Rote Straße - Wolf S. Dietrich - E-Book

Rote Straße E-Book

Wolf S. Dietrich

4,9

  • Herausgeber: Prolibris
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2013
Beschreibung

1968. Rainer zieht in eine Studenten-WG in der Roten Straße. Dort stehen auch freie Liebe und der Kampf für eine bessere Welt auf dem Studienplan. Doch bald muss er erleben, dass einer von ihnen rücksichtslos ganz eigene Ziele verfolgt. Geht er auch über Leichen? Vierzig Jahre später. Professor Aschenbrandt steht auf dem Gipfel seiner Hochschulkarriere - und wird Opfer gemeiner Intrigen. Er wird in die Enge getrieben, verfolgt von einem Schatten aus seiner Vergangenheit. Die Journalistin Anna Lehnhoff spürt seine Verzweiflung und macht sich auf die Suche nach der Wahrheit.

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Seitenzahl: 348

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Wolf S. Dietrich

Rote Straße

Göttingen Krimi

Prolibris Verlag

Handlung und Figuren dieses Romans entspringen der Phantasie des Autors. Ebenso die Verquickung mit tatsächlichen Ereignissen. Darum sind eventuelle Übereinstimmungen mit lebenden oder verstorbenen Personen zufällig und nicht beabsichtigt. Nicht erfunden sind bekannte Persönlichkeiten, Institutionen, Straßen und Schauplätze in Göttingen. Die geschilderten Begebenheiten während der Studentenunruhen 1968 und der Folgejahre erheben keinen Anspruch auf historische Genauigkeit.

Er war nach Göttingen zurückgekehrt um zu töten. Er würde einen Mord begehen. Auch wenn er selbst es nicht so genannt hätte. Der größte Fehler seines Lebens war, diesen Entschluss nicht früher gefasst zu haben. Seitdem er den Grund für sein Leiden herausgefunden hatte und die Lösung für seine Probleme kannte, erschien die Zukunft in einem neuen Licht. Plötzlich hatte er ein Ziel, für das zu leben und zu arbeiten sich lohnte. Und je näher er diesem Ziel kam, desto klarer zeichnete sich ab, dass am Ende des Weges ein neuer Anfang stehen würde. Spät genug, denn ihm blieben bestenfalls zwanzig Jahre. Zwanzig Jahre in neuer Freiheit.

Niemand würde diesen Tod mit einem Mord in Verbindung bringen, keine Spur würde zu ihm, dem Mörder, führen. Keine Mordwaffe, kein Mordmotiv. Der Mann würde einfach aus dem Leben scheiden. Sein Tod würde niemandem Rätsel aufgeben, weil der Grund für sein Ableben offensichtlich erscheinen musste.

1

Der Anfang vom Ende begann mit einer SMS. Sie erreichte ihn, als er das Haus gerade verlassen hatte und sich auf der Straße in alle Richtungen umsah. Es war unwahrscheinlich, dass ihm in diesem Stadtteil Bekannte oder Kollegen über den Weg laufen würden, aber Studenten gab es überall in der Stadt, und falls ihn einer erkannte, konnten leicht Gerüchte entstehen. Ein Göttinger Hochschullehrer, der sich zu nächtlicher Stunde aus einem Hotel schlich, in dem überwiegend Handelsvertreter abstiegen, konnte die Fantasie von Studierenden in eine höchst unwillkommene Richtung lenken.

Die Vibration in seiner Hosentasche entlockte ihm ein amüsiertes Lächeln, es ließ ihn an Claudia denken, die ihn selbst gerade noch zum Vibrieren gebracht hatte. Sie war das späte Glück seines Lebens. Fünfundzwanzig Jahre jünger als er. Fünfzehn Jahre älter als der Durchschnitt ihrer Kommilitonen. Besaß Lebens- und Berufserfahrung, hatte schon viele Jahre als Buchhändlerin gearbeitet. Sie war begabt, gewitzt, neugierig. Groß, schlank, gepflegt. Kastanienrote Kurzhaarfrisur. Keine Schönheit, aber mit einem bezaubernden Lächeln. Er hatte sich in sie verliebt, als sie seinen Ausführungen am Ende einer Vorlesung freundlich, aber ernsthaft und mit großen, ein wenig empört wirkenden Augen seinen Ausführungen widersprochen hatte. Sie teile seine Ansicht nicht, dass Frank Wedekind in Frühlings Erwachen mit seinen Anspielungen auf Goethes Faust nur die Verknüpfung von Sexualität und Tod aufgegriffen habe. Auch Fausts Pakt mit dem Teufel finde seine Entsprechung bei Wedekind. Damit hatte sie natürlich Recht. Diesen Aspekt hatte er nur noch nicht dargelegt. Offenbar war es ihm nicht gelungen, deutlich zu machen, dass er im weiteren Verlauf der Vorlesung noch darauf zu sprechen kommen würde. Keiner der anderen Kaugummi kauenden und mit Handys hantierenden Studenten hatte diese Unzulänglichkeit bemerkt.

