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Verliert ein Mensch den Glauben an sich, verliert er auch seine Seele. Ein Kristall mitten auf der Stirn kennzeichnet solche Menschen als Seelenlose. Misstrauen und Furcht wird ihnen entgegengebracht. Trotzdem können sie Mitleid empfinden. Selbst für ein zerzaustes, verängstigtes Eichhörnchen, das von Dämonen verfolgt mitten in der Nacht in das Lager eines Seelenlosen stolpert. Als Charder Leyne das erschöpfte Tier rettet, ahnt er bereits, dass mehr in dem kleinen Tierchen steckt, als es den äußeren Anschein hat. Und so wird er bald schon in eine Rebellion verstrickt, denn er hat niemand anderen als den Prinzen von Branwhaite vor dem sicheren Tod bewahrt.
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Seitenzahl: 654
Sandra Busch
© dead soft verlag, Mettingen 2023
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© the author
Cover: Irene Repp
http://www.daylinart.webnode.com
Bildrechte:
© Andrey Kiselev – stock.adobe.com
© Jan Rozehnal – stock. adobe.com
1. Auflage
ISBN 978-3-96089-632-6
ISBN 978-3-96089-633-3 (ebook)
Verliert ein Mensch den Glauben an sich, verliert er auch seine Seele. Ein Kristall mitten auf der Stirn kennzeichnet solche Menschen als Seelenlose. Misstrauen und Furcht wird ihnen entgegengebracht.
Trotzdem können sie Mitleid empfinden. Selbst für ein zerzaustes, verängstigtes Eichhörnchen, das von Dämonen verfolgt mitten in der Nacht in das Lager eines Seelenlosen stolpert.
Vergib immer deinen Feinden – nichts ärgert sie mehr.
– Oscar Wilde –
Bis auf die steilen Klippen hinauf erstreckte sich Davenlor, die Hauptstadt von Atarn und Sitz des Königshauses derer von Branwhaite. Weiße Statuen, die in die Klippen eingelassen waren, starrten in die Ferne. Es handelte sich dabei um gewaltige Sarkophage, in denen die verstorbenen Könige beigesetzt wurden, denn sie waren verpflichtet, das Land auch über den Tod hinaus vor Unheil zu warnen.
Vyn Branwhaite
Schweres Atmen.
Rennen.
Furchtsame Blicke zurück.
Stolpern. Mühsames Fangen und Weiterstürmen.
Angestrengtes Keuchen.
Unter den feinen Lederstiefeln brachen Zweige und wurden Farnwedel niedergedrückt.
Flüche, als ein Hemd an einem Baumknorren hängen blieb und riss.
Neuerliches Vorwärtsstürmen.
Ständig schaute sich Vyn zu seinem Geliebten um, der ihm mit schweißüberströmtem Gesicht folgte. Er wurde langsamer und ließ Joram aufholen.
„Komm schon“, flüsterte er, wohl wissend, dass ihre Verfolger dicht hinter ihnen waren. Dabei war er selbst zu Tode erschöpft und konnte kaum noch sein Schwert halten, dessen Schneide von einem Zufallstreffer schartig und blutig war. Mit mehr Glück als Können hatte er seinen Angreifer an der Schulter erwischt. Leider war die Klinge danach gegen eine Mauer gekracht.
„Wir müssen weiter!“
„Nein“, brachte sein Geliebter zwischen zwei flachen Atemzügen hervor. „Nein. Du musst weiter.“
„Was …?“
„Ich kann nicht mehr, Vyn.“ Joram schob eine Hand unter sein zerfetztes Gewand und als er sie wieder hervorzog, war sie blutbedeckt.
Vyn ließ die Waffe fallen, die sein Hexenmeister ihm für die Flucht besorgt hatte, obwohl er im Schwertkampf keine Glanzleistungen vollbrachte, und packte den taumelnden Gefährten an den Armen. „Du bist verletzt? Sag, wie schwer? Wie kann …“
Sein Liebster winkte ab. „Mir kann niemand mehr helfen“, wisperte er matt.
„Nein!“
Joram schlug ihm eine Hand auf den Mund und für ein, zwei Sekunden lauschten sie voller Furcht, während der Geruch nach Moos, Farnen, feuchtem Waldboden und Blut in seine Nase drang. In der Ferne waren Rufe zu vernehmen.
„Sie werden uns einholen, Vyn. Sie haben Pferde und Zarks.“
Grauenhafte Wesen aus einer anderen Welt. Hervorgerufen von Sanjorns Hexenmeistern, um ihn zu töten. Den jüngsten Bruder des Kronprinzen, den Letzten in der Thronfolge.
„Wir … wir finden einen Weg.“
Langsam schüttelte Joram den Kopf. Liebe stand in seinem Gesicht geschrieben, als er eine Hand auf Vyns Wange legte.
„Wusstest du, dass ich mich eine Weile mit dem Gestaltwandeln beschäftigt habe?“, fragte er leise und eindringlich.
„Wir haben Wichtigeres …“
„Hör mir zu!“, zischte Joram ungewohnt scharf. „Ich werde dich mit einem Zauber belegen und in ein Tier verwandeln. Du brauchst davor keine Angst zu haben. Auf diese Weise kannst du den Zarks entkommen. Finde einen loyalen Hexenmeister, der dir deine wahre Gestalt zurückgibt und hilft, Sanjorn den Thron zu entreißen.“
„Hast du das schon mal gemacht?“, fragte Vyn zweifelnd.
„Nein. Aber ich weiß genau, wie es geht.“
„Und in was für ein Tier wirst du mich verwandeln?“
„Ich habe keine Ahnung. Der Zauber wird das entscheiden. Die Magie wählt eine Gestalt aus, die ihr am Sinnvollsten erscheint. Sei unbesorgt. Du wirst garantiert ein starkes, stolzes Tier sein.“
„Was ist mit dir?“, fragte er, die Antwort ahnend.
„Mit mir geht es zu Ende …“
„Nein“, wisperte Vyn mit aufsteigenden Tränen.
Sein Geliebter zog ihn in eine feste Umarmung, bevor er ihn küsste.
Im Unterholz knackte es. Das Wiehern eines Pferdes erscholl. Sie fuhren auseinander.
„Lass mich dir diesen letzten Liebesdienst erweisen“, bat Joram sanft. „Mein Herz geht mit dir. Immer.“
Wild schüttelte Vyn den Kopf. „Wir finden …“
Ein furchterregendes Heulen unterbrach ihn und entsetzt stöhnten sie auf. Die Zarks kamen.
„Wir müssen uns beeilen.“
Joram umfasste sein Gesicht, legte die Stirn in konzentrierte Falten und begann magische Worte zu murmeln. Vyn spürte ein merkwürdiges, schmerzloses Reißen am Körper. Die Bäume, Sträucher und Farne verschwammen vor seinen Augen und er fühlte sich seltsam schwindelig. Keinen Atemzug später gab es einen heftigen Ruck und plötzlich saß er inmitten seiner blutbefleckten und zerfetzten Kleidung. Die Umgebung erschien ihm mit einem Mal viel größer. Halt! Nein! Er war geschrumpft!
„Oh!“ Joram blinzelte verblüfft. „Damit habe ich nicht gerechnet.“
Was meinte sein Geliebter mit oh? Doch dann merkte er es selbst: Er hatte sich in ein Eichhörnchen verwandelt.
Verdammt, Joram! Du sprachst von einem stolzen Tier und nicht von einem kleinen Nager.
Ein hungriges Knurren trieb sie auseinander.
„Flieh!“, rief Joram und raffte das Schwert an sich, als zwei mächtige Schatten aus dem Unterholz sprangen. „Meine Liebe begleitet dich, Vyn. Flieh!“
Konnten Eichhörnchen weinen? Innerlich tat er es. Mit einem aus Todesangst geborenen Schrei folgte er den Instinkten seiner tierischen Gestalt und flitzte davon. Allerdings nur den nächsten Baum hinauf. Unter ihm hieb sein Geliebter ungelenk auf die Zarks ein, die ihn zähnefletschend umkreisten. Es waren grünbraune, krallenbewehrte Bestien mit fransigem Fell und scharfem Gebiss. Geifer floss über ihre Lefzen und verbrannte dort den Boden, wo er hintropfte. Mit furchtsam pochendem Herzen schmiegte sich Vyn an einen Ast und musste hilflos beobachten, wie sein tapferer Gefährte mit leichenblassem Gesicht gegen die beinahe spielerischen Klauenhiebe ankämpfte. Seine Bewegungen waren kraftlos. Die Verwundung und der letzte Zauber hatten ihn ausgelaugt. Er hatte bereits Magie gewirkt, um Vyn vor einer Hinrichtung zu bewahren und ihnen die Flucht bis in den Blaueichenwald zu ermöglichen. Damit hatte er einen großen Teil seiner Lebensenergie verbraucht. Es war direkt ein Wunder, dass sie überhaupt so weit gekommen waren. Nun war es eine Qual mitanzusehen, wie sich sein Geliebter für ihn opferte. Die Zarks rissen ihn nieder, ignorierten die ersterbenden Schreie, zerfetzten den Körper, der nachts wunderbar zärtlich und anschmiegsam gewesen war, und zermalmten mit ihrem mächtigen Gebiss Jorams Knochen und Schädel. Vyn würgte vor Angst, Trauer und nacktem Entsetzen. Das Geräusch herannahender Pferde und das Klirren von Rüstungen drangen ihm in die Ohren. Grollend reckten die Zarks unter ihm die Nasen in die Luft. Witterten.
