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Im Cuxhavener Watt kommen kurz nacheinander zwei Männer ums Leben. Sie waren einer Einladung zu einem Jahrgangstreffen gefolgt, zu dem nur sie eingeladen worden waren. Im Hotel Alte Liebe begegnen sie ihrem Mörder. Welche Rolle spielt der angesehene Hotelier und Ratsherr Christopher Hansen? Hauptkommissar Konrad Röverkamp und Kommissarin Marie Janssen bleiben in ihren Ermittlungen zunächst stecken. Als jedoch ein wegen mehrfachen Mordes verurteilter Straftäter aus der JVA entkommt und in Cuxhaven auftaucht, geraten die Tötungsdelikte in ein völlig neues Licht. Und Marie Janssen in Gefahr ...
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Seitenzahl: 361
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Wolf S. Dietrich
Hotel Alte Liebe
Cuxland Krimi
Prolibris Verlag
Handlung und Figuren dieses Romans entspringen der Phantasie des Autors. Ebenso die Verquickung mit tatsächlichen Ereignissen. Darum sind eventuelle Übereinstimmungen mit lebenden oder verstorbenen Personen zufällig und nicht beabsichtigt. Nicht erfunden sind bekannte Persönlichkeiten, Institutionen, Straßen und Schauplätze im Cuxland.
Prolog
Er hatte aufgehört, gegen die Tür zu schlagen.
Die Stille erschien Marie gespenstisch. Ihre Gedanken rasten.
In einer halben Stunde würde es dunkel sein. Durch die kleine Fensterscheibe leuchteten die letzten rötlichen Sonnenstrahlen, und sie saß in der Falle. In einer alten Hütte. Auf einer unbewohnten Insel in der Nordsee. Meilenweit vom Festland.
Zu spät, sich Gedanken zu machen, wie sie sich zu einem solchen Abenteuer hatte hinreißen lassen. Mit einem Mann, den sie kaum kannte, auf seinem Segelboot hier herauszufahren.
Wieder schlug er gegen die Tür. Wie lange würde sie noch halten?
Plötzlich Ruhe!
Was würde als nächstes kommen?
Das Handy! Sie musste Hilfe anfordern. Draußen auf dem Tisch lag es. Nur wenige Meter von der Hütte entfernt. Unerreichbar, solange er dort lauerte.
Vielleicht könnte sie ihn ablenken, die paar Schritte bis zum Handy schaffen. Weglaufen im Schutz der Dunkelheit. Ein Versteck in den Dünen finden oder das Boot erreichen und sich aufs Meer treiben lassen. Vielleicht.
Ein grässliches Klirren schreckte sie aus ihren Fluchtgedanken. Direkt neben ihr. Die Fensterscheibe war geborsten und eine Hand tastete nach dem Fenstergriff.
Mit dem ersten Gegenstand, den sie greifen konnte, ein Holzschemel, schlug sie zu. Knochen knackten, Blut spritzte. Sie hatte seinen Arm mit dem Schlag in die spitzen Fenstersplitter gedrückt. Marie wich zurück, als er aufheulte und den verletzten Arm aus dem Fenster zog. Dann verschwand der Mann in der Dunkelheit.
Die erneute Stille war trügerisch. Er würde nicht aufgeben. Aber was hatte er vor? Zuerst musste er seinen Arm versorgen. Verbandszeug? Er musste bis aufs Boot zurück.
War das ihre Chance?
Es blieb keine Zeit zu zögern. Nach einem kurzen Blick durchs Fenster schob sie vorsichtig den Riegel an der Tür zurück, zog die Tür mit einem Ruck auf und stürzte los. Da, das Handy. Sie packte es und rannte weiter. Einfach weg.
Sie spürte den weichen Sand unter den Füßen und erklomm auf allen vieren die Düne. Auf der anderen Seite rutschte sie hinab und blieb atemlos liegen, immer darauf gefasst, das Licht seiner Taschenlampe zu sehen.
Aber Marie war allein. Nur die Meeresbrandung und der Wind waren zu hören. Jetzt fiel ihr auf, dass sie immer noch das Handy umklammert hielt. Sie musste Röverkamp anrufen. Als das Display aufleuchtete, wählte sie seine Nummer aus der Liste.
Verdammt! Kein Netz! Marie stand auf, hob das Mobiltelefon hoch über ihren Kopf. Kein Empfang. Verzweifelt erklomm sie die nächste Düne und wählte erneut. Sinnlos. Sie war außer Reichweite des nächsten Mobilfunksenders. Völlig auf sich allein gestellt.
