theodor Amlinger, geboren am 21. August 1908 in Trechtingshausen im heutigen Landkreis Mainz-Bingen in Rheinland-Pfalz natürlich die Unschuldsvermutung gilt, jetzt und auch fürderhin und überhaupt und sowieso. Natürlich gilt die Unschuldsvermutung auch für die von der Koinegg ebenfalls beschuldigten ehemaligen SS-Angehörigen Wilhelm Johann Mohr und Franz Hermann Paul. So wie für den Kreisleiter Anton Rutte, den SS-Hauptsturmführer Rainer Hauptmann, den Ortsgruppenleiter Dr. Felix Luckmann, den Kanzleileiter Johann Petanovits, den Amtsarzt Dr. Josef Schütz, den Hauptschuldirektor Emmerich Mathauser, den Gerichtsbeamten Edmund Schnepp und noch für einige andere.

Besser ein paar Unschuldsvermutungen zuviel, als eine zuwenig. Auf diesen Unschuldsvermutungen und den noch wichtigeren Persilscheinen ruht schließlich die Zweite Republik und mit ihr unsere ganze Gesellschaft.

Danach ist in der Koinegg’schen Anzeige auf einer knappen halben Schreibmaschinenseite von zwei weiteren Massakern an jüdischen Zwangsarbeitern in Jennersdorf die Rede. Nach dem ersten Massaker beim Pulverturm seien »in zwei darauffolgenden Nächten abermals jeweils 30 jüdische Ostwallarbeiter erschossen worden, und zwar beim Ziegelofen in der Nähe der Grieselsteinerstraße«. Ob die von ihr beschuldigten SS-Männer auch daran beteiligt waren, kann die Koinegg »nicht mit Sicherheit angeben«. Sie weiß nur, dass ihr damaliger Lebensgefährte Amlinger in beiden Nächten nicht bei ihr war. »Er kam erst am Morgen nach Hause.«

Zur ersten Erschießung in der Nähe des sogenannten Pulverturms findet sich am Schluss des Hofmann’schen Protokolls der Nachtrag, dass es offenbar einem Juden gelungen sei zu flüchten. Der zweite Nachtrag am Schluss der Niederschrift ist allerdings wesentlich wichtiger – und hat es in sich: »Wegen dieser Erschießungen wurde ich Ende 1945 dreimal auf dem Gendarmerieposten Jennersdorf, und zwar von einem gewissen Inspektor Korschak, vernommen. Bei einer dieser Vernehmungen war auch ein gewisser Inspektor Witzeneder dabei. Inspektor Korschak ist meines Wissens nicht mehr am Leben. Bei den oben erwähnten Einvernahmen verschwieg ich den Namen des Kindesvaters, weil ich ihn nicht hineindrücken wollte.«

Kindesvater – so nennt die Koinegg (oder ist es der protokollierende Postenkommandant, um zum wiederholten Male auf die mittlerweile mehr als prekäre Beziehung der Anzeigerin zu ihrem ehemaligen Lebensgefährten hinzuweisen?) den nunmehr schwer beschuldigten Amlinger. Damit, denkt Revierinspektor Hofmann, ist gottlob die Glaubwürdigkeit der Anzeigerin einigermaßen beschädigt. Kein vernünftiger Richter wird sie jetzt noch als hundertprozentig glaubwürdige Zeugin einstufen. Blöd ist nur, denkt der Kommandant, dass sie ihre damalige Lüge quasi frank und frei offenbart hat, das klingt dann schon wieder nach Ehrlichkeit, wenn man mit den alten Lügen (den alten Lebenslügen) reinen Tisch macht.

Die Unterschrift von Anna Koinegg ist eigentlich keine richtige Unterschrift, sondern Schönschrift, beinahe schon eine kalligraphische Übung wie in der Schule. Eine Unterschrift wie für die Ewigkeit. Dagegen ist die Signatur von Postenkommandant Josef Hofmann schnell, schmal und spitz auf das Papier gesetzt. Sie kippt nach links und lässt zumindest erahnen, wie unangenehm dem Gendarmen diese vermaledeite Anzeige ist. Wenn es den vorgesetzten Kommandanten nicht gelingt, die Sache abzuwürgen und die Anzeige in irgendeinem Rundordner verschimmeln zu lassen, mutmaßt der Postenkommandant, dann gute Nacht, Marie.