„Flieh!“, tönte es schwach von irgendwoher und endlich warf sich Vyn herum und rannte. Wie ein Blitz sauste er über die Äste, sprang von Baum zu Baum und hetzte von Panik getrieben blindlings durch den Wald.
Vyn Branwhaite
Völlig unter Schock stehend, kauerte sich Vyn zitternd zusammen und zog den buschigen Schwanz dicht um sich. Sein Liebster war tot. Tot. TOT! Grausam hämmerte dieses grässliche Wort auf ihn ein. Ständig schoben sich Bilder, wie die Zarks den hilflosen Körper zerrissen, vor seine Augen.
Regen setzte ein, den er trotz der Kälte, die damit einherging, begrüßte. Der spätherbstliche Schauer würde den Zarks die Verfolgung erschweren.
Vollkommen erschöpft hockte er auf einem Ast, ziel- und planlos und in eine Gestalt gezwungen, die ihm fremd war. Wie sollte er als Nagetier gegen seinen Bruder rebellieren? Wohin sich als Nächstes wenden?
Von seinem Platz aus verfolgte er, wie der Halbmond seine Reise am Nachthimmel antrat. Nach wie vor war er zu keinem klaren Gedanken fähig, da sich seine ganze, kleine Welt einzig auf Jorams Tod beschränkte.
Wie tapfer!
Wie aufopferungsvoll!
Wie groß seine Liebe gewesen sein musste, dass er sein Leben für ihn hergeschenkt und ein solch grässliches Ende hingenommen hatte.
Erneute Verzweiflung flutete Vyn. Der Kummer war wie ein Knebel, der ihn langsam erstickte. Das plötzliche absonderliche Zerren an seinem Eichhörnchenkörper riss ihn aus dem trübsinnigen Dämmerungszustand. Er verwandelte sich zurück in seine menschliche Gestalt und plumpste dabei wie ein Stück Fallobst von dem Ast, auf dem er sich ausgeruht hatte. Zum Glück war der Sturz nicht allzu hoch und prellte ihm bloß den Arm. Für einen Moment starrte er verblüfft auf seine Gliedmaßen, drehte die Handflächen nach unten und bewegte die Finger. Langsam kam er auf die Füße und geriet kurz ins Taumeln, bis er das Gleichgewicht halten konnte. Der kühle Nachtwind strich über seine Haut und ließ ihn frösteln. Er war nackt, unbewaffnet, mittellos und allein. Vyn legte den Kopf in den Nacken, ballte die Fäuste und schrie. Der klagende Laut hallte von den Bäumen wider, bis er in einem Schluchzen verklang. Weinend brach er auf die Knie und ergab sich seiner Trauer.
Irgendwann hatte er keine Tränen mehr und lag frierend im Gras. Wenn er nicht wollte, dass Joram umsonst gestorben war, durfte er jetzt nicht aufgeben, sondern musste sich einen Plan zurechtlegen, wie er seinem Bruder die Stirn bieten konnte. Beinahe hätte er verächtlich gelacht, weil es undenkbar war, dass er auf sich gestellt gegen eine Armee mit zahlreichen Hexenmeistern und Dämonen ankämpfen konnte.
„Wenn ich hier weiter sinnlos herumliege und jammere, habe ich ohnehin schon verloren“, knurrte er und rappelte sich auf. Da verspürte er aufs Neue dieses Reißen und hockte gleich darauf in der Eichhörnchengestalt und reichlich frustriert auf dem Waldboden. Die Rückverwandlung in einen Menschen war nicht von Dauer gewesen, sondern hatte lediglich für eine Stunde angehalten.
Charder Leyne
Charder Leyne hockte an einem Lagerfeuer und gab eine Handvoll Beeren und Rosinen in den Haferbrei. Er brauchte die Mahlzeit nur ein bisschen ziehen lassen, dann konnte er seinen Magen mit etwas Warmem füllen und hätte am nächsten Morgen noch einen kleinen Imbiss für den Start in einen neuen Tag übrig. Gedankenverloren fingerte er an dem Kristall herum, der mittig in seine Stirn eingebettet saß. Mit halbem Ohr lauschte er dabei auf die nächtlichen Geräusche, dem Rascheln der Mäuse im Laub, dem Schnaufen eines Igels und das gelegentliche Stampfen seines Cor-Hengstes Marrin, der sich grasend in einem Kreis um ihn bewegte. Mücken surrten am Rand des Lichtscheins. Charder ignorierte sie. Solange er sich regelmäßig mit einem Kräutersud einschmierte, stachen ihn die Plagegeister nicht. Und bald wäre es für die Blutsauger ohnehin zu kalt.
Ein schriller Schrei in der Nähe ließ ihn aufhorchen. Auch Marrin hob den Kopf und spitzte die Ohren.
„Ein Hörnchen in Todesangst“, sagte Charder ruhig, nachdem er den Laut identifiziert hatte. „Sicherlich ist es einem Jäger über den Weg gelaufen.“ Er rührte im Topf, wobei ihm auffiel, dass Marrin seine wachsame Haltung nicht aufgab. Der Hengst schüttelte den Kopf, dass der Dornenkamm leise rasselte, und schnaubte unruhig. Seine ganze Körperhaltung drückte Anspannung aus. Grund genug für Charder, um sich zu erheben und das scharfe Schwert aus seiner Scheide zu ziehen. Und nun spürte er es ebenfalls: Das Böse war in dieser Nacht unterwegs. Dieses Wissen setzte sich fest wie fauliger Gestank in den Nasenschleimhäuten fest und sorgte dafür, dass sich seine Nackenhärchen aufstellten. Der Cor schlug nervös mit dem Schweif und schaute ihn aus intelligenten, hellblauen Augen an, als erwartete er von ihm eine Anweisung.
Nicht weit entfernt krachte es, als würde ein schwerer Körper rücksichtslos durchs Gebüsch brechen. Erneut ertönte der schrille, panische Schrei. Marrin schnaubte, senkte den Kopf und scharrte mit dem Vorderhuf.
„Ruhig“, flüsterte Charder.
Ein kleiner Schatten flitzte heran, strauchelte angesichts des Feuers, änderte abrupt die Richtung und versuchte an einem Baum emporzuklettern. Nach etwa einer Manneslänge verlor das ermattete Wesen den Halt und stürzte zwischen den Wurzeln der Eiche zu Boden. Dem erschöpften Winzling folgten die Jäger. Langsam, schleichend, drohend.
„Sieh da“, sagte Charder leise und hob das Schwert kampfbereit an. „Zarks. Warum verfolgt ihr hässlichen Gestalten ein Eichhörnchen? Doch nicht bloß zum Spaß. Also kommt und holt es euch, falls ihr an mir vorbeigelangt.“
Ein wütendes Knurren war die Antwort.
„Was ist mit euch los?“ Er lachte leise. „Ich bin ein Seelenloser.“ Charder tippte gegen den Kristall auf seiner Stirn. „Ich kann meine Dienste jedem anbieten. Und irgendwie habe ich den Eindruck, dass das Eichhörnchen mein Angebot nicht ausschlägt.“
Der Angriff erfolgte blitzschnell, allerdings war er darauf gefasst gewesen. Mit einer geschmeidigen Bewegung glitt er zu Seite und hieb dem Zark die Klinge in die Flanke. Der Dämon jaulte gepeinigt auf, geriet einen Atemzug später unter Marrins breite Hufe und wurde von dessen kräftigen Zähnen im Genick gepackt. Inzwischen schnellte Charder auf den zweiten Zark zu, wich einem Prankenhieb aus und zuckte schlangengleich zurück, als grässliche Fänge direkt vor seiner Nase in die Nachtluft schnappten. Wie eine Mischung aus Raubkatze und Wolf duckte sich der Dämon mit dem grünbraunen, fransigen Fell, um ihn im nächsten Moment anzuspringen. Charder ließ sich fallen, richtete dabei die Schwertspitze senkrecht in die Höhe und schlitzte den Leib des Angreifers der Länge nach auf. Stinkende Asche rieselte auf ihn nieder, als die erste Bestie verendete. Im Nu war er wieder auf den Beinen, wirbelte herum und rammte die Klinge dem zweiten Zark in den Rücken. Ein weiteres Aschehäufchen wurde vom leichten Wind auseinandergetrieben.
„Anscheinend bin ich noch nicht außer Form“, brummte Charder und wandte sich dem Eichhörnchen zu, das er ein wenig ratlos musterte. Es lebte noch, aber es war vollkommen erschöpft. Am Oberarm hatte es eine eiternde Wunde im verklebten Fell.
„Für den Topf bist du mir eindeutig zu mager, obwohl die Zarks dich offenbar liebend gerne verspeist hätten.“
Vyn Branwhaite
Regungslos lag Vyn in der weichen Wolle. Nur langsam beruhigte sich sein Herzschlag. Ein Wunder war geschehen und hatte ihn gerettet. Dabei hatte er sich bereits verloren geglaubt. Die Zarks hatten ihn mitten in der Nacht aufgespürt, während er sich in seiner menschlichen Gestalt befand. Er war um sein Leben gerannt, bis die Verwandlung einsetzte. Dann hatte er mit einer verzweifelten Flucht quer über die Äste der Bäume einen kleinen Vorsprung herausholen können. Zumindest, bis ihn die Kräfte verließen und ihm ein Sprung auf den nächsten Ast misslang. Lediglich seine Sturheit hatte ihn am Aufgeben gehindert, dabei hatte er den heißen Atem seiner Verfolger schon im Nacken gespürt. Und plötzlich war der seltsame Krieger vor ihm aufgetaucht und hatte die Zarks geradezu spielerisch vernichtet.