Jetzt blieb nur das Boot. Sie lief geduckt in die Richtung, in der sie die kleine Landebucht vermutete. Immer darauf gefasst, im nächsten Moment ihren Verfolger auftauchen zu sehen. Und dann sah sie es vor sich. Das kleine Segelboot schaukelte sanft in der ruhigen Dünung. Kein Licht an Bord. Keine Geräusche außer dem leisen Plätschern der Wellen an der Bordwand.
Marie verharrte geduckt am Rand der Dünen. Minutenlang fixierte sie das Boot. Nichts regte sich dort. Sie musste es wagen. Der Wind stand in ihrem Rücken und würde das Boot aus der Bucht drücken. Langsam, immer noch auf verdächtige Geräusche horchend, näherte sie sich den Seilen, mit denen er das Boot festgemacht hatte. Vorsichtig löste sie die Knoten und glitt leise bis zur Hüfte ins kalte Wasser, zog sich an der Bordwand hoch und verharrte erneut einen Moment, in die Dunkelheit lauschend.
Der Wind hatte nicht genügend Kraft. Das Boot bewegte sich kaum sichtbar. Und jeden Moment könnte ihr Verfolger aus der Dunkelheit auftauchen. Die Notpaddel, die er ihr gezeigt hatte. Damit könnte sie in sichere Entfernung zur Insel gelangen. Sie fand eines der Paddel und beugte sich weit über die Bordwand, um sich damit am Grund abzustoßen.
Ganz langsam setzte sich das Boot in Bewegung, trieb am Ufer entlang, aus der kleinen Bucht heraus. Marie atmete auf und schaute auf die Insel zurück.
In diesem Moment ertönte ein hässliches Lachen, und ein leichtes Schaukeln erfasste das Boot. Sie fuhr herum und schaute schreckensstarr auf die Erscheinung, die sich über die Bordwand schob ...
1
Zum Abend war es kühler geworden, die meisten Strandkörbe hatten sich längst geleert. Hier und da lärmten ein paar Jugendliche, und vereinzelt fand sich noch der eine oder andere Urlauber, der es sich mit einer Flasche Hochprozentigem bequem gemacht hatte, um den notwendigen Pegel für die Nacht zu erreichen.
Sie hatte ihn zu einem etwas abseits gelegenen Strandkorb gelotst, der fast den Saum der ausrollenden Wellen berührte und für den sie sich einen Schlüssel besorgt hatte. Zu dieser späten Stunde würde sich niemand mehr watend oder schwimmend diesem Platz nähern. Sollte sich dennoch jemand für den einsamen Strandkorb interessieren, würde schnell sichtbar werden, dass sich darin bereits ein verliebtes Pärchen niedergelassen hatte.
Sie ließ sich auf die Sitzbank fallen und streckte die Arme aus. »Komm! Hier drin ist es gemütlich.« Bis eben hatten sie sich noch gesiezt. Aber nun schien es ihr an der Zeit, die Sache ein wenig zu beschleunigen.
Er zögerte einen Moment, setzte sich neben sie und sah sie fragend an. »Ist es Ihnen ... dir nicht zu kühl?«
Sie schüttelte den Kopf. »Mir ist warm vom Laufen. Außerdem habe ich uns etwas zum Aufwärmen mitgebracht.« Sie zog einen silbernen Flachmann aus ihrer Handtasche. Hennessy Fine de Cognac. »Aus der Hotelbar. Du hast ihn gestern Abend schon probiert.«
»Das haben Sie ... hast du dir gemerkt? Alle Achtung. Sehr aufmerksam.« Er nahm die gefüllte Verschlusskappe entgegen und stürzte den Inhalt des kleinen Bechers hinunter.