Und dann beginnt der Dienstweg (auf den der Revierinspektor seine nicht unbegründeten Hoffnungen setzt). Ein Kreuzweg aus der Sicht derer, denen die Verfolgung der Jennersdorfer Judenschlächter ein Anliegen ist, und das ist in ganz Österreich vielleicht nur die Koinegg. Der Akt, also ihre Anzeige, legt statistisch gesehen pro Tag vielleicht ein paar hundert Meter zurück, an manchen Tagen vielleicht sogar einen Kilometer oder zwei, wird dann schubladisiert, setzt sich mit der Dienstpost erneut in Bewegung, landet, weil politisch in Österreich alles andere als opportun, erneut im hintersten Winkel irgendeiner Amtsschublade, und inzwischen wird der Sputnik ins All geschossen und Castro steigt mit seinen großteils bürgerlichen Rebellen von den Bergen der Sierra Maestra herunter und Billie Holiday stirbt und mit Angelo Giuseppe Roncalli geht der einzige wirklich Hoffnung gebende Papst des 20. Jahrhunderts aus einem denkwürdigen Konklave hervor und Cassius Clay wird in Rom Olympiasieger und der Schlächter von Wilna wird von einem Grazer Gericht unter skandalösen Umständen freigesprochen und in Berlin wird die Mauer gebaut und die Antibabypille kommt auf den Markt und in Sibirien und im Pazifik gehen fast wie am laufenden Band Wasserstoffbomben hoch und Adolf Schärf wird als erster österreichischer Bundespräsident für eine zweite Amtsperiode von wiederum sechs Jahren gewählt und das Zweite Vatikanum beginnt und die Programmiersprache Basic wird entwickelt und Churchill stirbt und Contergan verstümmelt Tausende, die noch gar nicht richtig zu leben begonnen haben. Und mit der Anzeige der Koinegg ist noch immer nichts passiert. Außer, dass sie schon einige Giftschränke und Amtstresore von innen gesehen hat. Und dass das Papier, auf dem sie geschrieben wurde, bereits zu vergilben begonnen hat. Auch in Jennersdorf werden keinerlei Erhebungen oder Ermittlungen angestellt. Nur nicht daran rühren. Der Schlussstrich ist längst gezogen, und zwar höchst einseitig durch die Täter und Gaffer, die Mitläufer und Mitmacher. Während die Zeugen aus Jennersdorf wegziehen oder wegsterben, vergeht Jahr um Jahr.

Und dann begeht irgendein unbedarfter Konzeptbeamter einen schrecklichen Fehler, einen geradezu unverzeihlichen Irrtum. Fatal, direkt fatal. Er steckt naiverweise eine Abschrift der Koinegg’schen Anzeige in einen Umschlag, den er mit der Adresse der »Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen« im baden-württembergischen Ludwigsburg beschriften lässt. Und ab geht die Post und so nehmen die denkwürdigen Ereignisse, die in diesem Buch erzählt werden sollen, ihren Lauf, und Hans Landauer und die Gerechtigkeit bekommen eine Chance. Vielleicht ihre letzte hierzulande.

