Wattläufer - Wolf S. Dietrich - E-Book

Wattläufer E-Book

Wolf S. Dietrich

4,5

  • Herausgeber: Prolibris
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2013
Beschreibung

Ein Dorumer Fischkutter fischt eine unbekleidete Frauenleiche aus dem Meer. Wo soll Hauptkommissar Röverkamp von der Kripo Cuxhaven mit seinen Ermittlungen ansetzen? Keine Kleider, keine Papiere, keine Übereinstimmung mit Vermisstenmeldungen. An seiner Seite eine junge Absolventin der Polizeischule. Die gräbt in alten Ermittlungsakten und zieht Parallelen. Als wieder eine Frau spurlos verschwindet, kommt Bewegung in die Sache. Ausgerechnet jetzt fällt Hauptkommissar Röverkamp aus und seine Assistentin muss allein ermitteln. Sie ahnt nicht, dass es jemanden gibt, der sie ständig beobachtet. Wird die Jägerin zur Beute?

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Seitenzahl: 322

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Wolf S. Dietrich

Wattläufer

Nordseekrimi

Prolibris Verlag

Handlung und Figuren des Romans entspringen der Phantasie. Ebenso die Verquickung mit tatsächlichen Ereignissen. Eventuelle Übereinstimmungen mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt. Nicht erfunden sind Institutionen, Straßen und Schauplätze in Cuxhaven und Umgebung. Nur die Insel „Söderland“ gibt es in der Wirklichkeit nicht.

Prolog

Sommer 1695

Das Schwert des Henkers blitzte in der Mittagssonne und sandte grelle Reflexe über die Köpfe der Menge, die sich auf der Amtmannsweide in Ritzebüttel eingefunden hatte, um das seltene Schauspiel der Hinrichtung zu erleben. Bald würde die Gerichtsstätte auf einen Hügel zwischen Stickenbüttel und Sahlenburg verlegt. Dort wurde ein Galgen errichtet, und dann würde die Todesstrafe nur noch durch Erhängen vollzogen werden – ein weit weniger erregendes Schauspiel.

Gelegentlich zuckte ein Zuschauer zusammen, wenn der vom Schwert reflektierte Sonnenstrahl seine Augen traf. Doch blinzelnd riss er sie wieder auf, um nur ja nicht den Hieb zu verpassen, der den Kopf des Mannes vom Rumpf trennen würde.

Auch Katharina kniff die Augenlider zusammen, doch das geschah aus dem unbewussten Gefühl heraus, die Figuren der Szene dadurch besser erkennen zu können. Obwohl sie sich am Rande des Platzes in größtmöglicher Entfernung vom Geschehen hielt, war ihr, als ruhte der Blick des zum Tode Verurteilten nur auf ihr. Und in seinen Augen glaubte sie die Gewissheit eines Mannes zu erkennen, der mit seinem Leben abgeschlossen hatte und dem das Gefühl der Furcht Zeit seines Daseins fremd geblieben war. Der weder Tod noch Teufel und schon gar nicht den Gottesmann fürchtete, der ihn zum Gebet anhalten wollte. Mit wüsten Flüchen verscheuchte er den Schwarzrock.

Zu den Klängen von Trommlern und Pfeifern trat nun der Barbier auf das Blutgerüst, um dem Mann die wild wuchernde rote Mähne zu stutzen und seinen Nacken freizulegen. Der Todgeweihte ließ sich bereitwillig das Hemd vom Oberkörper nehmen und fiel auf die Knie, was die Menge mit einem halb erstaunten, halb bewundernden Raunen quittierte. Während die Schergen dem Mann die Hände auf dem Rücken fesselten, begann der Barbier mit ausholenden Bewegungen die Prozedur des letzten Haarschnitts.

Regungslos beobachtete der Henker aus einigen Schritten Entfernung den Vorgang, das blitzende Richtschwert in den Händen haltend. Er trug eine blutrote Pluderhose über schwarzen Beinlingen, dazu ein schwarz-rotes Wams und einen dunklen Umhang. Über der Schulter lag eine Kapuze, die in der gleichen Farbe wie die Hose leuchtete. Katharina fragte sich, ob er sie über den Kopf ziehen würde, um sich vor dem bösen Blick zu schützen, der ihn im Augenblick des Todes aus den Augen des Hingerichteten treffen würde.