Sie füllte nach, nahm vorsichtig einen kleinen Schluck und hielt ihm den noch immer gut gefüllten Becher wieder hin. »Das wärmt. Oder?«
»Allerdings.« Er nickte und trank erneut. »Aber mir ist ohnehin warm.« Er grinste vieldeutig. »Ich glaube, das liegt an dir. Du bist so ...«
»Sprich weiter«, lachte sie. »Ich bin gespannt.«
Er zögerte, suchte sichtlich nach einem passenden Wort. »Ungewöhnlich«, sagte er schließlich. »Ja, ungewöhnlich. Eine junge attraktive Frau, die ... Wie soll ich sagen?«
»... sich an gut situierte Männer ranschmeißt?«
»Nein.« Energisch schüttelte er den Kopf. »Erstens gehöre ich nicht dazu, zweitens war das doch eher Zufall, dass wir uns begegnet sind. Aber ich habe sofort gespürt, dass du etwas Besonderes bist.«
»Danke für die Blumen! Darauf trinken wir noch einen.« Sie füllte nach. Der Mann war noch immer etwas gehemmt, und sie hatte das Gefühl, dass er Alkohol brauchte, um dem Abenteuer näher zu kommen, das sich ihm anbot. Schon am Abend seiner Ankunft, an der Hotelbar, hatte sie das Feuer entzündet. Zuerst mit Blicken, dann mit kleinen Gesten. Wie aus Versehen hatte sie ihn berührt, ihm Einblick in ihr Dekolleté gewährt, seinen Blick aufgefangen und ihre Hände so über ihren Körper bewegt, dass nur er die darin enthaltene Botschaft hatte wahrnehmen können. Alles das hatte seine Wirkung nicht verfehlt. Dennoch hatte er mehrere Cognacs gebraucht, bis er zu fragen gewagt hatte, ob sie gebunden sei.
Sie hatte sich zwingen müssen, nicht zu lachen, hatte sich zu ihm über die Theke gebeugt und ihm ins Ohr geflüstert. »Ich bin frei. Und morgen Abend habe ich frei.«
Er hatte sie unbedingt zum Essen einladen wollen. Um nicht in der Stadt von jemandem gesehen zu werden, der sich an sie erinnern könnte, hatte sie sich von einem Kollegen einen alten Kombi geliehen und war mit ihm nach Sahlenburg ins Il Giardino gefahren. Anschließend hatte sie ihn zum Strand geführt.
Den Strandkorb hatte sie schon am frühen Morgen ausgewählt. Was sie für die Vollendung ihres Vorhabens benötigte, hatte sie in der Nähe versteckt. Im Schatten der Bäume am Campingplatz Wernerwald.
»Ja, wirklich«, sagte er, nachdem er einen weiteren Cognac gekippt hatte. »Du bist sehr ungewöhnlich. So jung und trotzdem lebenserfahren. Hübsch und trotzdem ungebunden. Und irgendwie warst du mir gleich so vertraut. Als wären wir uns schon einmal begegnet.«
»Der Gedanke ist gar nicht so abwegig.« Mit mühsam beherrschter Miene verstaute sie die Flasche in ihrer Handtasche. »Mir kommt es auch so vor, als würden wir uns von früher kennen.«
»Warst du vorher schon mal in Cuxhaven?«, fragte er. »Ich bin hier aufgewachsen und zur Schule gegangen.«
»Auf das Amandus-Abendroth-Gymnasium«, stellte sie fest. »Und jetzt bist du zum Jahrgangstreffen hergekommen.«
»Ja, aber ... woher weißt du ...?«
»Du bist nicht der Einzige. Morgen kommt noch einer, der bei uns im Hotel wohnt. Habe ich zufällig mitbekommen.«
»Nur einer? Die anderen können doch nicht alle in Cuxhaven geblieben sein. In der Einladung stand ja ausdrücklich Hotel Alte Liebe.«
Sie hob die Schultern. »Vielleicht doch. Oder sie übernachten bei ihren Eltern. Komm, nimm noch einen Schluck.« Sie zog die Flasche aus der Handtasche und goss einen weiteren Cognac ein.
Er kippte den Weinbrand hinunter und reichte ihr den Becher zurück. »Und du? Möchtest du nicht mehr?«
»Danke. Ich vertrage nicht viel.«
»Ein wunderbares Getränk. Aber vielleicht sollte ich jetzt auch ... ich möchte ja meine Sinne beieinander haben, wenn wir ...« Seine Stimme wurde undeutlich. »Wenn wir ... Verdammt, irgendwie ist mir jetzt etwas seltsam zumute. So viel war das doch gar nicht. Oder verträgt sich der ... nicht mit dem ...? Überhaupt ist alles seltsam. Die Einladung zu diesem Jahrgangstreffen war schon seltsam, erst recht die Begegnung mit dir. An diesem Platz hier am Meer.« Er kicherte. »Der Boden schwankt. Ich fühle mich wie auf der Titanic.«
»Und genauso wirst du untergehen«, sagte sie. »Ich glaube, dass du noch einen Cognac brauchst. Komm, trink! Der wird dir guttun.« Sie flößte ihm einen weiteren Becher ein.
