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Im flachen Wasser des Leinekanals entdecken zwei Obdachlose eine prall gefüllte Plastiktüte. Mit einiger Mühe hangeln die bezechten Männer die Beute aus dem Wasser. Mit einem solchen Fund haben sie jedoch nicht gerechnet. Als sie die Tüte umstülpen, fallen ihnen menschliche Gliedmaßen entgegen, eingewickelt in blutgetränkte Handtücher. Anna Lehnhoff, Redakteurin beim Göttinger Tageblatt, berichtet über den Fund und begibt sich - gegen die Beschwörungen ihres Freundes, der als Kommissar bei der Göttinger Kripo mit dem Fall befasst ist, auf Spurensuche - und riskiert nicht nur ihr eigenes Leben.
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Seitenzahl: 315
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Wolf S. Dietrich
Die Tote im Leinekanal
Göttingen Krimi
Prolibris Verlag
Dem Roman liegt ein realer Mordfall zu Grunde, der vor einigen Jahren Justiz und Öffentlichkeit beschäftigt hat. Er wurde für diesen Göttingen Krimi in eine frei erfundene Handlung übertragen. Auch alle Personen und deren Verquickung mit tatsächlichen Ereignissen sind Produkte der Fantasie. Darum sind eventuelle Übereinstimmungen mit lebenden oder verstorbenen Personen zufällig und nicht beabsichtigt. Nicht erfunden sind Institutionen, Straßen und Schauplätze in Göttingen — mit zwei Ausnahmen: Den „Groneweg“, Ort des schaurigen Geschehens, gibt es ebenso wenig wie die „Westbank“.
...
„Um den Kopf kann ich mich später kümmern ... Jetzt erst mal den schweren Brocken ...“
Mehrere übereinander gezogene gelbe Säcke, dazu ein blauer Müllbeutel, den er aus dem Kellerraum eines anderen Mieters gezerrt hatte, umhüllten den Rumpf und gaben ihm das Aussehen eines gewöhnlichen Abfallsacks. Fest verschnürt und zusätzlich mit Klebeband verstärkt, würde sein Paket nach nichts als Müll aussehen – und keinerlei Argwohn erregen ...
Als er das Bündel durch die Haustür schleifte, stoppte ein Streifenwagen am Bordstein, zwei junge Polizisten stiegen aus.
Scheiße, die Bullen.
Fast knickten ihm die Beine weg, so rasch hatte ihn die Übelkeit gepackt. Er fühlte das Blut aus den Wangen weichen und hörte sein Herz hämmern.
„Wohnt hier Laura Frowein?“, rief einer der Männer und ging, als er nickte, ohne anzuhalten, an ihm vorbei. Der andere warf einen Blick auf das verschnürte Bündel und sah ihn an. „Soll ich mal mit anfassen?“
...
Prolog
Lauras letzter Lebenstag war ein Mittwoch.
Es war zehn Minuten nach eins, als ihre Hände über der Computertastatur schwebten, um das Programm mit den Patientendaten zu schließen und den Computer herunterzufahren. Mittwochnachmittag war die Praxis geschlossen, sie war für den Rest des Tages frei. Zufrieden beobachtete sie, wie der Rechner ihrem Tastendruck gehorchte und sich ordnungsgemäß verabschiedete.
„Kannst du die Post mitnehmen?“ Ihre Chefin steckte den Kopf durch die Tür und hielt einen Stapel Briefe hoch.
„Klar. Ich gehe sowieso noch durch die Stadt.“
„Du bist ein Schatz. Danke. Wir sind jetzt auch fertig. Frau Linstedt zieht sich noch an.“ Die Briefe landeten auf dem Empfangstresen. Laura kontrollierte rasch die Frankierung, bevor sie die Briefe in ihrer Handtasche verstaute.
„Tschüss, Laura“, klang es zweistimmig aus dem Flur. „Schönen Nachmittag noch. Und danke, dass du noch wartest.“ Sandra und Kathrin waren bereits umgezogen und winkten von der Tür.
„Kein Thema“, lächelte Laura. „Macht’s gut. Bis morgen.“
Sie räumte die herumliegenden Schreibutensilien auf, brachte die letzten Karteikarten in der Registratur unter und klopfte an die Tür des Sprechzimmers. „Frau Linstedt? Wollen wir zusammen nach unten gehen?“
„Ja, gern. Ich komme.“ Die Achtundsiebzigjährige erschien, auf einen Gehstock gestützt, in der Tür. „Damit bin ich ja noch ganz gut zu Fuß.“ Sie hob ihren Stock. „Aber diese Treppe ... Sie sind ein Schatz, Kindchen.“ Dankbar tätschelte sie Lauras Wange. „Ein richtiger Sonnenschein.“ Sie wandte sich um. „Stimmt’s Frau Doktor?“ Die Ärztin lächelte. „Da haben Sie Recht, Frau Linstedt, Laura ist der gute Geist unserer Praxis.“
Laura ergriff den Arm der alten Dame. „Na, dann wollen wir mal.“ Behutsam dirigierte sie die Patientin zum Ausgang. Sie begleitete Frau Linstedt noch bis zum Taxistand am Theaterplatz und schlenderte dann in Richtung Nabel.