Der Barbier hatte sein Werk vollendet und verließ das Gerüst. Während die Henkersknechte den Mann aufhoben und zu einem Schemel stießen, gesellten sich zu den Klängen der Pfeifer und Trommler die Fanfaren der Trompeter.

Erneut ging ein Raunen durch die Menge, als der Henker mit einer knappen Bewegung der Schulter seinen Umhang abwarf.

Die Pfeifen wurden schriller, die Trompeten lauter, die Trommeln hektischer. In gemessenen Bewegungen näherte sich der Henker dem Delinquenten, zog die Kapuze über den Kopf und hob sein Schwert.

Die Menschen hielten den Atem an.

„Was wird dem Mann vorgeworfen?“, fragte eine Stimme neben Katharina. Sie wandte den Kopf. „Das ist der Rote Claas“, flüsterte sie, als würde das alles erklären.

In diesem Augenblick brach die Musik ab. Katharina richtete den Blick rasch wieder nach vorn. Blitzartig führte der Henker das Schwert in einer einzigen Bewegung zuerst in die Höhe, dann in die Waagerechte und ließ schließlich die Spitze zu Boden sinken.

Katharina blinzelte. Was war geschehen? Hatte er den Hals des Opfers verfehlt? Der Kopf des Roten Claas hatte sich nicht bewegt. Mit Getöse setzte das Spiel der Musikanten wieder ein, und der Henker griff in das leuchtende Haupthaar seines Opfers. Er hob den abgetrennten Kopf in die Höhe und rief dem Richter zu: „Habe ich wohl gerichtet?“ Der Richter nickte. Seine Antwort ging im Gelärm der jubelnden Menge unter. Katharina wusste, dass er die Frage zu bejahen und den Henker von der Blutschuld freizusprechen hatte.

„Wer ist der Rote Claas?“, fragte der Fremde neben Katharina. „Und warum wurde er nicht gehenkt?“

„Das Gerüst auf dem Galgenberg ist noch nicht vollendet“, antwortete sie. „Und er ist ..., er hat ...“ Ihre Stimme versagte. Eilig schulterte sie ihr Bündel und stürzte davon. Die Tat des durch das Schwert Getöteten war jedermann bekannt. Mochten andere dem Fremden Auskunft geben. Sie würde nicht über den Roten Claas sprechen können. Über den anderen vielleicht, den geheimnisvollen, zärtlichen Claas, den Claas, der sie zum Lachen gebracht hatte. Der sie verzaubert hatte. Mit dem sie ein Geheimnis teilte – geteilt hatte. Die Erinnerungen ließen sich nicht verbannen. Mit tränenverschleiertem Blick stahl sie sich abseits der Wege von der Ritzebütteler Amtmannsweide an Häusern und Siedlungen vorbei und machte sich auf den Weg nach Lüdingworth, wo sie die Nacht bei Leuten verbringen würde, die ihr gewogen waren.

Am Morgen würde sie weiterziehen. Vor ihr lag eine ungewisse Zukunft, denn bei ihrer Herrschaft in Sahlenburg konnte sie nicht bleiben. Man würde sie vom Hofe jagen, wenn ihr Zustand sichtbar wurde. Und ihre Eltern würden sie verstoßen, wenn sie von der Schande erfuhren.

Während Katharina mit tränenblinden Augen auf sandigem Weg den schrecklichen Ort verließ, fand der Fremde einen mitteilsamen Bürger, der bereitwillig von der Untat des Roten Claas berichtete.

1

Sommer 1984

Birte Hansens letztes Lachen würden sie niemals vergessen. Ihr Vater nicht, der kopfschüttelnd etwas von Dickkopf gebrummelt hatte. Die Großmutter nicht, die sie ermahnt hatte, sich vom Wernerwald fernzuhalten. Do geiht de Rode Claas üm. Erst recht Birtes Mutter nicht, deren Lebensinhalt ihre Kinder waren und deren ältestes im Begriff war, das Haus zu verlassen, um in Bremen oder sogar in Hamburg – jedenfalls viel zu weit weg von zu Hause – zu studieren. Sie würde sich vorwerfen, in das Lachen ihrer Tochter eingestimmt und mit ihr verschwörerische Blicke getauscht zu haben. Sie lachte gern mit Birte. Und seit sie ein kleines Mädchen gewesen war, hatten sie gegen Vater und Großmutter zusammengehalten.