»Was meinst du mit untergehen?«, lallte er.
»Heute Nacht wirst du ersaufen. In der Nordsee.«
Ein Schluckauf schüttelte ihn. »Wieso ... er ... erfau ... ersaufen? Ich werde ... Wir werden ... Hoffentlich kann ich überhaupt noch ... Du musst ... mir ... einen ...«
Mit Genugtuung beobachtete sie, wie sich seine Augen wegdrehten und sein Oberkörper gegen ihre Schulter sank. Sie schob ihn ein wenig von sich und steckte die Flasche zurück in ihre Handtasche.
Erneut fiel sein Oberkörper zur Seite. Undeutliche Laute drangen aus seinem Mund, seine Hände suchten Halt bei ihr. Diesmal blieb sie bewegungslos, ließ zu, dass sein Kopf auf ihrem Schoß landete und seine Arme sie umklammerten. Seine Nähe widerte sie an, doch sie verharrte regungslos, bis sein Atem in ein röchelndes Schnarchen überging. Gelegentlich warf sie einen Blick in die Runde, beugte sich aus dem Strandkorb, um nach späten Spaziergängern Ausschau zu halten.
Schließlich befreite sie sich von ihrer Last, schob den willenlosen Körper in eine Ecke und erhob sich. Ihre Augen hatten sich an die Dunkelheit gewöhnt, und sie konnte sicher sein, nichts und niemanden zu übersehen. Rasch eilte sie über den schmalen Strand zu den Bäumen, zerrte das Schlauchboot hervor und schleifte es über den Sand zum Strandkorb.
Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass niemand in der Nähe war, zog sie den schlaffen Körper in das Schlauchboot. Dann leerte sie seine Taschen aus und steckte das mitgebrachte Kärtchen in eine verschließbare Gesäßtasche. Schließlich riss sie dem Bewusstlosen ein paar Haare aus der Kopfhaut und steckte sie in einen Briefumschlag.
Sie krempelte ihre Hosen auf und stemmte ihre Füße in den Sand. Der schwierigste Teil bestand darin, das Boot mit seinem Inhalt bis zur Wasserlinie zu bekommen. Stück für Stück rutschte es in Richtung Meer. Keuchend erreichte sie den Ufersaum. Plötzlich war die Last frei, bewegte sich sanft und leicht auf den Wellen. Zügig zog sie das Schlauchboot ins tiefere Wasser.
Als die Nässe ihre Oberschenkel erreichte, stieß sie mit einer Nagelschere kleine Löcher in die Luftkammern und gab dem Boot einen Stoß. Vom Ostwind unterstützt, glitt es schaukelnd auf die dunkle Nordsee hinaus.
Trotz der frühen Stunde herrschte auf dem Hof der Familie Eilers geschäftiges Treiben. Vier der fünf Wattwagen standen bereit. Die Pferde waren eingeschirrt und warteten geduldig auf das Signal zum Start.
Während die Touristen in erstaunlich unterschiedlicher Bekleidung – vom T-Shirt bis zum Wollpullover unterm Friesennerz waren alle Abstufungen individuellen Wärmebedarfs vertreten – in der Einfahrt verharrten und mit erwartungsvollen Mienen die hohen Wattwagen musterten, kontrollierten die Wattwagenführer die Gespanne. Hier und da war wohl noch der eine oder andere Ausrüstungsgegenstand einzupacken, auf den Sitzbänken wurden Decken deponiert, schließlich steckten die Männer in den dunkelblauen Seemannspullovern die Peitschen in die Halterungen am Kutschbock.
Das kleine Mädchen schien das Ende der Wartezeit zu ahnen. Es zerrte an der Hand seiner Mutter und deutete aufgeregt zu den Wattwagen. »Mama, einsteigen!«
»Nu geiht dat los«, rief einer der Wagenführer und nickte dem Mädchen zu. Auf seinen Wink hin setzten sich die Wartenden in Bewegung.
»Möchtest du vorne sitzen, junge Dame?« Tammo Eilers beugte sich zu der Kleinen hinunter und streckte seine Arme aus. Lena sah sich fragend zu ihrer Mutter um. Die nickte. »Wenn es dir nicht zu kalt ist. Aber mach deine Jacke zu.« Im nächsten Augenblick wurde das Mädchen auf den Kutschbock gehoben. Lena strahlte und klatschte mit den Händen. »Jetzt fahren wir nach Neuwerk«, verkündete sie.
