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Anna Lehnhoff stößt in der Transplantationsabteilung des Göttinger Universitätsklinikums auf mysteriöse Zusammenhänge. Zwei junge Männer von den Philippinen warten auf ihre Operation, obwohl sie gesund erscheinen. Gleichzeitig wird Annas Chef kurzfristig eine Niere in Aussicht gestellt. Ein weiterer Patient wird von Sicherheitskräften abgeschirmt. Anna findet Hinweise, dass eine illegale Organübertragung vorbereitet wird. Aber wieso beteiligt sich ein renommierter Professor an einer solchen Transplantation? Als dessen Sohn ums Leben kommt, ermitteln auch Kriminaloberkommissar Sven Petersson und seine Kolleginnen. Während sie allmählich einem Verdächtigen auf die Spur kommen, der mit dem Professor in Verbindung steht, entschließt Anna sich zu einer spontanen Rettungsaktion für einen der Filipinos. Dadurch bringt sie sich in Lebensgefahr, und Sven muss nun nicht nur einen Mörder finden, sondern auch noch seine ehemalige Freundin in Sicherheit bringen. Dabei geht einiges schief …
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Seitenzahl: 343
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Wolf S. DietrichDer dritte Patient
Handlung und Figuren dieses Romans entspringen der Phantasie des Autors. Ebenso die Verquickung mit tatsächlichen Ereignissen. Darum sind eventuelle Übereinstimmungen mit lebenden oder verstorbenen Personen zufällig und nicht beabsichtigt.
Nicht erfunden sind bekannte Persönlichkeiten, Personen der Zeitgeschichte, die im Roman erwähnt werden, sowie Institutionen, Straßen und Schauplätze in Göttingen. So ist auch das hier erwähnte Universitätsklinikum real. Dort gibt es jedoch keine Transplantationsabteilung mehr. Herztransplantationen konnten auch in der Vergangenheit nicht durchgeführt werden.
Originalausgabe 2015
Alle Rechte vorbehalten,auch die des auszugsweisen Nachdrucksund der fotomechanischen Wiedergabesowie der Einspeicherung und Verarbeitungin elektronischen Systemen.© Prolibris Verlag Rolf Wagner, KasselTel.: 0561/766 449 0, Fax: 0561/766 449 29
Lektorat: Anette Kleszcz-WagnerKorrektur: Christiane HelmsCover: © xixinxing - fotolia.deISBN: 978-3-95475-111-2
www.prolibris-verlag.de
Der Autor
Wolf S. Dietrich studierte Germanistik und Theologie und arbeitete als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Göttingen. Dann war er Lehrer und Didaktischer Leiter einer Gesamtschule. Er lebt und arbeitet heute als freier Autor in Göttingen.
Der dritte Patient ist sein vierzehnter Krimi im Prolibris Verlag und der sechste, der in Göttingen spielt. Der Autor ist Mitglied im Syndikat, der Autorengruppe deutschsprachiger Kriminalliteratur.
Jutta Donsbach, Christine Parr und Dr. Lili Seide für die kritische Durchsicht des Manuskripts, Kriminalhauptkommissar Michael Artmann und Oberstaatsanwalt Dr. Wilfried Ahrens für fachliche Beratung in polizeilichen und ermittlungstechnischen Fragen, letzterem auch für wertvolle inhaltliche Anregungen. Nicht zuletzt danke ich meiner Frau Kristine für Unterstützung und Geduld mit dem schreibend abwesenden Ehemann.
Wolf S. Dietrich
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Vom selben Autor
Mit atemberaubender Geschwindigkeit rauschte der Zug in Richtung Norden. Hanau, Fulda, Kassel-Wilhelmshöhe hießen die Stationen. Mit müden Augen, aber fasziniert von der ungewohnten Umgebung, betrachtete er abwechselnd die vorbeifliegende Landschaft und den eleganten Innenraum des Waggons. In seiner Heimat war er auch schon gelegentlich mit der Eisenbahn gefahren. Gemächlich rumpelnd und mit einer lauten Sirene hatte sich das Gefährt den Weg durch die Hüttenwelt der Vorstadt gebahnt. Die hölzernen Sitzbänke waren von Menschen mit Bündeln, Pappkartons und Haustieren besetzt, die Gänge mit weiteren Gepäckstücken und Fahrgästen gefüllt gewesen. Mit lautstarken Unterhaltungen hatten sie gegen die Fahrgeräusche und den kaum abreißenden Ton der Hupe angeredet.