Verstohlen musterte Vyn den Fremden. Groß und kräftig saß er am erlöschenden Feuer und beobachtete die aufgehende Sonne. Eine schwarze Narbe zog sich von seinem rechten Ohr waagerecht über die Nase bis unter das linke Auge. Dunkle Verästelungen gingen wie Blutbahnen von ihr aus und zeugten von einem Gift. Das rechte war nicht verschont geblieben. Doch anstatt sich schwarz wie die Narbe zu zeigen, präsentierte es sich komplett schneeweiß. Schwarzbraune Zotteln rahmten das leicht kantige Gesicht des Kriegers ein. Und kurz unterhalb des Haaransatzes saß ein funkelnder Kristall. Vyn hatte von Männern wie ihm gehört, war allerdings nie einem begegnet. Es waren Seelenlose. Sie traten selten auf und viele von ihnen suchten den Freitod, weil sie ihre eigene Existenz nicht ertrugen.
Mindestens ebenso interessant war das Reittier des Kriegers. Der Cor-Hengst war von silbergrauer Farbe. Zwei Hörner wuchsen auf der Stirn, die Augen waren von einem hellen Blau. Um sie herum, genau wie auf der mächtigen Brust und auf der Kruppe, befanden sich feine dunkelgraue Schuppen. Ein Dornenkamm ragte zwischen dem seidig glänzenden Mähnenhaar auf. Die breiten Hufe verschwanden beinahe unter dem dichten Fesselbehang.
Seit dem großen Krieg der Hexenmeister war die Anzahl der Cor-Herden dramatisch geschrumpft. Zudem waren die Tiere sehr scheu und hielten sich von menschlichen Ansiedlungen und Straßen fern. Umso faszinierender war es, dass der Seelenlose dieses Prachtexemplar zum Gefährten hatte.
Vyn schielte zu dem Wasser, das der Krieger ihm auf das Blatt geträufelt hatte. Er war schrecklich durstig. Obendrein lockte ihn das Obst. Mühsam rappelte er sich auf und krabbelte aus dem warmen Wollstoff, um sich ein wenig zu stärken. Der Seelenlose brummte zufrieden, ließ ihn in Ruhe an einem Apfelschnitz knabbern und begann seine Habseligkeiten zu packen und die letzte Glut zu löschen. Vyn hielt im Futtern inne. Neue Panik breitete sich in ihm aus. Wollte ihn der Krieger zurücklassen? Und warum auch nicht? Für ihn war er nichts weiter als ein Eichhörnchen. Es war bereits erstaunlich genug, dass der Seelenlose ihm nicht einfach den Hals umgedreht hatte. Frustriert stieß er ein leises Keckern aus. Der Fremde drehte sich zu ihm herum. Schweigend schauten sie einander an. Krampfhaft überlegte Vyn, wie er sich verständigen konnte.
„Dir geht’s besser, hmm? Bestimmt. Alles ist besser, wenn kein Zark hinter einem her ist.“
Er hörte dem Krieger mit der rauen Stimme gar nicht zu, denn ihm war eine Idee gekommen. Schreiben! Genau! Er konnte eine Botschaft übermitteln. Hastig suchte er einen Flecken Boden ohne Laub und Gras und kratzte Hilfe in die Erde. Der Seelenlose schien wenig überrascht zu sein.
„Ein Eichhörnchen, das die Schriftzeichen beherrscht“, sagte er, wobei sich ein Mundwinkel in die Höhe schlich. „Ich hab ja geahnt, dass an dir etwas Besonderes sein muss. Hexenmeister hetzen ihre dämonischen Schergen üblicherweise nicht auf possierliche Tierchen. Dumm nur, dass ich nicht lesen kann. Mein Federkiel ist tödlicher Natur.“ Er klopfte bezeichnend auf die Scheide seines Bihänders.
Vyn sank in sich zusammen.
Inzwischen hatte der Krieger das kuschlige Wolltuch in einen ledernen Beutel gestopft. Nun kniete er sich nieder und hielt Vyn das Behältnis entgegen.
„Vielleicht hast du Lust, mich ein Stück zu begleiten?“
Mit neuer Hoffnung spitzte er die Pinselohren.
Eine Chance!
Charder Leyne
Er sattelte Marrin und befestigte sein Gepäck auf dessen breiten Rücken. Den Beutel mit seinem neuen Weggefährten hängte er sich über die Schulter. Wenig später bewegten sie sich im gemächlichen Tempo einen Wildpfad entlang. So ruhig, wie Marrin ausschritt, so sehr rasten Charders Gedanken. Und natürlich drehten sie sich um seinen Pflegling. Keine einzige Sekunde lang hatte er angenommen, dass es sich bei dem hageren, ungepflegten Tierchen um einen normalen Baumbewohner handelte. Nicht, wenn es von Zarks gejagt wurde. Wer immer sich die Mühe gemacht hatte, Dämonen in diese Welt zu holen, um einen kleinen Nager zu hetzen, musste gute Gründe dafür haben. Vermutlich war das Eichhörnchen der tierische Vertraute eines Hexenmeisters und hütete dessen Geheimnisse. Das würde zumindest erklären, warum es in der Lage war, Schriftzeichen nachzuahmen. Wenn diese Mysterien von Bedeutung waren, würden sie es sicherlich bald mit weiteren unliebsamen Begegnungen zu tun bekommen.
„Gut“, knurrte er. „Dann wird mein Schwert wenigstens keinen Rost ansetzen.“
Zarks und ihre Hexenmeister lösten keine Furcht in ihm aus. Er hatte eh nichts mehr zu verlieren. Seine Seele hatte er eingebüßt, während er in einem Meer aus Blut stand und den Glauben an sich und seine Menschlichkeit verlor. Deutlich hatte er diesen Verlust verspürt. Dafür war ihm über Nacht der Kristall auf der Stirn gewachsen, als müsste er die verschwundene Kostbarkeit ersetzen. Die ersten Tage hatte Charder versucht, sich den Stein herauszukratzen, zu ziehen, ja sogar zu schneiden. Es war ein vergebliches Bestreben und es blieb ihm zu seinem Leidwesen nichts anderes übrig, als seine abartige Existenz zu akzeptieren. Der Kristall brandmarkte ihn als Seelenlosen. Er hatte lernen müssen, dieses Schicksal anzunehmen. Schließlich hatte er den verfluchten Krieg nicht überstanden, um sich hinterher in seine Klinge zu stürzen.
Als der Wald lichter wurde, schritt Marrin kräftiger aus. Sie hatten kein Ziel, sondern zogen lediglich umher, um dort zu verweilen, wo eine helfende Hand benötigt wurde. Dabei war es Charder völlig egal, ob bei der Feldarbeit, bei den Reparaturen einer Bauernkate oder beim Kalben einer Kuh. Den größeren Städten blieb er fern. Er hasste es, angestarrt zu werden. Und am meisten verabscheute er es, wenn sich vor ihm die Menschenmenge teilte, als wäre er ein furchteinflößendes Ungeheuer, dem man dringend ausweichen musste. Sein raues Lachen durchbrach die Stille.
„Vielleicht bin ich ja ein Monster“, flüsterte er. „Und weiß es bloß nicht.“
In dem Beutel, der über seine Schulter hing, bewegte sich kurz das Eichhörnchen.
Armes, kleines Ding, dachte er mitleidig. Es ist kein Vergnügen, von Dämonen quer durch den Forst gehetzt zu werden. Welche Geheimnisse verbirgst du?
Plötzlich spitzte Marrin die Ohren und blieb stehen. Hinter ihnen ertönte ein lautes Heulen. Charder hob den Kopf und entdeckte einen Schwarm Waldtauben, der in einiger Entfernung aus den Baumwipfeln stieg. Eine zuckende rotbraune Nase und Pinselöhrchen erschienen über dem Beutelrand.
„Das klingt, als ob weitere Zarks unser Nachtlager erreicht haben“, sagte er. „Und wahrscheinlich sind sie sich unsicher, ob du dich in die Bäume verkrochen oder einem Fremden anvertraut hast.“
Er war kein Experte darin, die Mimik eines Eichhörnchens zu interpretieren, allerdings zeigte dieses hier deutliche Anzeichen einer Panik und tauchte sogleich wieder zwischen den Falten des Wollschals ab.
„Keine Sorge“, murmelte Charder. „Zarks kommen einem weniger schnell auf die Schliche, wenn man nicht an sie denkt. Blende sie aus, denk an goldbraune Haselnüsse oder frische Pinienzapfen. Denk an raschelndes Laub und süße Beeren. Denk von mir aus an ein nettes Eichhörnchenmädchen. Wunderbare Erinnerungen können schwarze Schatten vertreiben.“ Er lenkte Marrin weiter, während er in eigene Gedanken versank. Wie lange war es her, dass ihm etwas Wunderbares begegnet war? Der Hauch einer Kleinigkeit, der auf eine ganz besondere Weise sein Herz berührt hätte? Charder seufzte. Es musste vor einer Ewigkeit gewesen sein. Vor dem Krieg, der ihm die Seele genommen hatte. Er tastete über den Kristall auf seiner Stirn. Hart, kantig, mittlerweile vertraut und trotzdem fremd. Marrin schüttelte den Kopf, als würde der Cor seine trübe Stimmung spüren. Die Dornen auf dem Mähnenkamm rasselten leise. Charder streckte den Finger aus und tippte mitten auf eine der Spitzen. Eine dunkelrote Perle erschien auf der Kuppe. Fasziniert betrachtete er sie und drehte sie ins Sonnenlicht, sodass der Tropfen hellrot aufleuchtete. Wie notwendig dieser Lebenssaft doch war. Und er hatte darin gebadet, bis sein Körper förmlich mit Blut überzogen gewesen war. Angewidert schüttelte er den Tropfen vom Finger.