Der Wall

Für die Lektüre dieses Romans ist es wahrscheinlich ausreichend, wenn man sich den Tatort auf einer Karte ansieht. Jennersdorf also. 46 Grad 56 Minuten östlicher Länge, 16 Grad 8 Minuten geografischer Breite nach Greenwich. Zur Tatzeit, also Ende Februar, Anfang März 1945, ist Jennersdorf ein Teil des Gaues Steiermark, Kreis Feldbach. Ein nicht sehr imposantes, sondern eigentlich eher armseliges, größeres Reihendorf, vier Kilometer westlich der ungarischen Grenze und 140 Kilometer Luftlinie von Wien sowie eine unbekannte Anzahl von Meilen von Milwaukee entfernt. In den beiden letztgenannten Städten dürften in den letzten Jahrzehnten des 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts fast ebenso viele Jennersdorferinnen und Jennersdorfer gelebt haben wie in Jennersdorf selbst. Nicht einmal offizielle Straßennamen gibt es im Ort (geschweige denn Trinkwasserleitungen und Abwasserkanäle oder eine richtige Müllabfuhr). Nur die Gemeindestraßen nach St. Martin, Neumarkt, Grieselstein, Henndorf und Hohenbrugg sind befestigt, also geschottert. Die übrigen Verkehrswege sind bei heftigeren Niederschlägen fast unpassierbar. Jennersdorf, und das ist beileibe kein Vorwurf, ist 1945 jedenfalls – mit Verlaub – so urban wie ein Kuhstall. Die meisten Einwohner sind Kleinbauern, Bauern, Knechte und Mägde (neben einer dünnen Schicht an Gewerbetreibenden und Beamten). Das Raabtal, in dem Jennersdorf liegt, hat geologisch nur Schotter und Sand sowie schlecht durchlüftete, saure Ackerkrumen zu bieten. Im Talboden, auf den ehemaligen Auflächen der Raab, ist es zu feucht, auf den Hügeln über dem Tal mit ihren lehmbedeckten Schotterterrassen, zum Beispiel auf dem sogenannten Tafelberg nördlich von Jennersdorf, ist es wiederum zu trocken für wirklich ertragreichen Acker- und Weinbau. Kein Wunder, dass die meisten Jennersdorfer Kleinhäusler sind. Im lokalen Dialekt nennen sich die alteingesessenen Bewohner selbst Heanzen, der Markt Jennersdorf liegt im Heanzenland.

Jennersdorf also. Ein von den Behörden des Königreiches Ungarn nach Kräften, aber bei Weitem nicht vollständig magyarisiertes Bauerndorf, das 1921 unvermutet der Republik Österreich zugeschlagen wurde, was ab Ende August desselben Jahres zu heftigen Scharmützeln zwischen ungarischen Freischärlern auf der einen Seite und österreichischen Gendarmen sowie Jennersdorfer Anschlussbefürwortern auf der anderen Seite führte. Eine kleine alliierte Militärkommission mit italienischen, französischen und englischen Offizieren im Ort war wochenlang interessierter, aber machtloser Zuschauer der bewaffneten Auseinandersetzungen, als deren Höhepunkt die durch Handgranaten erfolgte Sprengung des Bahnwärterhäuschens im Laritzgraben gelten kann, die etwa ein Dutzend darin befindlichen Ungarn das Leben kostete. Ein paar Monate später war Jennersdorf ein burgenländisch-österreichischer Grenzort mit einer Bezirkshauptmannschaft, einem Bezirksgericht, einem halben Bataillon Reichswehr, Alpenjäger, und 2200 Einwohnern, die den Ersten Weltkrieg, die spanische Grippe und alles andere überlebt hatten. Der erste Richter, ein gewisser Dr. Kreissl, der sein Gericht zunächst in der Küche und einem der Zimmer eines Privathauses etabliert hatte, schrieb Ende Jänner 1922 an seine vorgesetzte Dienststelle: »Um sofortige Übersendung der nötigsten Einrichtungsgegenstände, Tische, Sesseln, Stellagen, Kästen, Waschtische, Geschirr, Lampen, Tinte, Schreibrequisiten (hier nicht erhältlich), Kleiderhaken, Bänke, ferner Reichs-, Staats- und Bundesgesetzblätter, Gesetze und Formularienbücher, ungarische Gesetze in deutscher Ausgabe, Drucksorten, Stampiglien usw. wird dringend gebeten.«