Sie wollte joggen, hatte Birte erklärt. „Keine Sorge, Oma. Wenn ich den Roden Claas treffe, lege ich ihn aufs Kreuz.“ Seit einem Jahr trainierte sie mit einer Freundin Wen-Do.

Zum Finkenmoorteich würde sie laufen, dann zur Himmelshöhe und zum Wolfsberg, schließlich am Watt entlang ins Deichvorland. Jenen Weg, auf dem sie an der Hand des Großvaters die Welt kennen gelernt hatte. Schilfgras und Strandhafer, Lach- und Silbermöwen, Austernfischer und Rotschenkel. Am Watt hatte er ihr die Seefahrt und ihre Lichtzeichen erklärt, aus Wolken und Windrichtung das Wetter gelesen und ihr die Sterne gezeigt.

In dieser Zeit war das Deichvorland vor dem Arenschen Außendeich ihre geheime Zuflucht geworden. Hier, wo Erde, Himmel und Meer zusammentrafen, wo Wind und Wellen, Sonne und Regen alle Sinne erfüllten, wurde der Kopf klar und die Seele weit. Hier fand sie zu sich selbst, wenn niemand sie verstand, wenn Erwachsene ungerecht, ihr Bruder garstig oder Freundinnen unausstehlich gewesen waren.

Einmal hatte der Großvater sich hinreißen lassen, vom Roden Claas zu erzählen. Dem rothaarigen Fischer, der seit fast dreihundert Jahren keine Ruhe fand, weil er eine schwere Sünde auf sich geladen hatte. Lange hatte Birte nicht verstanden, worin die Sünde bestand, denn ihr Großvater erging sich in Andeutungen. Mareike Petersen. Eine Jungfrau. Dem Jungen von Kapitän Harms war sie versprochen gewesen. Und der Rode Claas hatte sie geschändet. Geschändet und ins Watt geschickt. Aber wer ließ sich ins Watt schicken? Jeder wusste doch, wann man ins Watt gehen durfte und wann nicht. Für die Tat war er hingerichtet worden. Auf der Amtmannsweide in Ritzebüttel. Aber kurz darauf war eine weitere Jungfrau geschändet worden, und so hielt sich das Gerücht, der Rode Claas, ein kräftiger Rothaariger im besten Mannesalter, ginge noch immer um. Auf der Suche nach Mädchen wie Mareike Petersen.

Die Sehnsucht nach Meer und Weite bewegte Birte, ihre gewohnte Strecke zu ändern und zuerst am Strand entlang zu laufen.

Trotz der klaren Luft war die Insel Neuwerk, deren unverkennbares Profil sich bei guter Sicht am Horizont abzeichnete, heute nicht zu erkennen. Wahrscheinlich näherte sich eine Front mit feuchter Luft und hatte die Insel schon erreicht.

Niedrigwasser ließ das Watt als glänzende Fläche erscheinen, in der es weder Priele noch schlickige Löcher gab. Für den arglosen Betrachter zum Wandern einladend. Immer wieder verliefen sich Menschen im Watt, weil sie die Gefahren unterschätzten. Im Watt war im Laufe der Jahrhunderte nicht nur Mareike Petersen ums Leben gekommen. Mancher Einheimische, in der Neuzeit auch der eine oder andere Tourist, war dort verschwunden.

Warnhinweise lagen in den Kurverwaltungen aus, klebten an den Wetterkarten in den Schaukästen an der Strandpromenade. Schilder wiesen auf die sicheren Wege. Trotzdem gab es fast jedes Jahr einen Todesfall. Ertrank ein Badegast, weil er nicht rechtzeitig aus dem Watt zurückkehrte, trieb die Strömung seinen Körper ins Meer hinaus.

Ein Trampelpfad führte Birte zum Badestrand. Um diese Jahreszeit, dazu am frühen Vormittag, war er kaum wiederzuerkennen. Im Sommer bedeckten hier Badematten und Sonnenschirme den Sand. Ein Gewirr von tausend Stimmen, Kinderlachen und Musik übertönte das Rauschen der Wellen.

Heute gehörte der Strand den Möwen. Ihre heiseren Schreie waren die einzigen Hinweise auf lebende Wesen. Elegant schwebten sie über der Uferlinie, schossen hin und wieder pfeilschnell auf die Wasseroberfläche oder ließen sich am weißen Saum der Brandung nieder, um eilig hin und her zu tippeln.