»So ist es, mien Deern«, brummte Eilers und reichte der Mutter die Hand, um ihr ebenfalls auf den Kutschbock zu helfen. »Aber erst, wenn alle eingestiegen sind.«
Nach und nach kletterten Kinder, Frauen und Männer auf die hochrädrigen Gefährte und ließen sich auf den hölzernen Bänken nieder. Kein Platz blieb unbesetzt, die Fahrten nach Neuwerk waren vollständig ausgebucht. Es spielte keine Rolle, ob der Rhythmus von Ebbe und Flut zu einem frühen Aufbruch oder einer späten Rückkehr zwang. Die Nachfrage überstieg – zumal in der Saison – das Angebot bei Weitem. Und so hatte auch Lenas Mutter die Fahrt lange im Voraus gebucht.
Zufrieden wanderte Tammo Eilers’ Blick über die kleine Karawane. Das Geschäft mit den Wattwagenfahrten hatte sich als krisensicher erwiesen und durch die Finanz- und Wirtschaftskrise des zurückliegenden Jahres keine Einbußen erlitten.
Inzwischen war auch der fünfte Wagen startbereit, und Tammo gab das Zeichen zum Aufbruch. Das erste Fuhrwerk ruckte an und rollte gemächlich auf die Straße. Die anderen folgten im Schritttempo.
Bei den Fahrgästen hatte sich die Anspannung gelöst, und in das Klappern der Hufe mischten sich ihre Kommentare und Bemerkungen. Tammo Eilers kannte die Fragen der Männer, sie waren seit Jahrzehnten die gleichen. Ob man während der Fahrt Fische fangen, auf der Insel Neuwerk gezapftes Bier trinken oder richtig gut essen könne. Frauen erkundigten sich nach der Dauer der Überfahrt und dem Zeitpunkt, zu dem man sich für die Rückfahrt einfinden musste.
Als sie den Dorfbrunnen passierten, näherte sich vom Rugenbargsweg her eine ähnliche Karawane und schloss sich dem Zug von Eilers an. Beim Überqueren des Deiches an der Strandstraße stießen sie auf die nächsten Wattwagen, die aus Richtung Döse heranrollten. Tammo Eilers hob zwei Finger an die Schirmmütze und wandte sich wieder seiner Beifahrerin zu. »Kannst du die Insel Neuwerk schon sehen, lütte Deern?«
Lena nickte ernsthaft und deutete mit dem Finger zum Horizont, wo sich das charakteristische Profil mit dem alten Leuchtturm und dem modernen Radarturm abzeichnete.
Wenig später rollten die Wagen, die inzwischen eine endlos scheinende Karawane bildeten, an den Pricken entlang durch flache Pfützen und ausgedehnte Lachen ins Watt hinaus und nahmen Kurs auf die Insel Neuwerk. Ein leichter Wind wehte ihnen kühl entgegen, aber die Sonne entwickelte zunehmend Kraft, so dass die ersten Passagiere ihre Friesennerze ablegten.
Tammo Eilers beugte sich zu Lena hinab. »Hast du schon mal vom Meerkönig gehört?« Das Mädchen schüttelte stumm den Kopf.
»Der Meerkönig«, begann der Kutscher im Ton eines Märchenonkels, »lebte einst im tiefen Wasser hinter der Insel Neuwerk in einem gläsernen Schloss. Damals gab es noch keine Insel, Neuwerk und Duhnen waren miteinander verbunden. Einmal entdeckte er ein wunderschönes kleines Mädchen am Strand. Er befahl seinen Nixen und Meermädchen zu singen, damit das Kind von ihren Gesängen ins Wasser gezogen würde und er es in sein Reich entführen konnte. Als das Mädchen schon bis zum Bauch im Wasser stand, wurden die Neuwerker aufmerksam. Sie spannten eine Kutsche an, trieben Pferd und Wagen ins Watt und retteten das Kind in letzter Sekunde aus den Fängen der Nixen. Da bekam der Meerkönig eine rechte Wut auf die Leute von Neuwerk. Er nahm alle seine Wasserwogen zusammen und warf sie mit großer Wucht zwischen Neuwerk und Duhnen und riss das ganze Land mit sich fort. So wurde Neuwerk zu einer Insel. Und seitdem versucht der Meerkönig jedes Jahr in der dunklen Jahreszeit, mit Sturm und Wellen die Insel in Not zu bringen. Aber es ist ihm bis heute nicht gelungen.«
Lena hatte dem bärtigen Kutscher mit großen Augen gelauscht. Doch nun verzog sie das Gesicht zu einer skeptischen Miene. »Das glaube ich nicht. Bestimmt hast du ein Märchen erzählt.«
Tammo Eilers lachte und hob die Schultern. »Wer weiß?«
Das Mädchen streckte den Arm aus. »Ich sehe einen Fisch!«
»Jetzt willst du mich wohl auf den Arm nehmen, mien lütte Deern«, brummte Eilers und ließ die Peitsche knallen, um die Pferde, die während seiner Erzählung immer langsamer geworden waren, ein wenig auf Trab zu bringen.