Du grübelst ohne Unterlass tagein, tagaus. Das hilft dir nicht weiter und bringt wider Erwarten keinen Frieden.
Dabei wünschte er sich nichts sehnlicher als das.
Gegen Mittag legten sie eine Rast ein. Das Eichhörnchen krabbelte aus seinem Nest und verspeiste ein paar Nüsse, die Charder unterwegs gepflückt hatte. Danach ließ es zu, dass er erneut die Bisswunde reinigte, bevor es zurück in den Beutel kletterte.
Der Rest des Tages verstrich ereignislos. Das Sattelleder knarrte leise, das Laub an den Bäumen raschelte im zunehmenden Wind, irgendwo hämmerte ein Specht auf einen Stamm ein und das Singen der Vögel untermalte Marrins gleichmäßige Schritte. Das Heulen erscholl nicht noch einmal.
Charder Leyne
Marrin graste und knabberte gelegentlich an den Zweigen einiger Sträucher. Charder hatte den Cor abgesattelt und ausgiebig gebürstet. Der Beutel mit dem verletzten Nager lehnte derweilen am abgelegten Sattel. Nachdem er mit der Fellpflege seines vierbeinigen Gefährten fertig war, baute er eine Feuerstelle, suchte Holz und kochte sich einen Brei, den er mit Beeren würzte. Er reichte dem Eichhörnchen Rosinen und Obst, bevor er selbst lustlos aß. Sein Dasein war zur Routine verkommen. Reiten, essen, ruhen, erneut essen. Den Topf spülen, Holz nachlegen, pissen gehen ... Er schüttelte den Kopf und unterdrückte den aufsteigenden Zorn, den die Sinnlosigkeit seines Daseins hervorrief.
„Es ist, wie es ist“, brummte er und stocherte mit einem Ast in der Glut herum. Doch heute wurde sein täglicher Trott unterbrochen, denn je später es wurde, desto unruhiger gebärdete sich das Eichhörnchen. Es hüpfte aufgeregt hin und her, keckerte, biss in ein Apfelstückchen und ließ den Rest gleich darauf ins Gras fallen, um seiner Anspannung wieder durch Bewegung Luft zu machen. Charder wurde zunehmend nervöser, weil er aus diesem Verhalten nicht schlau wurde. Sogar Marrin schien sich gestört zu fühlen, da er einige Male schnaufte und mit den Hufen stampfte. In diesen Momenten fror das Eichhörnchen in seinen Bewegungen regelrecht ein, nur um sich gleich darauf wie zuvor zu gebärden.
„Was ist los?“ Charder fing das kleine Tier ein, ließ es allerdings sofort los, als es ihn in den Finger kniff. „Schmerzt die Schulter? Ist dir kalt? Oder soll ...“
Von einem Herzschlag zum anderen verschwand das Eichhörnchen. Stattdessen kauerte ein nackter, junger Mann vor ihm. Im Nu riss Charder seine Waffe aus der Scheide und richtete die Spitze der Klinge auf den Fremden. Dessen nackenlange, braune Haare standen in sämtliche Himmelsrichtungen ab. Kratzer übersäten seine Haut und tiefe Verzweiflung lag in seinen dunklen Augen, als er langsam die Hände hob.
„Ich bin unbewaffnet“, sagte er.
Das hatte überhaupt nichts zu bedeuten. Charder hatte gelernt, dass man gerade den Waffenlosen mit Vorsicht begegnen musste, da diese häufig über Magie verfügten. Vorsichtshalber wich er einen Schritt zurück.
„Bist du ein Hexenmeister?“, fuhr er den Fremden an. „Und wo kommst du her?“
„Bitte … Ich will nichts Böses. Ich … ich … ich … ich brauche Hilfe.“
Offensichtlich. Das Gestotter war ja kaum auszuhalten.
Der junge Mann erhob sich und deutete mit einer zitternden Hand auf Charders Schwert. „Könntest du das runternehmen?“
„Nein.“
„Von mir geht keine Gefahr aus. Ich bin das Eichhörnchen. Also … Ich meine … Eigentlich bin ich Prinz Vyn Branwhaite. Mir bleibt bloß eine Stunde, bevor die Verwandlung einsetzt und … Verflucht!“ Der Fremde fuhr sich mit den Fingern durch den wirren Schopf.
Ein Prinz der Familie Branwhaite? Charder musterte die nackte Gestalt vor sich. Im großen Krieg hatte er unter dem Kommando von Kronprinz Sanjorn gedient. Und ja, wenn er das Gesicht vor sich genauer betrachtete, konnte er eine gewisse Ähnlichkeit erkennen.
„Ein schöner Prinz bist du mir“, brummte er. „Kleine Kleidung und keine Waffen. Dafür die Pinselohren eines Nagetiers.“
Schmerz verzerrte Vyns Miene. „Mein Hexenmeister hat einen Zauber über mich gelegt, der mich in ein Tier verwandelte. Danach hat er sich geopfert, damit ich den Zarks entkommen konnte. Lediglich für eine Stunde ab Mitternacht kann ich meine eigentliche Gestalt annehmen.“
„Und warum sind die Zarks hinter dir her?“, fragte Charder und senkte endlich seine Waffe.
„Wegen Hochverrats“, sagte Vyn leise.
„Ich habe gehört, dass König Lessan ermordet wurde.“
Charders Gegenüber schnitt eine Grimasse.
„Sanjorn hat die Herrschaft an sich gerissen und meinen Bruder Brira getötet.“ Fröstelnd schlang Vyn die Arme um sich. Ohne ihn aus dem Blick zu lassen, bückte sich Charder nach seiner Decke und reichte sie ihm. Mit einem dankbaren Nicken wickelte sich der junge Königssohn darin ein.
„Hast du nicht noch eine Schwester? Und was ist mit deiner Mutter?“
Vyns Gesichtsausdruck wurde irgendwie leer. „Ich weiß es nicht. Vermutlich will Sanjorn die gesamte Familie auslöschen, damit ihm niemand mehr den Thron streitig machen kann. Daher fürchte ich, dass Syra und meine Mutter ebenfalls tot sind. Mit Jorams Hilfe bin ich in letzter Sekunde vom Richtplatz und damit dem Tod entkommen.“
„Joram ist …“
„… mein Hexenmeister gewesen.“ Vyn schluckte schwer und blinzelte. „Mein Liebhaber“, fügte er tonlos hinzu und sank am Feuer nieder. Verstohlen wischte er sich über die Augen.
Charder steckte das Schwert fort und trat näher. „Hältst du es nicht für ein Risiko, mir zu verraten, wer du bist und wer dich sucht?“, fragte er barsch. „Was hindert mich daran, dich an deinen Bruder auszuliefern? Wahrscheinlich ist sogar eine Belohnung auf dich ausgesetzt worden.“
„Ja, ganz sicher sogar.“ Vyn schaute zu ihm auf.
Sein Gesicht ist für einen Adligen viel zu ehrlich, fuhr es Charder durch den Kopf. Und für einen Hochverräter viel zu jung.
„Du bist freundlich zu einem Eichhörnchen gewesen. Und irgendjemandem muss ich mich anvertrauen. Ich brauche Hilfe.“
„Welcher Art?“
„Ich kann nicht ewig in den Bäumen herumhüpfen. Und ich will meinen Bruder für seine Taten zur Rechenschaft ziehen.“
Charder hockte sich dem Prinzen gegenüber nieder. „Rebellion.“
„Ich ziehe den Ausdruck Gerechtigkeit vor. Hilfst du mir?“
Augen, feucht und mit dem Widerschein des tanzenden Feuers in ihnen, sahen ihn fragend an.
„Du kennst nicht einmal meinen Namen, weißt nichts über meine Gesinnung und erwartest von mir Unterstützung?“
„Du bist ein Seelenloser.“ Vyn deutete auf Charders Stirn.
„Oh! Vielen Dank für den Hinweis! Das ist mir doch glatt entgangen.“
Der Prinz seufzte. „Verrätst du mir deinen Namen, Eichhörnchenfreund?“
„Charder Leyne, Euer Hoheit.“
„Du glaubst mir nicht“, murmelte Vyn resigniert.
„Ich glaube dir jedes Wort. Ich verstehe bloß nicht, weshalb du mir vertrauen solltest. Nur weil ich einem Eichhörnchen Rosinen angeboten habe? Womöglich war es mir für den Spieß zu dürr. Oder liegt es daran, dass ich ein Seelenloser bin?“
„Es heißt, dass die Seelenlosen ihr Schwert vermieten.“
Charder beugte sich in seine Richtung. „Vielleicht hat mich ja Sanjorn angeheuert und du spielst mir direkt in die Hände.“
Vyn musterte ihn. Schweigend. Prüfend. Als er zu einem Ergebnis gekommen war, schüttelte er den Kopf.
„Was macht dich so sicher?“, wollte Charder wissen.
„Niemand, der einen Cor-Hengst reitet, steht in den Diensten meines Bruders. Ein Cor lässt sich lediglich von jemandem mit reinem Herzen reiten.“
Charder prustete erheitert los. Er lachte und lachte, klopfte sich dabei auf die Schenkel und ignorierte Vyns beleidigte Miene. Schlagartig wurde er wieder ernst und packte die Deckenzipfel, die sein Gegenüber vor dem Leib zusammenhielt.