Hier saßen nur wenige Menschen in seiner Nähe. Sie schwiegen, beschäftigten sich mit Smartphones, unterhielten sich nur gelegentlich und sprachen leise.
Sein Freund hatte den Kopf gegen die Polster gelehnt und schlief. Auch ihm machte die Müdigkeit zu schaffen. Seit zwei Tagen waren sie unterwegs, der Flug von Manila über Abu Dhabi nach Frankfurt war anstrengend gewesen, sie hatten kaum schlafen können. Aber jetzt näherten sie sich ihrem Ziel. Eine Stadt mit einem schwer auszusprechenden Namen. Göttingen.
Er schloss die brennenden Augen und überließ sich den Erinnerungen an die seltsame Verkettung von Ereignissen, die ihn und seinen Freund in dieses Land auf dem europäischen Kontinent geführt hatten.
»Bewegt euch!«, rief der Fotograf, gab Danilo ein Zeichen und hob die Nikon ans Auge. Einer der Jungen warf den Ball über das Netz, sofort begann ein lebhaftes Spiel. Sie hatten es mehrmals geübt, und nun gelang der Ballwechsel auf Anhieb. Routiniert richtete Danilo den Reflektor aus und beleuchtete die jungen Spieler. Gleichzeitig begann neben ihm eine Videokamera zu surren, die von einem älteren Mann bedient wurde, der offensichtlich nicht auf den Philippinen zu Hause war. Während er das Objektiv auf die hüpfenden Kinder richtete und näher an deren Körper heranzoomte, murmelte er Unverständliches und stieß in einer unbekannten Sprache kaum hörbare Laute des Entzückens aus. Englisch oder Spanisch hätte er verstehen können, mit beiden Sprachen war er aufgewachsen. Offenbar stammte der Fremde nicht aus Amerika. Wahrscheinlich ein Europäer. Dafür, dass er hier selbst filmen durfte, musste er sicher viel Geld bezahlen. Danilo vermutete, dass die Summe dem Jahreseinkommen einer ganzen Familie aus seinem Dorf entsprach.
»Pass auf, Idiot!«, zischte der Fotograf und deutete auf zwei Jungen, die regelwidrig um den Ball rangen, ihre Körper mit Armen und Beinen ineinander verschlungen hatten und sich im Sand wälzten. Danilo war gehalten, solche Rangeleien sofort auszuleuchten, anscheinend waren sie ein beliebtes Motiv. Rasch richtete er den Reflex des Sonnenlichts auf die Szene. Dabei erschien ihm der Lichtschein schwächer, als er eben noch gewesen war. Unwillkürlich richtete er den Blick zum Himmel. Dessen eben noch klares Blau wurde von einem milchigen Schleier bedeckt, der sich von Osten her ausbreitete. Gleichzeitig bemerkte er das Rauschen des Windes, der um die hohen Mauern des Grundstücks strich und die Wipfel der Bäume in sanfte Bewegung versetzte.
Der parkähnliche Garten gehörte zur Villa Salita, dem Besitz eines Geschäftsmannes aus Manila. Das Anwesen eignete sich gut für diese Art Aufnahmen. Es lag im besten Viertel der Provinzhauptstadt Batangas City, war üppig bepflanzt und von nirgendwoher einsehbar. Selbst wenn es jemandem gelungen wäre, die Mauer zu erklimmen, ohne von einem der Wächter mit den scharfen Hunden daran gehindert worden zu sein, hätte er nur auf eine undurchdringliche Wand von Kokospalmen, Mangroven und Bambushölzern blicken können.
Der Apparat in den Händen des Fotografen klickte, die Videokamera surrte, Danilo konzentrierte sich auf seine Aufgabe. Dass er diesen Job bekommen hatte, war ein Glücksfall für ihn und seine Familie. Die Bezahlung für einen Arbeitstag von drei bis vier Stunden entsprach dem Monatseinkommen, das sein Vater mit der Herstellung von Weidenkörben erzielte. Während die Jungen von Rizaldo, dem Fotografen, von ihren Heimatdörfern abgeholt wurden, ließ Danilo sich von Honesto, der ein zweisitziges Moped besaß, an jedem Wochenende zur Villa Salita fahren. Nach dem Shooting brachte der Freund ihn wieder nach Hause. Für diese Gefälligkeit musste Danilo ein wenig von seinem Verdienst abzweigen. Aber erstens blieb noch genug übrig, zweitens war Honesto sein bester Freund und drittens war er zuverlässig. Auch heute würde er draußen vor der Mauer auf ihn warten.