Professor Aschenbrandt erreichte seinen Mercedes, ließ sich auf den Fahrersitz fallen und klappte sein Mobiltelefon auf. Doch anstatt die Nachricht aufzurufen, ließ er die Fotos noch einmal durchlaufen, die Claudia in einem Anfall von Übermut geschossen hatte. Sie und er, Wange an Wange, mit nackten Oberkörpern; Claudia mit zum Kussmund gespitzten Lippen; dann er, mit verdrehten Augen unter ihr und – nach dem Liebesspiel – ermattet auf dem Bettlaken. Zuletzt noch einmal beide nebeneinander, Kopf an Kopf, auf dem Rücken liegend. Auf dem winzigen Display waren Details kaum zu erkennen, man müsste die Bilder vergrößern. Aber das war zu riskant. Früher hatte er Fotos von seinen Affären und auch das eine oder andere sehr private Video auf seinem Dienstcomputer gespeichert. Doch nachdem bei einem Professorenkollegen aus der Medizin Kinderpornos aus dem Internet auf dessen Bürorechner gefunden worden waren, hatte er alle problematischen Dateien gelöscht. Die Bilder auf dem Handy würde er wohl auch besser irgendwann wieder löschen.

Aschenbrandt seufzte und rief die eingegangene Nachricht auf. Als der Text auf dem Display erschien, erfasste ihn ein Schwindelgefühl: Zu so später Stunde noch im Hotel! Und nicht allein! Was wohl deine Frau dazu sagen würde?

Je länger er auf die Zeilen starrte, desto stärker wurde der Druck in der Magengegend. Niemand konnte wissen, dass er heute hier mit Claudia verabredet war. In Hotels trafen sie sich selten und niemals ein zweites Mal im selben Haus. Falls jemand sein Verhältnis zu der Studentin entdeckt und ihn beobachtet hatte, musste er ihm gefolgt sein. Aschenbrandt starrte durch die Windschutzscheibe nach draußen, versuchte im Rückspiegel zu erkennen, ob irgendwo in der Straße ein Wagen stand, dessen Fahrer auf ihn gewartet haben könnte, um ihm die SMS in diesem Augenblick zu senden. Doch weit und breit war kein Fahrzeug zu sehen. Ein Taxi rollte heran, hielt vor dem Hotel. Der Fahrgast zahlte, stieg aus und verschwand im Eingangsbereich, ohne sich umzusehen.

Aschenbrandt startete den Motor, schaltete das Licht ein und ließ den Wagen langsam anrollen. Immer wieder wanderte sein Blick zum Rückspiegel, doch niemand schien ihm zu folgen.

Nachdem er die Innenstadt erreicht und den Mercedes in Richtung Geismartor gelenkt hatte, ohne dass er einen Verfolger bemerkt hatte, beruhigten sich seine Nerven ein wenig. Vielleicht war die SMS gar nicht für ihn bestimmt gewesen. Jemand konnte sich vertippt haben. Ein Zahlendreher. Der Absender erfuhr nicht, ob seine Nachricht den Adressaten erreicht hatte. Ohnehin kannten nur wenige Menschen seine Handy-Nummer. In Gedanken ging er alle Möglichkeiten durch. Außer seiner Frau und den Kindern wussten nur ein paar Kollegen, seine Sekretärin, der Seminarvorstand und die Sekretärin des Seminars, das Dekanat der Fakultät und einige Freunde, wie er per Mobilfunk zu erreichen war. Und natürlich Claudia. Sie hatte das Hotelzimmer zehn Minuten vor ihm verlassen. Ob sie ihn auf den Arm nehmen wollte? Manchmal hatte sie eigenwillige Ideen.