„Seelenlos und ein reines Herz schließen einander aus, Prinz der Bäume und der Nüsse“, sagte er mit rauer Stimme. „Aus welchem Grund, glaubst du, habe ich wohl meine Seele verloren?“
Betroffenheit schlug ihm entgegen. Der junge Mann schien keine Antwort zu finden, denn er blieb stumm.
„Du weißt nichts von uns Seelenlosen“, knurrte Charder. „Oder von den Cor. Nichts!“ Mit diesen Worten ließ er Vyn los, sprang auf, kickte mit dem Fuß Sand und Gras ins Feuer und fuhr dann herum.
Verdammt!
In den gewaltigen Wäldern, in denen er die Einsamkeit gesucht hatte, musste er ausgerechnet einem Prinzen über den Weg laufen. Einem Prinzen, der von dem mächtigsten Mann des Landes und dessen Hexenmeistern gejagt wurde.
Beim Schnitter!
Das Schicksal trat ihm gerade mit Anlauf in den Arsch. Als er sich zu Vyn umwandte, saß ein rotbraunes Eichhörnchen auf seiner Decke.
Vyn Branwhaite
Im behaglichen Dunkel des wollschalgepolsterten Beutels ließ sich Vyn durch den Tag schaukeln. Allmählich erholte er sich von der ausgestandenen Angst, die die Zarks in ihm ausgelöst hatten. Dafür sickerte die grausame Realität, dass er allein und auf sich gestellt war, immer tiefer in seinen Verstand. Charder Leyne schleppte ihn zwar mit sich, aber er hatte sich nicht darüber ausgelassen, ob er Vyn an den nächsten Häscher seines Bruders ausliefern oder ihn unterstützen würde. Doch welche Wahl war ihm geblieben? Er hatte sich Charder anvertrauen müssen. Seine Wandlungen wären dem wachsamen Mann nicht entgangen und außer ihm stand weit und breit niemand anderer zur Verfügung, der ihm hätte helfen können.
Eine Stunde war nicht ausreichend gewesen, um den Krieger für sich zu gewinnen. Dabei hatte er sich seine Worte so schön zurechtgelegt, nachdem sie das Abendlager aufgeschlagen hatten. Argumente, mit denen er den Seelenlosen überzeugen wollte, sich auf seine Seite zu schlagen. Nichts davon hatte er hervorgebracht, sondern sich mit seinem Halbwissen über Cor und Männer ohne Seelen lächerlich gemacht. Dafür waren all die grausamen Szenen der letzten Tage aus den Tiefen seiner Erinnerungen hervorgerufen worden. Zitternd drückte sich Vyn in die tröstende Wolle und kniff die Augen fest zusammen, obwohl dies kein Schutz vor den ungewollten Bildern bot.
Gardisten hatten ihn und Brira aus der Kerkerzelle gezerrt, in der sie fünf verstörende Tage verbracht hatten.
„Was habt ihr vor? Wo bringt ihr uns hin?“, rief Brira, während er selbst aufpassen musste, dass er nicht im Griff der Krieger über seine Füße stolperte. Niemand sprach mit ihnen, sodass sich sein Bruder in einer Tirade wüster Flüche erging. Dagegen wuchs der Klumpen reiner Panik in Vyns Bauch. Sicherlich würden sie nach der zermürbenden Kerkerhaft nicht mit einer gemurmelten Entschuldigung in die Freiheit entlassen werden. Seine Befürchtungen bestätigten sich, als sie den Burghof erreichten. Ein langer Tisch war dort aufgestellt und mit einer feinen Batistdecke geschmückt worden. Obst und süße Leckereien standen auf silbernen Platten zum Verzehr bereit. Wein wurde in edlen Pokalen eingeschenkt. Auf dem gepolsterten Stuhl an dieser Tafel saß Sanjorn und starrte ihnen finster entgegen. Statt seiner persönlichen Hexenmeisterin Pakela Khor, hatte heute Conles Cheltri zu Sanjorns Rechten Platz genommen. Der hagere Mann war zuvor der Hexenmeister ihres ermordeten Vaters gewesen. Wie üblich zeigte er sich kühl und mit steifem Gebaren. Der Goldreif in Form einer Schlange, als Zeichen seines Ranges, schmückte sein kahles Haupt. Was Vyn allerdings wirklich mit Furcht erfüllte, waren die rund zwanzig Soldaten, die einen Halbkreis bildeten, und die vier Ackergäule mit ihren Treibern. Die Pferde trugen Kummets, an denen Ketten befestigt waren.
„Was soll das?“, fauchte Brira ihren Bruder an. „Warum hast du uns unter Arrest stellen lassen? Und was soll diese Farce?“ Er wehrte sich erfolglos gegen den Griff der Gardisten. Vyn versuchte erst gar nicht, sich aufzulehnen. Die Finger der Männer bohrten sich ohnehin schmerzhaft genug in seine Arme.
„Es betrübt mich sehr, dass ihr euch offenbar darauf verständigt habt, die Unwissenden zu spielen“, sagte Sanjorn enttäuscht.
„Ich verstehe nicht“, entgegnete Brira.
„Ich spreche vom Hochverrat, Bruder. Von eurer Verschwörung gegen den Thron.“
Eiswasser schien über Vyns Rücken zu laufen, als er begriff, welch bösartiges Spiel Sanjorn mit ihnen trieb.
„Er will uns Vaters Tod in die Schuhe schieben“, sagte er leise und erntete dafür ein ungläubiges Stirnrunzeln von Brira.
„Vater ist vergiftet ...“ Brira wandte sich ihrem Bruder zu. „...wor…den ... Oh, du Drecksack!“, flüsterte er. „Du hast es getan. Du!“
Sanjorn schüttelte den Kopf. „Ich bin wirklich fassungslos.“
„Ich habe es Euch ja gesagt, Hoheit, dass die Prinzen alles leugnen und wie sie auf Eure Anschuldigungen reagieren werden“, meldete sich Meister Conles zu Wort.
„Ich hab’s nicht glauben wollen. Vyn, das war deine Idee, nicht wahr? Du hast es nicht ertragen können, der ewig Letzte in der Thronfolge zu sein. Keine Chance zu haben, jemals die Krone tragen zu dürfen.“
Der Vorwurf zog ihm beinahe die Beine unter dem Körper weg, so ungeheuerlich war er.
„Das ist nicht wahr!“, rief er. „Und du weißt das.“ Er wandte sich an den neben ihm stehenden Soldaten. „Das ist nichts weiter als ein mieses Ränkespiel.“
Ein Krachen ließ sie zusammenzucken. Sanjorn war aufgesprungen und hatte mit der Faust auf den Tisch geschlagen.
„Lügen!“, fauchte er, dermaßen wütend, wie Vyn ihn nie zuvor erlebt hatte. „Mir liegen Beweise eurer Verschwörung vor.“
„Beweise?“, fragte Brira tonlos. „Was für Beweise?“
„Mitverschwörer und Nachrichten, die abgefangen wurden“, antwortete Sanjorn, der die Hände auf den Tisch stützte.
„Es gibt keine Mitverschwörer!“, brüllte Brira. „Weil es keinen Verrat gibt!“
Nun erhob sich auch Conles. „Ihr solltet Eure Schuld eingestehen, denn die Hexenmeisterin des Königs, Pakela Khor sowie Eurer Hexenmeister Lathar Xior haben ihre Beteiligung am Verrat längst gestanden und Euch als Rädelsführer beschuldigt. Die beiden sind gestern hingerichtet worden. Joram Greatmark befindet sich noch auf der Flucht, aber wir sind ihm dicht auf den Fersen.“
„Lathar? Ihr… Ihr habt meinen Hexenmeister umgebracht?“ Briras Schultern sanken herab. Er wechselte mit Vyn einen entsetzten Blick. Ja, es gab ein Komplott, doch es richtete sich nicht gegen Sanjorn, sondern sie waren die Opfer. Sie hatten keine Chance, diese obskure Gerichtsverhandlung mit einem Freispruch zu verlassen. Vyn war sich sicher, dass ihr ältester Bruder auf jeden Einwand einen gefälschten Beweis vorlegen konnte. Wütend und voller Furcht starrte er Conles an, den er als Drahtzieher dieser mörderischen Intrige vermutete. Dessen Mundwinkel hoben sich kaum merklich und ein stiller Triumph lag in seiner Miene.
„Ihr werdet heute die Konsequenzen eures Verrats tragen.“ Sanjorn gab den Soldaten einen Wink, die sich daraufhin in Bewegung setzten und Brira zu den Pferden schleiften. „In meiner Gnade erspare ich euch ein öffentliches Spektakel. Beginnt mit der Hinrichtung.“
Brira wurde zu Boden gezwungen. Eiserne Schellen schlossen sich um Hand- und Fußgelenke.
„Beim Schnitter, nein!“, schrie der. „Das kannst du nicht tun! Das kannst du nicht tun!“
Vyn war wie erstarrt. Sie sollten sterben? Jetzt?
Die Pferdeführer brachten ihre Tiere dazu, langsam vorwärtszugehen, woraufhin Briras Körper, der in den Ketten hing, in die Höhe gezogen wurde.
„Verschone wenigstens Vyn!“, rief Brira, das Gesicht kreideweiß, die Augen in Todesangst aufgerissen. „Sanjorn, ver... Aaaaaah!“
Die Schreie waren schrecklich. Vyn konnte sich nicht einmal die Ohren zuhalten, da die Gardisten seine Arme nicht losließen. Er wandte den Kopf ab, wollte nicht zusehen müssen, wie Brira gevierteilt wurde. Wollte nicht beobachten, welches Schicksal ihn erwartete. Ein würgendes Schluchzen drang über seine Lippen. In dem Moment, in dem er glaubte, die Schreie nicht länger ertragen zu können und das Reißen von Muskeln und Sehnen ertönte, brachen die qualvollen Schmerzenslaute ab.