Mehrere Jahre trug Danilo nun schon auf diese Weise zum Familieneinkommen bei. Anfangs hatte er zu den Jungen gehören sollen, die im Garten der Villa Salita fotografiert und gefilmt wurden. Doch nach einigen Wochen war er nicht mehr in der Lage gewesen, unbefangen im Sand oder auf dem Rasen herumzuspringen. Als sie sich einmal gegenseitig mit einem Wasserschlauch hatten abspritzen müssen, war der lauwarme Strahl auf seinem Penis gelandet, und dieser hatte sich unvermutet aufgerichtet. Der Fotograf hatte es bemerkt und war in schallendes Gelächter ausgebrochen. Danilo hatte sich zu Tode geschämt und war blindlings ins nächste Gebüsch gekrochen. Später hatte Rizaldo ihm vorgeschlagen, an einem anderen Tag zu kommen. Allein, ohne die anderen Jungen. Sie würden dann Aufnahmen in den Innenräumen der Villa machen. Mit anderen, ebenfalls erwachsenen Männern. Fotos und Videos würden an Agenturen in Amerika, Kanada und Europa verkauft werden. Niemand auf den Philippinen würde sie je zu Gesicht bekommen. Und sein Verdienst würde das Zehnfache betragen. Er müsse allerdings bereit sein, mehr zu tun, als nur mit einem Wasserschlauch zu hantieren, hatte er grinsend hinzugefügt. Danilo hatte keine Vorstellung, was das bedeuten konnte, und sich angesichts des Betrages, den Rizaldo genannt hatte, zögernd bereit erklärt, zu einer solchen Verabredung zu erscheinen. Nicht zuletzt, weil er zu den erwachsenen Männern gehören wollte.
Danilo schüttelte die Erinnerung ab, als er Übelkeit in sich aufsteigen fühlte. Die Erwartungen des Fotografen hatte er nicht erfüllen können. Er sollte … und mit anderen Männern … Nein, er wollte daran nicht mehr denken. Er war nur froh, dass es keinen Ärger gegeben hatte. Rizaldo war natürlich wütend gewesen, aber dann hatte er ihm den Job als Beleuchter angeboten. Aus Mitleid, hatte Danilo zunächst geglaubt. Inzwischen wusste er, dass Rizaldo damit sein Schweigen erkaufte.
»Wir brechen ab«, rief der Fotograf und deutete zum Himmel. Der Europäer ließ einen Laut der Enttäuschung vernehmen, doch Rizaldo trieb bereits die Jungen zu einem abgelegenen Nebengebäude. »Zieht euch an! Wir fahren in zehn Minuten los.«
Mit bedauerndem Ausdruck verstaute der Hobbyfilmer seine Videokamera in einer Umhängetasche. Doch dann wandte er sich Danilo zu und entblößte ein kräftiges Gebiss mit vorstehenden Schneidezähnen, zwischen denen ein auffälliger Spalt klaffte. »Du machst das gut«, sagte er auf Englisch. »Wie heißt du?«
Danilo zuckte mit den Schultern. »Spielt das eine Rolle?«
Prüfend glitten die Augen des Mannes an Danilo herab. »Bist ein hübscher Junge. Können wir uns vielleicht mal privat treffen?« Seine Handbewegung umfasste das Grundstück der Villa Salita. »Ohne das hier. Und ohne den da.« Er deutete in Richtung des Fotografen. »Nur für ein paar Fotos. Ich würde dich besser bezahlen als er.«
Danilo schüttelte den Kopf. Inzwischen konnte er sich vorstellen, was der Europäer von ihm wollte. »Kein Interesse.«
»Du willst kein Geld verdienen?«
»Schon.« Danilo sah den Fremden skeptisch an. »Aber nicht so.«
»Gut. Das kann ich verstehen. Ist für mich auch nur ein Nebengeschäft. Aber ich kann dir eine andere, eine ganz große Chance bieten. Dafür müsstest du allerdings dein Land verlassen. Hast du Familie?«
»Ich muss jetzt gehen.« Danilo deutete auf eine kleine Tür in der Mauer. »Meine Eltern und meine Geschwister warten auf mich.«
Bedauernd verzog der Mann das Gesicht und murmelte etwas in einer fremden Sprache. Trotzdem nickte er ihm freundlich zu und gesellte sich dann zu dem Fotografen, der seine Ausrüstung zusammenpackte. Nacheinander sahen die Männer zu ihm hinüber. Während er sich fragte, ob sie über ihn sprachen, verließ er das Grundstück durch die Pforte, die nur von innen geöffnet werden konnte.