Beinah hätte er das Lenkrad verrissen und wäre mit dem schweren Wagen auf den Mittelstreifen geraten. Die Nummer des Absenders! Er hatte überhaupt nicht auf die Zahlen geachtet!

Während er bemüht war, sich richtig einzuordnen und die Spur zu halten, tastete er nach dem Handy und klappte es auf. Die Ampel an der Reinhäuser Landstraße kam ihm zu Hilfe. Es dauerte eine Weile, bis er die Nachricht wiedergefunden hatte. Enttäuscht ließ er das Mobiltelefon auf den Beifahrersitz sinken. Als Absender war angegeben: [email protected].

Erneut warf er einen Blick in den Rückspiegel. Hinter ihm hielt ein dunkler Mittelklassewagen, am Steuer saß ein junger Mann, der Kopf und Hände im Rhythmus einer Musik bewegte, deren dumpfes Dröhnen bis an Aschenbrandts Ohren drang. Ein Student? Nicht ausgeschlossen. Er würde ihn im Auge behalten. Doch als er die Geismarlandstraße einbog, fuhr der junge Mann geradeaus in die Keplerstraße.

Auf der Höhe der Gothaer Versicherung schloss plötzlich ein anderer Wagen auf und blieb dicht hinter ihm. Er folgte ihm noch, als Aschenbrandt in Geismar in die Teichstraße einbog. Sein Puls schoss in die Höhe, im Nacken und auf der Stirn spürte er Schweißtropfen. Fieberhaft suchte er nach einer Möglichkeit, den Verfolger abzuschütteln. Sollte er einfach anhalten und abwarten? Oder in eine Seitenstraße einbiegen? Nur mit Mühe widerstand er der Versuchung, das Gaspedal durchzutreten, um den anderen Wagen abzuhängen. Schließlich erschien ihm ein einfacher Trick als die Lösung. Er würde einen Umweg über die Charlottenburger Straße fahren, den Wagen unterhalb des Wohnstifts abstellen und die letzten Meter zu seinem Haus im Meininger Weg zu Fuß zurücklegen.

Plötzlich war der Verfolger verschwunden. Aschenbrandt stoppte und sah sich um. Weit und breit war kein Auto zu sehen. Erleichtert wischte er mit dem Taschentuch über Stirn und Nacken und setzte seine Fahrt fort. War es doch nur ein Hirngespinst gewesen?

Als er den Wagen in den Carport rangierte, meldete sich sein Handy erneut. Diesmal ertönten einige Takte aus Mozarts Zauberflöte. Dreimal klimperten klavierähnliche Töne die Papageno-Melodie, dann drückte er die Annahmetaste. In dem Augenblick sah er, dass die Rufnummer des Anrufers unterdrückt war. Aschenbrandt zögerte einige Sekunden und meldete sich dann mit einem »Ja?«

»Alle Achtung, Professor Faust! In deinem Alter noch Studentinnen poppen!« Der Anrufer kicherte. »Das nennt man wohl reife Leistung. Auch wenn das Gretchen nicht mehr ganz so jung ist. Wir sehen uns in der Walpurgisnacht.« Mit einem Piepton brach das Gespräch ab.

Verbindung beendet. Aschenbrandt starrte auf das Display, ohne die Information wirklich wahrzunehmen. Wer wusste von seinem Verhältnis zu Claudia? War das der Beginn eines Erpressungsversuchs? Woher hatte der Mann seine Handy-Nummer? Und woher wusste er von seiner Verabredung? Oder versuchte jemand, einfach nur im Nebel zu stochern – in der Hoffnung, auf eine einträgliche Quelle zu stoßen? Während die Fragen in seinem Kopf kreisten, spürte er, wie eine Faust seinen Magen zusammenzudrücken begann.