„Der Nächste!“ Sanjorns Stimme war eisig.
Vyn wurde vorwärts gezerrt, hin zum blutbefleckten Boden, wo Soldaten einen Arm mit zerfranstem, blutigem Stumpf von den Ketten lösten. Schon schloss sich die eiserne Schelle mit einem schrecklichen Klacken um sein Handgelenk. Er schnaufte vor Angst und versuchte nach dem Gardisten zu schlagen, startete einen letzten Versuch, um sein Leben zu kämpfen. Der Mann wich ihm mit Leichtigkeit aus.
Plötzlich ertönte ein gewaltiger Knall. Holzsplitter flogen wie Speere quer durch den Burghof, als das Tor explodierte. Die Pferde scheuten und rissen sich los, Bewaffnete rannten kopflos umher oder knieten blutend auf dem festgestampften Sand. Das wütende Gebrüll des Hexenmeisters schallte über den Hof. Vyn wurde hilflos hinter dem ängstlichen Gaul hergezogen, der panisch einen Fluchtweg suchte. Feuer regnete vom Himmel und trug zum allgemeinen Chaos bei. Er schrie und bekam die Kette mit beiden Händen zu fassen, was wenigstens sein Handgelenk und die Schulter entlastete. Trotzdem fand er keine Möglichkeit, auf die Füße zu gelangen oder das Pferd zu stoppen. Gleich darauf schleuderte er gegen einen abgestellten Karren voller Stroh. Der Aufprall presste ihm sämtliche Luft aus den Lungen. Endlich fiel jemand dem Pferd in die Zügel und brachte es mit einem groben Ruck zum Stehen. Die Handschelle öffnete sich unter einem hastig gemurmelten Zauber und abermals wurde er im Griff harter Finger mitgerissen.
„Lauf!“, brüllte ihm eine vertraute Stimme ins Ohr. „Beim Schöpfer, Vyn! Lauf!“
Er rannte, so schnell er es vermochte. Flitzte an Jorams Seite durch das zerstörte Tor, während Armbrustbolzen hinter ihnen einschlugen und sie nur knapp verfehlten. Ein weiteres Mal ließ Joram Feuer auf ihre Verfolger regnen, bevor er Vyn die Zügel einer nervösen Stute reichte. Mit zitternden Beinen schwang er sich in ihren Sattel.
„Weg hier!“, zischte Joram vom Rücken eines weiteren Pferdes aus. „Nichts wie weg hier!“
Sie ergriffen die Flucht. Vielleicht hätten sie eine Chance gehabt, wenn nicht ein Zark wie aus dem Nichts erschienen wäre und seinem Pferd die Kehle herausgerissen hätte.
Vyn schoss aus dem dunklen Beutel, landete auf Marrins schuppiger Kruppe und sprang von dort aus in den nächsten Baum. Der Hengst blieb sofort stehen und drehte den Kopf in seine Richtung. Auch Charder starrte ihn verblüfft an, während er keckernd, quietschend und in hilflosem Zorn auf dem Ast hin- und herrannte. Erst nach einer ganzen Weile blieb Vyn hocken und sah müde zu dem Seelenlosen hinunter.
„Hast du dich abreagiert?“, fragte der ruhig.
Würde er eine Nuss besitzen, hätte er sie auf den Krieger hinabgeworfen. Wütend begann er, den Mann unter sich zu beschimpfen, bis ihm erneut die Puste ausging. In einer letzten Trotzreaktion drehte er Charder den Rücken zu.
„Ich habe keine Ahnung, welche Laus dir gerade über die Leber gelaufen ist. Ich kann jedenfalls nichts dafür.“
Charder Leyne
Am Rand des Waldes schlug Charder das Lager auf, während Vyn in seiner Tiergestalt auf dem Rücken des Cors saß und über das zerstörte Land spähte, das sich vor ihnen erstreckte. Kahle, verkohlte Baumstümpfe reckten sich aus dem schwarzgrauen Boden einem bewölkten Himmel entgegen. Zwischen den Stümpfen befanden sich sumpfige Löcher, aus denen faulige Gase stiegen. Es handelte sich um einen Schauplatz magischer Kämpfe. Verbrannte Erde, unfruchtbares Gebiet.
„Trostlos, nicht wahr?“ Charder gesellte sich zu dem Eichhörnchen. „An manchen dieser Orte wohnen Hexenmeister, die daran arbeiten, das Land zu heilen. Ein kräfteraubender, langwieriger Prozess.“
Vyn reagierte nicht. Wahrscheinlich war er zu bekümmert, um sich in irgendeiner Form mit ihm zu verständigen. Charder zuckte gleichgültig mit den Schultern. Er war lange genug allein unterwegs gewesen, als dass er eine Unterhaltung vermisst hätte. Ohnehin wäre sie sehr einseitig verlaufen. Bis sich Vyn aufs Neue verwandelte, würden sie noch einige Stunden totschlagen müssen. Es war Zeit, um etwas zu essen, Marrin zu striegeln und sich Gedanken zu machen, wie es mit seinem verzauberten Begleiter weitergehen sollte. Und welche Rolle er selbst dabei spielen würde.
Nach einem kargen Abendmahl saßen sie einander gegenüber, lediglich das flackernde Feuer trennte sie. Marrin hatte sich ein paar Schritte abseits niedergelegt und schlief. Der Halbmond verwandelte sein Fell in schimmerndes Silber und ließ die dunkleren Schuppen glänzen. Seine Schönheit erinnerte Charder stets daran, dass es etwas gab, wofür es sich zu leben lohnte. Ohne den Cor hätte er garantiert jegliche Hoffnung verloren. Wem nutzte denn seine Existenz? Söldner gab es zuhauf. Dazu war er seelenlos.
Sanjorn würde einen Krieger wie mich gewiss nicht ablehnen, dachte er. Wenn ich ihm Vyn ausliefere, wäre ich mit Sicherheit von einem Tag auf den anderen reich.
Andererseits gefiel ihm nicht, dass Sanjorn Dämonen auf seinen Bruder hetzte. Und wenn es stimmte, was Vyn erzählt hatte? Dass der Erstgeborene der Branwhaite den Thron an sich gerissen hatte? Sollte der Kronprinz wirklich ein Usurpator sein? Ein Vatermörder? Das Eichhörnchen, das da vor ihm kauerte, erweckte nicht den Anschein, als wäre es scharf auf die Königswürde. Zu große Verzweiflung hatte der junge Mann ausgestrahlt. Zu viel Trauer und zu viel Leid. Oder war das alles bloß gespielt? Er ahnte, dass Vyn ihn erneut um Hilfe bitten würde, sobald er sich verwandelt hatte. Welche Antwort sollte er ihm geben? Auf wessen Seite sich schlagen, wenn ihm die genauen Umstände von König Lessans Tod nicht bekannt waren? Es gab Gründe, weshalb er seelenlos geworden war. Blut an seinen Händen. Blut, das seine Kleidung durchtränkt hatte und ihm ins Gesicht gespritzt war. Ein sinnloses Abschlachten von Menschen. Nein! Das wollte er nie wieder erleben. Niemals mehr das Ungeheuer in sich wecken. Charder erinnerte sich daran, wie Sanjorn als Heerführer aufgetreten war. Stolz und hoch aufgerichtet hatte der Kronprinz auf seinem Ross gesessen, den Blick überlegen auf seine Soldaten gerichtet. Kühl und strategisch geschickt hatte er die Truppen befehligt und Verluste mit der gleichen Gelassenheit akzeptiert, wie er seinen Morgentrunk entgegennahm. Kaltherzig und gewissenlos war er Charder zu diesem Zeitpunkt erschienen. Allerdings hatte er das darauf geschoben, dass der Prinz das große Ganze im Auge behalten musste. Mitunter blieb einem Heerführer keine andere Wahl, als kleine Verluste zu tolerieren, wenn man eine Schlacht gewinnen wollte. Trotzdem war ein schaler Geschmack zurückgeblieben. Ein unsicheres Gefühl des Widerwillens.
Charder schüttelte den Kopf, um die Erinnerungen zu verdrängen, und erregte damit Vyns Aufmerksamkeit. Er war nichts weiter als ein Soldat gewesen. Ein scharfes, tödliches Schwert unter dem Befehl eines hochrangigen Offiziers. Er hatte zu gehorchen und nicht zu hinterfragen. Und heute musste er eine Entscheidung treffen.
Pünktlich um Mitternacht verwandelte sich Vyn. Kaum war der Gestaltwandel vollzogen, griff er sich die bereitliegende Decke und hüllte sich in sie ein. Charder musterte den Prinzen. Tiefe Schatten lagen unter dessen Augen. Obwohl der den größten Teil des Tages in Wolle eingehüllt im Beutel verbrachte, schien er weder Ruhe noch Erholung zu finden.
„Lass mich deine Schulter sehen“, brummte Charder und rückte mit frischem Wasser und einem sauberen Tuch näher. Die Bisswunde hatte sich ebenfalls mit verwandelt und war proportional mit der Gestalt gewachsen. Sie schaute übel aus, eiterte aber wenigstens nicht mehr.
„Das war ein anderes Eichhörnchen“, sagte Vyn. „Sie mögen keine Fremden in ihrem Territorium. Genauso wenig, wie mein Bruder Konkurrenz duldet.“
Charder schnitt eine Grimasse. Das heikle Thema wurde schneller angeschnitten, als ihm lieb war. Was natürlich daran lag, dass Vyn nur eine begrenzte Zeitspanne zur Verfügung stand.