Am Geldautomaten der Sparkasse ließ sie sich hundert Euro auszahlen. Damit würde sie bis zur nächsten Woche auskommen. Weil die neuen Scheine für ihr Portemonnaie zu groß waren, knickte sie die Enden gewohnheitsgemäß einen Fingerbreit um.
Früher waren sie meistens zu zweit oder zu dritt gegangen, hatten bei Wehmeyer und Karstadt oder in einer der neuen Boutiquen nach coolen Klamotten gesucht, kichernd das eine oder andere Stück anprobiert und bei Cron & Lanz in Kaffee und Kuchen investiert, um auf die Weender hinabschauen und vorübergehende Männer begutachten zu können. Doch seit Sandra einen festen Freund hatte und Kathrin sich auf die Prüfung vorbereitete, bummelte sie oft allein durch die Fußgängerzone.
Sie widerstand den verlockenden Duftschwaden, die sie hier und da aus Bratwurst- oder Dönerläden anwehten. Zwar lag ihr Gewicht noch unter jenen Werten, die in den Frauenzeitschriften des Wartezimmers als ideal dargestellt wurden, aber Laura fand sich trotzdem zu dick.
Sie sah auf die Uhr. Der nächste Bus nach Grone fuhr in gut zehn Minuten. Sie würde schon um zwei in ihrer Wohnung sein.
Laura liebte ihren freien Mittwochnachmittag, der einzige Nachmittag in der Woche, an dem sie Zeit für sich hatte. Die Wochenenden waren auch schön. Aber ausgefüllt. Durch Verabredungen, Kino- und Discobesuche. Einer aus der Clique hatte immer eine Idee. Manchmal fuhren sie mit zwei oder drei Autos nach Duderstadt oder nach Nordhausen. Letzten Samstag waren sie in Kassel gewesen. Im Musikpark A 7. Ziemlich coole Disco.
Zu Hause würde sie sich einen Obstteller zurechtmachen, sich aufs Sofa legen und durch die Programme zappen, vielleicht eine der nachmittäglichen Talkshows ansehen und später eine Runde laufen. Anschließend würde sie sich ein ausgiebiges Schaumbad gönnen. Diesen Luxus konnte sie sich während der Arbeitswoche nur einmal leisten, nur mittwochs hatte sie die Muße dafür.
Darum war Lauras letzter Lebenstag ein Mittwoch.
Der Mann, der Laura töten würde, war voller Unruhe. Wieder und wieder trieb ihn die Rastlosigkeit durch die Wohnung. In der Küche öffnete er den Kühlschrank und nahm sich ein neues Bier. Während die schäumende Flüssigkeit in den Rachen strömte, schnippte er die Verschlusslasche aus dem offenen Fenster.
Wenn die Schnecke da wäre, dachte er, könnte ich ... Aber sie will solche Sachen nicht. Höchstens, wenn sie besoffen ist.
Er warf die leere Bierdose ebenfalls hinaus und suchte im Kühlschrank nach etwas Essbarem. Doch neben ihren Joghurtbechern fanden sich nur ein Stück Schnittkäse und ein Ende Fleischwurst. Er biss ein Stück von der Wurst ab und legte sie angewidert zurück. Dann lieber noch ein Bier. Diesmal schnippte er die Lasche in Richtung Abfalleimer, traf aber daneben.
Achselzuckend verließ er die Küche.
Scheiße mit den Tussen. Wenn man sie braucht, sind sie nicht da. Und er brauchte dringend eine. Bis sie von der Arbeit kam, vergingen noch Stunden.
Blödes Weib, ging arbeiten für die paar Kröten. Andererseits, wenn sie da gewesen wäre, hätte er sich nicht das geile Video reinziehen können. Außerdem – wenn sie tagsüber aus der Wohnung war –, konnte er ungestört seine Deals machen. Oder mal ‘ne Tusse mitbringen. Für so Sachen wie auf dem Video. Aber mit den meisten war auch nicht viel los. Selbst die Nutten brachten nicht das, was er wollte.
Nur einmal war’s richtig geil gewesen. Als er das Messer dabei hatte. War eigentlich mehr Zufall gewesen. Aber die Alte war plötzlich sehr entgegenkommend geworden. Danach hatte er immer ein Messer mitgenommen.