Fast eine halbe Stunde verging, bevor Aschenbrandt den Wagen verließ. Im Haus war alles dunkel. Offenbar hatte sich Sabine schon schlafen gelegt. Sie hatte heute ihre Mutter besucht und dürfte eine oder zwei Stunden vor ihm nach Hause gekommen sein. Jedenfalls stand ihr Golf an seinem Platz. So geräuschlos wie möglich schlich er durch den Flur zum Arbeitszimmer, wo er sich schwer atmend in den Schreibtischsessel fallen ließ. Er musste nachdenken. In Ruhe. Der Anblick des Monitors auf seinem Schreibtisch brachte ihn auf eine Idee. Er schaltete den Computer ein, kontrollierte automatisch seine E-Mails und rief dann Google auf.

Beim Frühstück verschanzte sich Aschenbrandt hinter der Zeitung. Das Göttinger Tageblatt berichtete auf der Hochschulseite ausführlich über die Einrichtung des Sonderforschungsbereiches zur deutschen Literatur der Gegenwart und die Gründung eines eigenen Instituts. Sein Lebenswerk. Seine Ernennung zum Institutsleiter war nur noch eine Formsache und eine Frage der Zeit. Die Räume waren eingerichtet, Assistenten und studentische Hilfskräfte eingestellt, Kontakt mit führenden Wissenschaftlern aus aller Welt aufgenommen. Sobald ein passender Termin mit dem Präsidenten der Universität, dem Oberbürgermeister und anderen wichtigen Leuten abgestimmt war, würde es eine feierliche Eröffnung geben.

»Hast du gesehen?«, fragte seine Frau. »Dein Institut ist heute Thema.«

Aschenbrandt brummte ein undeutliches »Schon gelesen« und blätterte um. Er überflog die aktuellen Nachrichten.

Als sein Handy zu klingen begann, zuckte er zusammen. Mit einer hastigen Bewegung legte er das GT zur Seite und stieß dabei seine Kaffeetasse um. Sabine sprang auf und stürzte in die Küche.

Die Nummer des Anrufers war unterdrückt, und Aschenbrandt schwankte zwischen Verärgerung und Furcht. Er hasste anonyme Anrufe und fürchtete zudem, dass sich der Unbekannte wieder melden würde. Unschlüssig starrte er auf das Telefon.

»Willst du nicht rangehen?« Sabine hantierte mit Lappen und Küchentüchern, um den verschütteten Kaffee aufzunehmen. »Das Gedudel macht einen ja ganz nervös.«

»Unterdrückte Nummer«, murmelte ihr Mann und drückte die Abweisen-Taste. »Solche Anrufe nehme ich grundsätzlich nicht entgegen.«

»Dann fass mal bitte mit an! Das Tischtuch muss sofort in die Wäsche. Sonst geht der Kaffeefleck nicht mehr raus.«

Abwesend hob er seine Tasse in die Höhe. Seine Frau seufzte und schüttelte den Kopf. »Lass nur! Ich mache das schon. Vielleicht kannst du dich für einen Augenblick auf die andere Seite setzen.«

Während Sabine Aschenbrandt abräumte und er mit der Tasse in der Hand neben dem Tisch wartete und ihr bei der Arbeit zusah, ohne wirklich wahrzunehmen, was vor seinen Augen geschah, überschlugen sich in seinem Kopf die Gedanken. Auf dem Weg in die Uni würde er sich eine neue SIM-Karte für sein Handy besorgen. Nein, er brauchte ein ganz neues Mobiltelefon. Weil ihm seines abhanden gekommen oder gestohlen worden war. Irgendwie würde er erklären müssen, warum die Nummer nicht mehr zu erreichen war. Die neue würden nur sehr wenige, sorgfältig ausgewählte Personen bekommen. Dann wäre der Spuk vorbei. Es war schlimm genug, was er noch in der Nacht bei seinen Recherchen im Internet herausbekommen hatte. Es gab tatsächlich Portale, von denen aus man anonyme Nachrichten – SMS ebenso wie E-Mails – versenden konnte. Wie zur Bestätigung signalisierte ihm sein Mobiltelefon in diesem Augenblick den Eingang einer SMS.