Honesto saß auf seinem Moped und presste ein kleines Radio ans Ohr. »Es gibt Sturm«, sagte er und deutete in Richtung Osten. »Vielleicht sogar einen Taifun. Sie nennen ihn Gottes Donner.« Er lachte. »Warum Gott seinen Donner schon wieder zu uns schickt und nicht nach Amerika oder Europa, sagen sie nicht.«
Außerhalb der Mauern war böiger Wind zu spüren. Danilo deutete auf das Moped. »Lass uns fahren! Taifun Haiyan hat ziemlich viel Unheil angerichtet. Warum sollte es diesmal anders sein?«
»Die machen immer so viel Wind um den Sturm«, grinste Honesto. »Wird schon nicht so schlimm werden.«
Danilo dachte an seine kleinen Schwestern. Die Zwillinge hatten große Ängste ausgestanden, als der letzte Orkan über das Land gezogen war. Das Dorf war glimpflich davongekommen. Außer ein paar entwurzelten Bäumen und zwei abgedeckten Hüttendächern war kein größerer Schaden entstanden. Aber an das Heulen des Windes und den peitschenden Regen, an jenen Tag in stundenlanger beunruhigender Finsternis, konnte er sich gut erinnern. Lailani und Mayumi würden sich auch jetzt wieder ängstigen, es wäre besser, bei ihnen zu sein. »Lass uns fahren!«, wiederholte er.
Sein Freund schob die Antenne in das Radio und ließ das Gerät in der Tasche verschwinden. Wenig später waren sie auf dem Weg nach Bawayan.
Sie hatten den Wind im Rücken, und Honesto erreichte mit dem Moped eine nie zuvor erlebte Geschwindigkeit. Danilo rechnete sich aus, in weniger als zwei Stunden zu Hause zu sein. Rechtzeitig vor dem Eintreffen des Sturmes, so dass er seinen Eltern noch helfen konnte, Fenster und Türen zu sichern. Das Geld, das er durch seinen Job in der Villa Salita verdiente, hatte wesentlich dazu beigetragen, aus der Holzhütte ein Haus aus gemauerten Wänden zu machen. Mit einem abgeteilten Schlafzimmer für die Eltern, einem Raum für die Zwillinge und einer Küchenecke. Damit gehörte seine Familie zu den besser gestellten Bewohnern des Dorfes, die überwiegend zu mehreren in einfachen Holz- oder Wellblechhütten hausten.
Danilo war entschlossen, der Armut zu entkommen. Eines Tages würde er ein Haus in der Stadt besitzen und seinen Eltern und den Zwillingen ein besseres Leben ermöglichen. Noch musste er sich dem Willen seines Vaters beugen und ihm bei der Verarbeitung von Flechtweide zu Körben und Schalen helfen. Aber er hatte bereits etwas Geld beiseitegelegt und sich vorgenommen, sobald es ausreichte, einen Weg zu suchen, der ihn aus dem Elend der Mittellosigkeit in den Wohlstand städtischen Lebens führen würde. Auch ohne das zweifelhafte Angebot des Europäers.
Ein heftiger Schlenker des Mopeds riss ihn aus seinen Gedanken. Hätte er sich nicht instinktiv blitzschnell an Honesto festgeklammert, wäre er vom Sitz gerutscht. Sein Freund stieß unverständliche Flüche in den Fahrtwind und verringerte die Geschwindigkeit. »Der Wind hat gedreht«, rief er schließlich und deutete mit einem Kopfnicken auf die Bäume am Straßenrand. Die Zweige neigten sich tief, Blätter fegten über die Fahrbahn.
Er hat auch zugenommen, ergänzte Danilo für sich und wandte den Blick rückwärts. Hinter ihnen war der Himmel schwarz geworden. Dunkelgraue Wolkenungetüme rasten über das Land. Das nachlassende Knattern des Mopeds wurde von einem Lärmteppich aus Heul- und Pfeiftönen überdeckt. Danilo spürte, wie der Wind an ihnen zerrte und Honesto zum Fahren von Schlangenlinien zwang.