Einmal hatte sie das Gefühl, beobachtet oder verfolgt zu werden. Doch weit und breit war kein Mensch zu sehen, und der Wald stand dicht wie eine Wand. Das kommt von diesen Erzählungen.

Im tiefen Sand versanken ihre Füße. Birte war das gerade recht. Ein wenig Anstrengung konnte der Figur nicht schaden. Und würde sie erwärmen. Der Seewind wehte kühl von Nordwest. Sie stemmte sich dagegen und hoffte, die frische Luft würde Klarheit in Gedanken und Gefühle bringen.

Mehr aus Trotz als aus Überzeugung hatte sie sich für Hamburg entschieden. Mutters Besorgnis und Vaters Kopfschütteln hatten sie getrieben. Dabei wäre sie vielleicht doch lieber in Cuxhaven geblieben. Jedenfalls noch ein Jahr. Bis sie sicher war. In der Genossenschaft hätte sie ein kaufmännisches Praktikum machen können. Oder eine Lehre. Studieren kannst du hinterher immer noch. Das sagte nicht nur ihr Vater. Und erstmal hast du was Richtiges.

Noch etwas ließ sie zögern. Aber das konnte sie nicht zugeben. Schon gar nicht ihren Eltern gegenüber.

Hauke Harms kannte sie, seit sie denken konnte.

Erst im letzten Winter, während des Tanzfestes, waren sie sich näher gekommen. Ganz plötzlich hatten sie einander entdeckt. Mit klopfenden Herzen, aber unsicher angesichts der überraschenden Gefühle, waren sie sich aus dem Wege gegangen, um dann doch – wie zufällig – zusammenzutreffen. Der erste Schritt war schließlich von Birte ausgegangen. Unter den frühen Strahlen der Märzsonne, an diesem leeren Strand, im Windschatten des Wernerwaldes, hatten sie sich zum ersten Mal geliebt. Zärtlich und leidenschaftlich. Inzwischen wussten alle, dass Birte und Hauke ein Paar waren.

Ihre Mutter war nicht gerade begeistert, fügte sich aber in ihr Schicksal. Neuerdings erwähnte sie Hauke, wenn Birte von ihren Plänen sprach. Und traf damit den wunden Punkt. Hauke, der zwei Jahre vor ihr Abitur gemacht und den Ersatzdienst hinter sich hatte, absolvierte eine Banklehre bei der Sparkasse Cuxhaven. Sie würde ihn nur selten sehen können, wenn sie nach Hamburg ging. Später wollten sie zusammen in einer Stadt studieren. Aber bis dahin? Sich so lange trennen?

„Nein.“ Birte zuckte zusammen, schüttelte dann den Kopf. Sie selbst hatte laut in den Wind gerufen.

Plötzlich spürte sie ihre Beine. Die Waden schmerzten von der Anstrengung. Sie lehnte sich gegen den Wind. Ein scharfer Stich schnitt ihr ins linke Bein. Birte schrie leise auf. Wadenkrampf. Sie schüttelte den Unterschenkel, versuchte aufzutreten. Langsam ließ der Schmerz nach. Sie drehte den Rücken zum Wind und setzte sich in den Sand, um das Bein zu entlasten – und erschrak. Ein Mann im roten Jogginganzug, die Kapuze tief im Gesicht, lief auf sie zu, war nur noch wenige Meter entfernt.

Der Rote Claas, schoss es Birte durch den Kopf. Ich muss aufstehen. Im Sitzen habe ich keine Chance. Hastig richtete sie sich auf.

„Kann ich dir helfen?“ Der Jogger sprach hochdeutsch. Wieso duzte er sie? Sie musterte den Mann, der sich bis auf wenige Schritte genähert hatte. Er lief auf der Stelle und schob die Kapuze nach hinten.

„Ach, du bist’s, Jenno.“ Birte seufzte erleichtert „Ich dachte schon ...“

Er lächelte. Perlweiße Zähne, meerblaue Augen, rotblonde Haare. Ein gut aussehender Junge, dachte Birte, aber auch ein Mensch mit dunklen Seiten. Manchmal, wenn er sich unbeobachtet glaubte, erschien sein Blick beängstigend. Lange hatte er vergeblich um Birte geworben. Einmal hatte er ihr aufgelauert, sie in eine dunkle Ecke gezerrt und sich an sie gepresst. Sie hatte sich ihm entwunden und ihn ausgelacht

Er musterte sie prüfend.