»Ich bin gleich wieder da«, rief er seiner Frau zu, die zum Glück gerade in der Küche hantierte, und verschwand im Arbeitszimmer. Als Absender erschien auf dem Display erneut [email protected]. Er schrieb: Beim nächsten Mal solltest du das Gespräch annehmen. Ist besser für dich. Wütend schlug Aschenbrandt mit der Faust auf den Schreibtisch und stieß einen Fluch aus. Dann löschte er die Nachricht. Mit einer Mischung aus Ärger und Abscheu starrte er auf das Gerät, unschlüssig, wie er sich entscheiden sollte. Gerade als er die Taste zum Ausschalten betätigen wollte, vibrierte es in seiner Hand. Bevor die Papageno-Melodie erklingen konnte, drückte er die Annahme-Taste und hielt das Handy ans Ohr. »Ja?«

»Na also«, kicherte der Anrufer. »Geht doch! Ich würde dir empfehlen, mal deine E-Mails zu kontrollieren. Oder hast du’s schon getan?« Erneutes Kichern, dann war die Verbindung weg.

Aschenbrandt schaltete seinen Computer ein und trommelte nervös mit den Fingern auf der Schreibtischplatte herum, während er wartete. Als sich der Rechner endlich mit dem Netz verbunden hatte, erschien die übliche Meldung. Sie haben Post. Die einzige in der Nacht eingegangene Mail trug seinen eigenen Absender. Ahnungsvoll öffnete er die Nachricht – und erstarrte. Sie enthielt keinen Text. Nur ein Bild: Claudia und er, nackt bis zum Bauchnabel, fröhlich grinsend, in einem zerwühlten Bett.

Seine Hände zitterten, der Mauszeiger tanzte um die Schaltflächen herum, als er versuchte, den Computer herunterzufahren. Wie war das möglich? Wie kam der Absender an das Foto, das vor weniger als zwölf Stunden aufgenommen und nur auf seinem Handy gespeichert war? Ratlos betrachtete er das kleine Telefon. Gab es technische Möglichkeiten, den Inhalt des Speichers über Funk auszulesen? Wenn es sie gab, überstiegen sie sein technisches Vorstellungsvermögen, auf das er sich doch immer etwas zugute gehalten hatte. Oder steckte Sabine dahinter? Hatte sie noch in der Nacht sein Mobiltelefon an sich genommen und die Fotos auf ein anderes Gerät kopiert? Aber sie verstand wenig von Technik und besaß weder einen eigenen Computer noch die erforderlichen speziellen Computerkenntnisse. Sie hätte einen Helfer haben müssen. Ein ebenso abenteuerliches wie unwahrscheinliches Szenario. Aber auch nicht ganz auszuschließen – falls sie von seiner Beziehung zu Claudia erfahren hatte. Doch auch das war eigentlich undenkbar. Er hatte keinerlei Anzeichen von Argwohn bei ihr wahrgenommen.

Und Claudia selbst? Hatte sie sich mit ihm nur eingelassen, um ihn zu erpressen? Konnte er sich derart in einem Menschen täuschen? Unwillkürlich schüttelte Aschenbrandt den Kopf. Trotzdem würde er sie fragen. Sofort. Zumindest so schnell wie möglich. Automatisch griff er zum Handy und drückte die entsprechende Kurzwahltaste.

Doch beim ersten Rufzeichen erschien vor seinem inneren Auge das Bild eines gesichtslosen Mannes, der vor einem Empfänger saß, Schalter betätigte und an Knöpfen drehte und Kopfhörer trug. Hastig brach er den Wählvorgang ab. Er würde sie unterwegs von einer Telefonzelle aus anrufen. Gab es überhaupt noch Telefonzellen? Vielleicht am Bahnhof.

Aschenbrandt zuckte zusammen, als der Kopf seiner Frau an der Tür erschien. »Wo bleibst du denn? Ich habe ein neues Tischtuch aufgelegt. Du warst doch noch nicht mit dem Frühstück fertig. Oder?« Sie musterte ihn kritisch. »Ist dir nicht gut? Du siehst blass aus, mein Lieber. Dass es aber auch immer so spät werden muss. Es war ja schon nach Mitternacht, als du nach Hause gekommen bist. Wenn dein neues Institut erst einmal eingeweiht ist, wird das hoffentlich wieder anders. Also, kommst du wieder ins Esszimmer?«