Wir müssen Schutz suchen, dachte er. Gleichzeitig sah er die verängstigten Gesichter seiner Schwestern vor sich. Nein, er wollte nach Hause, er musste nach Hause.
Honesto verlangsamte das Tempo weiter. Er schien Danilos Gedanken zu ahnen. »Wir fahren erst mal weiter«, rief er über die Schulter. »Solange es nicht regnet, kann ich einigermaßen die Spur halten. Zum Glück ist kein Verkehr.«
Danilo klopfte ihm zur Bestätigung auf den Rücken. Vielleicht zog der Sturm an ihnen vorbei oder ließ wieder nach. Um dem Wind möglichst wenig Angriffsfläche zu bieten, schmiegte er sich dicht an seinen Freund und umklammerte dessen Oberkörper. Die starre Verbindung mit dem Fahrer schien das Lenken zu erleichtern. Seitliche Ausschläge wurden geringer, und Honesto beschleunigte vorsichtig. Noch hatten sie fast die Hälfte des Weges zu bewältigen. Danilo betete zum Gott des Wetters, ein Einsehen zu haben und ihn rechtzeitig zu Hause ankommen zu lassen.
Obwohl er die Strecke genau kannte, wusste er nicht mehr, wo sie sich befanden. Die Sicht war eingeschränkt, der Himmel hatte sich weiter verfinstert und vor einigen Minuten hatte Regen eingesetzt. Der Wind peitschte die Tropfen nahezu waagerecht über das Land, im Nu war seine Kleidung durchnässt. Honesto reduzierte wieder die Geschwindigkeit. »Ich kann nicht mehr viel erkennen!«, schrie er. »Wir müssen uns irgendwo unterstellen.« Danilo wollte widersprechen, doch in dem Augenblick, in dem er den Mund öffnete, gab es einen heftigen Schlag. Das Moped schoss quer über die Fahrbahn, schwankte bedrohlich, landete in einem Graben und blieb mit dem Vorderrad stecken. Wie von einem bockenden Pferd wurden die Freunde abgeworfen und fanden sich in einem schlammigen Rinnsal wieder, das rasch anschwoll. Das Geräusch des Motors erstarb. Aus dem Regen war eine Sturzflut geworden, in dicken Tropfen prasselte er vom Himmel. Der weitere Verlauf der Straße war kaum noch zu erkennen.
»Meine Maschine«, rief Honesto, rappelte sich mühsam auf und packte Danilos Handgelenk. »Wir müssen sie da rausholen. Bevor der Motor voll Wasser läuft.«
Mit vereinten Kräften zerrten sie das Moped aus dem Graben und schoben es zur Straße. Einige Speichen des Hinterrades waren verbogen. Offenbar war ein abgebrochenes Aststück in das Rad geraten. Zuversichtlich trat Honesto auf den Kickstarter. »Sie hat mich noch nie im Stich gelassen«, brüllte er gegen Sturm und Regen an. Danilo betrachtete den mit Schlamm bedeckten Antrieb und registrierte das strömende Wasser auf Zündkerze und -kabel. Der Anblick machte wenig Hoffnung, dass sich der Motor zum Leben erwecken lassen könnte. Während Honesto sich mit zunehmender Ungeduld abmühte, sah Danilo sich um. Schemenhaft erkannte er den Bahndamm, der hier neben der Straße entlangführte. Nun wusste er wieder, wo sie waren. Zwei oder drei Kilometer weiter kreuzte die Bahnlinie die Straße. Dort, in der Unterführung, konnten sie Schutz suchen.
»Wir schieben bis zur Bahnbrücke«, schlug er vor. »Da haben wir wenigstens so was wie ein Dach über dem Kopf.«
Honesto zögerte.
»Es ist nur ein Kilometer«, log Danilo. »Unter der Brücke kann deine Maschine abtrocknen. Vielleicht fährt sie dann wieder.«
Noch einmal versuchte sein Freund, den Motor zu starten, schließlich willigte er ein. Er schwang sich auf den Sitz. »Du schiebst zuerst«, bestimmte er. »Wir wechseln uns ab.«
Ein Teil der Strecke erwies sich als leicht abschüssig, so dass sie die Unterführung schneller erreichten, als Danilo vermutet hatte. Außerdem hatten Sturm und Regen nachgelassen. Erleichtert überschlug er die restliche Fahrzeit. Vielleicht würden sie ihr Dorf doch noch erreichen. Mit deutlicher Verspätung, aber vor Einbruch der Nacht.