Birte spürte, wie sie errötete. Offenbar war er schon länger in ihrer Nähe gewesen. Und sie hatte ihn nicht bemerkt.

„Vielen Dank“, wiederholte sie, „es ist alles in Ordnung.“ Wie zum Beweis trat sie ein paar Mal auf der Stelle.

Er wies zur Seeseite. „Trotzdem solltest du nicht zu weit rauslaufen. Wir bekommen Nebel.“

Birte starrte aufs Meer. Eine weißgraue Wand verdeckte den Horizont und schob sich vor das Blau des Himmels. Seenebel. Gefährlich für Wattwanderer. Minutenschnell konnte die feuchtkalte Luftmasse den gesamten Küstenstrich einhüllen.

„Ich laufe nur noch bis zum Bauhof. Von dort durch den Wernerwald zurück“, sagte sie und wies mit einer Kopfbewegung in die Richtung. Plötzlich fühlte sie sich unwohl. Warum lief er nicht weiter? Sein kalter Blick, der in seltsamem Kontrast zur lächelnden Miene stand, schien sie zu durchbohren.

„Also dann“, sagte sie, „auf Wiedersehen. Ich glaube, ich kann jetzt weitergehen.“

Jenno nickte. „Wernerwald“, sagte er und wandte sich ebenfalls zum Gehen. „Denn man tschüß, Birte Hansen.“

In lockerem Laufschritt entfernte er sich Richtung Waldrand. Kurz bevor er in das Dickicht tauchte, wandte er sich um und warf ihr einen kurzen Blick zu.

Mit festem Tritt setzte Birte ihre Wanderung fort. Jeder Schritt verringerte den Wadenschmerz ein wenig. Je weiter sie vorankam, desto härter wurde der Untergrund, weil der Sandstrand hier in festen, glatten Boden überging.

Für einen Augenblick erwog sie umzukehren. Wenn der Nebel das Festland erreichte, wurde es ungemütlich. Aber es war nicht nur der Nebel, über den sie sich Gedanken machte. Wieso hatte sie Jenno nicht früher bemerkt? Woher war er so plötzlich aufgetaucht? Sie sah sich um.

Hatte sich dort am Gebüsch etwas bewegt? Unvermittelt blieb sie stehen und starrte auf die grünen Blätter. Nichts rührte sich.

„Du spinnst, Birte“, schalt sie sich. Erstens war Jenno nicht der Rode Claas, und zweitens war er längst verschwunden. Welchen Grund also gab es, sich zu fürchten? Keinen.

Doch der Kopf konnte das ungute Gefühl nicht verdrängen. Wie er sie angesehen hatte, und wie er beim Abschied ihren Namen genannt hatte ... Birte fröstelte.

Erneut musterte sie den Waldrand. Ohne Ergebnis.

Sie beschleunigte ihre Schritte. Wenn es Nebel gab, war das Joggen kein Vergnügen mehr. Ein Grund, schneller nach Hause zurückzukehren.

Objektiv der einzige, redete sie sich ein.

Sie fiel in einen leichten Trab und ignorierte den Wadenschmerz. Als sie den Waldboden erreicht hatte, waren die Beschwerden verflogen, und sie kam schneller voran.

Ein Geräusch aus dem Unterholz ließ Birte zusammenzucken. Sie stoppte und sah sich um. Nichts.

Zögernd setzte sie ihren Weg fort.

Plötzlich knackte es hinter ihr.

Birte fuhr herum.

Jenno.

Ärger und Erleichterung hielten sich die Waage. Der Mann hatte sie zu Tode erschreckt. Wütend funkelte sie ihn an. Gleichzeitig war sie froh, dass ihr kein Unhold gegenüberstand. Sie öffnete den Mund, um ihm zu verstehen zu geben, dass sie sein Anschleichen nicht witzig fand, doch die Worte blieben ihr im Halse stecken. Mit kaltem Blick und zusammengepressten Lippen trat er dicht an sie heran. In der rechten Hand blinkte ein Messer.