Jennersdorf wird in west-östlicher Richtung von der Raab durchflossen, die auf der Teichalm in Hohenau an der Raab entspringt und im ungarischen Györ in die Donau mündet. Nach Jennersdorf wechselt die Raab auf ungarisches Gebiet. Man könnte also sagen, die Raab habe kein Vaterland, sei sozusagen eine vaterlandslose Gesellin. Ganz anders die Jennersdorferinnen und Jennersdorfer der Dreißigerjahre. Die hatten sehr wohl ein Vaterland. Das hieß für die überwiegende Mehrheit allerdings längst nicht mehr Österreich-Ungarn oder gar Ungarn, aber auch nicht Österreich, sondern Deutschland. Jennersdorf war konservativ bis deutschnational. Linke waren im Ort nur unwesentlich häufiger als Chinesen (oder Hawaiianer). Der Antisemitismus war hingegen so verbreitet und so normal wie Brot mit Margarine. Bei der Jennersdorfer Gemeinderatswahl im Jahr 1931 entfielen auf den Landbund, der als Deutsche Bauernpartei selbstredend für den Anschluss an Deutschland eintrat, mit dem Landtagsabgeordneten Georg Fiedler an der Spitze fünf Mandate. Eine weitere Partie aus »dissidenten Landbündlern« errang noch zwei Sitze. Die sogenannte Nationale Wirtschaftspartei, ein Sammelbecken vor allem für Großdeutsche, mit ihren lokalen Spitzenkandidaten Josef Maurer und Dipl.-Ing. Gallbrunner, gewann vier Sitze im Gemeinderat. Die Christlich-Soziale Partei, auch sie bundesweit für ihren wackeren Antisemitismus bekannt, mit ihrem lokalen Spitzenkandidaten, dem Gemeindearzt Dr. Franz Haromy, errang zwei Mandate. Die Sozialdemokraten, die im Bezirk Jennersdorf zwar auch nur eine Minderheit, aber eine durchaus starke, respektable Minderheit waren, erreichten im Ort Jennersdorf selbst nur einen einzigen Sitz im Gemeinderat. Zwar gewannen die Nationalsozialisten auch nur ein Mandat im Ortsparlament, aber ihre Versammlungen waren gut besucht und ihr politischer Aktionismus, der sich bislang vor allem in den mehr als häufigen Hakenkreuzschmierereien ausgetobt hatte, begann sich im Ort und im Bezirk allmählich in einen politischen Terrorismus zu verwandeln. Am 25. Juli 1934, dem ersten Tag des österreichweiten nationalsozialistischen Juliputsches, besetzten Angehörige der illegalen SA die Bezirkshauptmannschaft Jennersdorf und den örtlichen Gendarmerieposten. Die Gendarmen beugten sich der Übermacht und streckten die Waffen. Am Abend des 25. Juli traf der Zollwacheoberrevisor Robert Jaros in seinem Dienstort Minihof-Liebau wenige Kilometer südwestlich von Jennersdorf auf eine Gruppe von marschierenden Nationalsozialisten. Er hielt die Putschisten für bloße Schmuggler und bezahlte seinen Irrtum mit dem Leben. Jaros wurde mit drei Schüssen niedergestreckt (und erlag am 22. September 1934 seinen schweren Verletzungen). In den frühen Morgenstunden des 26. Juli 1934 griffen die Nationalsozialisten das Zollhaus Minihof-Liebau an, in dem sich Jaros’ regierungstreue Kollegen verschanzt hatten. Dabei wurde ein Zollwachebeamter im Rahmen eines längeren Feuergefechts durch einen Bauchschuss schwer verletzt. Schließlich konnten die Angreifer aber zurückgeschlagen werden. Von Regierungsseite wurden Einheiten der sogenannten Ostmärkischen Sturmscharen aus Mogersdorf nach Jennersdorf verlegt und in der ehemaligen Lederfabrik kaserniert. Nachdem der Putsch spätestens am 30. Juli 1934 für gescheitert erklärt werden musste, zog sich eine Reihe von Nationalsozialisten aus dem ganzen Bezirk nach Ungarn zurück. Dass sie dort nicht ewig bleiben würden, war jedem klar. Am 27. Februar 1938 demonstrierten rund 3.000 Nationalsozialisten am Jennersdorfer Hauptplatz und vor dem dortigen Zentralamtsgebäude für den Anschluss an Hitler-Deutschland. Die Kundgebungsteilnehmer, »die aus allen Teilen des Bezirks zusammengeströmt waren«, ließen sich danach von der lokalen ständestaatlichen Obrigkeit nicht mehr aus dem öffentlichen Raum im Zentrum von Jennersdorf vertreiben, sondern demonstrierten Tag für Tag weiter am Hauptplatz und vor dem Amtsgebäude, bis das Ende Österreichs am 13. März 1938 gekommen war. In diesen Anschlusstagen ließ der Jennersdorfer Rechtsanwalt Dr. Felix Luckmann, kommissarischer Ortsgruppenleiter der NSDAP, im Bezirk rund 50 Menschen, »die als treue Österreicher bekannt waren«, verhaften und einsperren.