»Das war aber mehr als ein Kilometer«, schimpfte Honesto erschöpft, als er das Moped abstellte.
»Stimmt«, bestätigte Danilo. »Ich habe mich geirrt. Aber ich dachte, wir wären schon weiter.« Honesto winkte ab und wandte sich seinem Fahrzeug zu. »Hoffentlich kriege ich sie in Gang.« Er hockte sich vor die Maschine und zog den Zündkerzenstecker ab. »Ich brauche etwas Trockenes. Zum Abwischen.«
»Morgen vielleicht«, erwiderte Danilo bitter. Er hob den Kopf und lauschte. War es Donnergrollen, das inzwischen eingesetzt hatte, oder hatte er gerade einen Motor gehört? Auf dem Weg waren ihnen kaum Fahrzeuge begegnet, überholt hatte sie niemand. Auf der Strecke gab es auch sonst wenig Verkehr, aber dass nicht ein einziger Lastwagen oder Transporter auf dem Weg in ihr Dorf war, erschien ihm seltsam. Angestrengt versuchte er, den Regenschleier zu durchdringen und das Motorengeräusch noch einmal aus dem Getöse des Windes herauszuhören. Allmählich, aber immer deutlicher, geriet der vage Ton zu einem dumpfen Brummen. »Ein Lastwagen«, rief Danilo. »Vielleicht kann er uns mitnehmen.«
Honesto erhob sich und neigte den Kopf. »Das wäre die Rettung. Das Moped …« Er unterbrach sich, als in der grauen Suppe gelbliche Lichter auftauchten, die langsam näherkamen.
Danilo winkte heftig, der Fahrer stoppte und kurbelte die Scheibe runter. Ein vernarbtes Gesicht mit grauen Haaren und Bartstoppeln erschien. »Was ist los?«
»Wir kommen nicht weiter«, rief Danilo und zeigte auf das Moped. »Können Sie uns mitnehmen?«
»Euch schon. Aber für das Moped ist kein Platz.« Er deutete zur Ladefläche, auf der Betonrohre gestapelt waren.
Fragend sah Danilo Honesto an. Der steckte den Zündkerzenstecker in die Hosentasche und nickte. »Ich komme mit. Mein Moped holen wir morgen ab.«
Die Jungen kletterten ins Führerhaus und quetschten sich auf den Beifahrersitz.
Trotz der schweren Ladung schwankte der Lastwagen, als sie aus dem Schutz der Unterführung auf freies Feld kamen und der Sturm mit offenbar neu entfesselter Kraft das Fahrzeug erfasste. »Gut, dass ich Beton geladen habe«, knurrte der Fahrer. »Sonst hätte mich der Wind schon in den Graben gedrückt.«
Kilometer um Kilometer quälte sich das schwere Gefährt voran. Der Weg war kaum noch zu erkennen, Wasser floss über die Fahrbahn oder vermischte sich mit Erde, schwemmte Sand, Steine und Schlamm auf die Straße. Blitze zuckten über das Land und erleuchteten für Sekundenbruchteile die Gegend. Donner krachte ohrenbetäubend, übertönte kurzzeitig den dröhnenden Motor. Sie erreichten die Wegkreuzung, von der aus man die Lichter des Dorfes hätte sehen müssen. Doch so sehr Danilo sich auch bemühte, seine Augen konnten die Finsternis nicht durchdringen. Eine diffuse Angst stieg in ihm auf. Was war dort geschehen? Stromausfall?
Auch Honesto schien beunruhigt. Er deutete nach vorn. »Kann doch nicht sein, dass schon alle schlafen. Zumindest Joselitos Laden müsste noch beleuchtet sein.«
»Da komme ich mit meinen Rohren wohl zu spät«, murmelte der Fahrer.
»Wie meinen Sie das?«, fragte Danilo.