Reflexartig schoss Birtes Knie nach oben. Der Junge riss Mund und Augen auf, das Messer stieß ins Leere. Mit aller Kraft rammte sie ihre Faust gegen den Kehlkopf des Angreifers. Die Wucht des Schlages ließ ihn rückwärts taumeln. Sein Fuß verhakte sich in einer Baumwurzel, und er stürzte auf den Waldboden. Auch Birte kam aus dem Gleichgewicht, fing sich aber rasch. Blitzschnell ergriff sie einen Ast, der am Wegrand lag. Schon war Jenno wieder auf den Beinen und stürzte auf sie zu, das Messer zielte auf ihren Hals.

Birte wich aus und schwang den Knüppel gegen den Angreifer. Es krachte dumpf, als das Holz auf seinem Nackenwirbel zerbrach.

Plötzlich lag Jenno reglos auf dem Boden.

Zitternd, zwischen Bestürzung und Fluchtinstinkt hin- und hergerissen, starrte Birte auf den reglosen Körper. Ob er noch lebte? War er nur betäubt? Oder stellte er sich ohnmächtig, um sie erneut anzugreifen, wenn sie näher käme, um nachzusehen, ob er schwer verletzt wäre?

Schließlich gewann der Drang zur Flucht die Oberhand. Sie rannte. Ohne Ziel. Nur weg von hier, war der einzige Gedanke, der sie beherrschte. Erst als ihre Lungen streikten, hielt sie inne. Heftig atmend und von Schwindelgefühlen begleitet, sah sie sich um.

Sie rieb sich die Augen, um wieder klarer zu sehen. Ohne Erfolg. Was sie für Sehstörungen durch Schweiß und Tränen gehalten hatte, war Nebel, dichter, feuchter Nebel.

In welche Richtung war sie gelaufen, wie lange war sie gelaufen? Sie wusste es nicht. Und sie wusste nicht, wo sie war. Angestrengt versuchten ihre Augen, die Nebelwand zu durchdringen. Vergebens. Nicht einmal der Stand der Sonne ließ sich erkennen.

Langsam beruhigte sich ihr Atem. Langsam kehrte auch die innere Ruhe zurück. Wenn ich nichts sehe, kann auch mein Verfolger nichts sehen. Wenn er wieder zu sich gekommen ist. Und wenn er mir gefolgt ist.

Allenfalls dem Geräusch ihrer Schritte hätte er folgen können. Aber dann musste sie auch seine Schritte hören. Sie lauschte. Ein leises Plätschern war alles, was an ihr Ohr drang. Es kam von unten. Sie sah an sich herunter. In dem Augenblick, in dem sie das Wasser sah, spürte sie Nässe und Kälte an ihren Füßen. Die Schuhe waren durchgeweicht.

Sie war ins Watt gelaufen.

Also befand sie sich nordwestlich oder westlich des Waldes. Wenn die Flut kam, wurde es im Watt gefährlich. Sollte sie entkommen sein, um im Meer zu ertrinken? Sie musste zurück. Aber welche Richtung sollte sie einschlagen? Unentschlossen sah sie sich um. Es gab keinen Anhaltspunkt.

Dann hörte sie die Schritte.

Zuerst war es nur ein gleichmäßiges Platschen, das sich kaum vom Plätschern zu ihren Füßen unterschied, doch dann sah sie ein Bild vor sich: Ein Mann mit einem Messer näherte sich Schritt für Schritt ihrem Standort. Jedes Mal, wenn er den Fuß aufsetzte, platschte die Sohle auf den nassen Wattengrund. Birte unterdrückte den Impuls, davonzurennen. Das Geräusch ihrer eigenen Schritte würde ihm den Weg weisen. Unbewusst den Atem anhaltend lauschte sie in den Nebel. Plötzlich brachen die Schritte ab. Sekunden später vernahm sie sie erneut. Aber sie kamen nicht näher. Birte triumphierte, als sie sich entfernten und schließlich ganz verloren.

Das Gefühl des Triumphes wurde rasch verdrängt. Angst kehrte zurück. Schlagzeilen aus der Zeitung tanzten vor ihren Augen. Wattwanderin von Flut überrascht. Wieder junge Frau ertrunken. Bei Nebel im Watt verirrt – Hilfe kam zu spät.

Sie fröstelte und schloss ihre Jacke bis unter den Hals.

Hier stehen bleiben kann ich auch nicht, besser in irgendeine Richtung gehen als hier auf die Flut warten. Noch einmal horchte sie angestrengt in den Nebel, dann setzte sie sich in Bewegung. Irgendwo werde ich schon ankommen. Ich darf nur nicht im Kreis laufen. Und nicht ins offene Meer.