„Du bleibst dabei, dass du mich anheuern willst?“, fragte er und tupfte an der Verletzung herum, bevor er zu einem Salbentiegel griff. „Leck das ja nicht ab, wenn du in deine pelzige Form zurückschlüpftst.“
„Ich werde mich beherrschen. Und ja, ich habe meine Meinung nicht geändert. Ich will deine Unterstützung, Charder Leyne. Dich und dein Schwert.“
Er strich eine großzügige Portion der Salbe auf die Wunde und mied dabei den Blickkontakt, den Vyn suchte.
„Mein Vater wurde vergiftet, Charder. Brira gevierteilt. Das Schicksal meiner Schwester und meiner Mutter ist mir nicht bekannt. Ich weiß nur, dass Conles Cheltri aus heiterem Himmel statt Pakela Khor als Sanjorns Hexenmeister tätig ist und dass Briras Hexenmeister genau wie Pakela hingerichtet wurde. Viel zu schnell für Personen ihres Ranges …“
„Stopp!“ Charder hob die Hand, woraufhin Vyn verstummte. „Conles Cheltri berät und beschützt jetzt den Kronprinzen?“ Er erinnerte sich an die dürre Gestalt, die an der Seite des Königs einige Male das Heerlager aufgesucht hatte.
Es war bereits dunkel. Eine Handbreit Schnee bedeckte den Boden und war mittlerweile zu einer harschen Masse gefroren. Etliche Feuer flackerten zwischen den Zelten der Soldaten. Die weniger Privilegierten drängten sich wie Vieh aneinander, um die frostige Nacht zu überstehen. Charder hatte Wachdienst, worüber er nicht sonderlich erbost war, denn es bedeutete, dass er umherlaufen und sich auf diese Weise einigermaßen warmhalten konnte. Unter seinen Stiefeln knirschte der Schnee. Er befand sich auf seiner Runde durch das Lager, als er leise Stimmen hörte. Warum er plötzlich innehielt und die Ohren spitzte, vermochte er gar nicht genau zu sagen. Womöglich, weil es sich bei einem der Sprecher um den Hexenmeister Conles handelte, der mit dem König und dessen Soldaten zu Sanjorns Trupp gestoßen war, um sich über das weitere Vorgehen zu beratschlagen. Die andere Stimme war ihm nicht bekannt, erschien ihm allerdings unangenehm wie ein kratzender Fingernagel auf einer Scheibe voller Eisblumen. Wie trocken raschelndes Laub wisperte sie hinter dem fleckigen Leinen und jagte ihm einen kalten Schauer übers Rückgrat.
„Ich lebe, um zu dienen, Erhabener“, hörte er Conles sagen, danach herrschte alarmierende Stille. Gleich darauf wurde die Zeltplane zurückgeschlagen und der Hexenmeister erschien in der Öffnung. Finster starrte er Charder im Schein einer Fackel an.
„Was gibt es hier zu lauschen, Bursche!“, wurde er angezischt und wich unwillkürlich ein paar Schritte zurück. „Verschwinde! Geh auf deinen Posten!“
Er hatte auf dem Absatz kehrtgemacht und Zuflucht bei seinen Kameraden gesucht. Jahrelang hatte er nicht mehr an diese Begegnung gedacht. Und es wäre ihm sehr lieb gewesen, wenn sie für alle Zeiten im hintersten Winkel seines Kopfes begraben geblieben wäre. Doch nun kam ihm dieser kurze Moment wieder in den Sinn. Das Gefühl, dass hinter Conles etwas Böses im Zelt gelauert hatte.
„Charder?“
Vyns leise Stimme riss ihn aus der Erinnerung und er rieb sich die Arme, als könnte er damit das Frösteln vertreiben.
„Wie willst du mich bezahlen?“, herrschte er den jungen Burschen an.
Der Prinz zuckte erschrocken zusammen, dünnhäutig, wie er war.
„Ich … ich hab nichts.“
Das war unverkennbar.
„Das ist nicht gerade viel, Eichhörnchen. Umsonst kann ich nicht arbeiten. Von irgendetwas muss selbst ich leben.“
Vyn schluckte sichtlich und nickte resigniert. „Wenn ich Sanjorn zur Rechenschaft …“
Charder unterbrach ihn erneut mit einem Wink. „Ich beabsichtige nicht, jahrelang auf meinen Lohn zu warten.“
Der Eichhörnchenprinz sank in sich zusammen. „Selbstverständlich nicht“, murmelte er.
Kein Mitleid, ermahnte sich Charder. Er hatte schließlich nichts zu verschenken. Jeder Heerführer musste seine Soldaten entlohnen. Trotzdem ließ ihn die verzweifelte Resignation nicht kalt.
„Du könntest in Naturalien zahlen“, bot er zögernd an.
Braune Augen richteten sich mit neuer Hoffnung auf ihn.
„Mein Schwert für deinen vornehmen Arsch, Prinz.“
Die Augen wurden riesig. „Was?“
„Ich bin bescheiden, Vyn Branwhaite. Du hältst mir den Arsch hin und heuerst dafür mein Schwert an.“
Ein Keuchen war die Antwort. Dann fuhr Vyn empört in die Höhe. „Wie kannst du es wagen?“
Charder erhob sich ebenfalls und stand nun so dicht vor ihm, dass sich ihre Nasen beinahe berührten. „Das ist ganz einfach, Eichhörnchen. Ich habe Bedürfnisse, die sich für einen Seelenlosen nicht jeden Tag erfüllen. Deine Entscheidung. Nimm mein Angebot an oder lass es sein.“
In Vyns Gesicht arbeitete es. Dagegen freundete er sich selbst immer mehr mit dieser Idee an. Er schätzte den Prinzen auf Anfang zwanzig und damit rund zehn Jahre jünger. Dazu war er eine attraktive Erscheinung, wenn man von der deutlichen Erschöpfung in seinem Gesicht absah. Abwartend verschränkte Charder die Arme vor der Brust. Er registrierte, wie Vyns Blick über seinen Körper huschte und wie der Prinz mit sich und seinem Stolz rang.
„Einverstanden.“
Das kam so leise, dass Charder sein Gegenüber beinahe nicht verstanden hätte.
„Wie war das?“
„Ich sagte, ich bin einverstanden.“ Vyn streckte ihm die Hand entgegen, die Charder ignorierte. Das Wort des Prinzen reichte ihm zum Abschluss des Handels aus.
„In Ordnung.“ Er zog sich das Hemd über den Kopf und machte sich an der Verschnürung seiner Hose zu schaffen. „Du kannst dich schon mal hinlegen.“
„Wie? Hier? Sofort?“ Vyns Stimme quietschte, sodass er ihn überrascht anstarrte.
„Wann sonst?“
„Ich … ich weiß nicht“, stotterte der Prinz. „Ich dachte nur nicht, dass du … es … gleich willst.“
„Hast du ein Problem damit?“, erkundigte sich Charder und grinste wölfisch. „Oder etwa Angst?“
„Ich fürchte mich nicht“, fauchte Vyn, drehte sich um und ließ die Decke fallen. Er zitterte vor Anspannung und seine Schultern hoben sich verkrampft gegen den Feuerschein ab. Schließlich bückte er sich und breitete die Decke auf dem Boden aus, um sich umständlich darauf niederzulassen. Seine hellen Gliedmaßen hoben sich verführerisch von der braunen Wolle ab. Charder schaute ihn für Sekunden gierig an, bevor er sich hastig die Stiefel von den Füßen trat und aus der Hose schlüpfte. Kurz umfasste er seine Erektion. Hart und empfindsam lag sie in seiner Hand. Tief atmete er durch, ehe er zu Vyn auf die Decke kroch. Wie ein toter Fisch lag der Prinz rücklings da, kühl und reglos. Auf eine warme Umarmung brauchte Charder wohl nicht zu warten. Er vergrub seine Nase in Vyns Halsbeuge und sog dessen Geruch ein. Salbe, Schweiß und der Duft des Waldes klebten an dem jungen Mann. Der Königssohn drehte den Kopf zur Seite, um ihn nicht anschauen zu müssen. Langsam und mit steigendem Begehren tastete sich Charder an einem Bein entlang, glitt mit der schwieligen Hand über einen Schenkel. Er fühlte angespannte Muskeln unter seinen Fingern und einen Puls, der wild gegen seine Lippen hämmerte. Ein schlaffes Glied erwartete ihn, ein deutlicher Mangel an Erregung. Es ging allerdings nicht um die Lust des Prinzen, sondern allein um seinen Lohn. Er keuchte hungrig auf und drängte sich dichter an Vyn. Plötzlich wurde er beiseite gedrückt und der junge Mann rollte sich unter ihm hervor.
„Ich … ich kann nicht!“, rief Vyn.
„Was?“ Fassungslos starrte er auf den nackten Rücken vor sich. Ein Schluchzen erreichte seine Ohren.
„Wirst du wortbrüchig?“
Vyn vergrub das Gesicht in den Händen. „Joram“, wisperte es zwischen den Fingern hervor. „Joram ist erst wenige Tage tot und du erwartest Hingabe von mir.“
Ah ja … Sie waren Liebhaber gewesen. Charder erinnerte sich daran, dass Vyn es ihm gegenüber erwähnt hatte.
„Ich will nicht dein Herz, Prinz, sondern bloß deinen Körper.“ Selbst in seinen Ohren hörte sich das schrecklich an, daher wunderte er sich nicht, dass Vyn ihm sein bleiches Gesicht zuwandte.
„Jetzt weiß ich, was ein Seelenloser ist“, sagte der Prinz tonlos.