»Wahrscheinlich ist alles überschwemmt, und das Wasser hat den Transformator erreicht. Kurzschluss. Paff! Ende. Die Ecke, wo der steht, sollte trockengelegt werden. Eigentlich schon vor drei Jahren. Aber mein Chef hat erst in diesem Sommer den Auftrag gekriegt.«
Danilo schüttelte den Kopf. »Unser Bürgermeister hat gesagt, es kann nichts passieren. Die Rohre würden nur vorsorglich verlegt.«
Der Fahrer zog geräuschvoll den Rotz hoch und spuckte zwischen seinen Beinen auf den Boden des Führerhauses. »Na, der muss es ja wissen.«
Das Dorf lag vollständig im Dunkeln. Als sie die ersten Hütten erreichten, hielt Danilo es nicht mehr aus. »Ich muss aussteigen«, rief er. »Können Sie bitte anhalten.«
Der Fahrer stoppte, die Jungen kletterten aus dem Führerhaus und standen sofort bis zu den Knöcheln im Wasser. Sie stemmten sich gegen den Wind, der um Hütten und Häuser heulte. Während der schwere Lastwagen im Schritttempo über die Dorfstraße rumpelte, versuchten Danilo und Honesto, den Weg zu erreichen, der zu ihren Elternhäusern führte. Vor ihnen tauchte ein Licht auf. Es schwankte und flackerte. Ein Mann mit einer Handlampe hangelte sich an einem Zaun entlang. Als sie näherkamen, erkannten sie Joselito. Er schrie etwas gegen den Sturm, das sie nicht verstanden. Erst als sie ihn erreichten, wurden aus den Sprachfetzen Worte.
»Ihr müsst umkehren! Wir müssen ins Oberdorf. Hier ist es zu gefährlich. Alles überschwemmt. Einige Häuser sind schon eingestürzt.« Wie zum Beweis krachte es neben ihnen. Die Wand eines Holzhauses knickte weg, das Dach polterte herab, Schindeln und Bretter segelten durch die Luft, irgendwo jaulte ein Hund.
Entsetzt starrten die Jungen auf die Trümmer. »Wir haben ein Steinhaus«, murmelte Danilo. »Da kann so schnell nichts passieren.«
Joselito zuckte mit den Schultern. »Bei Ismeldas Eltern ist eine Mauer umgefallen. Der Fluss ist über die Ufer getreten und fließt mitten durchs Unterdorf, sein Wasser weicht den Boden auf und schwemmt die Erde weg. Dem hält nichts stand, auch die Steine nicht.« Er schwenkte seine Lampe. »Kommt mit! Eure Familien sind bestimmt auch schon oben.«
Danilo schüttelte den Kopf. »Ich muss erst nachsehen, ob meine Eltern … Meine Schwestern … Vielleicht brauchen sie Hilfe.« Er wandte sich um und stemmte sich erneut gegen den Wind. Honesto blieb zurück. »Ich gehe mit Joselito«, rief er. Danilo war mit seinen Gedanken schon bei seiner Familie. Die Angst trieb ihn an, er versuchte, schneller zu laufen, doch Sturm und Regen ließen ihm keine Chance.
Als das Haus in Sicht kam, registrierte Danilo erleichtert, dass Dach und Wände unversehrt waren. Die alte Hütte, die nur noch als Werkstatt und Lager für die Weidenkörbe diente, schien reichlich windschief. Weil nirgends Licht brannte, wirkte das Grundstück verlassen. So rasch der Wind es erlaubte, strebte er vorwärts, erreichte schließlich die Tür. Er öffnete und rief erst nach Lailani und Mayumi, dann nach seinen Eltern, doch drinnen rührte sich niemand.
Ein beängstigendes Geräusch von draußen ließ ihn zurückschrecken und das Haus umrunden. Angstvoll verharrte er vor dem Schuppen. Die Wände bewegten sich im Rhythmus der Windböen, Holz knarrte, Balken ächzten. Krachend schlug die offene Tür gegen den Rahmen. Erst jetzt erkannte Danilo, was passiert war. Eine Kokospalme war auf die Hütte gestürzt und hatte das Dach eingedrückt. Einige der Wellblechplatten fehlten, andere waren ins Innere der Hütte gefallen und bewegten sich scheppernd im Wind. Ungehindert prasselte der Regen auf das Lager. Der Schaden wäre unermesslich. Oder hatte Vater die Körbe rechtzeitig in Sicherheit gebracht? Vorsichtig näherte er sich der Tür, ergriff ein herumliegendes Brett und verkeilte sie damit. Im Inneren der Hütte herrschte Dunkelheit. Dennoch wusste Danilo sofort, dass die Ware verdorben war, denn er roch die Feuchtigkeit in der Flechtweide. Zögernd betrat er den Raum. Er stieß auf einen nachgebenden Widerstand und hockte sich nieder, um nach dem Hindernis zu tasten.