Jennersdorf zur Tatzeit, im Februar / März 1945: Die Mehrheit der Häuser der nunmehrigen Marktgemeinde (seit 1926) ist niedrig, strohgedeckt, lehmverputzt. Es gibt noch immer hölzerne Kamine und Rauchküchen. Dagegen existieren nur relativ wenige Gebäude, die moderneren Ansprüchen genügen. Wie etwa das 1928 errichtete Zentralamtsgebäude an der Hauptstraße, in dem die Bezirkshauptmannschaft, das Bezirksgericht, die Gendarmeriedienststelle, das Steuer-, Eich- und Postamt untergebracht sind. Außerdem gibt es zur Tatzeit noch eine Apotheke, ein Kino, eine Volks- sowie eine Hauptschule, eine Sparkasse, zwei Ziegeleien und den Bahnhof der ehemals ungarischen Westbahn von Steinamanger nach Graz, die südlich am Ort vorbeiführt. Die meisten dieser Einrichtungen, außer dem Bahnhof, der Apotheke, einem Friseurgeschäft, einer Bäckerei und dem kleinen Stützpunkt der Deutschen Ordnungspolizei, zu dem der Gendarmerieposten im März 1938 geworden ist, haben ihre Tätigkeit längst mehr oder minder eingestellt. Gearbeitet wird in Jennersdorf eigentlich nur mehr am Wall und am eigenen Überleben.

Jennersdorf zur Tatzeit: Die Freiwillige Feuerwehr Jennersdorf ist nur mehr eine HJ-Feuerwehr. Die Volksschule ist seit September 1944 eine Krankenstation für die ›arischen‹ Arbeiter beim Stellungsbau. Auch in der Hauptschule, in der die Mannschaften des SS-Baubataillons »Kama« untergebracht sind, wird nicht mehr unterrichtet. In den Gasthöfen wird nicht mehr gefeiert und gezecht, außer von den darin einquartierten SS-Offizieren. Die Familien Baranyai, Horvath, King und Sarközy, die am östlichen Rand des Ortsteils Rax fernab jeder Gemeinschaft mit den ›arischen‹ Jennersdorfern ihr Leben in ein paar mehr als armseligen Lehmhütten gefristet haben, sind als »lebensunwerte Zigeuner« längst deportiert worden. Ebenso die Inhaberfamilien der drei kümmerlichen, rasch arisierten Gemischtwarenhandlungen im Ort. Ortsgruppenleiter der NSDAP ist der Rechtsanwalt Dr. Felix Luckmann. Bürgermeister ist Josef Maurer. Gemeinderatsoberamtmann ist Julius Neubauer. Römisch-katholischer Pfarrer ist Carl Neubauer, aber der spielt längst keine Rolle mehr.