»Nein«, widersprach Lena. »Da ist ein großer Fisch. Ich sehe ihn ganz genau.« Ihr kleiner Zeigefinger ruckte energisch nach vorn.
»Erzähl keine Geschichten«, mahnte ihre Mutter, kniff aber die Augenlider leicht zusammen, um erkennen zu können, was ihre Tochter für einen Fisch gehalten haben könnte. An einem weit entfernten Priel entdeckte sie einen länglichen Schatten, in dem man mit einiger Fantasie wohl einen großen Fisch sehen mochte. Aber Fische hatte sie bisher nur bei Hochwasser gesehen, und die waren nur wenige Zentimeter groß gewesen.
Sie zupfte den Kutscher am Ärmel. »Können Sie mal schauen? Was mag da wohl angetrieben worden sein?«
Eilers warf einen Blick in die angegebene Richtung und zuckte mit den Schultern. Dann beugte er sich hinab, zog einen Feldstecher unter dem Sitz hervor und nahm ihn kurz an die Augen. Im nächsten Augenblick setzte er ihn wieder ab und zog die Zügel an. Der Wattwagen kam zum Stehen. Erneut hob er das Fernglas an die Augen
»Sütt ut wie’n Liek«, murmelte er kopfschüttelnd.
»Bitte?« Lenas Mutter sah ihn fragend an.
Nach einem kurzen Blick auf das Kind begann Eilers, in seinen Taschen zu kramen. Schließlich zog er ein Handy hervor. Statt auf ihre Frage einzugehen, drückte er Tasten auf dem Telefon. Gleichzeitig signalisierte er ihr mit den Augen, wegen des Mädchens nicht antworten zu wollen. Stattdessen reichte er ihr wortlos das Fernglas.
Lenas Mutter richtete das Glas auf den Gegenstand und unterdrückte einen Aufschrei.
2
Als Marie Janssen ihre Wohnung in Groden verließ, vergewisserte sie sich, die Wohnungstür auch wirklich verschlossen und das Schloss der Haustür richtig eingerastet zu haben. Gelegentlich geisterten Erinnerungsfetzen durch ihren Kopf. Manchmal wurde sie von schlechten Träumen geplagt, in denen sie in bedrohliche Situationen geriet. Dann schlug sie um sich oder versuchte zu entkommen, erwachte. Sah ein Gesicht vor sich. Er war auch in ihrer Wohnung gewesen. Damals, nachdem sie ihn kennengelernt und er ihr beim Einrichten geholfen hatte. Für die Morde war er zu lebenslänglicher Haft verurteilt worden. Aber viele Mörder kamen nach fünfzehn Jahren wieder frei. Fünf hatte er schon abgesessen. Würde er in zehn oder elf Jahren wieder in Cuxhaven auftauchen? Womöglich vor ihrer Tür stehen?
Energisch schüttelte sie den Gedanken ab und schob ihren Motorroller aus der Garage auf die Straße. Sie setzte den Helm auf und startete.
Wie jeden Morgen, wenn sie auf die B 73 zurollte und an der Einmündung zur Papenstraße auf eine Lücke im Verkehr warten musste, wanderte ihr Blick über die veränderte Landschaft am Grodener Deich. Vor zwei Jahren hatte die Cuxhaven Steel Construction eine riesige Montagehalle für Stahlfundamente errichtet, die künftig Windkraftanlagen in der Nordsee tragen sollten. Neben der in verschiedenen Blautönen gestrichenen Halle standen einige dieser leuchtend gelben, hunderte von Tonnen schweren Tripods. Um sie mit Spezialschiffen auf das Meer hinauszutransportieren zu können, hatte man sogar einen kleinen Hafen nördlich des Baumrönnesiels eingerichtet und für die Zufahrt den Grodener Deich aufgerissen und mit einer riesigen Rampe versehen.
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