Füße. Sie waren nackt, darüber umgekrempelte Hosenbeine. Danilo schrie auf. »Nein! Nein! Nein!« Sein Gehirn weigerte sich, die Wahrheit aufzunehmen. Während er den vom Wasser umspülten Körper nach einem Lebenszeichen befühlte, hoffte er auf ein Wunder. »Gib mir meinen Papa wieder!«, betete er und zerrte an der leblosen Gestalt. Sie ließ sich nicht bewegen. Danilo kroch zum Oberkörper seines Vaters. Quer über der Brust lag ein Balken, im Hals steckte ein Stück Wellblech. Schwindel erfasste Danilo, und ihn überfiel die Sehnsucht, sich neben seinem Vater dem gurgelnden Wasser zu ergeben. Die Kälte brachte ihn zur Besinnung. Er musste Helfer holen. Den Vater befreien, wiederbeleben, ins Krankenhaus bringen. Er sprang auf und rannte aus der Hütte.
Vor dem Haus hielt er inne. Wo waren seine Mutter und die Mädchen? Im Inneren des Hauses stand ebenfalls das Wasser. Es war dunkel, aber in der Küche musste eine Taschenlampe sein. Er fand die Schublade, schaltete das Licht ein und erstarrte erneut. Seine Mutter saß vornübergebeugt in ihrem Sessel. Er hastete zu ihr und stieß sie an. »Mama! Was ist …?« Ihr Körper kippte nach vorn und platschte ins Wasser. Erst jetzt bemerkte er den Geruch nach erkaltetem Feuer. Wasser tropfte auf halb verkohltes Holz im Kamin. Der Sturm musste die Verkleidung auf dem Dach fortgerissen haben. Wind und Regen hatten das Feuer erlöschen lassen und gleichzeitig den Abzug des Rauchs verhindert. Danilo zerrte den toten Körper seiner Mutter auf den Sessel zurück, damit er nicht im Wasser lag. Dann stürzte er ins Zimmer der Zwillinge.
Mayumi lag auf dem Bauch in ihrem Bett, presste den Kopf in die Armbeuge und wimmerte leise vor sich hin. Den anderen Arm hatte sie um Lailani gelegt, die dicht neben ihr lag. Deren Blick war starr, reagierte nicht auf den Lichtstrahl der Taschenlampe, Mayumi dagegen hob den Kopf. Obwohl ihm die Beine wegzuknicken drohten, packte Danilo seine Schwester und zog sie hoch. Mühsam löste er ihre Hand vom Hals der Zwillingsschwester. Lailanis Körper war kalt. »Was ist passiert?«, fragte er atemlos. Doch Mayumi schluchzte nur und bekam kein Wort heraus. Noch einmal ließ er den Strahl der Taschenlampe über Lailanis bleiches Gesicht huschen, dann wandte er sich um und trug seine Schwester aus dem Haus.
Der Sturm peitschte ihm Regen ins Gesicht, und Mayumis Gewicht lastete schwer auf seinem Arm, aber er wusste, dass sie und er nur überleben würden, wenn sie das Oberdorf erreichten.
Anna Lehnhoff schreckte aus dem Schlaf und starrte auf die Leuchtziffern des Radioweckers. Halb sechs. Viel zu früh. Im Traum hatte ein Bär sie verfolgt. Ein kräftiger Braunbär mit dem Gesicht von Markus Wille, ihrem Chefredakteur. Er war von einem riesigen Sockel auf dem Bahnhofsvorplatz geklettert und hatte ihr zugerufen, sie solle auf ihn warten. Um seinen Pranken zu entgehen, rannte sie im Slalom um die Säulen der Pergola, die das Bahnhofsgelände zur Stadt hin abgrenzten. Doch plötzlich stand er vor ihr, statt eines Fells trug er nun jenen geräumigen Cordanzug, in dem sie ihn vor vierzehn Jahren kennengelernt hatte, als sie zur Vorstellung beim Tageblatt nach Göttingen gekommen war. In dem Augenblick, in dem Wille den Mund geöffnet hatte, um ihr etwas Bedeutendes mitzuteilen, war sie aufgewacht.
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
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