»Es ist alles in Ordnung, Bienchen. Mir war nur gerade etwas eingefallen, das ich noch überprüfen musste. Geh schon mal vor! Ich komme sofort nach.«

Erst jetzt spürte Aschenbrandt den Schweiß auf seiner Stirn. Und er spürte sein Herz. Es hämmerte wild in seiner Brust und verursachte einen schmerzhaften Druck. Er zwang sich, ruhig und gleichmäßig zu atmen, zog eine Schublade auf und tastete nach den Tabletten, die ihm sein Arzt mitgegeben hatte, als er vor einem Jahr wegen erhöhten Blutdrucks in Behandlung gewesen war. Obwohl das Medikament kaum so schnell seine Wirkung entfalten konnte, beruhigte sich sein Herzschlag rasch. Und dann kam ihm endlich die Idee, wie er sich zumindest vor weiteren telefonischen Attacken schützen konnte. Er öffnete das Handy und entnahm den Akku.

Am Frühstückstisch verkroch er sich wieder hinter der Zeitung. Während seine Augen über die Zeilen wanderten, ohne dass ihr Inhalt zu ihm vordrang, kreisten seine Gedanken um Claudia und den mysteriösen Anrufer. Irgendwie musste sich doch ein Anhaltspunkt finden lassen. So sehr er sich auch das Hirn zermarterte, fand er doch niemanden aus seinem privaten oder beruflichen Umfeld, dem er ein solches Vorgehen zutraute. Motive schon eher. Sein Konkurrent bei der Besetzung der Leitungspositionen für das neue Institut, der Professorenkollege Kraushaar, ließ keine Gelegenheit aus, ihm Knüppel zwischen die Beine zu werfen. Was immer Aschenbrandt im Vorstand des Seminars vorschlug oder beim Dekan der Fakultät beantragte, wurde von Kraushaar mit beißender Kritik überzogen und mit wechselnden Argumenten in Frage gestellt. Mal waren die Kosten zu hoch, mal geriet die Qualität der Lehre in Gefahr, mal wurde das Ansehen der Forschung beschädigt.

Im Gegensatz zu Aschenbrandt hatte sein Konkurrent immer dafür gesorgt, Mitstreiter für sich zu gewinnen. Assistenten und Mitarbeiter, die von ihm abhängig waren, ebenso wie Studentenvertreter oder Vorstandsmitglieder, die sich von einer Zusammenarbeit mit Kraushaar Vorteile versprachen, weil dieser über gute Beziehungen zum Stiftungsrat und zum Wissenschaftsministerium verfügte. So hatte es in den Gremien wechselnde Mehrheiten gegeben. Und die Entscheidung für die Institutsleitung war äußerst knapp ausgefallen. Die Vorstellung, sein Kollege könnte hinter der Sache stecken, erschien ihm dennoch mehr als zweifelhaft. Andererseits würde Kraushaar ohne Skrupel von kompromittierenden Informationen Gebrauch machen, wenn sie ihm in die Hände fielen. Aber auch seine technischen Kenntnisse reichten für dieses Vorgehen nicht aus.

Konnte es in Claudias Umfeld jemanden geben, der von ihrem Verhältnis erfahren hatte und nun sein Wissen einsetzte, um ihn zu erpressen? Er musste unbedingt mit ihr sprechen. Am besten gleich.

Entschlossen ließ er die Zeitung sinken und sah auf die Uhr. »Ich muss los.«

»Schon?« Seine Frau sah ihn missbilligend an. »Du solltest dich nicht so hetzen. Denk an deinen Blutdruck! Und an dein Herz. Vor einem Jahr ...«

Aschenbrandt winkte ab. »Das habe ich doch längst im Griff. Ich will nur heute etwas früher im Seminar sein. Muss noch ein wichtiges Gespräch einschieben. Hat sich gestern erst ergeben.« Er zögerte einen Moment, entschied sich dann aber, noch eine kleine Sicherung einzubauen. »Falls jemand hier anruft, weil er mich unbedingt erreichen möchte, sag ihm, mein Handy ist defekt. Ich muss erst ein neues besorgen.«

»Aber vorhin hat es doch noch geklingelt«, wandte Sabine ein.