Davor, hoffte sie, würde sie ihr Gefühl oder ihr Schutzengel bewahren.

Zum dritten Mal hob Birte den Arm vor die Augen, um die Uhrzeit abzulesen. Zum dritten Mal zeigten die Zeiger halb zwei. Sie blieb stehen und klopfte mit dem Knöchel des Mittelfingers auf das Glas. Dann entdeckte sie den Sprung, der sich quer über das Zifferblatt gebreitet hatte.

Sie hielt die Uhr ans Ohr. Nichts. Seit wann standen die Zeiger still? Um elf war sie aufgebrochen. Sie war also länger als zweieinhalb Stunden unterwegs. Aber wie viel länger? Wann war die Uhr stehen geblieben? Wie lange irrte sie schon im Watt umher?

Mindestens eine Stunde, schätzte sie. Das Gehen strengte zunehmend an. Als sie auf ihre Füße sah, durchfuhr sie ein eisiger Schreck. Bis zu den Knien reichte das Wasser schon. Wenn sie zwei Stunden unterwegs war und noch immer nicht die Küste erreicht hatte, lief sie im Kreis. Oder in die falsche Richtung. Sie zitterte vor Angst und Kälte. Mühsam unterdrückte sie die aufsteigende Panik. Sie werden mich suchen. Sie müssen mich suchen.

Wenn nur der verdammte Nebel verschwinden würde. Bitte, lass den Nebel verschwinden. Ohne Nebel wird alles ganz einfach. Man sucht sich ein Ziel und marschiert darauf los.

Als habe eine höhere Macht ihre Bitte erhört, lichtete sich plötzlich der Schleier vor ihren Augen. Geisterhaft zerflatterte der Nebel in hastig davonschwebenden Schwaden. Neue Geister kamen nach, folgten ihren Geschwistern, ließen für Sekunden das Meer aufblinken und deckten es wieder zu. Hektisch sah sie sich um. Nur einmal die Küstenlinie sehen, nur einmal kurz. Damit ich die Richtung finde.

Wieder wurde ihr Gebet erhört. Wie von einer göttlichen Hand bewegt, glitt der Vorhang zur Seite und gab die Sicht frei. Gebannt starrte sie auf die Erscheinung vor ihren Augen.

Wenige Schritte vor ihr. Ein menschliches Wesen. Die Rettung. Birte öffnete den Mund, um zu rufen.

Jetzt hatte der Mann sie entdeckt. Er hob die Arme, kam auf sie zu.

Jenno!

Schwindel erfasste sie, ihre Knie wollten einknicken. Jetzt einfach fallenlassen, Kälte, Angst und Schmerzen vergessen.

Sie wandte sich um, begann zu laufen, stürzte ins Meer, schluckte Wasser, hustete, wollte aufspringen.

Doch er war schon über ihr, seine Fäuste drückten sie nach unten. Verzweifelt versuchte sie, die Hände abzuschütteln, bewegte Arme und Beine gegen den Widerstand des Wassers, wollte Luft holen, atmen, leben.

Wie in einem bösen Traum zerflossen ihre Kräfte, schwarzer Nebel stürzte auf sie ein, drang in Augen und Ohren und erstickte alles Fühlen und Denken.

2

Sommer 1994

Ein einmaliges Erlebnis hatte er ihr versprochen. Unvergesslich. Barbecue am Strand. Romantisch. Warme Spätsommertage luden dazu ein. Er wusste eine einsame Stelle, kannte sich ja aus in Cuxhaven und im Land Wursten. Sie ahnte, dass es unvernünftig war. Gleich bei ihrer Ankunft am Bahnhof hatte sie ihn kennen gelernt. Er hatte sogar ein Zimmer zu vermieten. Gut und preiswert. Er war wirklich nett, kümmerte sich um sie. Hatte ihr das Meerwasserfreibad Steinmarne in Döse, das Wellenbad in Duhnen und den Strand von Sahlenburg gezeigt, wo er sie zum Stracciatella im Eiscafé an der Wernerwaldstraße eingeladen hatte. In Duhnen hatte er ihr schließlich bei einem der Strandkorbvermieter einen günstigen Strandkorb vermittelt. In bester Lage, gleich gegenüber der Duhner Strandstraße.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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