Er durchsuchte seine Taschen. Keine Kohle. Jedenfalls nicht genug für das, was er jetzt brauchte. Wurde Zeit, dass er ein cooles Ding drehte.
Am liebsten würde er mal mit ihrer Freundin Laura ... Bloß, dass er dann Ärger kriegen würde. Im Suff hatten sie schon mal über ‘ne Sache zu dritt gequatscht. Sie wollte lieber was mit zwei Jungs machen. Aber nichts mit Fesseln und so. Und Laura konnte ihn nicht so gut ab. Wenn er ihr allein begegnete, war sie immer ziemlich abweisend. Dabei war sie bestimmt total geil. So gut geformt. Besonders hinten. Kam wohl von der Lauferei. Wenn er sich vorstellte, wie er sie ... Wenn seine Schnecke nicht da war. Theoretisch könnten sie jede Woche ...
Wütend schleuderte er die leere Bierdose gegen die Wohnungstür. Ein dünnes Rinnsal lief aus halber Höhe die Tür hinab und tropfte auf den Fußboden.
Er starrte auf die leere Dose, ohne sie wahrzunehmen. Hier hielt er es nicht länger aus. Irgendwo musste sich doch eine finden lassen, mit der er ... auch ohne Kohle.
Als er nach seiner Jacke griff, klingelte es. Genervt riss er die Wohnungstür auf.
Und öffnete verblüfft den Mund. Aber er musste sich erst räuspern. Und bevor er etwas sagen konnte, sprach die Besucherin.
„Hallo. Entschuldige die Störung. Bei mir geht das heiße Wasser nicht. Kannst du mal nachsehen?“
Laura. Im Bademantel.
1
Dieser Wolf trieb sie noch in den Wahnsinn. Anna starrte auf den Bildschirm und sog die linke Wange zwischen die Zähne. Sie spürte, wie die Wut aus dem Bauch den Rücken hinaufkroch. Gleich würde sie sich im Kopf ausbreiten, dann würde sie schreien. Seit Wochen lief das nun schon so. Keine Woche, in der sie nicht wenigstens einen Bericht über den Wolf bringen mussten. Ginge es allein nach den Anrufern, müsste jeden Tag eine Meldung erscheinen.
Anna biss in ihre Wange, dass es schmerzte.
Seit im Bramwald ein Wolf gesehen worden war, tauchte das Tier fast täglich irgendwo auf. Experten waren befragt worden, Kundige und Unkundige hatten ihre Meinung im Göttinger Tageblatt ausbreiten dürfen und ihn mal als entwichenes zahmes Tier, ein andermal als gefährliches Raubtier identifiziert, das sich aus russischen Wäldern nach Südniedersachsen verirrt hatte. Wieder andere hatten den Wolf zum Luchs erklärt. Aber immer waren die Beobachter ganz sicher, dass es sich um „Puck“ handelte, wie ihn schon bald jemand getauft hatte. Puck war nahezu allgegenwärtig, man sah ihn bei Northeim, bei Gieboldehausen, bei Hemeln und Ellershausen. Manchmal an zwei Orten gleichzeitig.
Die Berichte der mehr oder weniger erschreckten Dörfler waren alle gleich: Zuerst eine Bewegung in der Feldmark – oder am Waldrand oder hinter den Schrebergärten, dann Aufregung: Da läuft doch was! Schließlich war man sich sicher: Der Wolf.
In der Redaktion hatte jemand ein Stofftier aufgestellt. Es ähnelte mehr einem Fuchs als einem Wolf, aber darauf kam es weniger an als auf das Schild, das er um den Hals trug: „Wanted, dead or alive!“
Wenn eine neue Nachricht vom wilden Tier eintraf, verkrümelten sich die Redakteure oder vertieften sich in ihre Arbeit. Niemand mochte mehr eine neue Variante der immer gleichen Geschichte formulieren.
Diesmal hatte es Anna erwischt. Sie schlug grimmig auf die Tasten. Bevor ihr der Schrei entfahren konnte, war ihr ein Satz eingefallen, mit dem sie beginnen konnte: „Es ging alles so schnell. Erst war da nur eine Bewegung ...“
Zu seiner Überraschung geschah nichts, als die Flüssigkeit in das Schraubglas plätscherte. Er schüttete nach und beobachtete, wie sie über die Finger rann, sich um sie verteilte und schließlich die bleichen Glieder umschloss. Doch außer einer leichten, rötlich-braunen Trübung an den verkrusteten Schnittstellen war keine Reaktion zu erkennen. Aus Glas und Flasche stiegen leichte Schwaden auf und verteilten sich im Raum. Der Dunst biss in die Schleimhäute. Vorsichtig stellte er die Flasche ab, bevor er dem Hustenreiz nachgab.
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