»Schon«, Aschenbrandt hob die Schultern, »aber dann ging es plötzlich nicht mehr. Ich mache deswegen noch einen Umweg durch die Stadt. Im Seminar bin ich dann erst später zu erreichen.«

In einem Elektronik-Markt im Carré hatte er ein Prepaid-Handy gekauft, vom Verkäufer sofort aktivieren und die Rufnummernunterdrückung einschalten lassen. Dann hatte er sie angerufen. Obwohl er zunächst Bedenken hatte, saßen sie nun bei Cron & Lanz, wo sie zu den ersten Gästen an diesem Morgen gehörten. Claudia hatte Recht behalten. Obwohl sich das Café rasch füllte, war um diese Zeit mit Studenten oder Dozenten aus der Phil-Fak wohl nicht zu rechnen. Die Fensterfront zur Weender Straße wurde von älteren Damen eingenommen, dazwischen ließ sich das eine oder andere Rentnerehepaar nieder. Aschenbrandt hatte einen Tisch im Wintergarten belegt, abseits der übrigen Gäste.

Claudia wirkte erschrocken und ratlos. Gedankenvoll rührte sie ihren Kaffee um. Über ihrer Nasenwurzel hatte sich eine steile Falte gebildet. »Und dieses Foto, das du per E-Mail bekommen hast, ist wirklich eins von denen, die wir gestern Abend gemacht haben? Wie ist das möglich? Wer konnte in der Zwischenzeit dein Handy ...?«

»Niemand«, unterbrach er sie. »Es muss eine technische Möglichkeit geben. Wer die Nummer kennt, kann vielleicht ... irgendwie ... über Funk ... Ich weiß es doch auch nicht. Hab schon im Internet recherchiert. Es gibt Firmen, die Software anbieten, mit der man Mobiltelefone abhören und den Datenverkehr mitlesen kann. Vielleicht ist es dann auch möglich, gespeicherte Daten auszulesen. Keine Ahnung. Tatsache ist, dass es jemand geschafft hat. Und viel wichtiger ist die Frage, wer das sein könnte. Hast du eine Idee? Kennst du jemanden, der dafür in Frage kommt?«

Der Löffel in der Kaffeetasse kam zum Stillstand. Claudia öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Auf ihrer von Sommersprossen übersäten Nase erschienen winzige Schweißperlen. Stumm legte sie den Kaffeelöffel zur Seite und schob die Tasse von sich. »Ich glaube, mir wird gleich schlecht.«

Aschenbrandt war hin- und hergerissen. Am liebsten hätte er den Tisch umrundet, sie in die Arme geschlossen und mit Küssen getröstet. Dies war natürlich in der Öffentlichkeit des Cafés undenkbar. Und so ließ er seine Hände, wo sie waren.

2

Angefangen hatte alles mit dem Auftritt von Rudi Dutschke in der Pädagogischen Hochschule.

Rainer Wolfhardt war nach Göttingen gekommen, um zu studieren und – wichtiger noch – um erwachsen zu werden. Er hätte es anders ausgedrückt, vielleicht von Selbstverwirklichung oder Selbstbestimmung gesprochen. Immerhin hatte er sein Studienfach gegen den Willen seines Vaters gewählt, der von ihm verlangt hatte, ein Diplom in Betriebswirtschaft zu erwerben, um eines Tages den Familienbetrieb übernehmen zu können. Literatur und Sprache interessierten ihn aber mehr als Zahlen und Bilanzen. Darum hatte er sich für Germanistik entschieden. Zumindest fürs Erste.

Sich aus der Bevormundung durch seine Eltern zu befreien, seine eigenen Entscheidungen zu treffen und sich nicht mehr von anderen Menschen gängeln zu lassen, erschien ihm als das bedeutendste Merkmal seines neuen Lebens. In der Schule hatten ihn zynische Lehrer, bei der Bundeswehr sadistische Unteroffiziere gequält. Zu Hause war er vom autoritären Vater, der überängstlichen Mutter und den spießigen Sittenwächtern des kleinstädtischen Umfelds eingeengt worden.

Als Student in Göttingen war er frei. So frei, dass er eine Vorlesung sausen lassen und statt dessen den Vortrag eines Mannes anhören konnte, der dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund angehörte und, wie es hieß, sogar zur Revolution aufrief.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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