Eine Ohrfeige hätte nicht ernüchternder wirken können.
„Also schön“, brummte er. „Wie lange dauert die offizielle Trauerzeit der Adligen? Zehn Tage? Du bekommst hiermit einen Zahlungsaufschub von zehn Tagen. Dabei übergehe ich großzügig, dass dein Hexenmeister nicht erst heute gestorben ist.“
„Einverstanden“, entgegnete Vyn leise.
„Ich will dein Ehrenwort, Prinz Eichhorn.“
„Bei meiner Ehre, ich gebe dir mein Wort.“ Unsicher sah der Königssohn zu ihm auf. „Wie geht es nun weiter?“
„Ich ziehe mich an, ehe mir Ameisen am Sack herumkriechen.“ Charder erhob sich und griff nach seiner Hose.
„Ich … ich meine, mit uns?“
„Möchtest du lieber Rosinen oder Apfel zum Frühstück? Die Nüsse gehen mir allmählich aus.“
„Charder, bitte. Ich kneife nicht wieder. Versprochen. Ich … ich muss nur dauernd an Joram denken. Wie es war, wenn er mich berührt, geküsst hat …“
Er schüttelte den Kopf, wollte das nicht hören. Stattdessen verschnürte er seine Hose und hob das Hemd auf.
„Wir haben uns blind verstanden. Kannten uns, seit wir Kinder waren. Meine erste und einzige Liebe. Und Sanjorn hat ihn mir genommen, Charder. Er hat ihn töten lassen.“
Tränen liefen über das junge Gesicht. Tränen, mit denen er nicht umgehen konnte.
„Weißt du, wie es ist, wenn jemand dich so sehr liebt, dass er für dich in den Tod geht? Ich versuche nach wie vor zu begreifen, dass Joram nicht gleich aus den Schatten tritt, mit dem für ihn unverwechselbaren Lächeln auf den Lippen, und mich in seine Arme zieht. Wie könnte ich da eine fremde Umarmung ertragen?“
„Das ist nicht mein Problem, Prinz“, knurrte er. „Zehn Tage.“
Vyn nickte.
Er trat widerstrebend auf den Königssohn zu und wischte ihm mit dem nicht ganz sauberen Hemd die Tränen aus dem Gesicht.
„Und hör auf zu heulen“, grummelte er unwirsch.
Vyn Branwhaite
Der Seelenlose war verärgert. Vyn konnte das sogar verstehen. Der Krieger kam ihm schon entgegen, was seine Entlohnung anging, und er zierte sich wie eine schüchterne Jungfrau. Es dauerte nicht mehr lange, bis er sich wieder in das Eichhörnchen verwandelte und sich voller Scham in den Beutel verkriechen konnte. Charder saß still am Feuer und beachtete ihn nicht weiter.
Als die Morgendämmerung heraufzog und Vyn aus seinem Nest spähte, schien der sich immer noch nicht gerührt zu haben. Regungslos, stumm und den Blick auf die Asche der Feuerstelle gerichtet, hockte er da. Vyn krabbelte aus dem Beutel und zog ein Stück Brot aus den Vorräten, das er zu dem Krieger schleppte. Mutig hüpfte er auf dessen Knie und bot ihm den Bissen an. Endlich regte sich Charder und nahm ihm den harten Kanten aus den Pfoten.
„Ich habe im Krieg der Hexenmeister gekämpft“, erzählte sein Begleiter unerwartet. „Gleich in meiner ersten Schlacht wurde ich schwer verwundet. Es kostete mich das hier und beinahe meine Stimme.“ Er tippte mit dem Finger auf die Narbe neben seinem blinden Auge. „Ein halbes Jahr lang litt ich unsägliche Schmerzen, bis das Gift des Dämons, der mich erwischt hatte, nicht mehr wirkte. Wusstest du, dass ich früher eine recht passable Singstimme hatte? Nein. Woher auch? Heute klinge ich, als würden meine Stimmbänder über die Hufraspel eines Schmieds gezogen werden.“ Er lachte rau. „Ich befand mich mit meinem Trupp auf Kundschaft, als mich der Dämon angriff. Als hätte er nur darauf gewartet, dass ich ihm in seine giftigen Klauen laufe.“
Vyn hörte aufmerksam zu, da er begriff, dass Charder ihm etwas Wichtiges mitteilen wollte.
„Die Dämonen waren die Vorhut der Hexenmeister unter der Führung von Emornen Rake.“
Den Namen kannte jedes Kind im Königreich Atarn, weil sich dieser Nekromant zum Herrscher der Welt hatte ausrufen lassen wollen.
„Ich wurde ausgeschaltet, bevor ich gegen seine Untoten kämpfen konnte. Das geschah lediglich einen Tag, nachdem ich Conles Cheltri in seinem Zelt belauscht habe. Leider, oder dem Schöpfer sei Dank, konnte ich kein Wort von dem Gespräch verstehen.“ Er knibbelte mit dem Fingernagel an dem Brot herum. „Ich bin kein furchtsamer Mensch, Vyn, aber damals habe ich gespürt, wie jemand über mein Grab gelaufen ist.“
Vyn gab ein leises Keckern von sich. Er konnte nachvollziehen, was Charder meinte, denn genau dieses Gefühl spürte er ebenfalls in der Anwesenheit des Hexenmeisters.
„In was für eine Auseinandersetzung ziehst du mich hinein?“
Er hatte keine Ahnung. Als der Hexenmeisterkrieg seinen Anfang nahm, war er zwölf Jahre alt und wurde zusammen mit seiner Schwester und seiner Mutter Ilsevel fortgeschickt, um nicht in die Gefechte verwickelt zu werden. Dagegen hatten Brira und Sanjorn gemeinsam mit ihrem Vater in die Schlacht ziehen müssen. Auf dem Weg ins Asyl war Vyns Reisegruppe von einem Trupp Untoter angegriffen worden. Er konnte sich gut an die Panik und das Entsetzen der königlichen Garde erinnern, wie sie verzweifelt auf ihre Gegner eingehackt und -geschlagen hatten. Erst mit Hilfe von Feuer konnten die Feinde besiegen werden. Die dreijährigen Kampfhandlungen verlangten große Opfer, die Auswirkungen lagen im Morgennebel direkt vor ihm. Seit sechs Sommern herrschte Frieden, die Gefechte waren geschlagen und der Nekromant Emornen Rake vernichtet. Somit lebten keine Totenbeschwörer mehr in Atarn. Unsicher musterte er Charder. Würde sich der Krieger einfach aus dem Staub machen und ihn sitzen lassen? Es fiel ihm ungemein schwer, in dem Seelenlosen zu lesen und seine Stimmungen abzuschätzen.
Der griff nach ihm, hob ihn behutsam von seinem Knie und setzte ihn auf dem Boden ab, um sich anschließend zu erheben.
„Wir reiten weiter“, sagte Charder und ging zu Marrin hinüber, der sich an einem Baumstumpf schubberte. Er reichte dem Cor das trockene Brot, kraulte ihn zwischen den Hörnern und murmelte ein paar liebevolle Worte. Danach holte er den Striegel aus dem Gepäck und säuberte Marrins Rücken sorgfältig, bevor er ihm den Sattel auflegte. Vyn saß da und kam sich furchtbar nutzlos vor. Doch welche Aufgabe hätte er in seiner derzeitigen Gestalt schon übernehmen können? Um Charder wenigstens nicht im Weg zu hocken, kletterte er an Marrins Bein empor und setzte sich auf den Vorderzwiesel des Sattels.
„Reite ja nicht ohne mich los“, brummte der Krieger, der die Decke zusammenrollte und sich den Beutel mit dem Wollschal über die Schulter hängte.
Der Gedanke, wie er als Eichhörnchen auf Marrin davongaloppierte und Charder rufend und winkend hinter ihnen herstolperte, erheiterte Vyn ein wenig. Der befestigte inzwischen sein Gepäck auf den Rücken des Hengstes und schwang sich danach in den Sattel. Auf einen leichten Schenkeldruck hin setzte sich der Cor in Bewegung und trat auf das Aschefeld hinaus.
„Kaum zu glauben, dass das einst fruchtbares Acker- und Weideland war“, sagte Charder nach einer Weile. Sie umrundeten gerade ein blubberndes Schlammloch, aus dem es faulig roch. „Und nahezu unvorstellbar, wozu Hexenmeister fähig sind. Welche Kräfte hier gewirkt haben müssen.“
Vyn entdeckte einen menschlichen Schädel, halb im schwarzen Boden versunken, und unterdrückte ein Schaudern. Der Schnitter allein wusste, wie viele Knochen an diesem Ort lagen. Er sprach ein stummes Gebet für die Opfer des Krieges und duckte sich unwillkürlich, als mehrere Raben tief über sie hinwegflogen. Grauer Staub wirbelte unter Marrins Hufen auf und kitzelte ihn in der Nase. Am Himmel zogen sich dunkle Wolken zusammen und bald darauf begann es zu regnen. Charder zog den Umhang fester um sich und setzte die Kapuze auf, während sich Vyn in den Beutel zurückzog und in einen unruhigen Schlummer fiel.
Ein Ruck und ein wüster Fluch weckten ihn irgendwann. Unwillig verließ er die warme Dunkelheit seines Nestes, kletterte an Charders Rücken hinauf und schob neben dessen Hals den Kopf ins Freie. Es regnete immer noch in Strömen. Der Boden hatte sich in Matsch verwandelt und Marrin schlitterte mehr, als dass er ausschreiten konnte. Charder zügelte den Hengst und stieg ab, um neben ihm herzulaufen.