Aufgrund der miserablen militärischen Lage im Südosten des immer stärker schrumpfenden Reiches entschließt sich die NS-Führung im Sommer 1944 zur Errichtung eines gigantisch-megalomanischen Schutzwalls vom Jablunkapass in den Karpaten bis zur Drau. Aufgrund der Knappheit der Ressourcen, insbesondere an Stahl, Beton und Lastwagen – und auch an Truppen, welche die Verteidigungsstellung verteidigen hätten können –, ist allerdings weiten Teilen der NS-Nomenklatura von vornherein klar, dass das Befestigungssystem, hochtrabend als Reichsschutzstellung oder auch als Südostwall bezeichnet, mehr propagandistischen als militärischen Wert haben wird. Folgerichtig wird mit der Errichtung des Walls auch nicht die Wehrmacht, sondern die Partei, die NSDAP, beauftragt. Mit Führerbefehl vom 1. September 1944 erhalten die Gauleiter von Wien, Baldur von Schirach, Niederdonau, Dr. Hugo Jury, und der Steiermark, Dr. Sigfried Uiberreither, als sogenannte Reichsverteidigungskommissare das uneingeschränkte Kommando über den Bau des fragwürdigen Bollwerkes. Die genannten Gauleiter und die ihnen direkt unterstellten Kreisleiter und Ortsparteileiter der NSDAP haben damit die absolute Befehlsgewalt über zehntausende, ja hunderttausende Schanz- und Sklavenarbeiter, für deren Bewachung, Verpflegung, Unterbringung und medizinische Versorgung sie zu sorgen haben, sowie über das eingeteilte Wachpersonal und Teile der Organisation Todt, welche für die konkrete Planung der Befestigungen vor Ort verantwortlich zeichnet. Der slowakische Abschnitt des Südostwalls basiert auf bereits ab 1939 wenigstens teilweise errichteten Verteidigungsstellungen. Der südliche Abschnitt in den Reichsgauen Niederdonau und Steiermark muss aber tatsächlich erst geplant und gebaut werden. Dieser Wall soll sich aus zwei hintereinanderliegenden Verteidigungslinien zusammensetzen. Die sogenannte A-Linie besteht laut Plan vor allem aus einem im Soll vier Meter breiten und vier Meter tiefen Panzergraben. Dahinter werden Schützenlöcher, Laufgräben, Unterstände und gelegentlich auch Granatwerferstellungen errichtet. Beton ist so gut wie nicht vorhanden. Die Unterstände und Gräben werden statt mit Stahl und Stahlbeton mit Holz und Faschinen, also Reisigbündeln, gepölzt und gestützt. Die Ränder der Gräben brechen praktisch bei jedem größeren Regenguss ein und müssen oft noch einmal ausgeschaufelt werden. Hinter der A-Linie wird im Abstand von mehreren Kilometern eine tiefer gestaffelte, sogenannte B-Linie errichtet. Insgesamt wurden rund 300.000 Menschen zum Bau des Südostwalls gezwungen. Neben zumeist lokaler HJ und Ortsansässigen werden vor allem Zwangsarbeiter aus dem Osten sowie Kriegsgefangene aus aller Herren Länder als Erdarbeiter eingesetzt. Außerdem werden rund 30.000 Juden aus Ungarn deportiert und zur Schanzarbeit am Südostwall gezwungen. Letztere sind dabei nach dem Willen der Parteidienststellen zur »Vernichtung durch Arbeit« bestimmt. Insbesondere die Verpflegung der eingesetzten jüdischen Männer, die Tag für Tag Schwerstarbeit zu leisten haben, spottet jeder Beschreibung: ein wenig Rübensuppe, Ersatzkaffee. Brot kennen die meisten nur mehr vom Hörensagen. Auch die Unterbringung der Juden erfolgt teilweise unter katastrophalen Bedingungen, zum Beispiel in Trocknungsschuppen von Ziegeleien, die keine Wände haben und daher kaum Schutz vor Wind und Wetter bieten.

Theresia Oberecker aus Heiligenkreuz im Bezirk Jennersdorf ist beim Bau der A-Verteidigungslinie des Südostwalls dienstverpflichtet. In ihrem wenige Kilometer nordöstlich von Jennersdorf gelegenen Heimatort schuften neben ein paar Einheimischen vor allem slawische Zwangsarbeiter und ungarische Juden. »Ich war mit elf anderen Frauen zur Versorgungsgruppe eingeteilt, die in zwei Schichten zu je sechs Personen täglich das Essen zubereiten musste. Meist gab es Kartoffelsuppe mit Kohl oder Rüben. In sechs großen Dampfkesseln haben wir damals für circa 1.500 Personen gekocht. Jeden Tag war der Fußboden mit einem riesigen Berg von Kartoffeln bedeckt, aber trotzdem war immer zu wenig zum Essen vorhanden – die Juden haben meist gar nichts bekommen. Es war schrecklich, wie diese Menschen von den brutalen SS-Wachen behandelt wurden. Einige sind auch vor Erschöpfung, meist waren es Juden, gestorben oder wurden einfach erschossen.« Als Wachmannschaften am Südostwall werden aber nicht nur Waffen-SS, sondern auch SA, diverse NSDAP-Funktionäre, Volkssturm und sogar HJ-Buben eingesetzt. Auch sie kennen vielfach keine Gnade gegenüber den Arbeitssklaven, vor allem gegenüber den Juden.

Ein paar hundert Meter südlich und östlich von Jennersdorf und teilweise noch auf ungarischem Gebiet soll die A-Verteidigungslinie des Südostwalls vorbeiführen, einige Kilometer hinter dem Ort die B-Linie. Für die unter enorm großem Zeitdruck stehenden Bau- und Schanzarbeiten in diesem Abschnitt ist der Jennersdorfer Ortsgruppenleiter Dr. Felix Luckmann verantwortlich, dessen direkter Vorgesetzter der Kreisleiter von Feldbach, Anton Rutte, ist. Die Arbeiten im Bauabschnitt Feldbach, dessen siebenter Unterabschnitt Jennersdorf ist, beginnen am 16. Oktober 1944. Im Prinzip hat jeder Jennersdorfer Haushalt einen Schanzarbeiter zu stellen. Die Bauernfamilien behelfen sich aber zumeist damit, dass sie die auf ihren Höfen seit Jahr und Tag schuftenden Zwangsarbeiter aus dem europäischen Osten zum Stellungsbau schicken. Auch für verdiente oder weniger verdiente Parteimitglieder ist es in der Regel kein Problem, der Maloche mit Schaufel, Spaten und Krampen zu entgehen. Entweder werden sie vom Stellungsbau überhaupt ausgenommen oder in der sogenannten Stellungsbaukanzlei im Ort zu weit weniger anstrengenden Büro- und Verwaltungsarbeiten verwendet. In Jennersdorf arbeiten auch bis zu tausend jüdische Männer aus Ungarn am Schanzbau, von denen viele daran zugrunde gehen werden. Bewacht werden sie bei den Bauarbeiten von Angehörigen des 2. SS-Baubataillons »Kama« sowie der Organisation Todt, in ihren Quartieren vom Volkssturm und lokalen Parteifunktionären.

Alles in allem ist der ganze, niemals fertiggestellte Südostwall, und somit auch dessen Jennersdorfer Abschnitt, aus militärischer Sicht nicht mehr als ein schlechter Witz. Allerdings ein blutiger Witz nach Art der NSDAP. Aber in Jennersdorf gibt es zumindest einen, der den Bau des sinnlosen Walls für höchst sinnvoll hält. Rechtsanwalt Dr. Felix Luckmann. Ein gefährlicher Mann. Immer schon ein gefährlicher Mann. Im Herbst 1944 ist Dr. Luckmann als Unterabschnitts- und Ortsgruppenleiter, der praktisch jede Jennersdorferin und jeden Jennersdorf zu Schanzarbeiten zwingen kann, nicht mehr und nicht weniger als der König von Jennersdorf. Wie es einem absoluten Herrscher gebührt, kann er auch jeden jederzeit von der Gestapo oder von der im Ort liegenden Waffen-SS verhaften lassen. Selbst die zahlreichen Volkssturmmänner des ersten bis vierten Aufgebots haben wie alle anderen Parteiformationsmitglieder seinen Befehlen bedingungslos zu folgen.

Zur Tatzeit hat dieses Jennersdorf also unzweifelhaft einen Herrscher.